Archiv des Autors: Rüdiger Winter

Leo Borchard

 

Leo Bochard war ein Dirigent mit deutsch-russischen Wurzeln, der am 31. März 1899 in Moskau geboren wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgte er Wilhelm Furtwängler, der von der amerikanischen Besatzungsmacht zunächst als politisch belastet eingestuft worden war, an die Spitze der Berliner Philharmoniker. Das erste Konzert im zerstörten Berlin fand am 26. Mai 1945 unter seiner Leitung im zum Konzertsaal umfunktionierten Kino Titania-Palast an der Schlossstraße im Bezirk Steglitz statt, der heute nur noch in seiner originalen Fassade erhalten ist. Auf dem Programm stand unter anderen Werken die vierte Sinfonie von Tschaikowski. Nicht zuletzt durch den großen Erfolg beim Publikum wurde Borchard wenig später vom Berliner Magistrat mit der Leitung des Orchesters beauftragt. Seine Amtszeit war nur von kurzer Dauer. Unter tragischen Umständen wurde er am 23. August 1945 an einem alliierten Grenzpunkt am Bundesplatz (Bezirk Wilmersdorf) von einem amerikanischen Soldaten erschossen. Das Auto mit Borchard hatte – entgegen der vorherrschenden Befehlslage – nicht angehalten.

Beigesetzt ist der Dirigent auf dem Steglitzer Friedhof in einem Ehrengrab. An seinem ehemaligen Wohnhaus in der Nähe erinnert eine Gedenktafel an Borchard, die allerdings sein Wirken als Dirigent ausspart. Gewürdigt wird darauf der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, den er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Ruth Andreas-Friedrich, leistete. Wenige  Tondokumente vermitteln nur eine annähernde Vorstellung von der Begabung des Dirigenten. Die meisten stammen bereits aus den 1930er Jahren. Testament hatte auf einer CD Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern zusammengefasst (SBT 1514). Es sind nur kurze Stücke oder Auszüge aus sinfonischen Werken, die auf Schelllackplatten passen mussten. Mit fast sechzehn Minuten ist Wotans Abschied und Feuerzauber aus Wagners Walküre das umfänglichste Stück, welches seine Bedeutung aber mehr von der Tatsache herleitet, dass Hans Reinmar als Solist besetzt ist. Nachhaltiger blieb der vielseitige Leo Borchard durch seine Mitarbeit an dem Oratorium Der Großinquisitor von Boris Blacher in Erinnerung. Er richtete dafür den Text nach dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski ein. Außerdem ist er als Übersetzer von Tschechow und der Tschaikowski-Biographie „Geschichte eines einsamen Lebens“ der russischen Autorin Nina Berberowa in Erscheinung getreten. R.W.

Liedgesang als Sprachpflege

 

Mit Liederaufnahmen von Rudolf Schock überrascht das schweizerische Label Relief, das die Erinnerung an diesen Tenor mit Hingabe pflegt (CD 3010). Es handelt sich um die Übernahme von vier EMI/Electrola-Platten und nicht um Mitschnitte von einschlägigen Veranstaltungen. Sie waren im 25-Zentimeter-Format erschienen und zuletzt – wenn überhaupt – nur noch unter Mühen antiquarisch aufzutreiben. Zu den Vinyl-Liederabenden, die als Folgen eins und zwei deklariert gewesen sind, kommen als Einzelausgaben im gleichen Durchmesser noch die Dichterliebe von Robert Schumann sowie acht Orchesterlieder von Richard Strauss hinzu. Relief hat also zugelangt. Genauso wie auf den Platten hätten die Liederabende aber auch im Konzertsaal stattfinden können. Schock pflegte dieses Genre. In der Fülle seiner Aufnahmen von Opern, Operetten und allem, was unter die so genannte leichte Muse fällt, rückte seine Begabung auf diesem Gebiet etwas in den Hintergrund.

Relief ist darum bemüht, dem ganzheitlichen, dem wahren Schock Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Booklet schreibt Herausgeber Rico Leitner: „In öffentlichen Liederabenden hatte Rudolf Schock am Schluss gerne zwei bis drei Opernarien vorgetragen – für die Schallplatte musste dies allerdings unterbleiben.“ Eigentlich ist das schade. Warum? Nach meinem Eindruck singt er Lieder wie Arien. Zumindest bringt er in seine Vortragsweise Elemente der Oper ein. Es liegt ihm offenkundig daran, Ereignisse, Empfindungen oder Impressionen stets vom Inhalt her zu deuten. Seine Hören sollen verstehen, was sich zuträgt, was die Komponisten und ihre Dichter mitteilen wollen. Das spürt er mit seinem sicheren Bühneninstinkt auf und gibt es weiter. Das machte ihn so einzigartig, das war sein Erfolg auch bei jenen Menschen, die sich nicht in eine Wagner-Aufführung getraut hätten.

Liederabend zweite Folge: Eine der 25-Zentimeter-Electrola-Platten mit Rudolf Schock und Adolf Stauch am Klavier von 1959 in Stereo bei Schocks Stammfirma Elrectrola.

Wer sich wachen Ohres durch das Album hört, dem fällt auf, dass jedes Wort zu verstehen ist – auch „das Grillchen“, das sich auf „Anakreons Grab“ von Hugo Wolf „ergötz“, ist nicht zu überhören. Insofern wäre es gar nicht nötig gewesen, im Booklet alle Texte mitzuliefern. Bei Schock wird aus Liedgesang immer auch Sprachpflege. Er hat hörbar Spaß und Freude an seiner Muttersprache. Das Angebot ist üppig. Zu Schumann und Strauss kommen Hugo Wolf, Franz Schubert, Johannes Brahms und Wolfgang Amadeus Mozart. Meist sind es die bekannten Titel. Die Produktionsfirma Electrola setzte auf Bewährtes, wollte ein breit aufgestelltes Publikum erreichen. Strauss erfährt durch die Orchesterlieder, die bis heute immer gut gehen, besonderes Gewicht. Nicht alle Instrumentierungen hat der Komponist selbst vorgenommen. Was in Absprache mit dem Verlag von fremder Hand erarbeitet wurde, hat der praktische Profi Strauss akzeptiert und sogar in eigenen Konzerten dirigiert. Nur einmal – nämlich bei der bereits von Robert Heger instrumentierten „Zueignung“ – hat er für die verehrte Sopranistin Viorica Ursuleac eine eigene Orchesterfassung erarbeitet. Auf der CD findet sich die geläufige Heger-Fassung, der auch „Traum durch die Dämmerung“, „Heimliche Aufforderung“ und „Ich trage meine Minne“ mit Orchesterstimmen versah. Im Falle des „Ständchen“ besorgte dies der Dirigent Felix Mottl, der vor allem durch seine Wagner-Interpretationen Berühmtheit erlangte. Vom Komponist selbst stammen „Freundliche Vision“, „Morgen“ und „Allerseelen“. Auf diese Zuordnungen, die auf der Rückseite der Schallplatte noch zu finden sind, verzichtet Relief. Das ist zu bemängeln.

Was den einen gefällt an den Einspielungen des neuen Albums, finden andere vielleicht zu schlicht, zu einfach und zu wenig hintergründig gesungen. Bei Schock bekommt das Publikum eben Schock und nicht Munteanu oder Patzak. Ein nicht näher bezeichnetes Großes Opernorchester – in Vinyl ist lediglich von Orchester die Rede – leitet bei den Strauss-Liedern Wilhelm Schüchter. Die Klavierlieder begleitet von Adolf Stauch. Aufgenommen wurden die Strauss-Titel (Ende 1957) wie auch die beiden Liederabende (1959) in Stereo, während die Dichterliebe (Anfang 1957) noch in Mono produziert wurde. Rüdiger Winter

Georg Hann

 

Georg Hann ist ein österreichischer Bass, der am 30. Januar 1897 in Wien geboren wurde und am 10. Dezember 1950 in München starb. Seine Tieflage und sein statuarischer Interpretationsansatz lassen vergessen, dass er nur dreiundfünfzig Jahre alt wurde. Stimmlich wirkte er stets viel älter. Hann war Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Nach dessen Ende begann er seine Ausbildung an der Wiener Musikakademie. 1927 folgte er einem Ruf an die Staatsoper nach München, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb. Dort galt er als Institution und wurde vom Publikum heiß und innig geliebt. Gastspiele führten ihn in die großen europäischen Musikzentren. Als Theaterdirektor La Roche wirkte Hann 1942 bei der Uraufführung des Konversationsstückes für Musik Capriccio von Richard Strauss in München mit. Davon haben sich Auszüge erhalten, die zuerst auf BASF-Platten erschienen waren.

In seinem Verzeichnis aller Operngesamtaufnahmen – als CD-Rom bei Zeno.org erschienen (ISBN 978-3-89853-620-2) – listet Andreas Ommer fast vierzig verschiedene Produktionen auf. Sie belegen die Vielseitigkeit des Sängers, der in deutschen Opern genauso unterwegs war wie in italienischen oder französischen Werken. Legendär sind sein Sir Falstaff in Nicolais Lustigen Weibern von Windsor, der Daland im Fliegenden Holländer oder der Mephisto in Gounods Faust, zur Zeit der Einspielung 1943 in Berlin noch unter dem Titel Margarethe. Der Ochs im Rosenkavalier kam komplett nicht mehr zustande, obwohl ihn der Strauss-Dirigent Clemens Krauss dafür favorisierte. Stimmlich hätte ihm die Rolle durchaus gelegen. Hann soll sich dem Vernehmen nach aber mit dem Studium schwer getan haben. In der Studio-Aufnahme unter Krauss sang er 1942 wie auch 1949 in Salzburg den Faninal. In den 1940er Jahren wurden beim Rundfunk zahllose Arien und Szenen aus Opern sowie Lieder eingespielt, auf denen der Ruhm Georg Hanns beruhte. Auch Ausflügen in die Operette verschloss er sich nicht. Im Zigeunerbaron von Johann Strauß hat Hann als reicher Schweinezüchter Zsupán Gelegenheit, sein komödiantisches Talent auszuspielen. Diese Produktion, die 1949 noch beim NWDR mit Sena Jurinac als Saffi und Peter Anders als Sándor Bárinkay entstand, wird von Franz Marszalek geleitet und ist beim schweizerischen Label Relief (CR 2003) herausgekommenen. R.W.

Unglaublich vollständig

 

Der 100. Todestag von Claude Debussy ist Anlass genug für die großen Labels, gewaltige Boxen mit seinem Gesamtwerk auf den Markt zu werfen. Trotz der Deutschen Grammophon Gesellschaft, welche mit 22 CDs und 2 DVDs in den Complete Works aufzuwarten weiß, gebührt die Krone in diesem Unterfangen Warner (0190295736750). Sage und schreibe 33 CDs umfasst die elegante Box The Complete Works und ist damit bereits auf den ersten Blick noch ambitionierter als das Unterfangen der DG. Warner kann hierfür auf den sehr umfangreichen eigenen Katalog, also EMI, Erato und Virgin, zurückgreifen und bedient sich bei Raritäten zuweilen auch anderer, kleinerer  Labels. Hier ist wirklich alles enthalten, angefangen bei den frühen Liedern über diverse Transkriptionen anderer Komponisten bis hin zu Fragmenten unvollendeter Werke, die sonst kaum je eingespielt wurden. Als Bonus sind auf der letzten CD zudem alle eigenen Aufnahmen des Komponisten selbst enthalten.

Graphisch ausgestattet ist die Edition mit dem wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa. Debussy, der den Künstler sehr schätzte, wählte es selbst als Titelbild für eine Ausgabe von La Mer. 

Die Box wird geziert vom wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji. Dies ist seit Anbeginn gleichsam untrennbar verbunden mit Debussys wohl bekanntestem Orchesterwerk La Mer. Die 33 CDs befinden sich sodann in optisch ebenfalls sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum echten Blickfang werden. Zu den vertretenen Künstlern zählen neben Hokusai Utagawa Hiroshige, Eijiro Kobayashi, Kawase Hasui, Jakuchu, Tsurana Morizumi, Tsukioka Yoshitoshi und Yoshitoshi Taiso. Hier kann diese Kassette wirklich punkten.

Die Auswahl der Aufnahmen umfasst (ausgenommen diejenigen Debussys selbst) einen Zeitraum von gut 60 Jahren. Nicht immer konnte auf die Referenzeinspielungen zurückgegriffen werden, sei es aus Gründen der Zugehörigkeit zu einem anderen Label, sei es aus zumindest hinterfragbarer Auswahl aus dem eigenen Katalog. Trotzdem ist die Ausbeute hoch. So sind beispielsweise La Mer und die Nocturnes in der mittlerweile zum Klassiker gewordenen Einspielung von Carlo Maria Giulini mit dem Philharmonia Orchestra enthalten. Giulini beschäftigte sich eher am Rande mit dem französischen Repertoire, doch La Mer dirigierte er häufig (es gibt weitere Aufnahmen davon u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw-Orchester und dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester). Bei ihm denkt man an die mediterrane See. Freilich ist die Zeit seither nicht stehen geblieben, so dass es nicht schwer fiele, weitere exzellente neuere Interpretationen zu benennen.

Der Komponist Claude Debussy (22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und am 25. März 1918 in Paris gestorben); hier auf einem Foto von Félix Nadar, ca. 1908 (Wikipedia).

Trotz des gewaltigen Umfangs der Box beklagt der Kenner doch hie und da das Fehlen wichtiger Darbietungen, etwa Karajans maßstäbliche EMI-Einspielung von Pelléas et Mélisande. Die 1978 erschienene Produktion aus Berlin, hochkarätig besetzt mit Richard Stilwell, Frederica von Stade, José van Dam und Ruggero Raimondi, darf auch nach vier Jahrzehnten einen Referenzstatus für sich beanspruchen, traf Karajan Debussys Tonsprache doch vorzüglich. Wieso man sich in der Box für die weit weniger geläufige Erato-Einspielung von Armin Jordan aus Monte-Carlo entschied, die auch künstlerisch nicht dasselbe Niveau vorzuweisen hat, bleibt ein Rätsel. Sie entstand fast zeitgleich, 1979, und hat die ungleich weniger bekanntere Besetzung (Eric Tappy, Rachal Yakar, Philippe Huttenlocher und François Loup). Diese kleineren Einschränkungen werden indes an anderer Stelle wieder wettgemacht.

So ist tatsächlich die einzige erhältliche, aber seit langem vergriffene Aufnahme der unvollendeten, hier aber komplettierten Oper Rodrigue et Chimène enthalten (mit Chor und Orchester der Opéra de Lyon unter der Stabführung von Kent Nagano; die Sänger/innen sind neben anderen Donna Brown, Laurence Dale, José van Dam, Jules Bastin und Vincent Le Texier). Im Mittelpunkt steht der berühmte El Cid alias Rodrigo Díaz de Vivar (in der Oper Rodrigue); die Handlung ist somit im Spanien des 11. Jahrhunderts angesiedelt. Die Liebe der beiden Titelfiguren steht unter keinem guten Stern, verwundet Rodrigue doch Chimènes Vater Don Gomez tödlich und ist es ihr infolge dessen aufgrund der Familienehre unmöglich, mit ihm glücklich zu werden.

Das kuriose und selten gespielte Mysterium in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien liegt sogar zweifach – oder vielleicht besser: anderthalbfach vor: einmal komplett inklusive der gesprochenen Dialoge in der berühmten Mono-Einspielung des Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter André Cluytens aus den frühen 1950er Jahren (u. a. mit Rita Gorr, Solange Michel, Jacques Eyser und Véra Korène); einmal als klanglich zu bevorzugende sinfonische Fragmente aus dem Werk mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985.

Die Reihe der wenig bekannten Werke, die hier beinhaltet sind, ließe sich fast endlos fortsetzen. Die Trois Ballades de François Villon in der Orchesterfassung (mit dem Bariton François Le Roux unter John Nelson) etwa oder die Kantaten  L’Enfant prodigue und Le Gladiateur (beide dirigiert von Hervé Niquet). Beigegeben ist sogar die 1907 revidierte Fassung des Enfant prodigue (in der ganz neuen und ausgezeichneten Einspielung von Mikko Franck).

Die Warner Debussy Edition „The complete Works“: Die 33 CDs stecken in optisch sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum Blickfang werden.

Das Prélude à l’après-midi d’un faune – neben La Mer wohl landläufig das berühmteste Orchesterwerk von Debussy – ist nicht nur in der Orchesterversion enthalten (im Klassiker unter Jean Martinon), sondern auch in zwei Klaviertranskriptionen, eine für vier Hände (von Ravel) und eine für zwei Klaviere (von Debussy selbst). Der anerkannte Debussy-Spezialist Martinon dirigiert auch u. a. La Boîte à joujoux, Printemps und Le Roi Lear.

Wie tief Warner ins eigene Archiv geschaut hat, beweist die Einspielung von Nocturne et Scherzo für Cello und Klavier mit Henrik Brendstrup und Per Salo, die bisher nur in Dänemark erschienen war. Das Streichquartett g-Moll – Debussys einziger Beitrag zu dieser Gattung – wird von Quatuor Ébène überzeugend dargeboten. Die Sonaten für Cello (Maurice Gendron), Violine (Yehudi Menuhin) sowie Flöte, Viola und Harfe (Michel Debost, Yehudi Menuhin, Lily Laskine) schließlich sind in anständigen Interpretationen inkludiert (jeweils mit Jacques Fevrier am Klavier). André Cluytens steuert schließlich Debussys letztes Orchesterwerk Jeux mit dem berühmten Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in einer hinreißenden Darbietung bei.

Hinsichtlich der Klavierwerke kann die Warner-Box abermals punkten. Die Pianistinnen und Pianisten sind über jeden Zweifel erhaben: Youri Egorov (Préludes und Estampes), Samson François (u. a. Children’s Corner und Pour le piano), Aldo Ciccollini (u. a. Le Boîte à joujoux, 6 Épigraphes antiques und Tarantelle styrienne), Monique Haas (D’un cahier d’esquisses und Masques) und Pierre-Laurent Aimard (Images und 12 Études) bürgen für Qualität. Bei den Liedern konnte auf den hochkarätigen Gérard Souzay zurückgegriffen werden, der hinsichtlich der mélodies bis heute Maßstäbe gesetzt hat und stets idiomatisch den richtigen Tonfall trifft (3 Mélodies de Verlaine, 3 Chansons de France, 3 Ballades de François Villon, Fêtes galantes und Le Promenoir des deux amants). Insgesamt also eine trotz kleinerer Einschränkungen eine ungemein erfreuliche und zufriedenstellende Kollektion, welche das Gesamtwerk Debussys noch dazu gefällig und edel aufbereitet präsentiert. Daniel Hauser

 

Ida Rubinstein 1911 als Sebastièn in der Uraufführung. Foto: Wikipedia

Rüdiger Winter zu Le Martyre de Saint Sébastien: Das Bild rechts zeigt den Heiligen Sebastian/ Foto Winter in der Darstellung durch den italienischen Maler Bronzino, einem Hauptvertreter des Manierismus. Es gehört zum Bestand der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid. Debussy hat das Schicksal Sebastians, zum Gegenstand seiner Mysteriums in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien gemacht.

Seine Jugend verbrachte Sebastian in Mailand. Er stieg zum Offizier der Leibwache von Kaiser Diokletian auf. Der Überlieferung nach soll sich Sebastian öffentlich zum Christentum bekannt und Not leidende Christen unterstützt haben. Dafür verurteilte ihn der Kaiser zum Tode. Er überlebte die Hinrichtung durch Bogenschützen und wurde von der Heiligen Irene, die ihn eigentlich für das Begräbnis herrichten wollte, gesund gepflegt. Sebastian ließ von seinem Glauben nicht ab und vertrat ihn nach seiner Genesung abermals öffentlich. Nun ordnet Diokletian an, ihn mit Keulen zu erschlagen. Glaubensbrüder retteten seinen Leichnam aus einem Abflussgraben am Tiber in Rom und setzten ihn in den Katakomben bei. Über seinem Grab wurde schon im 4. Jahrhundert die Kirche San Sebastiano fuori le mura errichtet.

In der Debussy-Edition taucht das Werk gleich zweifach auf, einmal mit den gesprochenen Dialogen in der Mono-Aufnahme unter André Cluytens, zum anderen in Form von sinfonischen Fragmenten mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985. In seiner originalen Form dauert das Mysterium fünf Stunden. Nur eine gute Stunde davon ist musikalisch gehalten.

Die Uraufführung 1911 in Paris geriet zum Skandal, weil der Sebastièn von der sehr leichtbekleideten und aus Russland stammenden Jüdin Ida Rubinstein dargestellt wurde. Sie war damals 26 Jahre alt und galt als eine der exzentrischsten Künstlerinnen ihrer Zeit. R. W.

Der junge Wagner kompakt

 

Jubiläen haben gelegentlich auch eine Nachwirkung. Zumal dann, wenn die damit verbundenen Ereignisse und Veranstaltungen nicht nur dem Moment huldigen, sondern für später bewahrt bleiben – zum Beispiel auf Tonträgern. Um den 200. Geburtstag von Richard Wagner 2013 herum hatte sich die Oper Frankfurt das Frühwerk des Komponisten vorgenommen. In konzertanten Aufführungen wurden Die Fee, Das Liebesverbot und Rienzi gegeben. Oehms brachte die Mitschnitte zunächst gesondert heraus. Nun sind sie gebündelt in einer Box erschienen (OC 15 9 CDs). Der Anlass findet keine Erwähnung mehr, was schade ist. Noch bedauerlicher ist es, dass auch Ausstattung ärmlich ist und die Operntexte weggefallen sind. In diesem Falle wären sie hilfreich gewesen. Nicht jeder Opernfreund hat die Libretti, die allerdings im Netz zu finden sind, zur Hand. Jetzt ist das Booklet schmal ausgefallen, enthält nur noch die Besetzung und die Tracklisten. Im Vorgriff auf das Gedenkjahr gab es bereits 2011 Die Feen, gefolgt vom Liebesverbot im Jahr darauf und als Höhepunkt schließlich 2013 Rienzi.

