Der Concentus Musicus Wien ist untrennbar mit dem Namen Nikolaus Harnoncourt verbunden. 1953 von diesem als Ensemble für Alte Musik gegründet, stand er diesem bis Ende 2015, kurz vor seinem Tode, als künstlerischer Leiter vor. Das Schicksal des Orchesters war danach alles andere als gewiss. Glücklicherweise erwies sich die Kür von Harnoncourts langjährigem Assistenten Stefan Gottfried als geschickte Entscheidung. Nun legt der Concentus Musicus Wien also seine erste offizielle Einspielung nach dem Ableben Harnoncourts beim Label Aparté vor (AP189). Mit Schubert setzt man auf eine sichere Bank. Zwar beschäftigte sich auch Harnoncourt im Laufe seines Lebens ausführlich mit diesem Komponisten, doch entstanden diese Aufnahmen mit dem Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam und mit den Berliner Philharmonikern, so dass hier gleichsam eine Premiere erfolgt. Das geschmackvolle Cover verrät bereits, die vollendete Unvollendete im Mittelpunkt steht.
Zwar unternahm schon Brian Newbould vor vielen Jahrzehnten den Versuch einer Vervollständigung dieser berühmten Sinfonie (wovon die vorzüglichen Einspielungen von Charles Mackerras und Neville Marriner zeugen), doch liegt der vorliegenden Einspielung erstmals die von Nicola Samale und Benjamin-Gunnar Cohrs betreute Neuausgabe des Werkes von 2015 zugrunde. Beide machten sich bereits durch ihre verdienstvolle Mitarbeit an der Komplettierung von Bruckners Neunter einen Namen. Konkret wurde der Scherzo-Satz der Schubert’schen h-Moll-Sinfonie D 759 vervollständigt. Es wurden lediglich wenige Takte im Trio dieses Satzes ergänzt, alles andere stammt tatsächlich aus Schuberts eigener Feder, so dass man nun so nahe an den Intentionen des Komponisten ist wie nie zuvor. Wie bereits Newbould, bediente man sich für den Finalsatz beim Entr’acte Nr. 1 aus der Schauspielmusik zu Rosamunde, Fürstin von Zypern, D 797.
Wie klingt nun Gottfrieds Interpretation? Zumindest in den bekannten ersten beiden Sätzen tun sich mannigfaltige Vergleichsmöglichkeiten auf, wobei besonders die Nebeneinanderstellung mit Harnoncourt reizt. Den charakteristischen, über Jahrzehnte geformten, transparenten und schlanken Klang des Concentus Musicus gibt es tatsächlich auch unter dem neuen Dirigenten noch. Gottfried geht es dramatisch, aber niemals verhetzt, an, mit einer gekonnten Agogik angereichert, und ist in beiden Sätzen jeweils etwa eine Minute schneller als sein Lehrmeister seinerzeit mit den Amsterdamern (Teldec/Warner). Natürlich ist dies ein krasser Gegenentwurf zum Bewahrer des wienerischen Schubert-Stiles, Karl Böhm, insbesondere in dessen vorzüglichen späten Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern (DG). Anders als Böhm schreckt Gottfried vor schroffen Kontrasten keineswegs zurück. Das Andante nimmt er schreitend, beinahe tänzerisch leicht, sehr diesseitig also und ohne einen Anflug von pathosgeladener Schwere. Dies womöglich schon in Hinblick darauf, dass das Werk eben nicht mit diesem (hier gar nicht so) langsamen Satz beschlossen werden soll. Soviel zum Konventionellen.
Im Scherzo ist der Direktvergleich mit der Newbould-Fassung vonnöten. Mackerras (Erato) und vor allem Marriner (Philips) klingen gemäßigter, man könnte auch sagen: harmloser. Inwieweit dies an der Fassung liegt, sei dahingestellt. Kurios, welch homogenes Gesamtbild die vier Sätze in Kombination abgeben. Von abrupten Brüchen keine Spur. Der Rosamunde-Auszug funktioniert zwar auch für sich allein genommen, doch ergibt er als Abschluss der (Un-)Vollendeten Sinn und fällt qualitativ auch nicht ab, wenn er so interpretiert wird wie hier. Die wild herausfahrenden Blechbläser und die donnernden Pauken erteilen dem überkommenen Schubert-Bild eine Abfuhr. Durch zurückgenommene Tempi erzielt Gottfried eine glänzende Wirkung.
Den Rest der CD machen Schubert-Lieder in Orchesterfassungen von Johannes Brahms („Memnon“, „Geheimes“, „Gruppe aus dem Tartarus“) und Anton Webern („Tränenregen“, „Der Wegweiser“, „Ihr Bild“, „Du bist die Ruh“) aus. Als Solist fungiert der Bassbariton Florian Boesch, der Gottfrieds eher schroffen Zugang durch seine etwas ungeschliffene, dafür aber markante Stimme passend ergänzt. Insofern eine völlig andere Art der Herangehensweise als weiland bei Hermann Prey (RCA). Beides sehr hörenswert. Das Tonbild dieser am 27. und 28. April 2018 im Großen Musikvereinssaal in Wien entstandenen Aufnahme lässt vielmehr an eine „echte“ Studioaufnahme denn an Konzertmitschnitte denken. Es gibt keine Störgeräusche, die Akustik ist tadellos. Eine gelungene Neuerscheinung also, die eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass mit dem Concentus Musicus Wien auch in Zukunft auf hohem Niveau gerechnet werden darf. Harnoncourt wäre beruhigt. Daniel Hauser