 

Große Firmen haben immer einen Bogen um diese Werke gemacht. Lediglich die EMI hatte in Koproduktion mit dem DDR-Label Eterna einen gekürzten Rienzi unter Heinrich Hollreiser im Studio eingespielt. Orfeo veröffentlichte – einzeln und gebündelt – die von Wolfgang Sawallisch betreuten Münchner Produktionen der drei Jugendopern. Den einzigen komplette Rienzi mit der großen Ballettmusik im zweiten und dem vollständigen Marsch im dritten Akt brachte Ponto als Mitschnitt der BBC unter der Leitung von Edward Downes von 1976 auf den Markt. In geballter Form macht das Frühwerk viel her. Aber auch einzeln stehen die Opern für sich. Wer genau hinhört, findet die Meisterschaft Wagner deutlich angelegt und teilweise schon weit entwickelt. Sein musikalisches Vorbild Carl Maria von Weber kommt am stärksten in den Feen zum Vorschein, wo es auch Anklänge an den Feuertod von Mozarts Don Giovanni gibt. An Heinrich Marschner lassen jene Passagen denken, die formal weit über komponierte Rezitative hinausgehen. In der Ouvertüre gibt es einen verschwenderischen musikalischen Aufschwung wie er sich in den Sinfonien von Robert Schumann findet. Wagner ahmt aber nicht einfach nur nach, er lässt sich allenfalls von seinen Hausgöttern inspirieren und ist schon er selbst. Das Musikdrama liegt in der Luft. Sebastian Weigle, in allen Mitschnitten am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, arbeitet das sehr genau heraus. Er hat ein feines Gespür für den frühen Wagner, den er, wie einst Sawallisch, in den Kontext zum Gesamtwerk stellt. Weigle hat sich auch durch Aufführungen des mit dem Holländer beginnenden so genannten Bayreuther Kanons einen Namen gemacht.

 

Sebastian Weigle leitete alle drei konzertanten Aufführungen in der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel/ Oper Frankfurt

Die Feen wurden erst nach Wagners Tod uraufgeführt – und zwar 1888 in München. An der musikalischen Einstudierung war auch der junge Richard Strass beteiligt. Im Gegensatz zum bühnenwirksameren Liebesverbot und zu Rienzi ist die Geschichte von Arindal, der sich auf der Jagd nach einer Hirschkuh in das Reich des Feenkönigs verirrt und sich dort unsterblich in die Fee Ada verliebt, ziemlich zäh. Würde die weitläufige Handlung behutsam in Szene gesetzt, sind schöne Bilder vorstellbar. Das Opernhaus in Leipzig, der Geburtsstadt Wagners, ließ sich in seiner Jubiläumsinszenierung erfolgreich darauf ein. Der Versuch einer Deutung mit den radikalen Mitteln des zeitgenössischen Regietheaters hätte es gewiss schwerer. So bleibt – wie schon bei Sawallisch in München – eine konzertante Aufführung letztlich wohl auch für die Zukunft die realistische Lösung. In Frankfurt klang es aber über weite Strecke nach Bühne, Schwert und Rüstung. Nur einmal stellt sich unfreiwillige Komik ein, wenn Arindal unmittelbar vor seinem leidenschaftlichen Kampfesruf „Die Liebe siegt“ hörbar die Seite umblättert als ob er erst einmal nachschauen muss, wie es denn weitergeht. Burkhard Fritz, inzwischen meistens als Heldentenor unterwegs, klingt 2001 noch sehr lyrisch. Die Ada wird von der Amerikanerin Tamara Wilson gesungen, die nun vor allem in Partien von Strauss und Verdi international erfolgreich ist. Auf sie warten im zweiten Akt große Herausforderungen mit extremen Höhen, die sie technisch und gestalterisch glänzend besteht. Nur bei der Wortverständlichkeit hapert es gelegentlich. In den anderen Rollen sind zu hören Alfred Reiter (Feenkönig), Anja Fidelia Ulrich (Zemina), Juanita Lascarro (Farzana), Brenda Rae (Lora), Michael Nagy (Morald), Christiane Karg (Drolla), Thorsten Grümbel (Gernot), Siomon Bode (Gunther/Bote), Sebastian Geyer (Harald) und Simon Bailey (Stimme des Zauberers Groma).

 

Christiane Libor machte als Irene in Rienzi, großen Eindruck. Im Liebesverbot sang sie die Isabella. Foto: Wolfgang Runkel / Oper Frankfurt

Das Liebesverbot ist auch nicht die erste Aufnahme auf Tonträgern. Schon Robert Heger hatte sich 1963  – auch ein Wagner-Jahr – beim ORF an eine Produktion mit Hilde Zadek und Anton Dermota  gemacht. Mit prominenter Besetzung wartete Wolfgang Sawallisch 1983 – wieder ein Jubiläum – an der Bayerischen Staatsoper München auf. Der schon erwähnte Edward Downs dirigierte das Werk bei der BBC, der Mitschnitt kam zuerst bei Ponto heraus und wurde später sogar in eine Edition aller Wagner-Opern von der Deutschen Grammophon übernommen. Zurück nach Frankfurt. Die Akteure sind keine Unbekannten. Im Gegenteil. Sie haben es allenthalben zu Ruhm und Anerkennung gebracht. Mehr CD-Aufnahmen tun ihrer Karriere gut. Zu nennen ist Christiane Libor als bezaubernde Isabella, die an großen Häusern singt und in zahlreichen Partien, darunter Marschallin und Agathe, Anerkennung fand. Michael Nagy, der verbieterische Friedrich, der in den Feen den Morald singt, hat bereits Bayreuth-Anerkennung als Wolfram gefunden und heimste als Papageno in Baden Baden Lobeshymnen der Zuschauer und Feuilletons ein. Eine sehr charaktervolle Stimme mit einer leichten Neigung zum Unsteten. Das kann Nervosität sein. Als Claudio gewinnt der US-Amerikaner Charles Reid durch seinen hellen, gut sitzenden Tenor auf Anhieb Sympathien. Sein umfängliches Repertoire fußt im Lyrischen, wo er hingehört. Wer noch? Simon Bode als Antonio, Franz Mayer als Angelo, Peter Bonder als Luzio, Anna Gabler als Mariana, Thorsten Grümbel als Brighella. Das Liebesverbot ist nicht nur inhaltlich, sondern auch in etlichen musikalischen Erfindungen dem späteren Tannhäuser verbunden. Ob es das so genannte Erlösungsmotiv ist, das gleich zu Beginn des dritten Aufzugs anklingt und sich auch in der Romerzählung wiederholt, die Leidenschaft des Duetts von Elisabeth und Tannhäuser  oder die festlichen Klänge beim Einzug der Gäste auf der Wartburg sind, im Liebesverbot sind sie fast notengenau vorweggenommen.

 

Julian Prégardien (links/Pontio Pilato) und Simon Bode (Antonio) in der Oper Das Liebesverbot. Foto: Wolfgang Runkel/ Oper Frankfurt

Mit dem Rienzi war allerdings eine Chance vertan worden. Als Gegenstück zur BBC-Aufnahme hätte das Frankfurter Opernhaus mit einer modernen Komplettproduktion punkten können. Stattdessen wurde wieder eine scharf gekürzte Fassung abgeliefert, die diesem frühen Meisterwerk nicht gerecht wird. Sie blieb in der Auswahl Szenen noch hinter der EMI-Einspielung  zurück und kann es dem Umfang nach auch mit der historischen Produktion des Hessischen Rundfunks von 1950 nicht aufnehmen – von diversen DVD-Versionen ganz zu schweigen. Was die Fassung anbetrifft, gab sich Oehms bei der ersten Auflage, die noch ein umfängliches Textheft enthielt, ziemlich kleinlaut. Es hieß lediglich, dass die Pantomime gestrichen sei, was so auch nicht korrekt ist. Denn im zweiten Aufzug wurde nämlich durchaus ein Häppchen Ballettmusik gereicht und zwar aus dem so genannten Waffentanz, der als Gladiatorenkampf das antike Rom heraufbeschwören soll. Das ist so ärgerlich wie unnötig. Denn das Ballett macht Rienzi erst zur Großen Oper in der französischen Tradition. Übrigens war daran schon Cosima Wagner, der alles Französische suspekt war, wenig gelegen. Sie wollte mit Strichen das populäre Jugendwerk näher an die Musikdramen heranrücken. Nun wiederholte sich diese Praxis auch in Frankfurt. Wenn es denn nur bei der Ballettmusik geblieben wäre, wie seinerzeit das ausführliche Booklet suggerierte. Weit gefehlt. Die Kürzungen sind tiefgreifender. Gleich im ersten Aufzug musste das große Duett zwischen Irene und Adriano daran glauben. Warum nur? In dieser Szene wird der spannende Romeo-und-Julia-Konflikt als die wichtigste Nebenhandlung des Stückes deutlich. Gleich darauf traf es den wunderbaren, Aufbruch verheißenden Chor im Lateran. Reduziert wurde die inhaltlich äußerst gewichtige Szene der Friedensboten, mit der der zweite Aufzug beginnt. Sie traten lediglich als Chor in Erscheinung, der Solist wurde eliminiert. Einen beträchtlichen Strich gab es auch im dritten Aufzug. Nach Adrianos Arie „Gerechter Gott“ strebt das Geschehen kurzerhand und zügig dessen Ende zu.

Weitgehend ungeschoren kamen der vierte und der fünfte Aufzug weg, die von Haus aus bereits knapp gehalten sind. Rienzi light. Peter Bronder in der Titelrolle war für meinen Geschmack zu wenig heldisch, glich dieses Manko aber mit schönen lyrischen Passagen aus, in denen die Zerrissenheit Rienzis zum Ausdruck kommt. Falk Struckmann, der erfahrene Profi, hatte die nötige Präsenz für Colonna. Etwas unstet wirkte Daniel Schmutzhard als Orsini, seine Stärken waren getragene Passagen, die sich in die Ensembles mischten. Claudia Mahnke brachte in die Hosenrolle des Adriano zu viele veristische Elemente ein. Am besten gefiel mir Christiana Libor als Irene, die auch schon in anderen Wagner-Produktionen in Frankfurt erfolgreich mitwirkte. Ihr gelang auch ausdrucksmäßig das beste Rollenporträt. Rüdiger Winter

Rank und schlank

 

Die Orchesterwerke von Franz Liszt führen vergleichsweise noch immer ein Schattendasein. Obwohl Liszt nicht weniger als 13 nummerierte Sinfonische Dichtungen geschaffen hat und dazu zwei große Tondichtungen, die der Sinfonie-Form nahestehen (Eine Faust-Symphonie sowie Eine Sinfonie nach Dantes Divina Commedia, jeweils mit Singstimmen), hat sich im Standardrepertoire eigentlich nur Les Préludes, das vermutlich bekannteste aller Orchesterwerke dieses Komponisten, wirklich durchgesetzt. Und auch hier litt diese Tondichtung lange unter der missbräuchlichen Verwendung während der Nazi-Zeit als „Russland-Fanfare“ der Deutschen Wochenschau. Die relativ geringe Beschäftigung mit dem Liszt’schen Orchester-Œuvre schlägt sich auch diskographisch nieder.

Erst zwischen 1968 und 1971 wurden erstmalig sämtliche dieser Werke in Stereo eingespielt, nämlich durch den niederländischen Dirigenten Bernard Haitink für Philips. Zuvor gab es wenige ernsthafte Versuche, am nennenswerten sicherlich jener von Nikolai Golowanow, der für Melodia in den frühen 1950er Jahren immerhin zwölf der 13 Sinfonischen Dichtungen einspielte (es fehlt Von der Wiege bis zum Grabe, das lange Zeit als „Irrung eines Greisen“ abgetan wurde); daneben gab es eine zaghaftere Annäherung etwa durch Hermann Scherchen und später durch Georg Solti. Besonders ambitioniert war in dieser Hinsicht Kurt Masur mit seinem Gewandhausorchester Leipzig. In den Jahren von 1977 bis 1980 legte er nicht nur die Orchesterwerke, sondern auch die Werke für Klavier und Orchester vor (VEB Deutsche Schallplatten Berlin, heute EMI/Warner). Mitte der 80er folgte dann die bis heute wohl idiomatischste Gesamteinspielung durch das Budapest Symphony Orchestra unter der Stabführung von Árpád Joó (Hungaroton). Und in jüngster Zeit spielte Gianandrea Noseda mit dem BBC Philharmonic eine Gesamtaufnahme für Chandos ein. All diese Aufnahmen haben ihre Meriten oder zumindest einen historischen Stellenwert.

„Liszt am Flügel“ von Josef Danhauser. Es befindet sich in der Alten Nationalgalerie Berlin. Man sieht den Pariser Kreis um Liszt, dessen Blick ehrfurchtsvoll auf eine Büste von Beethoven gerichtet ist. Hinter ihm stehen Victor Hugo, Niccolò Paganini und Gioachino Rossini. Davor sitzen Alexandre Dumas d.Ä. und George Sand. Zu Füßen Liszts kauert, dem Betrachter abgewandt, Marie d’Agoult. Aus der Verbindung mit ihr ging die Tochter Cosima, die spätere Frau Richard Wagners, hervor / Wikipedia

Was nun die Neueinspielung durch Martin Haselböck mit seinem Orchester Wiener Akademie für Gramola hervorhebt, ist der Anspruch, diese Werke erstmals im Originalklang des 19. Jahrhunderts zu präsentieren. Dass Haselböck ein großer Verfechter des noch heute als Komponisten oft unterschätzten Franz Liszt ist, darf außer Frage stehen, hat er doch zwischen 2010 und 2017 für nicht weniger als vier Labels Einspielungen gemacht (NCA, Alpha Classics, cpo, Gramola), die nun allesamt in einer handlichen, 9 CDs umfassenden Box zum attraktiven Preis erschienen (Gramola 99150). Aufnahmestätte war in allen Fällen der Franz-Liszt-Saal im Liszt-Zentrum Raiding im österreichischen Burgenland. Die ansonsten tadellose Beilage verschweigt allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen die genauen Aufnahmedaten, die man nur mit etwas Recherche bei den ursprünglichen Originalveröffentlichungen nachvollziehen kann. Abgesehen von CD 8 (Einzelstücke) enthält diese Kassette auch nichts bislang Unveröffentlichtes.

Es wurden Originalinstrumente oder originalgetreue Nachbauten historischer Instrumente verwendet, um dem Klangbild, welches Liszt im Weimar der 1850er Jahre erzielte, so nahe wie möglich zu kommen. Auch wurde bei der Auswahl des Aufnahmeortes darauf geachtet, dem nicht mehr existenten Konzertsaal des Weimarer Schlosses weitmöglichst zu entsprechen. Was bei diesen Einspielungen im Originalklang sofort auffällt, ist das deutlich kompaktere und schlankere Klangbild, welches auf der einen Seite zwar bislang wenig gehörte Details offenlegt, auf der anderen Seite aber hie und da auch etwas schmalbrüstig anmutet. Im direkten Hörvergleich mit anderen Aufnahmen fehlt durch den fast kammermusikalischen Ansatz dann auch ab und an die Monumentalität, die das Liszt-Bild Jahrzehnte lang geprägt hat. Ob dies ein Nachteil ist, muss freilich jedermann für sich selbst entscheiden. Unstrittig ist indes, dass gerade der Liszt’sche Gassenhauer Les Préludes hier eine insgesamt nicht ganz zufriedenstellende Aufführung erreicht. Überhaupt ist der betont nüchtern-geradlinige Ansatz, den Haselböck verfolgt, für solch urromantische Werke womöglich nicht der Weisheit letzter Schluss. Tempomäßig unterscheidet sich Haselböck nicht allzu stark von älteren Aufnahmen, ausgenommen vielleicht eine sehr getragene Hunnenschlacht (16:25). Einmal mehr wird dem geneigten Hörer und der geneigten Hörerin durch diese Kollektion vor Augen geführt, dass es neben Les Préludes noch weitere absolut hörenswerte Sinfonische Dichtungen dieses Komponisten gibt, denen ein Platz im Konzertrepertoire durchaus zustünde. Besonders Tasso, Mazeppa und Prometheus, aber auch der von Liszts Schwiegersohn Wagner geliebte, sehr kontemplativ ausgelegte Orpheus wären hier anzuführen, die auch diskographisch nicht gar so schlecht vertreten sind.

Dagegen dürften die weniger zugänglichen und außerhalb von Gesamtaufnahmen so gut wie niemals eingespielten Tondichtungen Héroïde funèbre und Die Ideale auch in Zukunft randständiges Repertoire bleiben. Neben den genannten eigentlichen Sinfonischen Dichtungen weiß diese Ausgabe auch mit weiteren Orchesterwerken aufzuwarten. Von der nahezu unbekannten Évocation à la Chapelle Sixtine über die wenig geläufige Ergänzung des Tasso namens Le Triomphe funèbre du Tasse (die dritte der Trois Odes funèbres – die beiden anderen sind auf CD 7 enthalten) bis hin zur Weltersteinspielung der Kreuzeshymne Vexilla Regis Prodeunt. Liszts starke Affinität zum Katholizismus wird in diesen Stücken einmal mehr deutlich. Als sehr gelungen dürfen gerade die Aufnahmen diverser Orchestrierungen gelten, seien es Liszts eigene Werke oder jene von Schubert, drei Märsche und die sogenannte Wanderer-Fantasie in vier Sätzen, bearbeitet für Klavier und Orchester. Der Repertoirewert der orchestrierten Ungarischen Rhapsodien Nr. 1-6 wurde bereits u. a. vom Musikschriftsteller David Hurwitz hervorgehoben. Bei diesen Werken vergisst man dann auch den Einsatz des historischen Instrumentariums, welches gerade bei den großsinfonischen Stücken an seine Grenzen stößt. So stellen sowohl die Dante– wie auch die Faust-Sinfonie eher interessante Ergänzungen der Diskographie als tatsächliche neue Referenzaufnahmen dar, auch wenn die Leistung der Beteiligten (Tenor Steve Davislim, Chorus sine nomine) keinen Grund zum Tadel bieten. Summa summarum fraglos ein löbliches Mammutprojekt, das zu einem Großteil zu überzeugen weiß und einen interessanten neuen Blickwinkel auf die vielfach noch heute verkannten Orchesterwerke von Franz Liszt bietet, ohne freilich die bisherigen Referenzen klar vom Thron zu stoßen. Der sehr gute Klang und die erfreulich hochwertig anmutende Präsentation steigern den Wert dieser ersten Gesamteinspielung auf historischen Instrumenten. Daniel Hauser 

 

Schmuse-Bach

 

Es ist guter Brauch geworden bei einigen CD-Firmen, Sänger in den Booklets selbst zu Wort kommen zu lassen. Eigentlich sollten sie sich ja singend mitteilen. Wenn aber das Kerngeschäft mit einigen klugen Worten begleitet wird, kann das nicht schaden. Für den Bariton Benjamin Appel ist Johann Sebastian Bach der Komponist, dessen Musik „die inneren Hürden einreißt, die trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer genialen Konstruktion einzigartige spirituelle, emotionale Kraft besitzt“. Ihn habe besonders zum „Innehalten und Nachdenken gebracht“, dass „in unserer Zeit, in der Wertbegriffe sich ständig verändern oder neu definiert werden“ Bach Musik unvergleichlich wie ein „Felsen in der Brandung“ stehe. Er treffe „authentisch immer den richtigen Ton“. Appel hat seine neue CD bei Sony ausschließlich Bach gewidmet (19075851622). Begleitet wird er vom Concerto Köln, einem auf historische Aufführungspraxis spezialisierten Orchester, das 1985 gegründet wurde und in der aktuellen Produktion auch durch dunkle, satte Klänge fasziniert.

„Willkommen, werter Schatz“„aus der Kantate Schwingt freudig euch empor (BWV 36) kann als freundliche Einladung zu der Aufnahme verstanden werden. Beide Seiten harmonieren vortrefflich. Es wird nicht gehetzt, so dass sich die Musik angemessen entfalten kann. Obwohl es sich um eine Kirchenkomposition handelt, verbreitet Appl ein durch und durch weltliches Flair. Auch die Arien „Mache dich, mein Herze, rein“ und „Gebt mir meinen Jesum wieder“ aus der Matthäuspassion (BWV 244) hebt er durch seinen Vortragstil aus dem Bibel-Kontext ins allgemein Menschliche. Dabei scheut er sogar vor veristische anmutenden Nuancen nicht zurück, wenn nämlich die Reue des Verräters Judas besungen wird und der „verlorene Sohn“ den „Mörderlohn“ voller Abscheu und Ekel von sich wirft. Was einerseits also sehr effektvoll wirkt, stellt sich zugleich auch als grenzwertig dar, und ich frage mich, ob es sich um individuelles Kalkül handelt oder ob es Schwierigkeiten des Sängers offenbart, dramatische Momente zu erfassen und angemessen darzustellen. Bach ist schließlich nicht Mascagni. Besser vermag Appl seine dramatischen Möglichkeiten im Rezitativ „Ach, soll nicht dieser große Tag“ und in der folgenden Arie „Seligster Erquickungstag“ aus der Kantate Wachet! Betet! Betet! Wachet! (BWV 70) auszutesten. Hingegen gerät er mit der Arie des Pan „Zu Tanze, zu Sprunge, so wackelt das Herz“ aus der Kantate Geschwinde, ihr wirbelnden Winde (BWV 201), auch unter dem Namen Der Streit zwischen Phoebus und Pan bekannt – hörbar in Bedrängnis. In der Tat trägt die Arie, die in der Bauernkantate (BWV 212), die auf der CD mit der Sinfonia vertreten ist, nochmals aufgenommen wird, opernhafte Züge. Sie hat es in sich und ist eine Herausforderung für jeden Sänger. Das rechtfertigt aber nicht, aus dem Herz, das „wackelt“, einen nahezu ungenießbaren Koloratursalat anzurichten. Mit schnellen Läufen tut sich Appl schwer. Und „Scherz“ wird immer noch mit e und nicht mit ä wie „Schärz“ geschrieben – und gesungen. Derlei Verfärbungen fallen auch an anderen Arien auf. Trotz aller kritischen Einwände kommt der junge Bariton letztlich sympathisch rüber. Mit der Arie „Bist du bei mir“ aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, die eigentlich von Gottfried Heinrich Stölzel stammt, und „Jesus bleibet meine Freude“ aus der Kantate Herz und Mund und Tat und Leben (BWV 147) entschädigt er mit fast schon schmusigen Tönen für manches herbe Ungemach.

In seiner bisherigen Karriere hatte sich Benjamin Appl dem Liedgesang verschrieben. Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Auftritte, die er auf seiner eigenen Homepage ankündigt, sind vornehmlich diesem Genre verpflichtet. Hinzu kommen im Herbst 2018 Brittens War Requiem und später das Weihnachtsoratorium. Operntermine habe ich nicht gefunden. Dabei hat dieser Sänger durchaus einschlägige Erfahrungen beispielsweise als Graf in Mozarts Figaro in London oder als Aeneas in Purcells Oper Dido and Aeneas beim Aldeburgh Festival gesammelt. Er sieht blendend aus, ist groß gewachsen, charmant und sympathisch im Auftreten. Schon rein äußerlich bringt er also alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn mit. Sängerisch sowieso. Opernhäuser wären gut beraten, den jungen Bariton mit einer passenden Aufgabe zu betrauen. Wann, wenn nicht jetzt?

 

Stets wirkungsvoll in Szene gesetzt ist er auf den Titelbildern seiner CDs. Noch relativ neu ist eine Produktion aus London, aufgenommen im Dezember 2016 für das englischen Label hyperion. Appl bestreitet die siebte Folge der Gesamtaufnahme der Lieder von Johannes Brahms (CDJ33127). Angelika Kirchschlager hatte mit Vol. 1 die Edition eröffnet, gefolgt von Christine Schäfer (Vol. 2), Simon Bode (Vol. 3), Robert Holl (Vol. 4), Christopher Maltman (Vol. 5) und Ian Bostridge (Vol. 6). Begleiter und Inspirator des Unternehmens ist der Pianist Graham Johnson, der auch schon bei der hyperion-Produktion aller Schubert-Lieder am Flügel gesessen hatte. Er begleitet Appl auch bei Konzerten. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen der CD erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. „Liebe und Frühling I und II“ aus den Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme, die der Zwanzigjährige der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den 49 Deutschen Volksliedern, mit deren Zusammenstellung und Ordnung sich Brahms gegen das Ende seines Lebens beschäftigt hatte. Warum nur acht? Wenn hyperion so verfährt wie bei der Aufnahme der Schubert-Lieder, dann dürften die zunächst jeweils einem Künstler gewidmeten CDs in der abschließenden Gesamtausgabe in der Reihenfolge ihres Entstehens neu angeordnet werden. So finden dann auch die Liedgruppen zusammen, die zusammen gehören. Um bei den Volksliedern zu bleiben. Vier hatte Angelika Kirchschlager aufgenommen, sechs Christine Schäfer, drei Simon Bode. Mit Appl sind es nun schon einundzwanzig. Fehlen also noch achtundzwanzig. Einzeln betrachtet ergeben die bisherigen Veröffentlichungen noch kein geschlossenes Bild des Liederwerks. Während Bostridge mit den Liedern und Gesängen op. 32 und den Vier Liedern op. 96 und Holl mit den Vier ernsten Gesängen mehrere Liedgruppen geschlossen darbieten, muss sich Appl bisher mit Stückwerk begnügen. Es sei denn, er wird noch für weitere Aufgaben herangezogen. Das Projekt ist ja noch nicht abgeschlossen.

Brahms liegt Appl. Sein weiches, sensibles Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem zur Schwermut neigenden Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein wie jetzt auch bei Bach. Appl sollte sich noch mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Einwände gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird auch gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt Wie ist da Whie zu hören. Das eingeschobene h sollte weg.

 

Benjamin Appl Sony Heimat

Benjamin Appl, 1982 in Regenburg geboren, inzwischen vornehmlich in London lebend, hatte sich auf die Suche nach Heimat begeben. Was ist Heimat für einen, der noch ein Kind war, als der eiserne Vorhang in Europa fiel, der sich immer völlig frei bewegen konnte, heute hier, morgen dort. Der nie etwas anderes gekannt hat als diese grenzenlose Freiheit. Ist Europa schon die Heimat geworden für einen wie ihn? Oder schwingt da im tiefsten Innern doch eine Sehnsucht nach einem ganz konkreten Ort mit? Nach einer Stadt, einem Dorf, einem Landstrich. Heimat ist ein schwieriges Wort. Es wurde und wird noch immer missverstanden und missbraucht. Dabei ist es ein schönes Wort. Bei jungen Leuten, die sich nicht mit dem historischem Ballst der Großväter herumschleppen müssen, hat es wieder eine Chance, völlig unverkrampft gebraucht zu werden. Seiner ersten CD bei Sony hatte er den Titel Heimat gegeben (88985393032). Der Sänger ist Exklusivkünstler der Firma. Daran knüpfen sich viele Hoffnungen, für den Künstler wie auch für sein Publikum. Nach Überzeugung des Gramophone Magazins stieg Appl bereits zum „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedersänger“ auf. So weit würde ich nicht gehen. Noch nicht. In diesen Blumenstrauß der Huldigung ist Vorschusslorbeer eingebunden. Der Kreis der Konkurrenten ist groß. Immer mehr talentierte junge Sänger drängen auf den Markt. Appl hat seine eigenen Möglichkeiten bislang nicht ausgeschöpft. Was auch auf der Sony-CD zu hören ist. Die Register sind noch nicht ausgeglichen. Hohe Töne reißt er mitunter nach oben anstatt sie aus den unteren Lagen anschwellen zu lassen. Appls Stimme klingt etwas älter und gesetzter als es seine Fotos erwarten lassen. Er ist sehr gut zu verstehen. Das sind beste Voraussetzungen für einen Liedsänger. Wenn er intensiv an der Vervollkommnung seiner Technik weiterarbeitet, wird er erst zur Spitze aufsteigen, wo ich ihn noch nicht sehe. Und dennoch soll das Werturteil des Musikmagazins nicht kleingeredet werden. Vor allem jene Musikfreunde dürften es gern zur Kenntnis nehmen, die sich mit Liedern beschäftigen, die ihren Fischer-Dieskau, Prey, Wunderlich, Goerne oder Gerhaher sehr gut kennen und schätzen, die aber immer auf der Suche nach neuen Eindrücken und Stimmen sind. Appl lässt Gefühle zu, nicht nur sublimiert als Kunst, sondern in Wort und Schrift.

Für das Booklet hat er einen persönlichen Text verfasst: „Jeder von uns kennt aufgrund verschiedener Erfahrungen die Empfindung von Geborgenheit, die einen durch einen Ort, eine Situation oder Personen vermittelt wird. Manchmal erfährt man aber auch Einengung, Vorurteil oder Schmerz“, schreibt er. Dichter und Komponisten, hätten sich seit Jahrhunderten damit beschäftigt. „In unserer Zeit ist diese Thematik noch aktueller und drängender denn je, wo viele ihre Heimat verlieren oder aufgeben.“ Heimat sei etwas, was Menschen wirklich bewege. In den Liedern der CD sieht er ein Stück seiner Lebensreise. Es seien Texte, die trösteten, Freude bereiteten, Erinnerungen wachriefen, aber auch Lieder, die von Aufbruch und Findung berichteten, „nicht zuletzt aber als Wegbegleiter und Wegbereiter von Vertrautheit und Halt“. Andere wiederum spiegelten Momente wieder, in denen ein Stück Heimat verlorengegangen sei. Entsprechend ist die Auswahl getroffen. Die Literatur zum Thema Heimat ist groß. Dichter und ihre Komponisten fühlten sich zu allen Zeiten ausgestoßen, an den Rand der Gesellschaft in Außenseiterpositionen gedrängt. Auf einen Prolog mit Franz Schuberts „Seligkeit“ folgen die Themen Wurzeln, Räume, Menschen, Unterwegs und Sehnsucht, ausschließlich von deutschsprachigen Komponisten bestritten. Zu Schubert, der mit Liedern am häufigsten vorkommt, treten Max Reger, Johannes Brahms, Franz Schreker, Hugo Wolf, Richard Strauss und Adolf Strauss hinzu.

Adolf Strauss? Über diesen 1902 geborenen Komponisten ist wenig bekannt. Er schrieb den Tango „Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen“ im KZ Theresienstadt unmittelbar vor dem Todestransport in die Gaskammern von Auschwitz. Musikalisch kann dieser Titel, der an Barmusik denken lässt, mit den anderen Liedern nicht mithalten, zumal er zwischen „Wanderer an den Mond“ und „Heimweh“ von Schubert geklemmt ist. Durch die tragischen Umstände seines Entstehens schon. Appl hat gut daran getan, in seinem Programm, mit diesem Lied auf nachdenkliche Weise innezuhalten bei seiner Suche nach Heimat. Zugleich aber empfiehlt er sich als Begabung für dieses leicht gestrickte und eingängige Genre jenseits der hohen Schule des Liedgesangs. Appl hat Sexappeal in der Stimme. Die abschließende CD-Abteilung „Grenzenlos“ wird vom Franzosen Francois Poulenc und den Engländern Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Sir Henry Bishop (1786-1855), Peter Warlock (1894-1930), John Ireland (1879-1962) bestritten, bevor das Programm mit einem Prolog ausklingt, bestehend aus zwei Liedern des Norwegers Edvard Grieg – „An das Vaterland“ und „Ein Traum“. Hier schließt sich der Kreis. Heimat und Vaterland als immerwährender Traum. Ein schöner Gedanke.

 

Zunächst hatte Benjamin Appl bei Champs Hill diverse Lieder aufgenommen. Dem Vernehmen nach ist er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu diesem englischen Label ergeben haben dürften. Stunden, Tage, Ewigkeiten ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: „Der Atlas“, „Ihr Bild“, „Die Stadt“, „Der Doppelgänger“. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm gut. Appl lässt sich Zeit beim Singen. Dadurch kann er textlichen und musikalischen Details ausbreiten. Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied „Gruß“ in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser CD. Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu.

Begleiter ist – wie auch bei der ersten Sony-Produktion James Baillieu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der Sänger ebenfalls zu Wort: „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen.“ Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil auf dieser CD wirkt selbstbewusst und frisch, und doch nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er noch einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen. Und in Gedanken der gestrenge Fischer-Dieskau. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter  

„Wie aus der Ferne …“

 

Eigentlich ist es schade, dass die Bayreuther Produktionen, die Orfeo in seiner Festspielreihe herausbringt, nur gehört und nicht gesehen werden können. Jetzt ist der zweite Fliegende Holländer erschienen (C 936 1821). Den hätte ich zu gern auch optisch als DVD auf meinem Fernseher gehabt. Es ist der Mitschnitt der Eröffnungspremiere von 1959. Erstmals führte Wieland Wagner Regie bei dieser Oper. Die Vorgängerinszenierung, die zwischen 1955 und 1956 auf dem Spielplan stand, stammte von seinem Bruder Wolfgang. An die Stelle einer großen romantischen Ballade mit aktuellen Zeitbezügen war eine schärfere soziale Zeichnung des Geschehens getreten. „Obwohl Wielands neuer Inszenierungsstil … durch seine starke, ja atemberaubende theatralische Wirkung das Publikum überwältigte, verblüffte er jedoch auch durch seine ungewohnte Gegenständlichkeit und seinen Realismus“, schreibt Oswald Georg Bauer im zweiten Band seiner Geschichte der Bayreuther Festspiele. Die Bühne sei nicht entrümpelt, sondern – im Gegenteil – wieder voll geräumt worden. Dafür habe der Wagner-Enkel den Begriff des „magischen Realismus“ gewählt. Die Oper – wird Wieland Wagner weiter zitiert – spiele in einem „sozialen Milieu“, das sich nicht „symbolisieren und abstrahieren“ lasse. Das Mythische rücke auf tragische Weise in den „realen Bereich des Menschlichen“. Wer sich auf den Mitschnitt einlässt, wird davon auch hörend Zeuge, wenn – um das auffälligste Beispiel herauszugreifen – Daland (Josef Greindl) als fieser Kapitalist mit der Zunge schnalzt oder ähnlich gemeine Laute von sich gibt, wenn er seines Vorteils gewiss ist. Es scheint, als sei Greindl, der versierte Bühnenprofi, seinem Regisseur am genauesten gefolgt. Seine Interpretation gibt auch eine Vorstellung davon, was Wieland vorschwebte.

George London, (eigentlich George Burnstein, russischstämmiger Kanadier mit Wohnsitz in den USA) war schon bei den ersten Nachkriegsfestspielen 1951 als Amfortas mit dabei, hatte den Holländer bereits unter Wolfgang gesungen. Er wirkt stimmlich zwar etwas bemüht, ist aber schon deshalb eine ideale Besetzung, weil er, der gebürtige Kanadier, der seit 1935 in den USA lebte, das Fremde und Globale verkörpert. Auch stimmlich. Erstmals sang Leonie Rysanek die Senta in Bayreuth. Sie alternierte mit Astrid Varnay, die auch in der ersten Inszenierung besetzt gewesen ist. Sie klingt wie sie immer klingt, wirft sich mit Emphase in die Rolle, folgt ihrem inneren Triebe, sie kann nicht anders. Mir ist das zuviel Rysanek und zu wenig Senta. Es wirkt aus der Distanz seltsam, wenn sie Erik (Fritz Uhl) entgegenhält: „Ich bin ein Kind, und weiß nicht, was ich singe.“ Und den Schrei, den sie bei der ersten Begegnung mit dem Holländer ausstößt, kennt man aus vielen ihrer Opernabende. Große Oper. Ob das dem Regisseur zusagte? Beim Publikum kam sie sehr gut an. Nicht zuletzt soll ihr der große Erfolg – so berichtet Bauer – Anlass gewesen sein, die Gagenforderungen entgegen der üblichen Bayreuther Sparsamkeit in die Höhe zu schrauben. Jedenfalls wurde sie im Jahr darauf durch die erst zwanzigjährige Anja Silja ersetzt. Die bereits dreiundsechzigjährige Res Fischer gab der Mary starke herbe Konturen, während mir Georg Paskuda als Steuermann im ersten Moment wie eine Notlösung vorkommt. Ähnlich wie Uhl gehörte er nicht in die Kategorie der Schönsänger. In das realistische Konzept dürften sie gepasst haben. Am Pult stand Wolfgang Sawallisch, der eigentlich den neuen Ring hätte dirigieren sollen, die 1959 aber nicht zustande kam. Er war Mitte dreißig, hatte 1957 mit den Tristan in Bayreuth debütiert. Sawallisch folgte dem Regisseur mit einem klaren und schnörkellosen Klangbild. Gespielt wurde die genannt Dresdener Fassung ohne den Erlösungsschluss.

Den ersten Bayreuther Nachkriegs-„Holländer“ von 1955 hat Orfeo ebenfalls im Katalog (C 692 0921 1). Dirigent ist Hans Knappertsbusch.

Den bereits erwähnten ersten Bayreuther Nachkriegs-Holländer von 1955 hat Orfeo ebenfalls im Katalog (C 692 0921 1). Schon mit der aufbrausenden Ouvertüre wird vom Dirigenten Hans Knappertsbusch ein Standard gesetzt, der so selbst in Bayreuth vielleicht nie wieder erreicht wurde. Knappertsbusch, sonst dem großen Bogen verpflichtet, betont die Brüche dieser Musik und trumpft auch schon mal regelrecht ungehobelt auf. Als ob er dabei mit dem Fuße aufstampft. Es ist ein Lauern, ein Spucken in dieser Aufführung, alle Mitwirkenden scheinen immer wieder vor Abgründen zu stehen, die sich jäh und gefährlich auftun. Mir laufen die Schauer nur so über den Rücken. Vom ersten Ton an ist klar, dass diese Geschichte ein unheimliches Ende haben wird. Ohne die richtigen Sänger wäre Knappertsbusch natürlich aufgeschmissen gewesen, was er wohl auch ganz genau wusste. Sie folgen ihm ohne Wenn und Aber. Hermann Uhde ist eine ideale Besetzung der Titelfigur. Er singt sein finsteres Los weniger mit Verzweiflung sondern mit einer Würde und einem trotzigen Stolz, die man nicht zuvorderst bei dieser Figur sucht. Astrid Varnay ist eine wissende Senta, nicht das unschuldige Kind. Sie ist der engen Kaufmannswelt ihres Vaters verloren. Ihr Schicksal ist besiegelt, noch bevor sie zu der berühmten Ballade ansetzt, bei der sie der Dirigent zwingt, jedes Wort, jeden Punkt und jedes Komma auf die gestalterische Goldwaage zu legen. Das braucht Zeit. Varnays Atemreserven bei diesem getragenen Tempo, bei dem manchmal der ganzen riesige Apparat zum Stillstand kommt, sind schier unerschöpflich. Da stört es nicht so sehr, dass einige Töne scharf und überzeichnet sind. Wolfgang Windgassen als Erik kann sie nicht halten und singt das auch so. Er steht auf verlorenem Posten. Als wenig sympathischer Daland steuert Ludwig Weber das Seine bei. Betörend unschuldig singt Josef Traxel den Steuermann, der als einzige Figur nicht verstrickt ist in die Geschichte, auch wenn er die Landung des Holländer-Schiffes verschläft.

Diese „Lohengrin“-Aufnahme stammt vom 30. Juli 1967 (C 850 113D) – aus der ersten Bayreuther Saison ohne Wieland Wagner, der am 17. Oktober 1966 gestorben war.

Seiner Bayreuther Festspielreihe hat Orfeo auch den zweiten Lohengrin hinzugefügt. Auf den Mitschnitt von 1959 folgt unlängst eine Aufnahme vom 30. Juli 1967 (C 850 113D) – aus der ersten Saison ohne Wieland, der am 17. Oktober 1966 gestorben war. Regisseur dieser Neuproduktion ist Wolfgang Wagner gewesen, der die Last des berühmtesten deutschen Festivals fortan allein zu tragen hatte. Bei dem Mitschnitt handelt es sich nicht um die Eröffnungspremiere. Orfeo entschied sich für die Wiederholung eine Woche später, bei der James King Sandor Konya in der Titelrolle abgelöst hatte. Das sollte nicht er einzige Wechsel bleiben. In den weiteren Vorstellungen sangen noch Jess Thomas und Hermin Esser, der ursprünglich nur als einer der vier brabantischen Edlen besetzt war. Es ist der erste Lohengrin Kings, der auf Tonträgern überliefert ist. King war kein Neuling in Bayreuth. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er als Siegmund auf sich aufmerksam gemacht, eine Rolle, die ihm mehr lag als der lyrische Lohengrin. Sein Schwanenritter lässt technisch keine Schwierigkeiten erkennen. King ist sehr sicher und professionell – und bestens zu verstehen. Der Auftritt wie aus einer anderen Welt. Metallisches Timbre ist sein unverkennbares Markenzeichen. Defizite offenbaren sich in der Gestaltung, die zu eindimensional und zu distanziert bleibt und die magische Stimmung bei der Ankunft nicht zu steigern vermag. Was sich schon Anfang der 1960er Jahre abgezeichnet hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Mit diesem Lohengrin wurden die Besetzungen bei den Festspielen spürbar internationaler. King, Grace Hoffman (Ortrud) und Thomas Tipton (Heerrufer) kamen aus den USA, Heather Harper (Elsa) aus Großbritannien und Donald McIntyre (Telramund) aus Neuseeland. Einzig Karl Ridderbusch (König Heinrich), die Edlen und die Edelknaben waren deutscher Zunge. Zu spüren ist das nicht. Nur wer genau hinhört und das Werk aus dem Effeff kennt, dem fallen die Petitessen bei der Aussprache auf. Eine falsche Betonung, eine verschluckte Endung, ein verwischter Konsonant. Viel mehr nicht. Was ausnahmslos alle Solisten leisten, um dieses Werk als die romantischste aller deutschen Opern zum Klingen zu bringen, sucht seinesgleichen. Bayreuther Standard vom Allerfeinsten!

Für Heather Harper war die Elsa nur ein kurzes Gastspiel bei den Festspielen. Sie kehrte in der Rolle 1968 nur noch einmal zurück. Bleibenden Eindruck sollte sie nicht hinterlassen. Kritiken, die im Booklet zitiert werden, rühmen ihren „leidenschaftlichen Ausdruck“. Sie habe „eine sehr edle, sehr mädchenhaft empfindungsreiche und stimmlich beseelte Elsa“ voller „Reinheit und Süße“ gegeben. Fünfzig Jahre danach klingt der Mitschnitt anders. Obwohl erste siebenunddreißig Jahre alt, fehlt es ihr nach meinem Eindruck gerade an jugendlichem Ausdruck. Sie wirkt etwas zugeknöpft. Unter historischen Gesichtspunkten sind diese zeitgenössischen Kritikermeinungen dennoch höchst interessant. Einige Urteile haben über die zeitliche Distanz nicht gehalten. Wahrnehmungen wandeln sich genauso wie der Vortragsstil. Und dass Grace Hoffman die Ortrud „fast zu schön“ gesungen haben soll, dürfte zudem nur aus der Tatsache zu erklären sein, dass Astrid Varnay als ihre Vorgängerin besonders scharfe Akzente gesetzt hatte. Schön klingt anders. Schön hat die Rolle Christa Ludwig gesungen, die damit leider nicht in Bayreuth aufgetreten ist. Bayreuth-Debütant McIntyre wirkt auf mich stilistisch am modernsten. Er stand am Beginn seiner Wagner-Karriere, in deren Verlauf er als Holländer, Wotan, Holländer, Kurwenal und Amfortas starke Maßstäbe setzte. Tipton erweist sich für den Heerrufer als wenig geeignet, weil er seine Verlautbarungen streckenweise wie Arien vorträgt. Allseits perfekt agiert Karl Ridderbusch als milder, ja sanfter und nachdenklicher König, dem das Schicksal Elsas nahe zu gehen scheint. Zumindest klingt es so. Er ist vom Erscheinen Lohengrins selbst tief ergriffen. Bis auf eine Vorstellung, die von Berislav Klobucar bestritten wurde, waltete Rudolf Kempe im Orchestergraben. Seinen viel beachteten Einstand auf dem Grünen Hügel hatte er 1960 mit dem Ring des Nibelungen gegeben. Im Booklet zitiert Peter Emmerich, Leiter des Pressebüros, die „Nürnberger Nachrichten“, die zu dem Schluss gelangen, dass Kempe nunmehr „mit dem Festspielorchester weit substanzieller“ umgehe, „als man das von ihm bisher“ gewohnt war. Da sei „Kraft, Farbe und Wohllaut“. Er habe die Partitur ganz von ihren „lyrischen Seite“ genommen. „Dabei blieb Kempe stets in den Grenzen einer sozusagen symphonischen Kammermusikalität, besorgt um durchsichtige Struktur, um die klare Scheidung des tonalen Grundkolorits der Gralsklänge und der finsteren Welt Ortruds…“. Durchgehend finde ich diese Einschätzung nicht bestätigt. Vielmehr weist der Mitschnitt Kempe als Dramatiker aus, der es auch schon mal kräftig krachen lässt.

Rudolf Kempe dirigierte den „Ring des Nibelungen“ zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y).

Noch ein Ring aus Bayreuth gefällig? Der wievielte eigentlich? Ich habe sie nicht gezählt. Schon auf die Gefahr hin, am Ende einen vergessen zu haben. Nach Keilberth, Knappertsbusch, Krauss, Böhm, Boulez, Barenboim, Thielemann nun auch Rudolf Kempe. Seit er für die EMI einen Querschnitt durch das Rheingold mit angepassten Überleitungen zwischen den einzelnen Szenen (1959), die Meistersinger-Gesamtaufnahmen (1951 in Dresden und 1956 EMI) und einen kompletten Lohengrin (1963 EMI), dem 1951 die Münchener Rundfunkproduktion bei BASF vorausgegangen war, vorgelegt hatte, war sein Name mit Wagner unauflöslich verbunden. Insofern war es nur logisch, dass er auch nach Bayreuth gerufen wurde. Dort dirigierte er den Ring des Nibelungen zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y). In Mono, dafür aber wie immer sorgfältig aufgefrischt. Seinen hohen Ansprüchen an den Klang bleibt das Label auch mit dieser Edition treu. Aus den Lautsprechern soll möglichst viel von dem herüber kommen, was das Publikum einst im Festspielhaus gehört hat. Alle in der Reihe erschienen Aufnahmen dokumentieren also nicht nur Sänger, Orchester und Dirigenten – sie dokumentieren auch die Akustik, die Atmosphäre, die Stimmung einschließlich aller möglichen Bühnengeräusche und Befindlichkeiten der Atemwege des Parketts, die sich in befreiendem Husten äußern. Als würde Luft in Gläsern konserviert. So etwas grenzt an Wunder. Erneut gelingt das Unmögliche. Auf CD kommen auch diesmal die jeweiligen Vorstellungen. Nachträglich wird nicht herumgeschnippelt, um aus verschiedenen Bändern eine astreines Produkt zusammenzubasteln. Beifall darf auch sein, weil der damals in Bayreuth meist zustimmend gewesen ist. Vorstellungen endeten nicht in einem Buh-Orkan, der sich in der Regel gegen die Regie richtet. LIVE ist im Logo der Bayreuther Festspielserie von Orfeo nicht ganz zufällig in Gold, Versalien und in herausragender Schriftgröße verankert. Live bedeutet Programm, Versprechen und Anspruch. Live ist, was wirklich geschah.

Dieser Ring des Nibelungen bewahrt auch die Patzer, die im Studio kein Aufnahmeleiter durchgehen ließe. Sie stören nicht, weil sie ein zutiefst menschlicher Faktor sind. Kempe war für die Neuinszenierung von Wolfgang Wagner engagiert worden. Sie löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Im zweiten Jahr, in dem aufgezeichnet wurde, legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit hatte sich Wolfgang endgültig auch als Regisseur etabliert. Kempe ist nicht vom ersten Ton an voll da. Er steigert sich. Im Rheingold fallen noch Koordinierungsschwierigkeiten zwischen Orchester und Bühne auf, gegen Ende des Vorspiels zum zweiten Aufzug der Walküre gibt es ein undefinierbareres Gewirr und beim Walkürenritt sollte man auch nicht zu genau hinhören. Nach und nach klingt es immer prachtvoller und sicherer aus dem Graben herauf. Gar nicht so leicht und transparent, wie gelegentlich zu lesen ist. Kempe packt durchaus auch kräftig zu und dreht gewaltig auf. Manchmal sind die Stimmen zu vordergründig. Dadurch verschieben sich akustische Proportionen. Besonders auffällig wird das im ersten Aufzug der Walküre. Régine Crespin und Fritz Uhl als Sieglinde und Siegmund fallen fast aus den Lautsprechern heraus. Ich war versucht, im Nebenzimmer nachzuschauen, ob sie sich dort aufhalten. So nahe sind sie. Wie kommt das? Sind die Mikrophone mit dieser Wirkung positioniert gewesen oder wurde beim Remastering vielleicht doch ein wenig zu stark an der Sängerschraube gedreht? Am meisten gewinnt dadurch die Wortverständlichkeit. Die Solisten, zu denen noch Gottlob Frick als auch stimmlich schwer bewaffneter Hunding tritt, sind ihre eigenen Textbücher. Angehende Sänger sollten sich das anhören. Sie würden sich – nicht zu ihrem Schaden – in einer Unterrichtsstunde für genaue Artikulation wiederfinden. Uhl ist zwar etwas deftig, singen aber kann er. Seine Reserven sind unbegrenzt. Eine Stimme, die nichts umhaut. Die Wälse-Rufe kommen aus voller Brust. Lyrik ist nicht seine Stärke. Die Crespin, holt aus ihrer Partie gestalterisch alles heraus, was ihr möglich ist. Die Rolle sitzt. Dennoch klingt sie etwas angestrengt und reserviert. Sechs Jahre später wird sie bei den ersten Salzburger Osterfestspielen die Brünnhilde in der Walküre singen. Was ihr erst bevorsteht, hat Astrid Varnay, ohne die das Nachkriegsbayreuth nicht vorstellbar ist, vernehmbar hinter sich. Nämlich ihre besten Tage als Brünnhilde. Sie singt die Rolle in der Walküre, in Siegfried und Götterdämmerung übernimmt Birgit Nilsson. Bei ihr sind für den besseren Sitz der Töne und die klaren Höhen Abstriche in der Ausdeutung die Figur hinzunehmen. Selten habe ich bei der Nilsson so wenig verstanden. Was die Varnay nur noch antippen kann, schleudert die Nilsson, ohne mit der Wimper zu zucken, heraus. Dabei sind beide gleichaltrig, geboren 1918 in Schweden.

Mit Ausnahme von 1953 wirkte Hans Knappertbusch zwischen 1951 und 1964 alljährlich bei den Festspielen mit. Den „Ring des Nibelungen“ leitete er auch 1956 bei diesem Mitschnitt (C 660 513).

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen – kein anderer als Frick – im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Ein Fall für sich ist Otakar Kraus als Alberich. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er schon 1957 in der Produktion in Covent Garden der Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Ursprünglich stammt Kraus aus Prag. Dort wurde er 1909 geboren. Internationale Berühmtheit erlangte er mit dem Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Dann fehlt einem schon der Gustav Neidlinger, der in Bayreuth als Alberich von niemandem ausgestochen wurde. Gerhard Stolze wabert als Loge umher und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er den Mund aufmacht. Mime ist mit Herold Kraus grundsolide besetzt und produziert gelegentlich selbst Töne wie ein Heldentenor. Grenzen werden als darstellerischer Effekt gut verkauft. Kraus ist ein Profi allererster Güte, der heute Mime und morgen Pedrillo oder Jaquino sang.

1961 ist manches noch anders als in den Jahren zuvor. Es zeigte sich auch in Bayreuth, dass die Opernhäuser und mehr noch die Festivals zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Mit Jerome Hines als Wotan und James Milligan als Wanderer teilten sich erstmals ein Amerikaner und ein Kandier die Rolle des Chefgottes. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan Wurzeln geschlagen hatten, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan ist gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll.

Clemens Krauss dirigierte 1953 „Ring“ (C 809 113) und „Parsifal“ in Bayreuth. Eine Rückkehr wurde durch seinen Tod im Mai des folgenden Jahres vereitelt.

Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt dieses Mitschnittes, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wird. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt. Mit Thomas Stewart als Donner und Gunther tritt noch ein Amerikaner in Erscheinung, der die kommenden zehn Jahre in Bayreuth maßgeblich mit prägen sollte – dann aber als Holländer, Wotan und Amfortas. Erst am Ende seiner Zeit bei den Festspielen gönnte er sich 1972 nochmals einen Gunther, der als eine der undankbarsten Rollen im ganzen Ring gilt. Als Episode erweist sich der Fasolt des Schotten David Ward, der sich in anderen Häusern als Wotan oder Holländer einen Namen gemacht hatte. Seien Bruder Fasolt, der im Siegfried als Wurm wiederkehrt, ist mit Peter Roth-Ehrang untadelig besetzt. Nur einmal kam der Amerikaner David Thaw als Froh bei den Festspielen vorbei. Sein Auftritt bleibt blass. Damit wurde eine Chance vertan, die Bedeutung der kleinen Rolle gebührend herauszustellen. Froh weist nach dem Gewitter im Rheingold der Regebogenbrücke den Weg nach Walhall. Für mich gehört diese Szene zu den allerschönsten Erfindungen von Wagner. Ich würde sie mit einem Tenor besetzen, der den Zuschauern durch Schöngesang den Atem verschlägt. Thaw aber verschlägt nichts. Regina Resnik, die noch als Sopran bereits 1953 als Sieglinde und dritte Norn Erfahrungen in Bayreuth gesammelt hatte, kam 1961 für nur ein Jahr als Fricka wieder, um Wagner mit einer veristischen Oper zu verwechseln. Ihre amerikanische Landsmännin Grace Hoffman, die 1961 als Waltraute, Siegrune und zweite Norn beschäftigt war, blieb in diversen Rollen bis 1970. Nicht unerwähnt soll Ingeborg Felderer bleiben, die 1961 als Woglinde, Helmwige und Waldvogel debütierte. Sie brachte es bis an die Met und trat auch unter dem Namen Ina Delcampo auf. Als Chefin des italienischen Labels Melodram versorgte sie später den Markt mit vielen Bayreuth-Mitschnitten, die allerdings nicht den Segen der Festspielleitung fanden, den Ruhm des Festivals und seiner exklusiven Besetzungen aber in alle Welt trugen. Nur einen Sommer sangen Wilma Schmidt als glücklose Freia, Gutrune und Ortlinde, sowie Elisabeth Steiner als Wellgunde und Grimgerde.

Kein anderes Festival ist so gut dokumentiert wie die Bayreuther Festspiele – in Schrift, Bild, Film und Musik. Schon in der Nazizeit wurden komplette Werke aufgenommen, die später auf Tonträger gelangten. Tannhäuser in der Pariser Fassung von 1930 ist leider nicht komplett überliefert. Der Wiederbeginn 1951 klingt in mehreren offiziellen Aufnahmen nach, die zwar auf Mitschnitten beruhten, nachträglich aber fast schon zu Studioproduktionen veredelt wurden. EMI, Teldec, Philips und Deutsche Grammophon stiegen sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Markt kam, entpuppte sich dieses Unterfangen als eines der spannendsten Kapitel der Veröffentlichungsgeschichte. Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet. Sie brachten die Mitschnitte vieler Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus. Orfeo ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen.

Mit dem „Tristan“ von 1952 ( C 603033D) in der Inszenierung von Wieland Wagner hatte Orfeo seine Bayreuther Festspiel-Edition begonnen.

Mit dem Tristan von 1951, der wie andere Titel auch, ebenfalls schon auf dem grauen Markt die Runde als LP und sogar CD gemacht hatte, wurde 2003 ein neues Kapitel bei Orfeo aufgeschlagen (C 603033 D). Im Grußwort der Box deutete nicht Wolfgang Wagner (1919 – 2010) an, das dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Es stellte alles in den Schatten, was bis dahin kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte Bayreuth endlich eins zu eins nachgehört werden. Für mich war das ein unvergesslicher Moment, der mir noch heute den Atem verschlägt. „Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten“, singt der Holländer, wenn er das erste Mal auf Senta trifft. Dieses Zitat ist für mich wie ein Motto für für diese klingende Festspielreihe. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts konnte ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jene Opern, die dort aufgeführt werden – teilweise in unterschiedlichen Produktionen. Mit dem jüngsten Ring ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, sogar dreimal im Katalog: 1953 (C 809 113), 1956 (C 660 513) und zuletzt 1961. Es darf so weitergehen. Rüdiger Winter  

In magisches Licht getaucht: Das restaurierte Denkmal von Richard Wagner im Großen Berliner Tiergarten. Es stammt von Gustav Eberlein und wurde 1903 eingeweiht. Foto: Winter

Angriffslustig

 

Vor fünfzig Jahren brach im Münchner Nationaltheater der damalige Bayerische Generalmusikdirektor Joseph Keilberth während einer Aufführung von Wagners Tristan und Isolde auf dem Dirigentenpult tot zusammen (wie bereits 1911 Felix von Mottl). Angeblich genau dann, als Tristan sein „Lass mich sterben“ sang. Keilberth war zu diesem Zeitpunkt gerade sechzig Jahre alt und stand auf dem Höhepunkt seiner Dirigentenkarriere. Der gebürtiger Karlsruher legte eine beeindruckende Laufbahn zurück, die ihn über Stationen in seiner Heimatstadt (wo er sich 1935 gegen Herbert von Karajan als GMD durchsetzte) und Prag (wo er seit 1940 dem Deutschen Philharmonischen Orchester vorstand) über Dresden, Berlin und Hamburg vor allen Dingen in bayerische Gefilde führte. Zwischen 1950 und 1968 amtierte er als erster Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und ab 1959 zusätzlich als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Größte Anerkennung erfuhr er insbesondere im Strauss- und Wagner-Fach, was in den 1950er Jahren in einem mehrjährigen Engagement bei den Bayreuther Festspielen gipfelte, wo er den Fliegenden Holländer, Tannhäuser, Lohengrin und den Ring des Nibelungen dirigierte. Der erst 2006 erstmals veröffentlichte Live-Mitschnitt des 1955er Ring, von der Decca betreut und als erste Gesamtaufnahme überhaupt in Stereo eingespielt, gilt vielen Kennern seither als einsame Referenz. Und doch hat er landläufig auch heute eher den Ruf eines gediegenen Kapellmeisters denn eines „Stardirigenten“, was er aber vermutlich auch nie sein wollte.

Nun also legt Icon/Warner anlässlich des 50. Todestages sämtliche Nachkriegsaufnahmen Keilberths in einer nicht weniger als 22 CDs umfassenden Box vor (90295 68926). Es handelt sich sämtlich um Einspielungen für die deutsche (und inzwischen verblichene) Firma Telefunken, die als eine der ältesten deutschen Firmen lange Jahre als eigenständiges Label existierte und sich dann in Teilen als Teldec mit der Decca Verband. Die hier erwähnten Aufnahmen sind zwischen 1951 und 1963 entstanden. Keilberth muss insofern als bedeutendster Vertragskünstler dieses Labels in den 1950er und frühen 1960er Jahren gelten. Viele der Aufnahmen waren seit langer Zeit vergriffen oder allenfalls als Japan-Import erhältlich; einige erscheinen nunmehr gar zum ersten Male überhaupt auf CD. Die Bandbreite ist gewaltig und legt Zeugnis ab vom sehr ausgedehnten Repertoire Keilberths, der gerne auf die Musik der Spätromantik reduziert wird. Die Wiener Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven nehmen bereits viel Raum ein. Neben Haydns Sinfonien Nr. 85 „La Reine“ und 101 „Die Uhr“ sind die späten Mozart-Sinfonien ab der „Haffner“ enthalten (dazu die zumal damals selten eingespielten KV 200 und 202), ergänzt durch diverse Ouvertüren, Serenaden und Divertimenti. Der zupackende Stil des Dirigenten macht diese Aufnahmen, die bereits größtenteils in gut klingendem Stereo vorliegen, auch nach über einem halben Jahrhundert zu einem wahren Hörgenuss. Man fragt sich ernsthaft, wieso Keilberth in Sachen Mozart heutzutage fast vergessen ist. Diese Veröffentlichung könnte dafür sorgen, dass er künftig seinen gebührenden Platz neben den großen Mozart-Interpreten jener Zeit wie Karl Böhm und Otto Klemperer einnehmen kann.

Eine außerordentlich enge Verbindung hatte Keilberth auch zum Œuvre Ludwig van Beethovens. Hier liegt nun nicht nur ein beinahe kompletter Zyklus der Sinfonien vor (es fehlt einzig die Neunte, die indes in einer Aufnahme mit dem japanischen NHK Symphony Orchestra überliefert ist), sondern auch nicht weniger als fünf Ouvertüren. Mit einer einzigen Ausnahme (Sinfonie Nr. 8 noch in Mono) ist auch hier klangtechnisch nichts zu bemängeln. (Bei dieser Gelegenheit sei darauf verwiesen, dass auch die Achte in einem ganz späten Live-Mitschnitt bei Orfeo in Stereo erschienen ist.) Bei den Beethoven-Werken wird ein Charakteristikum dieser Telefunken-Einspielungen ersichtlich, nämlich dass auf verschiedene Orchester zurückgegriffen wurde. Neben den Bamberger Symphonikern und Berliner Philharmonikern, die ein Gros der Aufnahmen bestreiten, sind dies das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und in einem Fall auch das Bayerische Staatsorchester. Man kommt nicht umhin, gerade den Berliner Aufnahmen das höchste künstlerische Niveau zu bescheinigen, wenngleich auch die Bamberger bereits in diesen frühen Einspielungen kurz nach ihrer Gründung eine für sich genommen außerordentlich hohe orchestrale Qualität vorzuweisen haben. Keilberths Beethoven ist keinesfalls überromantisiert, sondern kommt unprätentiös und zuweilen fast angriffslustig herüber. Als besonderes Highlight sei hier auf die Einspielungen der fünften und siebten Sinfonie verwiesen.

In der Früh- und Hochromantik dominieren in der Box die Freischütz– und Euryanthe-Ouvertüre von Carl Maria von Weber (leider nur in Mono), die „kleine“ C-Dur und die Unvollendete Sinfonie von Franz Schubert (erstere eine der frühesten Stereo-Aufnahmen überhaupt, Februar 1954, hier erstmals vorgelegt) und die „Frühlingssinfonie“ von Robert Schumann. Als besonders herausragend müssen die beiden Ouvertüren von Felix Mendelssohn Bartholdy, die selten gespielte „Meeresstille und glückliche Fahrt“ und die ungleich bekannteren „Hebriden“, benannt werden, bei denen Keilberth auf die Berliner Philharmoniker zurückgreifen konnte. Sehr prominent vertreten ist freilich die Spätromantik, die auch skandinavische (Griegs „Peer-Gynt“-Suiten Nr. 1 und 2) und tschechische Komponisten (zwei Tondichtungen aus Smetanas „Mein Vaterland“ sowie Dvoráks „Neue Welt“-Sinfonie, das Cellokonzert mit Ludwig Hoelscher, die Slawischen Tänze und die Carnival-Ouvertüre) berücksichtigt. Einen Schwerpunkt macht hier indes Johannes Brahms aus, dessen vier Sinfonien zwischen 1951 (Nr. 1) und 1963 (Nr. 3) mit nicht weniger als drei Orchestern eingespielt wurden. Die „Akademische Festouvertüre“, die „Tragische Ouvertüre“ und drei Ungarische Tänze (Nr. 1, 3 und 10) runden dies adäquat ab. Auch hier zeigt sich Keilberth als Kenner und macht besonders die Brahms-Werke mehr als hörenswert. Weniger als gut ist hier nichts.

Als einer der Klassiker in der Diskographie dieses Dirigenten gilt mit gutem Recht die Einspielung der eher unbeachteten sechsten Sinfonie von Anton Bruckner, die in einer spektakulären Aufnahme von 1963 mit den Berlinern enthalten ist. Hinzu gesellt sich eine kaum weniger überzeugende Interpretation der Neunten Sinfonie aus Hamburg. Von Bruckner ist der Weg zu Wagner nicht weit, so dass auch auf die hier enthaltenen Opernauszüge hingewiesen werden muss: Es handelt sich jeweils um die Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug der Opern Die Meistersinger von Nürnberg und Lohengrin. Diese können selbstredend eher als Appetitanreger gelten, haben sich doch Gesamtaufnahmen erhalten, wie auch Keilberths Wagner ansonsten eher in Live-Tondokumenten überliefert ist, die glücklicherweise mittlerweile alle problemlos erhältlich sind. Zumindest lässt sich schon mittels dieser Vorspiele sagen, dass seine Wagner-Auffassung konträr war zu jener seines großen Antipoden Hans Knappertsbusch, des Giganten, hinter dem Joseph Keilberth schon optisch zurückstecken musste. Anders als auf das „Kann“-typische weihevolle Pathos setzt er auf energische, vorwärtsdrängende Zuspitzung und darf insofern als der modernere der beiden großen Wagner-Dirigenten gelten, was vielleicht auch seine Distanz gegenüber Parsifal erklärt, der als einzige Oper des Bayreuther Kanons unter seinem Dirigat nicht überliefert ist.

Doch nicht nur im schweren Fach brillierte Keilberth, wie die auf zwei CDs verteilten Walzer, Polkas und Märsche von Johann Strauss Sohn unter Beweis stellen. Man mag hier allenfalls mokieren, dass ein gewisser wienerischer Touch fehlt, entstanden die Einspielungen doch mit den Bamberger Symphonikern, doch gibt es auch hier handwerklich nichts zu bemängeln. Gut abgedeckt ist auch der andere Strauss, hier repräsentiert durch die Tondichtungen „Till Eulenspiegel“ und „Don Juan“, sinfonische Zwischenspiele aus dem Intermezzo, Walzer aus dem Rosenkavalier, Salomes Tanz sowie einem Potpourri aus der Schweigsamen Frau. Es nimmt nicht wunder, dass Keilberth besonders in Sachen Richard Strauss bereits zu Lebzeiten einen hervorragenden Ruf genoss. Nicht zuletzt setzte sich Joseph Keilberth aber auch für die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts ein, wovon die letzten beiden CDs der Box zeugen. Neben der Ballettsuite sowie den Mozart– und Hiller-Variationen von Max Reger ist es vornehmlich Paul Hindemith, dessen Suite zum Ballett „Nobilissima Visione“ und die Sinfonische Metamorphose von Themen Carl Maria von Webers inkludiert sind.

Der informative Begleittext von Markus Bruderreck zitiert Keilberths Sohn Thomas, der keineswegs die zumindest umstrittene Rolle des Vaters im Nationalsozialismus verheimlicht. Der Dirigent spricht in seinem Tagebuch durchaus von eigenen Fehlern. Durch seine Bekanntschaft mit Reinhard Heydrich konnte er allerdings zahlreiche Orchestermitglieder in Prag vor einem Fronteinsatz bewahren und in einem Falle sogar eine Deportation verhindern. In seinem letzten Lebensjahrzehnt kam es zu einem vermehrten Rückzug Keilberths aus dem gesellschaftlichen Leben, sah er sich doch als aus der Zeit gefallen an. Gesundheitliche Probleme machten ihm seit den späten 1950er Jahren zudem zu schaffen (er litt an Diabetes). Freilich nahm die Anzahl seiner Auftritte als Dirigent deswegen mitnichten ab (so ab 1965 auch in Japan), so dass nur der innerste Zirkel von seinem Niedergang wusste und sein früher Tod die Öffentlichkeit umso mehr schockierte. Alles in allem eine höchst verdienstvolle Neuerscheinung, die Joseph Keilberth besonders jenseits des allseits geschätzten Operndirigenten endlich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht und ihn auch als bedeutenden Interpreten sinfonischer Werke von der Wiener Klassik bis in die Moderne hinein ausweist. Von wegen gediegener Kapellmeister!

 

The Romantic Aspect in German & Austrian Classics: Nun wirft auch Profil/Hänssler anlässlich des 50. Todestages von Joseph Keilberth eine eigene Box auf den Markt, die zehn CDs enthält und einen Zeitraum von 1940 bis 1962 abdeckt (PH18019). Enthalten sind – wie der Titel bereits ankündigt – vor allem Komponisten der Romantik und Spätromantik, von Schubert und Weber über Schumann, Brahms, Bruckner und Wagner bis zu Reger und Pfitzner, aber auch wenig Bekanntes von Goetz und Wolf, wobei auf Orchesterwerke gesetzt wurde, seien es Ouvertüren, Vorspiele, Sinfonien oder Konzerte. Die meisten der enthaltenen Aufnahmen waren bereits auf CD erhältlich. Leider liefert das Booklet (wieder einmal) wenige Details zur Provenienz der Aufnahmen, wie bereits bei anderen Editionen dieses Labels. Dies wirft ein zumindest zweifelhaftes Licht auf das an und für sich löbliche Unterfangen. Dass nur Copyright-freie Aufnahmen bis 1962 inkludiert wurden, lässt zumindest den Verdacht aufkommen, dass hier bewusst auf die Nennung der ursprünglichen Rechteinhaber (meist wohl Telefunken) verzichtet wurde. Es gibt einige Überschneidungen mit der „offiziellen“ Box von Warner, so etwa bei Beethoven, Schubert, Weber, Wagner und Brahms. Die Ouvertüre zum Freischütz wurde offenbar der berühmten Berliner Gesamtaufnahme von 1958 entnommen und ist insofern bereits in Stereo, während jene zum Oberon auf 1953 datiert und mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester folglich noch in Mono entstand. Von Beethoven sind die Ouvertüren zu Coriolan und Fidelio sowie die Pastorale enthalten, allesamt tadellose Einspielungen mit den Bamberger Symphonikern von 1960, die freilich nur einen Vorgeschmack auf den (Beinahe-)Zyklus vermitteln. Die Bamberger kamen auch bei Werken von Reger, Schuberts Unvollendeter und Brahms‘ Ouvertüren und drei der Ungarischen Tänze zum Einsatz.

Eine Stärke der Box ist, dass hier nicht weniger als acht Orchester dokumentiert sind, was vom internationalen Renommee des Dirigenten zeugt. So sind schon die Prager Jahre (1940-1945) mit dem Deutschen Philharmonischen Orchester abgebildet, namentlich mit der Italienischen Serenade von Hugo Wolf und Vorspielen aus Pfitzners Palestrina. Klanglich fallen diese uralten Aufnahmen selbstredend ab, was auch für die Live-Mitschnitte gilt, die als solche indes nicht eindeutig gekennzeichnet wurden. Diskographisch von besonderem Interesse ist für den Sammler die Zauberflöten-Ouvertüre mit den Wiener Philharmonikern live aus Salzburg 1960 – eines der wenigen Tondokumente, welche von Keilberth mit dem österreichischen Spitzenorchester überliefert sind. Ebenfalls von den Salzburger Festspielen aus demselben Jahr ist der Mitschnitt der neunten Sinfonie von Bruckner, allerdings mit den Berliner Philharmonikern. Diese sind auch in weiteren Aufnahmen involviert, so besonders in der feurigen Einspielung der zweiten Brahms-Sinfonie – der chronologisch letzten Aufnahme dieser Edition. Dass Keilberth einer der bedeutendsten Interpreten der Musik von Richard Strauss war, geht bei dieser Neuerscheinung indes kaum hervor, ist doch lediglich das Vorspiel zur Ariadne auf Naxos aus Köln von 1954 beinhaltet. Die andere große Meisterschaft dieses Dirigenten, Musik aus den Opern von Richard Wagner, sind dafür deutlich prominenter vertreten, wenngleich in diesem Zusammenhang natürlich nur auszugsweise. Die Krone gebührt wohl der fulminanten Ouvertüre zum Fliegenden Holländer von den Bayreuther Festspielen 1955 – für den Kenner einer der besten Jahrgänge überhaupt. Löblich, dass hier die einst von Decca produzierte Stereo-Version zu Rate gezogen wurde – was eindeutig hörbar ist. Inkonsequent dafür, dass man die Tannhäuser-Ouvertüre vom Bayreuther Vorjahr nahm, liegt diese von 1955 doch ebenfalls bereits in Stereo vor – wie der komplette Ring des Nibelungen. Lohengrin ist mit den Vorspielen zum ersten und dritten Akt berücksichtigt, eingespielt 1957 mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, mit welchem im nämlichen Jahr auch das Meistersinger-Vorspiel bestritten wurde. Warum man bei den Auszügen aus dem Ring wiederum auf klanglich sehr eingeschränkte Mitschnitte von 1953 zurückgriff (Walkürenritt, Vorspiele zum ersten und zweiten Akt aus Siegfried sowie Siegfrieds Trauermarsch), sei einmal dahingestellt. Der künstlerischen Qualität tut dies indes keinen Abbruch und führt den hohen Rang des Wagner-Dirigenten Keilberth eindrücklich vor Augen.

Erwähnenswert sind die drei Konzerte, die sich in der Box befinden: Bruchs Violinkonzert Nr. 1 mit Georg Kulenkampf und den Berliner Philharmonikern (1941), Schumanns Klavierkonzert mit Annie Fischer und dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (1958) sowie Pfitzners Klavierkonzert mit Rosl Schmid und demselben Klangkörper (1951). Hier ist Keilberths intensive Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik festgehalten. Die mittlerweile selten gespielte Ouvertüre zum Barbier von Bagdad von Peter Cornelius sowie die fast unbekannte Ouvertüre zu Der Widerspenstigen Zähmung von Hermann Goetz beschließen gewissermaßen den Reigen; auch hier handelt es sich um mäßig klingende Rundfunkaufnahmen aus den 1950er Jahren. Insgesamt ist diese Box eher für fortgeschrittene Keilberth-Verehrer als für Anfänger gedacht, handelt es sich doch größtenteils um betagte Mono-Aufnahmen. Die wenigen bereits in Stereo produzierten Tondokumente sind auch anderweitig zu haben. Die Überschneidungen mit der Warner-Box sind verschmerzbar. Diese ist gleichwohl eindeutig vorzuziehen, schon aufgrund der größeren Vielfalt, aber auch wegen der überwiegend besseren Tonqualität und der überzeugenderen Aufarbeitung und Dokumentation der enthaltenen Aufnahmen. Daniel Hauser

Nostalgie als Nebenwirkung

 

Profil Edition Günter Hänssler! Das Logo lässt mich immer an Messingschilder an der Haustür denken. So abwegig ist dieser Vergleich nicht. Denn bei Hänssler kommt man ja immer irgendwie auch nach Hause, findet sich bei vielen Produktionen dieser ersten fünfzehn Jahre in der sicheren Umgebung der eigenen musikalischen Erfahrungen wieder, auf denen die lebenslange Liebe zur Musik gründet. Hänssler ist für mich immer auch Vergangenheitsbewältigung, positiv und produktiv. Ich versenke mich gern in die große Karl-Richter-Edition und frage mich, ob meine Zuneigung zu diesem Dirigenten, der mir einst Bach nahe brachte und mir zu einer ersten Vorstellung von musikalischer Vollendung verhalf, die Zeit überdauert hat und neben historisch informierten Interpretation noch bestehen kann. Das ist intellektueller und emotionaler Luxus, den ich Hänssler verdanke. Ich kenne bei weitem nicht alle Profil-Titel, welche die Firma verlassen haben. Es sind mehr als achthundert CDs. Ich staune, dass es so viele sind.

Im Regal sind meine Favoriten stets griffbereit. Neben dem schon genannten Richter sind das viele Folgen der Dresden-Reihen über die Staatsoper und die Staatskapelle. Entgegen des eigenen Ordnungsprinzips stehen sie alle in einer Reihe wie die gesammelten Werke Goethes. Fidelio ist also nicht unter Beethoven zu finden, Katja Kabanowa nicht unter Janacek und Fritz Busch nicht bei seinen dirigierenden Kollegen. Hänssler ist eine eigene Abteilung. Diese exklusive Aufbewahrung empfinde ist mehr als angemessen. Qualität gehört zu Qualität. Man muss sehr lange suchen und weit in die Vergangenheit zurückgehen, vielleicht sogar bis hin zu den ersten Langspielplatten der legendären Archivproduktion der Deutschen Grammophon, um vergleichbare Ausgaben zu finden – etwa zu der Sammlung „Gott welch Dunkel hier“ über die „Stunde Null“ des Dresdener Opernbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg. Günter Hänssler: „Nur ein Label mit einem klaren PROFIL, mit einem eindeutigen Wiedererkennungseffekt, hat heute noch eine Chance auf dem heiß umkämpften CD-Markt – um die Liebhaber klassischer Musik heute mit einem Produkt zu überzeugen braucht man Originalität und Innovation.“

Der Qualität der Dresdner Reihe tragen auch beispielhaften Booklets Rechnung. Sie können es hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer üppigen Gestaltung mit Bildbänden aufnehmen. Getreu dem Grundsatz, dass das Auge mithört, wurden die musikalischen Dokumente in ihren zeitgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Dabei ist nicht gespart worden mit Fotos, Faksimiles, Berichten und Erläuterungen über die technischen Umstände von Produktionen. Die Boxen strahlen Sinnlichkeit aus. Ich nehme sie gern zur Hand. Manchmal nur so, um durch ein Booklet zu blättern und mich in einen Text zu vertiefen. Meist klingen die Aufnahmen für ihre Zeit sehr gut. In das Remastering wurde gehörig investiert. Nostalgie scheint nicht beabsichtigt, sie stelle sich allenfalls als angenehme Nebenwirkung ein. Allgegenwärtig ist die kundige Handschrift von Steffen Lieberwirth zu spüren, dem „Project director and booklet editor“, wie er im Impressum genannt wird. Lieberwirth kommt vom Rundfunk, war Chefproduzent beim MDR und vereint in sich technische Kompetenz mit musikalischer Hingabe. Für so ein Unterfangen wie diese Dokumentationen ist er der richtige Mann, der Spiritus Rector. Ihm dürfte es auch zu verdanken sein, dass das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) Aufnahmen zur Verfügung stellte, die sonst verschlossen geblieben wären.

Rosenkavalier und Dresden. Beide sind eins. Die Oper von Richard Strauss trat dort 1911 ihnen bis heute anhaltenden Siegeszug um die Welt an. Die Aufnahme, um die es geht, ist schon seit Jahrzehnten in Umlauf. Zunächst als Schallplattenkassette, zwischenzeitlich sogar als Opernquerschnitt, zuletzt auf CD bei Gala. Inzwischen haben das DRA und der Mitteldeutsche Rundfunk die originalen Bänder herausgerückt und zur Veröffentlichung bei Profil Günter Hänssler freigegeben (PH16071). Eingespielt wurde sie 1950 mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Rudolf Kempe. Im selben Jahr war der Dirigent als Nachfolger Joseph Keilberth zum Generalmusikdirektor von Oper und Kapelle aufgestiegen. Bereits 1953 ging Kempe in den Westen, blieb Dresden aber bis zu seinem Tod verbunden. Mehrfach kehrte er zu Plattenaufnahmen zurück. Für dem Rosenkavalier, der vom Kempes Schwung und genauer Partiturkenntnis lebt, hat das Label vier CDs springen lassen, drei für die Oper, eine für den Bonus, der sich aus unterschiedlichen Aufnahmen mit Bezügen zu Dresden zusammensetzt. Darunter finden sich vier Szenen mit daran beteiligten Sängern. Margarethe Siems ist die Marschallin, Eva Plaschke von der Osten der Octavian und Minnie Nast die Sophie. Der feine Ton der Siems im gekürzten Monolog vermittelt immer noch eine genaue Vorstellung ihrer Wirkung und ihres Erfolgs in dieser Rolle, die sie bis zum Ende ihrer Karriere nie mehr loswurde. Tiana Lemnitz ist auszugsweise in zwei Versionen als Octavian zu hören, nämlich von 1936 und 1942. In dieser Rolle wurde sie auch – inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt – für die Gesamtaufnahme herangezogen. Den ersten Nachkriegs-Rosenkavalier hatte es in Dresden 1948 gegeben, der ästhetisch noch sehr an der Uraufführung in den Dekorationen von Alfred Roller klebte. Als Marschallin war Dora Zschille besetzt. Sie kam aus dem Westen nach Sachsen, hatte Engagements in Duisburg und Hannover und hielt Dresden bis zu ihren Bühnenabschied 1971 die Treue. Die Zschille sang alles, was ihre Stimme, die sich vom lyrischen zum hochdramatischen Sopran entwickelte, hergab. Sie blieb weitgehend eine lokale Erscheinung und wurde lediglich für einige Rundfunkaufnahmen herangezogen. Frauen wie die Zschille waren damals die Stützen jedes Ensembles.

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth. Foto: OBA/Hänssler

Für die Aufnahme wurde ihr Margarate Bäumer vorgezogen, die in einer ganz anderen Liga spielte, ihre besten Tage allerdings hinter sich hatte. Sie klingt betulich und bedient das Klischee der alternden Fürstin, die sich aus dem Leben zurückzieht und fortan nur noch „in die Kirch’n“ geht und mit Onkel Greifenklau, der „alt und gelähmt ist“, zu Mittag speist. Auch für die Lemnitz kam die Rolle viel zu spät. Den Jahren nach könnte sie fast die Großmutter des stürmischen adligen Jünglings aus großem Hause sein, den sie in Liebesdingen unterweist. Stimmlich ebenfalls. Sie klingt überreif und vermag sich nicht einen Tag jünger machen als sie ist. Ja, es scheint sogar, als büßte sie noch während der Aufnahme an Gestaltungsvermögen weiter ein. Im dritten Aufzug bekommt ihr der zweifache Rollentausch, dieses raffinierte Markenzeichen der Oper, gar nicht. Sie gurgelt vor sich hin. Mikrophone sind gnadenlos. Und es stellt sich die Frage, warum nicht die viel jüngere burschikose Christel Goltz, die den Octavian auf der Bühne sang, genommen wurde. Einzig Ursula Richter, deren Geburtsdatum für die Kurzbiographie im Booklet offenbar nicht zu ermitteln war, kommt mit ihrem Sopran der munteren Sophie nahe. Und der Ochs? Der wird von Kurt Böhme regelrecht in Beschlag genommen. Er hatte ein Abo auf die Rolle, schien darin zu baden und wurde dafür auch von Karl Böhm in der zweiten Gesamtaufnahme aus Dresden, die 1958 für die Deutsche Grammophon entstand, herangezogen. Er ist ein polternder Schwerenöter und als solcher beim Publikum sehr beliebt gewesen. Die Vorstellung, dass mit Ochs ein feister alter Fettwanst aus der entlegensten Provinz in das kaiserliche Wien einfällt, um dort vermeintlich jungen Mädchen unter den Rock zu greifen, hat sich bis lange gehalten. Ochs ist aber auch Opfer. Der steinreichen Armeeliefertanten Faninal ist scharf wie Dracula auf sein adliges Blut und will nur deshalb seine Tochter mit ihm verkuppeln. In seiner ländlichen Beschränktheit lässt sich Ochs erbarmungslos vorführen. Er ist „diesem Wien“ nicht gewachsen, sieht die Fallen nicht, die ihm gestellt werden und tapst prompt hinein.

Im Entstehungsprozess der Oper haben Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal der Figur, die nach meiner Auffassung zu ihren genialsten Schöpfungen gehört, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war zeitweise sogar als Titel für das Werk im Gespräch und dürfte am meisten zu singen haben. Ausgezählt habe ich die Zeilen nicht. Ochs ist nach dem Willen der Autoren Mitte dreißig und damit nicht nur dem Alter nach der Marschallin ebenbürtig. Er ist es ihr auch durch seine adelige Herkunft, er ist ein Verwandter, ihr Vetter. Sie hört seine deftigen Schilderungen des Landlebens im Heu der Ställe nur allzu gern. Ihr gegenüber kann er sich diese Offenheit erlauben. Man ist schließlich unter sich. Für ihr eigenes riskantes Liebesleben bevorzugt sie allerdings das seidene Lager des Boudoirs. Böhme ist für mein Gefühl zu eindimensional, zu sehr auf den lüsternen Wüstling festgelegt. Er wirft mit den Speckseiten des reichen Schweinezüchters hirten Zsupán aus dem Zigeunerbaron um sich. Dadurch bietet er die Folie, auf der sich die Marschallin zu vorderst als fromme Dame darstellen kann, die sie nicht ist. In der Aufnahme passiert zumindest akustisch genau das. Wer derlei Überlegungen ausklammert, wem die hörbaren Generationsverschiebungen egal sind, der hält eine stimmungsvolle Einspielung in den Händen, deren Anschaffung unbedingt zu empfehlen ist. Auch mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten führen die Bäumer und die Lemnitz an vielen Stellen vor, was mit Noten und Text alles möglich ist. Wie Böhme erfassen sie den wienerischen Ton, welcher der ganzen Opern sein unverwechselbares Flair gibt. Akustisch ist die Aufnahme in ihrer Zeit belassen worden. Sie klingt sehr präsent, gelegentlich etwas robust, an den passenden Stellen schön polternd.

Neu sind auch diese Meistersinger von Nürnberg nicht. Neu ist wiederum der Rückgriff auf die Originalbänder. Und das zählt. Erstmals dürfte die Aufnahme bei Vox herausgekommen sein, noch als LP-Kassette. Später dann auf CD bei Myto. Als MP3 liegt sie bei Cantus vor. Der Klang war so schlecht nicht. Hänssler nahm sich die Rundfunkproduktion von 1951 vor (PH 13006). Es hat sich gelohnt. Alles, was bisher zu hören war, wird auf die hinteren Plätze verwiesen. Die Aufnahme wird in ihre alten Rechte eingesetzt. Sie klingt transparent und klar. Wie am ersten Tag. Vielleicht noch besser. Insofern kann sie es technisch mit vielen Produktionen aus späteren Jahren aufnehmen. Stimmlich sowieso. Vom ersten Ton an wird orchestrale Pracht entfaltet. Die Zuhörer werden regelrecht hineingezogen in das Werk. Der Eindruck ist so stark, dass man zuletzt darüber nachdenkt, in welchem Jahr die Aufnahme denn eigentlich entstand. Wirklich schon vor fast siebzig Jahren? Ist das kein Irrtum? Ist es nicht. Einmal schleift das Band während des Vorspiels. Wie bei einem Spulengerät, das im Begriffe ist, seinen Geist aufzugeben. Nanu? In diesem Moment kommt eine Ahnung vom tatsächliche Alter auf. Für diesen kurzen Moment. Als würde ein Schleier gelüftet. Schnell ist es vorbei. Die Musik gewinnt ihr Tempo zurück. Was sich in den nächsten Stunden im Orchester abspielt, macht Zeitrechnungen nebensächlich. Am Pult der Staatskapelle Dresden steht wieder Rudolf Kempe, der fünf Jahre später Wagners Meistersinger erneut für die EMI einspielte. Kempe war zum damals Generalmusikdirektor der Dresdener Staatsoper. Aufgenommen wurde in Mono. Während bei der Stereophonie ein räumlicher Eindruck durch mehrere Schallquellen erzeugt wird, schafft er es durch Fertigkeit – und Kunst. Ob Streicher, Holz, Blech oder Pauken. Kempe gewährt den einzelnen Instrumentengruppen viele solistisch anmutende Entfaltungsmöglichkeiten. Sie treten an den entsprechenden Stellen jeweils deutlich hervor, fallen aber nie auseinander, weil mit Kempe ein Kapellmeister vor ihnen steht, der alles lenkt und den großen Apparat mit fester Hand zusammenhält. Dadurch entsteht mitunter ein Höreindruck, der an ein frühes Stereo erinnert. Ein großer Vorzug der Aufnahmen ist das. Es wird deutlich, dass kein noch so perfekt ausgeklügeltes Aufnahmeverfahren ersetzen kann, was dem Dirigenten zukommt. Er befindet über die musikalische Qualität und nicht der Toningenieur.

Mehr als die Musiker sind es die Sänger, die dieser Produktion den historischen Touch aufdrücken. So wie sie singen, singt heute keiner mehr. Wissend und stets dem Wort verpflichtet. Immer ist alles zu verstehen. Wer den Text nicht kennt, könnte ihn anhand dieser Aufnahmen, die übrigens die erste Studioproduktion dieser Oper gewesen ist, auswendig lernen. Ideale Voraussetzungen dafür sind dadurch gegeben, dass alle Mitwirkenden deutscher Zunge sind. Sie haben gut gelernt, sind mit ihren Rollen oft seit Jahren vertraut, haben sie unter den verschiedensten Bedingungen und Dirigenten ausprobiert. Nichts wackelt. Die Bälle fliegen hin und her. Bühnenatmosphäre kann nicht anders sein. Oder sind diese Meistersinger von Nürnberg auch deshalb wie aus einem Guss, weil sie an nur einem einzigen Tage, nämlich am 29. April 1951 eingespielt wurden? Fast alle Sänger sind in den besten Jahren für ihre Partien. Ferdinand Frantz, der den Hans Sachs gibt, wurde 1906 geboren, ist zum Zeitpunkt der Produktion Mitte vierzig. Bernd Aldenhoff (Stolzing) und Kurt Böhme (Pogner) sind Jahrgang 1908, die Eva Tiana Lemnitz 1897. Sie ist Älteste im Ensemble, was auch zu hören ist, sie hat ihren Zenit deutlich überschritten und kann die Jungfer nicht mehr überzeugend darstellen. Die Lemnitz rettet sich mit all ihrer Erfahrung entschlossen in die Kunst. Sie zelebriert die Figur, macht hohe Schule daraus, statt sie mit wirklichem Leben zu erfüllen. Schade, dass nicht die 1913 geborene Elfride Trötschel besetzt worden ist, die die Eva zur gleichen Zeit mit großem Erfolg in Dresden auf der Bühne sang. Einige Namen auf der Besetzungsliste stehen für die Zukunft. Der 1916 geborene Gerhard Unger hatte erst nach dem Krieg begonnen. Er ist ein wunderbarer David, wirbelt jungenhaft, selbstbewusst und umtriebig durch die Produktion. Kein Wunder, dass ihn Kempe auch bei seiner zweiten Studioeinspielungen einsetzte. Aus seiner großen Szene im ersten Aufzug, wenn er dem Walther von Stolzing Sinn und Zweck des Meistergesangs erklärt, wird ein Kabinettstück ohnegleichen Theo Adam, Jahrgang 1926, später selbst ein bedeutender Sachs, sammelte erste Wagner-Erfahrungen als Seifensieder Hermann Ortel. Der gleichaltrige Gerhard Stolze, der es als Mime zu Weltruhm brachte, sang den Augustin Moser. Und die große Dresdener Bariton-Hoffnung Werner Faulhaber, der nur ein Jahr jünger war und 1953 tödlich verunglückte, ist mit zwei Rollen, Hans Foltz und Nachtwächter, vertreten. Um ihn ist es wirklich schade. Er hätte der Oper viel geben können.

Carl Maria von Weber Der Dresdener Freischütz: So steht es auf der Box (PH 10032). Die Verortung im Titel mag ungewöhnlich sein und auch etwas anmaßend anmuten, gerechtfertigt ist sie allemal. Die Produktion von 1951, einem Weber-Jahr (125. Todestag), dürfte zumindest im Osten Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Neubeginn in der Auseinandersetzung mit der berühmten Oper gewesen sein. Dresden gilt als eine der wichtigsten Weber-Städte. Dort wirkte er nachhaltig am Hoftheater, dort komponierte er zwischen 1817 und 1820 den Freischütz, der dann aber in Berlin uraufgeführt wurde. Obwohl es schon 1949 Nachkriegs-Aufführungen gab, wurde schon zwei Jahre später eine Neuproduktion auf die Bühne gebracht. Während der Fidelio zur Eröffnung des Großen Hauses 1948 live im Rundfunk übertragen und dabei aufgezeichnet wurde, wurde, gingen die Produzenten diesmal ganz neue Wege. Das Ensemble zog ins Aufnahmestudio des Mitteldeutschen Rundfunks, zu dem der Steinsaal des Dresdener Hygienemuseum umfunktioniert worden war. Die Agathe wurde von Elfride Trötschel gesungen, das Ännchen von Irma Beilke. Max war Bernd Aldenhoff, Kaspar Kurt Böhme. Am Pult der Staatskapelle stand wieder Kempe. Abermals standen die originalen Bänder zur Verfügung. Für die Hörer von heute zahlt sich das aus. Über die Jahre geistert dieser Freischütz nämlich immer wieder mal auf dem grauen Markt umher, zuletzt sogar als Konzertmitschnitt ausgewiesen, was Unsinn ist. Selbst der gewöhnlich sehr zuverlässigen Führer durch Operngesamtaufnahmen von Karsten Steiger geht von einem gekürzten Live-Mitschnitt aus dem Jahre 1950 aus. Die neue Edition setzt nicht nur die in anderen Veröffentlichungen immer gestrichenen Dialoge wieder ein, die hörspielartig angelegt sind, sie stellt auch die Fakten wieder her.

Leider hat sich der Fidelio, mit dem das Großen Hauses der Staatstheater Dresden am 22. September 1948 eröffnet wurde, nur teilweise erhalten. Das einstige Schauspielhaus sollte bis zur Einweihung der wieder aufgebauten Semperoper 1985 Spielstätte für Opernaufführungen in der im Krieg zerstörten Stadt an der Elbe sein. Die große Arie der Leonore – die Partie wurde von Christel Goltz gesungen – fehlt ebenso wie die Arie der Marzelline (Elfride Trötschel), deren Duett mit Jaquino (Erich Zimmermann), die Arie des Rocco (Gottlob Frick) und der Gefangenenchor. Ohne Dialoge passt die Musik auf eine CD. Es muss eine packende Aufführung unter Leitung von Joseph Keilberth gewesen sein. Alle Mitwirkenden – zu nennen sind noch Bernd Aldenhoff als Florestan, Josef Herrmann als Pizarro und Heinrich Pflanzl als Fernando – sind sich der Bedeutung des großen Augenblicks bewusst. Mit solcher Hingabe dürfte diese Oper selten aufgeführt worden sein. Umso beklagenswerter ist es, dass nicht alles überliefert ist. Die Entscheidung von Hänssler für den Torso finde ich dennoch richtig (PH10033). Er genügt, um das kulturelle Ereignis in seiner historischen Bedeutung angemessen darzustellen, zumal es – wie vom Label bereits mehrfach praktiziert – eine ergänzende DVD gibt mit Berichten über die Aufführung, Erinnerungen von Zeitgenossen wie der Sängerin Lisa Otto, die seinerzeit in Dresden wirkte. Auch Steffen Lieberwirth kommt zu Wort und erzählt die spannende Geschichte der Ouvertüre, die zunächst dem Archivmaterial nicht zugeordnet werden konnte, schließlich aber doch zweifelsfrei identifiziert wurde.

Elfride Trötschel. Der Name ist mehrfach gefallen. In meiner Jugend hatte ich keinen Zugang zu dieser Sängerin. Zu leise, zu viel Gestaltung, zu viel Kunst. Die expressiven Stimmen lagen mir mehr, Sänger, die zubeißen, die die Töne herausschleudern, damit um sich werfen. Alles das ist die Trötschel nicht. Sie will, dass man genau hinhört, dass man sich einlässt. Sie kann auf ihre Weise streng und fordernd sein. Und dennoch nicht humorlos, wie ihre Ausflüge ins leichte Fach belegen. Walter Felsenstein, der Gründer der Komischen Oper Berlin, spricht in seinem bewegenden Nachruf sinngemäß gar davon, dass man in ihr die kommende Operettendiva sah. Ein Kompliment der Sonderklasse, denn dieser instinktsichere Theatermann dachte in der Musik immer grenzüberschreitend. Damit erfasste er auch das besondere Talent dieser Sängerin, die ihren Einstand an seinem Haus mit der Eurydike in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt gegeben hatte. Er muss eine genaue Vorstellung von ihren ungeahnten Möglichkeiten gehabt haben. Die Trötschel als Erfinderin der Leichtigkeit? Sie kann also immer noch überraschen – mehr als fünfzig Jahre nach ihrem frühen Tod. Wen die Götter lieben, der stirbt jung, heiß es beim griechischen Dichter Menander. Nein, dieser Spruch bietet keine Erklärung. Ihr Leben blieb unvollendet. Was hätte sie noch alles singen können? Immerhin stand die erst am Beginn einer Weltkarriere. Es hat nicht sollen sein. Wir müssen uns an das halten was ist. Und das ist immerhin sehr viel.

Elfriede Trötschel (rechts) und Lisa Otto in der Oper „Die Zaubergeige“ von Werner Egk. Das Foto aus einer Aufführung der Berliner Städtischen Oper von 1955 entnahmen wir mit Dank dem Booklet.

Ihr Erbe ist reich und es macht reich. Die Plattenaufnahmen waren immer präsent, das meiste ist inzwischen auf CD übernommen worden. Neuzugänge tauchen gelegentlich auf. In privaten Sammlungen kursieren weitere Dokumente, darunter die Berliner Meistersinger unter Karl Böhm. Diese Sängerin hatte immer ihre Gemeinde, die sich mit den Jahren auch verjüngt hat. Hänssler hat eine bisher weitestgehend unbekannt geblieben Facette dieser Künstlerin entdeckt – die Liedsängerin (PH 13050). Sage und schreibe 38 Titel sind zusammengekommen, Schumanns „Mondnacht“ gar zweifach. Die enorme Vielseitigkeit der Trötschel auf der Opernbühne und auf dem Konzertpodium findet sich auch bei der Auswahl der Lieder. Reger, Strauss, Mahler, Hindemith, Schubert, Schumann, Brahms, Wolf.  Das sind die Namen der Komponisten dieser Edition, in Wirklichkeit dürften es mehr gewesen sein. Unterschiedlicher kann sich die Quellenlage nicht darstellen, was für den Spürsinn der Macher spricht. Es wurden Rundfunkaufnahmen des RIAS von 1949 mit der berühmten, Authentizität stiftenden Erkennungsmelodie aufgetan. Eine der beiden „Mondnacht“-Einspielungen entstand gar schon 1944 mir Michael Raucheisen am Klavier. Sie fehlt in seiner berühmten Liedersammlung, die in Schallplattenkassetten vorliegt und technisch teilweise sehr unzureichend auf CD übertragen wurde. Privatmitschnitte von Hermann Lauer bilden eine große eigene Abteilung. Strauss-Lieder mit Hubert Giesen entstanden bei einer Probe in der Privatwohnung. Offenbar hat sie der Sohn der Sängerin Andreas Trötschel großzügig zur Verfügung gestellt. Nicht nur das, er steuert im Booklet auch anrührende persönliche Erinnerungen an seine Mutter bei. Krönender Abschluss und platzgreifend auf der zweiten CD ist der Mitschnitt des letzten Liederabends 1956 im Dresdner Kurhaus Bühlau, bei dem sich das Publikum neben weiteren Liedern auch Arien erklatscht. Insgesamt sind es acht Zugaben, die Elfride Trötschel selbst ansagt. So wird auch ihre Sprechstimme überliefert, die mit der Gesangstimme völlig übereinstimmt. Unter den Zugaben ist das „Lied an den Mond“ aus Rusalka, mit dem man die Trötschel am häufigsten  verbindet. Kaum sind die ersten Töne angespielt, braust im Saal Wiedererkennungsbeifall auf. Das ist es, was die Leute hören wollen. Hans Löwlein am Klavier muss noch einmal von vorn anfangen. Auch ich habe sie als Rusalka zum ersten Mal bewusst wahrgenommen auf einer alten LP, die bei Eterna in der DDR erschienen war. In dieser Arie, die zumindest in Teilen auch ein Kunstlied sein könnte, tut sich eine direkte Verbindung zu ihrem Interpretationsstil der klassischen Lieder auf. Immer bildet die Melodie, die sie bis ins letzte Detail aufspürt, das Fundament für den Ausdruck. Nie ist es umgekehrt. Der Musik gehört das Primat, der musikalischen Linie ist alles untergeordnet. Das geht natürlich nur, wenn einer Sängerin dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen. Bei der Trötschel macht sich Technik nie selbstständig. Ihre Stimme ist wunderbar gebildet. Sie hat gute Lehrer gehabt, darunter den Bariton Paul Schöffler und die Altistin Helene Jung. Es scheint, als mache ihr Singen nicht die geringste Mühe. Der Ton ist leicht, natürlich, die Noten vollkommen verblendet. Da passt nichts dazwischen, nicht einmal die Luft zum Atmen. Sie gebietet über ein Farbenspektrum wie die französischen Impressionisten in der Malerei. Farben, die sich nicht beschreiben lassen, die man in ihrem Falle nur hören kann. Damit gewinnt sie vor allem Strauss („Ophelia-Lieder“) und Mahler („Des Knaben Wunderhorn“) ins Flirrende gehende Wirkungen ab. „Keine Sopranistin gestaltet den Wunderhorn-Text so innig, schlicht und mädchenhaft wie die Trötschel“, sagte der Dirigent Otto Klemperer, der mit ihr 1954 die 4. Sinfonie von Mahler aufgenommen hat.

Elfride Trötschel 1956 bei ihrem letzten Liederabend in Dresden, der im Kurhaus Bühlau veranstaltet wurde. Das  Foto stammt aus dem Booklet.

Auffallend stark hat sich die Trötschel der neuen Musik zugewandt, ein Markenzeichen, das sie mit den wenigsten prominenten Kolleginnen ihrer Zeit teilt. Sie hat – belegt durch Plattenaufnahmen – Honneger, Orff, Henze gesungen, in der Edition finden sich Ausschnitte aus den „Marien-Liedern“ von Hindemith. Schade, dass es nicht den kompletten Zyklus gibt. Sie wendet sich Hindemith mit der gleichen Hingabe, Schönheit und Wahrhaftigkeit zu wie Schubert oder Mahler. Sie interpretiert neue Musik aus der Tradition heraus und nicht als Bruch mit der Tradition. Die Neutöner werden dadurch vielleicht nicht revolutionärer – dafür aber gnädiger. Leider sagt das in Wort und Bild sehr aussagekräftige Booklet nichts über die kurzen Gesprächseinwürfe im Anschluss an die Hindemith-Lieder. Verglichen mit den Ansagen im Liederabend dürfte die Sängerin dabei selbst zu Wort kommen mit einem Ausruf des Staunens über ihre soeben vollbrachte Leistung. Das rührt sehr an. Und auch der anwesende Herr – ist es der Pianist und Dirigent Richard Kraus? – bemüht das Wort „wunderbar“ nicht nur einmal. Dem ist absolut nichts hinzuzufügen. Wer das Haar in der Suppe sucht, wird keines finden. Nun gut, es ließe sich diskutieren, welche Lieder ihr besser gelingen als andere. So fand ich zunächst den Einstieg in das Programm mit Regers „Flieder“ etwas zu mächtig, musste diesen Eindruck aber verwerfen, noch bevor sie zum verhauchten Schluss des Liedes gekommen ist. Bei Reger sind derlei dramatische Kontraste nicht selten. Nicht nur das Timbre, sondern die künstlerische Gesamterscheinung von Elfride Trötschel mögen im Einzelnen etwas altmodisch wirken. Aber nur, weil diese genaue Art des Singens aus der Mode gekommen ist. Rüdiger Winter

15 Jahre Profil – Edition Günter Hänssler: „Nur ein Label mit einem klaren PROFIL, mit einem eindeutigen Wiedererkennungseffekt, hat heute noch eine Chance auf dem heiß umkämpften CD-Markt – um die Liebhaber klassischer Musik heute mit einem Produkt zu überzeugen braucht man Originalität und Innovation.“  (Günter Hänssler) Im Jahre 2003 erschien die ersten Profil-CD mit der Produktionsnummer PH03001 unter dem Label Profil: Die Heidelberger Symphoniker  präsentierten die Werke für „Viola d´amore and orchestra“ von Stamitz mit dem Solisten Gunter Teuffel. Zwei weitere Produktionen folgten kurze Zeit später: Joseph Schmidt, ein Porträt zum 100. Geburtstag, eine CD, die heute noch ein Bestseller ist und Mozarts Klavierkonzerte mit Rudolf Buchbinder und den Wiener Symphonikern. Gefeierte Referenzeinspielungen zum Start eines Labels – eine spannende Geschichte nimmt seinen Lauf. Nach 15 Jahren sind alle internationalen Schallplattenpreise eingefahren und heute mehr als 800 CDs veröffentlicht. „Ein freundlicher Mensch von der Presse sagte einmal über mich, ich sei der Sternstundensammler. Natürlich freut mich, wenn das andere über mich sagen. Mit dem CD-Label PROFIL veröffentliche ich seit zehn Jahren ,magische Momente‘ der klassischen Musik, das sind beim Publikum unvergessene Konzerterlebnisse, die Jahrzehnte  später immer noch die gleiche Magie auf die Hörer ausstrahlen – auch auf Tonträger. Ich frage mich heute bei  jeder Aufnahme, die ich aufspüre, ob bei der Vielzahl der Veröffentlichungen gerade diese den  Wert hat, auf den Markt zu kommen. Ist die Substanz da? Dazu muss man genau hören können, sehr genau! Nicht nur mit den Ohren, man muss mit allen Sinnen hören und fühlen, was an der Aufnahme das Außergewöhnliche ist. Viel Zeit verbringe ich den Archiven der Rundfunkanstalten und beiße mich durch die Bestände. Das Geniale vom Guten zu unterscheiden – das ist die spannende Herausforderung und auch Passion“, sagt Günter Hänssler und blickt auf seine Editionen, die schon lange erfolgreich auf den internationalen Märkten positioniert sind u. a. die Edition Staatskapelle Dresden, Semperoper Edition oder die Günter Wand Edition; diese Editionen enthalten stets Aufnahmen, die nie vorher auf Tonträger veröffentlicht wurden, aber mit großen Namen bestückt sind: Günter Wand, Christian Thielemann, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink, Sir Colin Davis, Herbert Blomstedt, Wolfgang Sawallisch u. v. m.   PROFIL  schlägt die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart und versteht sich so auch als Bewahrer musikalischer Traditionen – „Das klingende Gedächtnis“ zum einen, zum anderen wird bei Profil die Gegenwart genauso abgebildet, etwa mit den herausragenden Konzerte des WDR-Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste oder seinem Vorgänger Semyon Bychkov.  Die Kunden von Profil setzen auf höchste Tonqualität, deshalb ist Günter Hänssler überzeugt, dass es für die klassische Musik Träger geben wird, auch wenn Formen wie Streaming und Download weiter zunehmen werden. Deshalb wird bei Profil über neue Modelle des Internetangebots und Musik-Downloads nachgedacht. Hänssler: „Man muss in jeder Hinsicht immer flexibel und ideenreich auf den Markt reagieren können.“ Auch eine der vielen Stärken des kleinen, aber sehr feinen innovativen Plattenlabels aus Stuttgart, unter dessen Dachmarke auch das renommierte Label hänssler CLASSIC agiert./ Quelle Hänssler Profil

Das große Foto oben zeigt Günter Hänssler, den Gründer des Labels. Foto: Hänssler / privat

„Erreicht, was zu erreichen war“

 

Es ist schon etliche Jahre her, dass ich sie in Berlin besuchte. Wäre sie mir ganz zufällig auf der Straße begegnet, ich hätte sie ganz bestimmt erkannt. Schön war sie auf ihre ganz individuelle Art noch immer, die Stimme stark und mächtig, die Vokale dunkel und deutlich geformt. Ich dachte unwillkürlich an Phädra, und ich stellte mir vor, dass ich sie gern in einer der großen Frauenrollen auf dem Sprechtheater gesehen und gehört hätte. In „Bernarda Albas Haus“ zum Beispiel. Die Rede ist von Ingeborg Zobel, die einst auch an der Berliner Staatsoper Unter den Linden gefeiert wurde – wenngleich es nicht ihr Stammhaus war: als Ortrud in Wagners Lohengrin und als Amme in der Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Bei unserem Treffen wohnte sie noch in der in der westlichen City der Hauptstadt. Es schien, als sei die gebürtige Görlitzerin dort angekommen, obwohl die inneren Bindungen an Meißen und seine Umgebung, wo sie viele Jahre lebte und ein Haus im Grünen besaß, geblieben waren. Sie genoss die aufstrebende Großstadt, ganz auf ihre Weise und machte doch um die Opernhäuser einen Bogen. Nur zweimal saß sie noch im Zuschauerraum – bei Tristan und Isolde und Samson und Dalia. Das ist alles. „Es ist vorbei“, sagte sie entschlossen. Man glaubte es ihr, weil weder Trauer noch Wehleid mitschwangen. Sie zog mit der ihr eigenen Konsequenz und Entschlossenheit einen Strich unter dieses andere Leben, das Leben einer erfolgreichen Opernsängerin. Blickte sie gern und zufrieden zurück? Sie zögerte mit der Antwort auf die Frage. „Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte. Bis auf die Kundry habe ich alle Partien gesungen, die mich interessierten und die mir wichtig waren.“ Dennoch schaue sie nicht eigentlich „liebevoll“ zurück. Das klang dann doch etwas bitter. Aber sie legte versöhnlich nach: „Ich weiß eigentlich nicht, warum!“ Blitzte hier der alte unverwüstliche Zweifel auf, der viele Künstler plagt?

Ingeborg Zobel 1975 als Isolde in Dresden. In dieser Inszenierung von Harry Kupfer erzielte der bis dahin weitgehend unbekannte Heldentenor Spass Wenkoff seinen internationalen Durchbruch. Foto: OBA

Ingeborg Zobel, geboren am 31. Juli 1928, war immer streng mit sich selbst, streng und unerbittlich in ihrem Anspruch, an jedem Abend auf der Bühne das Letzte geben zu müssen. Das hättest du besser machen können! Diesen Selbstvorwurf kannte sie zur Genüge. Dabei hatte sie eigentlich keinen Grund dafür. Ingeborg Zobel erinnerte sich, dass sie schon von Kindheit an mit Musik gelebt hat. Obwohl sie eigentlich Physikerin werden wollte, entschied sie sich schließlich für die Sängerlaufbahn, weil ihr Talent von Leuten, die sich darauf verstanden, erkannt wurde. Die Ausbildung in Dresden gehörte zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens, sie hat dort Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre noch Christel Goltz, Elfride Trötschel und Joseph Keilberth gehört. Und es gab in der Stadt an der Elbe den legendären Lehrer, Musikwissenschaftler und Regisseur Professor Heinz Arnold, dem sie sehr viel verdankt, weil er Sängerpersönlichkeiten für das Theater erzog, die nie mehr davon loskommen sollten. Vielleicht hat sie gerade deshalb um den Liedgesang mehr oder weniger einen Bogen gemacht – von den Vier letzten Liedern von Strauss oder den WesendonckLiedern von Wagner, die ohnehin eine große Nähe zur Oper haben, einmal abgesehen. Ingeborg Zobel hätte ohne jeden Zweifel auch Brahms, Schumann oder Wolf singen können, fühlte sich nach eigenem Bekunden aber am freiesten, „wenn sie als eine Figur auf die Bühne ging“. Sie empfand die „Erschütterung der Figuren“ und legte stets großen Wert darauf, sie nicht nur von der Musik, sondern auch vom Text her zu gestalten. Noch bevor Götz Friedrich die Sängerin gehört hatte, sagte er zu ihr: „Wenn sie so gut singen, wie sie über ihre Partie reden, dann wäre es gut.“ Sie hat diesen Satz nie vergessen. Immer aus dem Text heraus gestalten! Das hatte auch Harry Kupfer gefallen, und so nimmt es nicht Wunder, dass sie diesen Regisseur neben Heinz Arnold als „die wichtigsten Persönlichkeiten“ bezeichnete, denen sie in ihrem Künstlerleben begegnete.

In diesem Mitschnitt aus dem Fenice von 1982 ist Ingeborg Zobel als Marschallin zu hören. Auf dem Cover wird irrtümlich Theo Adam als Ochs ausgewiesen, aber es singt Werner Haseleu die Partie. Der Mitschnitt entstand bei einem Gesamtgastspiel der Dresdner Semperoper in Venedig. Er ist bei Mondo Musica erschienen (MFOH 10707).

Nach dem Debüt 1952 in Cottbus und Stationen in Schwerin und Rostock war Ingeborg Zobel Mitte der sechziger Jahre ans Nationaltheater Weimar gekommen, wo die Zusammenarbeit mit Kupfer ihren ersten Höhepunkt erreichte. Damals sah ich sie zum ersten Mal. Als Leonore in Fidelio. Alles war plötzlich anders. Die Figuren auf dem Theater wurden für mich lebendig und damit erst begreiflich. Ich werde nie vergessen, wie sie sich im Schlussbild den männlichen Pferdeschwanz aufknüpfte und die langen Haare über ihre Schulter fielen – ein Symbol der Selbstbefreiung aus einer schier aussichtslosen Zwangslage. Und ich werde den auch Jubel dieser hellen Stimme nicht vergessen, die sich strahlend über das ganze Ensemble erhob. Überhaupt sind es immer wieder einzelne Momente und Gesten – und eben nicht nur die Stimme -, durch die mir die Sängerin Ingeborg Zobel vor Augen steht, als sei es erst gestern gewesen. Momente, die scheinbar nebensächlich sind, wie im ersten Akt des Rosenkavalier, als die Marschallin dem Baron Ochs ein Medaillon mit dem Bildnis von Octavian unter die Nase hält und fragt, ob dieser „den jungen Herren da als Bräutigamsaufführer haben“ wolle. Das also, so durchfuhr es mich unten im Parkett, ist der Abschied, das ist die Wende im ganzen Stück, das mir durch sie so wichtig wurde. Sie hatte dieses unnachahmliche Gespür fürs Detail. Sie war nie unverbindlich, routiniert und allgemein. Weimar war nicht nur eine „gute Zeit“ für Ingeborg Zobel, es war auch eine gute Zeit für uns Zuschauer, die extra angereist kamen, weil sie angekündigt war und weil jede dieser Kupfer-Inszenierungen eine Offenbarung war für uns nicht eben verwöhnte Operngänger in der DDR-Provinz. Im Rückblick sagte sie: „Kupfer war deshalb ideal für uns Sänger, weil er intensiv mit uns arbeitete und mit uns Theater spielte. Er hat uns viel Raum und Luft gelassen und davon wohl auch selbst profitiert.“

„Von Adam bis Zobel“: In diesem Buch stellt Boris Gruhl auf sehr persönliche Weise Sänger vor, die tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben – darunter auch Ingeborg Zobel. Es ist im Verlag der Kunstagentur Dresden erschienen (ISBN 978-3-00-044071-7).

Auf Weimar folgte Dresden, wo sich inzwischen auch Kupfer etabliert hatte und alsbald mit der ersten Neuinszenierung von Tristan und Isolde, die diesen Namen auch verdiente, einen Sturm der Beigeisterung lostrat. Wieder sollte es die Zobel sein, deren Namen mit dieser trunkenen, in üppigen Jugendstil getauchten Inszenierung, die 1975 in der DDR Operngeschichte schrieb, untrennbar verbunden ist. Ihr zur Seite als Tristan ein bis dahin nahezu unbekannter bulgarischer Tenor, der zuvor in Döbeln, Magdeburg und Halle ein Schattendasein geführt hatte, plötzlich aber in aller Munde war und alsbald auch in Bayreuth und New York auftreten sollte: Spass Wenkoff. Der aufstrebende Harry Kupfer war dem allmächtigen Übervater Walter Felsenstein zuvorgekommen. Der hatte Ingeborg Zobel nämlich in Dresden als Brünnhilde in der Walküre gehört und wollte mit ihr an der Komischen Oper selbst Tristan und Isolde inszenieren. Doch es wurde bekanntermaßen nichts daraus, weil Felsenstein „keinen Tristan für mich hatte“. Was es mit diesem „für mich“ – also für die Zobel – auf sich hatte, bleibt ungeklärt. Nach den Mutmaßungen der Sängerin könnte es „Koketterie oder Ausflucht“ gewesen sein. Oder aber Felsenstein hat den Nagel auf den Kopf getroffen und verstand doch mehr von Stimmen, als gemeinhin vermutet. Ingeborg Zobel bediente nicht die traditionelle Vorstellung, die über hochdramatische Soprane bis heute im Umlauf sind – nicht immer zu deren Vorteil. Sie kam aus der jugendlich-dramatischen Region und hatte diese niemals wirklich verlassen. Ihr standen zwar extreme Höhe und stimmliche Kraft zu Gebote, aber die Gestaltung von Partien wie eben die Isolde war immer stark dem Lyrischen verpflichtet. Sie opferte einer extremen Phrase niemals ein Detail der inhaltlichen Aussage. Sie war niemals nur laut. Ihr Erfolg und ihre Wirkung beruhten auf Gestaltung und nicht auf hohen Tönen, mit denen sich Hörer leicht und gern zufrieden geben. Wer also – um auf Felsenstein zurückzukommen – hätte der ideale Tristan für diese Isolde sein können? Es gab ihn einfach nicht. Nicht in der DDR. Auch Wenkoff war es letztlich nicht. Wolfgang Windgassen, der Lyriker unter den Heldentenören, der bis zum Schluss auch immer den Tamino sang, vielleicht. Aber der stand nicht zu Debatte. Die Überlegung ist rein rhetorisch.

Eines der wenigen offiziellen Tondokumente mit Ingeborg Zobel ist ein Querschnitt durch die Oper „Enoch Arden“ von Ottmar Gerster. Sie singt die Annemarie. Die Gesamtaufnahme wird im Deutschen Rundfunkarchiv aufbewahrt. Die Schallplatte, die immer noch antiquarisch zu finden ist, erschien beim DDR-Label Nova.

Ingeborg Zobel war – auch den Jahren nach – auf dem Höhepunkt der Karriere, als sie sich Isolde, Brünnhilde oder Elektra zuwandte. Sie hatte gut geplant und dadurch gewonnen. Ob Figaro-Grafin, Meistersinger-Eva, Agathe, Mimi, Jolante, Jenufa oder Amelia – im stilistischen Sinne fanden sich all diese unterschiedlichen Frauen aus früheren Jahren ihrer Karriere auch in den späteren sogenannten schweren Partien wieder, die aus ihrem Munde plötzlich gar nicht so schwer klangen. Ingeborg Zobel, eine lyrische Hochdramatische. Es ist ein Jammer, dass nur wenige Tondokumente überliefert sind. Im DDR-Rundfunk entstand 1965 eine Gesamtaufnahme von Ottmar Gersters Oper Enoch Arden unter Kurt Masur, von der es mal auf Schallplatte einen Querschnitt gab, der in jede Sammlung gehört. Im Rundfunkarchiv lagern auch die Senta-Ballade, der Elektra-Monolog und das Liebesduett aus Tristan mit dem sehr lyrischen (!) Dieter Schwartner, der vor allem in Dessau, Dresden und Leipzig in Erscheinung trat – auch als Tamino. Von einem Gastspiel 1982 im Teatro La Venice – und das ist ein Segen – hat sich ein Rosenkavalier erhalten, in dem sie die Marschallin singt. Der ist unter dem Label MONDO MUSICA auf CD erschienen und noch immer zu haben. Es ist wie so oft: Der Prophet gilt wenig im eigenen Land (Foto oben: Ingeborg Zobel als Isolde/ Foto Isoldes Liebestod/ Zobel). Rüdiger Winter

Wotan als Leisetreter

 

Mark Elder, seit 2000 an der Spitze des Hallé Orchestra, des ältesten englischen Orchesters, stehend und diesem in Nibelungentreue ergeben wie einst John Barbirolli, hat sich in den letzten Jahren als einer der beachtlichsten lebenden Wagner-Interpreten einen Ruf gemacht. Besonders seine Einspielung des Parsifal wusste zu begeistern. Hierin zeigte sich einmal wieder die Überlegenheit englischer Knabenchöre. Mit dem Concertgebouw-Orchester legte er zudem einen respektablen Lohengrin vor. Ihren Ursprung hat Elders Wagner-Expertise beim Ring des Nibelungen. Bereits 2009 wurde Götterdämmerung eingespielt, 2011 dann Die Walküre. Fast schien es so, als würde der Manchester-Ring Fragment bleiben – ein Schicksal, das auch dem Mariinski-Ring unter Gergiew zu ereilen droht. 2016 aber ging es dann doch weiter und man nahm sich des Rheingolds an (Hallé CD HLD 7549). Es darf schon vorausgeschickt werden, dass die Aufführungen des Siegfried bereits stattfanden und mit einer zeitnahen Veröffentlichung zu rechnen ist. Damit wäre das ehrgeizige Projekt zumindest in Manchester nach einem Jahrzehnt vollendet worden. Allein dies nötigt Respekt ab, handelt es sich beim Hallé doch bei allen Meriten um kein genuines Opernorchester. Dass mit den wirkungsmächtigeren Teilen der Tetralogie begonnen wurde, nimmt kaum wunder. Bereits Herbert von Karajan eröffnete seine Salzburger Osterfestspiele weiland nicht mit dem Rheingold, sondern mit der Walküre. Dass Siegfried nun den Abschluss bildet, spiegelt letztlich nur die Aufführungsstatistik wider; keine der Ring-Opern wird wohl seltener gespielt.

Doch zurück zum Rheingold. Etwaige Vorbehalte gegen das Orchester sind unbegründet. Tatsächlich hat Elder in seiner mittlerweile beinahe zwei Jahrzehnte währenden Amtszeit als Chefdirigent eine Art neuen Hallé-Klang etabliert, der sich als samtig, ungemein lyrisch, wenn nötig aber auch mit einer adäquaten dramatischen Durchschlagskraft charakterisieren lässt. Die Grundtendenz seiner bisherigen Wagner-Interpretationen setzt sich auch hier fort. Elder nimmt sich, wenn nötig, Zeit, denn er hat sie, und sein Klangkörper folgt ihm darin tadellos. Bei aller berechtigten Lobpreisung der großen Wagner-Aufnahmen aus der Vergangenheit: von der Orchesterkultur her liegen diese Hallé-Einspielungen ganz weit vorne. Großartig gerade die rein orchestralen Abschnitte wie der Abstieg der Götter nach Nibelheim. Fast wähnt man Elder hier auf den Spuren von Reginald Goodall, dem legendärsten Wagner-Dirigenten von der Insel.

Tatsächlich ist es sinnvoll, hier von einer Einspielung zu sprechen, handelt es sich doch nicht um den bloßen Mitschnitt der konzertanten Aufführung in der Bridgewater Hall in Manchester vom 27. November 2016. Es wird bewusst darauf verwiesen, dass auch die Proben eingearbeitet wurden. Dies ist legitim und nachvollziehbar, konnten so doch etwaige Unsauberkeiten ausgebügelt und dem Perfektionismus einer echten Studioaufnahme angenähert werden, ohne auf das Adrenalin einer Live-Aufführung gänzlich zu verzichten. Sängerisch ist man im Großen und Ganzen auf einem überdurchschnittlichen Niveau. Samuel Youns Alberich fehlt die Tiefe eines Gustav Neidlinger (man möchte fast sagen: natürlich) und wirkt etwas leichtgewichtig, doch geht er in seiner Rolle völlig auf (sehr expressiv beim Fluch). Iain Paterson als Wotan scheint auf Linie zu liegen mit dem Dirigat, ist zuweilen eher ein Leisetreter denn ein machtvoller Göttervater wie einst Hans Hotter und George London, aber mit interessantem Timbre. 2020 soll er gar in Bayreuth den Wotan geben. Mit Susan Bickley hat man eine ungewöhnlich ansprechende Fricka an Bord, die sich von früheren Rolleninterpretinnen schon dadurch abhebt, dass sie ihr eine sympathischere Erscheinung verleiht. Vor allem darstellerisch überzeugend sind Will Hartmann als Loge und Nicky Spence als Mime; sie machen stimmliche Defizite durch Intensität gleichsam wett. Auch die kleineren Rollen fallen nicht ab. Dies gilt besonders für die Riesen (mächtig und sonor Reinhard Hagen – der einzige Muttersprachler in der Besetzung – als Fasolt und Clive Bayley (etwas an Matti Salminen erinnernd als Fafner), aber auch für Donner und Froh (David Stout und David Butt Philip), für Freia (Emma Bell) und für Erda (Susanne Resmark), mit Einschränkungen auch für die drei etwas ältlich klingenden Rheintöchter (Sarah Tynan, Madeleine Shaw und Leah-Marian Jones). Ausfälle gibt es keine, die deutsche Diktion ist soweit vorbildlich und akzentfrei.

Insgesamt wird Elders Neueinspielung zwar keine der etablierten Referenzaufnahmen ablösen (darunter Keilberth, Solti und Karajan), doch braucht sie auch keine Vergleiche zu scheuen, besonders nicht aus jüngerer Zeit. Aufgrund des prachtvoll ausgelegten Orchesterparts und des umsichtigen Dirigats, die dank des exzellenten Klanges richtig zur Geltung kommen, kommt man kaum umhin, auch dieses Rheingold in der Diskographie weit vorne einzuordnen. Daniel Hauser

„Wie alles war“

 

Die Festspiele in Bayreuth sind immer noch ein Anlass, sich in das Werk Richard Wagners zu vertiefen. In den Feuilletons und im Netz wird der Komponist noch häufiger bemüht als sonst. Aus Radio und Fernseher ertönt seine Musik nahezu täglich. Auch wenn manche neue Inszenierung das Potenzial in sich trägt, mit Wagner Schluss zu machen, gibt es viele Gründe, es doch noch einmal mit der alten Liebe zu versuchen. So ein Grund ist für mich ein Druckerzeugnis von beträchtlichem Ausmaß: Die Geschichte der Bayreuther Festspiele von Oswald Georg Bauer, erschienen im Deutschen Kunstverlag, zwei Bände im Schuber, 1292 Seiten (ISBN 978-3-422-07343-2). Es ist nicht üblich, das Gewicht von Büchern anzugeben. In diesem Falle aber hätte sich eine Ausnahme von der Regel angeboten. Viel fehlt nicht an zehn Kilo. Mit fünfunddreißig Zentimetern Höhe verweist das ausladende Produkt den alten Brockhaus und die üppigsten Bildbände auf eher bescheidene Plätze. Bevor sich also jemand zu der Anschaffung entschließt, wozu ich nur raten kann, sollte die Unterbringung geklärt sein. Denn zum weiter Verschenken ist das Werk wenig geeignet. Manche Senioren und Kinder – ich hörte meine ersten Rundfunkübertragungen aus Bayreuth mit zwölf – hätten Schwierigkeiten, einen der Bände auf dem Schoß zu halten. Wie dem auch sei. All das sind die kleinsten Probleme, die sich mit diesen Büchern verbinden. Sind sie einmal im Haus und der privaten Bibliothek einverleibt, wüsste ich keinen Anlass, sie wieder herauszurücken. Schon gar nicht für einen wie mich, der sich trotz gewisser Vorbehalte immer noch für Wagner und Bayreuth interessiert. Von Zeit zu Zeit hole ich das stets griffbereite Werk aus dem Regal. Es bleibt nie bei einer kurzen Stippvisite. Liegt es einmal auf dem Tisch, gehen die Stunden nur so hin. Es hat seine Sogwirkung behalten. Bereits vor einiger Zeit wurde es an dieser Stelle ausführlich besprochen. Wie die Bücher selbst, kann auch ein Text hervorgeholt und einer neuen Wertung unterzogen werden.

Geschichte Bayreuther Festspiele (Foto)Es handelt sich um die erste chronologische Darstellung der Festspiele von 1850 bis 2000. Der Autor war ein enger Vertrauter des Wagner-Enkels Wolfgang, der die Entstehung des Buches bis zu seinem Lebensende wohlwollend begleitete. Bauer diente ihm über viele Jahre als Pressesprecher, war so etwas wie seine rechte Hand und hatte Zugang zu den sagenumwobenen Archiven. Bauer: „Ich fragte ihn, was er davon halte, dass ich die Geschichte der Bayreuther Festspiele schreibe.“ Er sei sichtlich erfreut gewesen, hab ihm die Hand gereicht und gesagt: „Herr Bauer, hiermit ernenne ich Sie zum Chronisten der Festspiele.“ Die engen Kontakte zum Patriarchen Wolfgang Wagner dürften eine gute Voraussetzungen für so ein Werk gewesen zu sein. „Wie alles war“: Erdas Ausruf im Rheingold darf getrost als Motto – und als Anspruch gelten.

Band I, Abb. 135: Drei Grazien, wie sie im Venusberg des Tannhäuser 1891 aufgetreten sind. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

Band I, Abb. 135: Drei Grazien, wie sie im Venusberg des „Tannhäuser“ 1891 aufgetreten sind/ Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

Bauer hat keine Propagandaschrift verfasst. Seine Darstellung ist kritisch und spart die heiklen Kapitel in der Festspielgeschichte nicht aus. Offen gelegt werden die Verstrickungen mit der politischen Macht, die bereits der Komponist betrieb, und die mit dem Aufstieg Hitlers zum deutschen Reichskanzler ein Ausmaß erreichten, welches den Forstbestand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst in Frage stellte. Um ein Haar wäre Bayreuth an sich selbst gescheitert. 1968, die Nachkriegsfestspiele gingen bereits in ihr siebzehntes Jahr, erreichten die Protestbewegung der Studenten, die sich mit der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch die Elterngeneration nicht abfinden wollte, auch den Grünen Hügel. Erstmals gab es lautstarke Aktionen bei der Auffahrt der Prominenz. Die war nicht mehr unter sich. „Bonzen raus – Volk rein.“ Diese Forderung ist auch im Buch nachzulesen. Sie liegt – und das ist bemerkenswert – gar nicht so weit weg von dem, was sich der ehemalige Barrikadenkämpfer Wagner selbst einmal vorgestellt hatte. Gleich auf den ersten Seiten heißt es nämlich: „Wagners ursprüngliche Idee, dass genügend Vermögende so viel spenden würden, dass den Minderbemittelten ein freier Eintritt ermöglicht würde, hatte sich als utopisch erwiesen.“ Darauf folgt das Zitat Wagners als bittere Erkenntnis: „Wir sind notgedrungen unserer ursprünglichen Idee untreu geworden.“ Für Wagner nimmt dennoch seine Energie ein, die Festspielidee gegen alle Widerstände in die Tat umgesetzt zu haben.

Bayreuth Gralsgefäß

Band I, Abb. 85: Entwurf des Gralsgefäßes für die Uraufführung des „Parsifal“ 1882 von Paul von Joukowsky. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

Als die Arbeiten für den Bau des Festspielhauses begannen, war die Götterdämmerung nicht einmal fertig. Eile war geboten. Dieser Druck ist dem Ring-Finale nach meiner Überzeugung auch anzuhören. Zumindest aber blieb immer Zeit genug, den alltäglichen Antisemitismus, der in Wahnfried zur Hausordnung gehörte, bei allen sich bietenden Gelegenheiten zu pflegen. So mokierte sich Frau Cosima darüber, das Hans Richter, der erste Ring-Dirigent in Bayreuth, eine Jüdin zur Frau genommen hatte. „Es scheidet sich alles, was nicht zusammengehört, wenn es sich noch so nahe gekommen ist; so fühlte ich entschieden, dass Richter nun mehr andere Bahnen wandeln wird“, heißt es in ihrem Tagebuch. Dass die Kosten ausuferten, der ursprüngliche finanzielle Rahmen von hunderttausend Talern drastisch überschritten wird, ist nicht nur ein Problem der Neuzeit. Es war schon damals so. Der Autor hat auf solche immer mit Fakten unterfütterten Schilderungen sehr viel Platz verwendet – mit der unausgesprochenen Folge, dass es nach Wagners Tod 1883 langweiliger wurde in Bayreuth. Als sei mit dem „Meister“ auch der Hauptdarsteller des Bayreuther Dramas dahin.

Bayreuth Figurine Parsifal

Band I, Abb. 76: Figurine des Parsifal von Paul von Joukowsky 1882. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

Trotz seiner ungelenken Ausmaße verbreitet das Buch Sinnlichkeit. Daran haben die vielen Fotos einen erheblichen Anteil. Die Kameras sind auch hinter die Kulissen gerichtet. Bayreuth erscheint von Anfang an als Werkstatt. Ein Begriff, der auf Friedrich Nietzsche zurückgeht. Besonders sinnfällig wird dies anhand der Aufführung des Ring des Nibelungen 1933 durch Heinz Tietjen in Bühnenbildern von Emil Preetorius, die 1934 weiterentwickelt wurden. Sie ist in ihrem Entstehen und in ihrer Vervollkommnung dokumentiert. Entwürfe und deren Umsetzung machen die Veränderungen nachvollziehbar. Zitiert wird Preetorius, als er die alten Dekorationen in Augenschein nahm, mit den Worten: Sie müssten „… Luft haben, die Bühne muss freigestellt werden. Also weg mit allem, damit die Größe dieser Bühne wirklich zur Geltung kommt“. Alles Nebenbei sollte weggelassen werden. Wagner sei für ihn, Preetorius, prinzipiell eine „Sache des Lichts“, das der „wandelfähigste und wandelschaffendste Faktor in der ganzen Szenerie“ sei. Noch heute klingt das plausibel, zumal Regisseure wie Christoph Schlingensief, Frank Castorf und Uwe Eric Laufenberg die Bayreuther Bühne wieder total voll geräumt haben, wodurch deren Weite und Dimension optisch schrumpft. Das Kapitel über diesen Ring gehört zu den stärksten des Buches. Bei der Bildauswahl wurde Wert auf die Erkenntnis gelegt, dass noch so phantastisch gelungene Kulissen erst durch die Akteure belebt werden. So ist es auch nach mehr als achtzig Jahren noch beeindruckend, wenn Frida Lieder als Brünnhilde und Max Lorenz als Siegfried am Schluss des Siegfried förmlich aufeinander zufliegen oder wenn sich Josef von Manowarda als Hagen auf dem Felsen in der Götterdämmerung wie sein eigenes Denkmal erhebt.

Bayreuth Furtwängler zu Pferd

Band I, Abb. 327: Wilhelm Furtwängler kommt 1931 auf dem Pferd zu den Proben, hier als Ausschnitt. Foto: Sammlung Weirich, Eisenach

Figurinen, Karikaturen, Pläne, Zeichnungen und faksimilierte Dokumente gibt es in großer Zahl. Vieles davon dürfte noch nie öffentlich gezeigt worden sein. Über weite Strecken gleicht das Werk einem Kunstband über Fotographie. Unglaublich, was Kameras schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu leisten vermochten. Auf dem schweren matten Papier fallen die Reproduktionen besonders gut aus. Wer mal keine Lust zum Lesen verspürt, kann sich stundenlang bei den Illustrationen aufhalten und wird immer neue Details entdecken. Mit der Zeit kommt Farbe ins Spiel, wodurch aber auch die schwarzen Hakenkreuze auf dem blutroten Untergrund der Fahnen, die nach 1933 in ganz Bayreuth aufgezogen wurden, noch bedrohlicher wirken. Mein Lieblingsfoto ist schnell ausgemacht: Der Dirigent Wilhelm Furtwängler kommt 1931 noch in Schwarzweiß zu Pferd zu den Tristan-Proben angeritten.

Bayreuth Mödl nach dem Tristan

Band II, Abb. 87: Martha Mödl, die Isolde bei den ersten Nachriegsfestspielen 1951, hatte auch nach der Vorstellung ihren großen Auftritt. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner

Im zweiten Band, der die Jahre 1951 bis 2005 behandelt, lässt die Spannung etwas nach. Als gehe es wieder von vorn los. Das liegt in der Natur der Sache, nicht an der Kompetenz des Autors. Aus den Nachkriegsjahren gibt es bereits haufenweise Material in Form von Büchern, Zeitschriftenbeiträgen, Programmheften, Hörfunk- und Fernsehsendungen. Hinzu kommen die Tonträger und zunehmend verfilmte Vorstellungen. Und immer geht es um die zehn selben Stücke. Jahraus, jahrein. Zeitzeugen sind noch unter den Lebenden, erinnern sich genau. Meinen ersten Besuch in Bayreuth 1994, der einer Aufführung der Götterdämmerung galt, finde ich auch wieder. Nicht nur das. Ich sehe auch meine Eindrücke von damals bestätigt. Regie führte Alfred Kirchner, die Ausstattung besorgte rosalie. Ich fand es – wie einige Kritiker – gar nicht albern, als sich bei Siegfrieds Tod die stilisierten Bäume niedersenkten, als trauere die Natur um diesen Helden, der menschliche Züge trug. Während ich positive Eindrücke auffrischen kann, werden sich andere Leser womöglich auch zwanzig und mehr Jahre später erneut aufregen über in ihren Augen völlig verunglückte Lösungen. All dies gibt die Dokumentation her. Bauer, der sich eigener Wertungen enthält, tritt in erster Linie als Chronist in Erscheinung, gibt wieder, was Lesern, die nicht dabei waren, einen freien und unparteiischen Zugang zu den einzelnen Produktionen ermöglicht, seien sie nun heftig umstritten gewesen oder nicht. Er kann nicht nur gut schreiben, er vermag – wenn er nicht zitiert – auch sehr unterhaltsam zu erzählen. Mir kam es oft so vor, als hätte ich selbst – viel häufiger als in Wahrheit geschehen – im Zuschauerraum gesessen oder Proben und Arbeitsgespräche ganz aus der Nähe verfolgen können.

Bayreuth Lubin als Isolde

Band I, Abb. 464: Germaine Lubin als Isolde 1939, hier als Bildausschnitt: Foto:. Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

Ausführlich und sehr gründlich behandelt werden jeweils die neuen Inszenierungen. Reprisen, die nicht selten musikalisch beideutender gewesen sind als die ursprünglichen Premieren werden oft nur gestreift und im Detail nicht mehr behandelt. So ein Beispiel ist Lohengrin, den Wolfgang Wagner 1967 herausbrachte, als die Festspiele erstmals ohne Wieland auskommen mussten, der im Jahr zuvor gestorben war. Diese Inszenierung löste das berühmte Oratorium des Bruders in Silber und Blau ab. Während sich das Publikum zufrieden zeigte, mäkelte die Kritik daran herum, sah gar eine – wie es bei Bauer heißt – „Rückkehr zum Konventionellen“. 1972, in seinem letzten Jahr, entpuppte sich dieser Lohengrin als musikalische Sternstunde. Silvio Varviso entfaltete am Pult eine selten gehörte Pracht. René Kollo als jugendlicher Lohengrin, Hannelore Bode als strahlende Elsa, die unvergessene Ursula Schröder-Feinen als fulminante Ortrud und der charaktervolle Donald McIntyre als Telramund wuchsen förmlich über sich hinaus. Unbestechliches Zeugnis legt davon der Mitschnitt des Bayerischen Rundfunks ab. Ich scheue mich nicht, von einem der stärksten Eindrücke zu sprechen, die mir aus Bayreuth zu Ohren kamen. Darauf nimmt das Buch keine Rücksicht.

Band II, Abb. 185: Lotte Lehmann und ihre Schülerin Grace Bumbry 1959 als Gäste in Bayreuth. Zwei Jahre später trat die Bumbry als Venus auf. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner

Band II, Abb. 185: Lotte Lehmann und ihre Schülerin Grace Bumbry 1959 als Gäste in Bayreuth. Zwei Jahre später trat die Bumbry als Venus auf. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner

Es darf sich nicht aufhalten, muss nach vorn streben. Seinem eigenen Ordnungsprinzip folgend, ist 1972 die Neuinszenierung des Tannhäuser durch den DDR-Import Götz Friedrich angesagt. Was sich seinerzeit abspielte, liest sich in der Rückschau wie ein deutsch-deutscher Krimi. Bauer bringt das ziemlich gepfeffert herüber. Der tote Tannhäuser lag, wie es in einem Bericht heiß, „in der Haltung des Gekreuzigten, jetzt umgeben vom gesamten Chor in Arbeitskleidung, der die Schlussworte direkt ins Publikum sang als eine ,Verbrüderungsgloriole’.“ Zitiert wird auch Friedrich in einem Interview, in dem er sich auf Brecht berief. Es sei ihm besonders nötig, „Handlungen zu Haltungen zu verdichten“. Und in der TV-Sendung „Aspekte“ brachte er das Fass zum Überlaufen mit der von Bauer wiedergegebenen Bemerkung, die reaktionäre Wartburggesellschaft glaube er, Friedrich, ganz konkret in dem Publikum wiederzufinden, das auf den Grünen Hügel pilgere, um „Kunst und Frieden“ zu genießen. Solche Töne kamen nicht gut an, der Tannhäuser sei zu einem „Politikum ersten Ranges zwischen der BRD und der DDR geworden“. In seinem letzten Jahre, 1978, gewann die Inszenierung abermals mediale Aufmerksamkeit. Der Tannhäuser kam als erste Bayreuther Produktion ins Fernsehen und ist noch heute auf DVD zu haben. Gebührend wird darauf auch im Buch eingegangen.

Bayreuth Siegfried mit Bär

Band I, Abb. 175: Der Tenor Alois Burgstaller 1896 als Siegfried mit dem Bären. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner

Damit ist eines von zwei Themen erreicht, die kritisch anzumerken sind. Kein Festival ist so genau und so umfassend auf Tonträgern dokumentiert wie dieses. Zunächst war es der graue Markt, der sich fast aller im Rundfunk gesendeten Mitschnitte – auf nicht legale Weise – annahm. Immerhin sind sie unter den Leuten. Mehr oder weniger mit Bayreuther Segen sind peu à peu alle Werke, die dort gezeigt werden, auf Tonträger gelangt, die meisten sogar mehrfach. Die Firma Testament sicherte sich mit dem von Joseph Keilberth geleiteten Ring des Nibelungen von 1955 die erste Stereo-Aufnahme aus Bayreuth, nachdem sie ein halbes Jahrhundert im Archiv gelegen hatte. Unter der Hand aber tat sich immer noch mehr. Sammler sind eine besondere Spezis. Sie wollen alles. Mit der Veröffentlichung des Tristan mit Martha Mödl und Ramon Vinay von 1952 unter Herbert von Karajan 2003 bei Orfeo wurde klanglich weit überholt, was davon zuvor im Umlauf war – und den Piraten (außerhalb der 50-Jahre Copyright-Grenzen) der entscheidende Kampf angesagt. Das Bessere ist der Feind des Guten, sagte schon Voltaire. Wie Recht er hatte. Dieses Remastering des besagten Tristan ist deshalb so beispielhaft, weil damit zumindest akustisch der rasante Bayreuther Neuanfang heraufbeschworen wurde. Allein deshalb hätte diese CD-Box, der bei Orfeo weitere folgten und immer noch folgen, ein Gegenstand der Geschichtsschreibung sein müssen.

Bayreuth Tannhäuser Finale 1930

Band I, Abb. 318: „Tannhäuser“ 1930, Ende zweiter Aufzug, in der spektakulären Neuinszenierungen von Siegfried Wagner, die von Arturo Toscanini dirigiert wurde. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner

Soll heißen, die Festivalgeschichte ist auch die Geschichte ihres klingenden Vermächtnisses. Wie, wenn nicht auch akustisch, will man die Bedeutung des legendenumwobenen Veranstaltungsortes erfahren, der in früheren Jahren wesentlich mehr Exklusivität und Individualität zu bieten hatte als heute. Es sind bereits frühzeitig Versuche unternommen worden, den Bayreuther Gesangsstil für die Ewigkeit zu konservieren. Einige Sänger, die von Anfang an dabei gewesen sind, können immer noch gehört werden. Nach der Aufführung des auch französisch gesungenen Tannhäuser in der Pariser Fassung 2017 in Monte-Carlo dürfte das Interesse an dieser Version wieder zugenommen haben. Sie wurde auch 1930 in Bayreuth bei der von Arturo Toscanini geleiteten neuen Produktion gespielt. Im Buch wird beklagt, dass es davon keine Tondokumente gibt, die den Glanz, den der italienische Maestro verbreitete, festgehalten hat. Dass die großen Szenen, die im selben Sommer aufgenommen wurden, aus rechtlichen Grünen offiziell aber von Karl Elmendorff dirigiert werden mussten, in den kleingedruckten Anhang verbannt wurden, finde ich unangemessen. Etwas, das Toscanini mit den Musikern und Sängern erarbeitet hat, wird ja doch auch in diese Aufnahme eingegangen sein, zumal im Buch das Orchester nach einer Kritikermeinung als die „tönende Seele“ des Ganzen bezeichnet wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass sich Elemendorff veranlasst sah, aus dem Orchester herauszuspülen, was der berühmte Kollege aus Mailand eingepflanzt hatte. Es hätte sich gelohnt, einen Musikwissenschaftler, der mit Toscaninis Stil bestens vertraut ist, um sein analytisches Urteil zu bitten. Ich habe mir das von Naxos in sorgsamer Restaurierung herausgegebene Album mit gut zweieinhalb Stunden Musik wieder angehört und war überwältigt und hingerissen und von diesem Drive.

Bayreuth Diegfried Kirchner

Band II, Abb. 546: Wolfgang Schmidt 1994 als Siegfried mit dem Drachen, der von Eric Halverson gesungen wurde. Foto: Bildarchiv Bayreuther Festspiele GmbH

Nun zum zweiten Kritikpunkt. Gleich im Vorwort, wenn der Autor anschaulich Aufbau und Anlage seines Opus erklärt, heißt es: „Aufgrund dieser Struktur wird mit Absicht auf ein Namensregister verzichtet. Bei der Vielzahl der erwähnten Personen würde jeder Name sich unendlich wiederholen, so dass ein solches Register nur unübersichtlich wird und dem Leser kaum eine Hilfe bieten.“ Was dem Leser als Erleichterung versprochen wird, erweist sich mit fortschreitender und auch bei erneuter Lektüre als Bärendienst. Ohne dieses Register lässt sich mit den Büchern nicht gut arbeiten. Wo war doch gleich mal die Stelle, an der dieser Künstler, jener Dirigent oder wer sonst noch in Erscheinung tritt? Gab es überhaupt eine Erwähnung? Jetzt geht die Sucherei los. Es ist die Stunde derjenigen, die optisch lesen, die auch nach dreihundert Seiten noch wissen, wo die gesuchte Person in der zweiten Spalte rechts unten aufgetreten ist. Wer diese Gabe nicht besitzt, ist zwar übel dran – dennoch aber im Besitz eines wichtigen Standardwerkes. Rüdiger Winter

Beitragsfoto Bayreuth Buch

Szene aus Siegfried von 1934 in den Bühnenbildern von Emil Preetorius. Frida Leider als Brünnhilde und Max Lorenz als Siegfried scheinen aufeinander zuzufliegen. Auch dies ein Bildausschnitt, Band I, Abb. 370. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner 

Foto oben: Anna Bahr-Mildenburg als wilde Kundry im ersten Aufzug des Parsifal von 1911 im Bildausschnitt, Band I, Abb. 229. Foto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, Zustiftung Wolfgang Wagner. Wir danken Frau Barbara Grahlmann vom Deutschen Kunstverlag sehr herzlich für die ausdrückliche Genehmigung zur Verwendung der Fotos für diesen Beitrag.

Rollentausch

 

Einige Balladen bieten sich an, mit verteilten Rollen vorgetragen zu werden. Egal, ob sie nun vertont sind oder nicht. Das ist nach meiner Überzeugung ein Irrweg. Denn das dramatische Geschehen findet sich in dem Genre selbst angelegt und verlangt nicht nach formalen Erweiterungen. Balladen sind weder Schauspiele noch Opern. Dennoch gab und gibt es noch immer Versuche, den Handelnden eigenen Stimmen zu geben. Eines der berühmtesten Beispiele aus den frühen Jahren der Schallplatte ist Schuberts „Erlkönig“ in einer orchestrierten Version von 1930 mit gleich drei Interpreten, enthalten in der Edition „Schubert on Record 1898-2012“, früher bei der EMI, jetzt bei Warner. Der französische Tenor Georges Thill tritt als Erzähler und Erlkönig in Erscheinung, der Bariton Henri Etcheverry als Vater und der Knabensopran Claude Pascal als das „ächzende Kind“. Mitte der achtziger Jahre sind die Bässe Kurt Moll und Harald Stamm in den Kleinen Sendesaal des damaligen SFB gegangen und haben sich mit Wilhelm von Grunelius am Klavier in die Ballade geteilt. Moll übernahm den Part des Vaters, Schramm den Rest. Nötig war das nicht.

Dem berühmten Stück wird kein zusätzlicher Aspekt zuteil, es gerät auch in dieser prominenten Interpretation zum Gag, ohne aber zur Klamotte zu verkommen. Es macht sogar Freude, den beiden gleichaltrigen Herren mit Jahrgang 1938 zuzuhören. Moll, der 2017 gestorben ist, fällt durch sein unverwechselbares samtiges Timbre auf und setzt sich gut gegen den etwas sachlichen Stamm ab. Sie haben hörbar Spaß an ihrer ungewöhnlichen Herausforderung, die sie in „Der Tod und das Mädchen“ – ebenfalls von Schubert – noch auf die Spitze treiben, indem sich Stamm stimmlich ins weibliche Geschlecht verwandelt.

Die putzigen Aufnahmen waren 2001 zunächst bei Koch / Schwann in einer Zusammenstellung als Romantic Bass Duets herausgekommen. Nun sind sie bei Profil Edition Günter Hänssler neu aufgelegt worden (PH18036). Ganz so verwegen wie der Schubert sind die Balladen „Odins Meeresritt“, „Archibald Douglas“ und „Tom der Reimer“ von Carl Loewe nicht ausgefallen, wenngleich auch sie nur für eine Solostimme komponiert wurden. Moll gilt als einer der besten Loewe-Interpreten der Neuzeit und hat die drei Stücke auch nach allen Regeln dieser Kunst separat eingespielt. In „Odins Meeresritt“ übernimmt er diesmal den größeren Part als Erzähler und als Meister Oluf, Schmied von Helgoland, der den Amboss um Mitternacht verlässt, als es plötzlich mit Macht an seine Tür pocht. Draußen steht kein Geringerer als Odin, der mitunter auch unter dem Namen Wodan (Wotan) in den verschiedensten Mythen unterwegs ist. Der verlangt nun, dass sein schwarzer Rappe, der ungeduldig mit dem Huf scharrt, neu beschlagen werde. Schließlich müsse er, der Gott, vor der Sonne zur „blutigen Schlacht“ in Norwegen sein. Oluf, von Angst befallen, staunt nicht schlecht: „Hättet Ihr Flügel, so glaubt‘ ich’s gern!“ Gesagt getan, der Schmied nimmt das Eisen zur Hand. Doch es erweist sich als zu klein für den gewaltigen Huf des Tieres, das „mit dem Wind“ läuft wie die Luftrösser der Walküren bei Wagner. „Da dehnt es sich aus.“

In dieses Wunder nun fallen Moll und Stamm gemeinsam ein. Sie verstärken es, indem sie ihre Bässe zusammenlegen. Das ist von starker Wirkung, die sich erst beim Hören einstellt und sich nicht beschreibend vermitteln lässt. Für mich, der viel übrig hat für die Balladen von Loewe, wäre allein diese Stelle die Anschaffung der CD wert. Wenngleich mir die Ballade in der traditionellen Interpretation durch eine Singstimme letztlich doch lieber ist, bestätigen beide Bassprofis mit der kühnen Ausnahme die Regel. Die Delikatesse von „Odins Meeresritt“ nach einem Text des aus dem Badischen stammenden Gelehrten und Schriftstellers Aloys Wilhelm Schreiber kann in den anderen beiden Loewe-Titeln nicht wiederholt werden. Traditionell ist das Gros des Programms: „Duette für zwei Singstimmen“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, „Sechs Kammerduette“ von Ferdinand Hiller, „Zweistimmige Lieder“ von Anton Rubinstein, in denen Stamm fast schon mit tenoralen Tönen heraussticht, „Klänge aus Mähren“ von Antonin Dvorák, „Zwiegesänge zur Nacht“ von Emil Mattiesen sowie „Irische Volkslieder“, die in der neuen Auflage an den Schluss gesetzt sind.

 

Nun zur nächsten Neuerscheinung von Profil Edition Günter Hänssler, einem Doppelalbum. Als Erna Berger 1926 in Dresden unter der Obhut des Dirigenten Fritz Busch ihre ersten Erfolge feierte, war Hermann Prey noch gar nicht geboren. 1959 standen die Sopranistin, die auf die sechzig zuging und der dreißigjährige Bariton gemeinsam in Berlin im Studio, um mit dem Pianisten Günther Weissenborn für die Electrola Hugo Wolfs Italienisches Liederbuch einzuspielen. Soviel wie ich weiß, hat es diese LP bisher nicht auf CD gebracht. So wird es auch im Booklet versichert. Lediglich auf einer Prey gewidmeten Sammlung bei The Intense Media habe ich einige Lieder daraus gefunden. Deshalb ist es mehr als erfreulich, auch diese reizvolle Produktion neu auf den Markt zu bringen (PH 18029). Auch diesmal sind die Quellen penibel genannt wird. So gehört sich das. Während es dem junge Prey gegeben ist, auch stimmlich knackig zu agieren, muss die Kollegin hier und da kaschieren, um mit dem stürmischen Kollegen mitzuhalten zu können. Schließlich geht es in diesen Gesängen um Liebe, Sehnsucht, Koketterie, Prahlerei, Schwermut, Eifersucht – also um all die Gemütszustände und Gefühle, die Menschen im Frühling ihres Lebens stärker umtreiben und beanspruchen als in der Gesetztheit des herannahenden Alters, wo Erfahrung vor Torheiten schützen kann. Die Berger schlägt sich hervorragend, indem sie alle Register ihres Könnens zieht. Wo Prey mitunter etwas naiv drauflos zu singen scheint und gerade dadurch gewinnt, ist ihre Erotik, Ausstrahlung und Verführung ein gar köstliches Kunstprodukt. Sie kann wirklich singen, gibt jedem Wort, jeder Stimmung dezenten Ausdruck, übertreibt nie, umschifft technisch heikle Stellen mit dem Geschick jahrzehntelanger Erprobung und ist – im Liedgesang unverzichtbar – mit jedem Buchstaben zu verstehen. Eigenschaften, die ihr auch bei Robert Schumanns Frauenliebe und -leben sowie bei den Liedern „Auf den Flügeln des Gesangs“ und „Gruß“ von Mendelssohn zu gute kommen. Diese Aufnahmen entstanden 1956, begleitet von Ernst-Günther Scherzer ebenfalls für die Electrola.

Prey sind die verbleibenden Kapazitäten der zweiten CD vorbehalten – mit ausschließlich frühen Columbia-Einspielungen. Darunter sind auch die Vier ernsten Gesänge von Johannes Brahms, die aus dem jungen Mund weniger bitter klingen und eine Nähe zu Bach aufscheinen lassen. Mit zwei Balladen gibt es einen Bezug zur vorangegangen CD von Moll und Schramm. Diesmal waltet sogar noch Michael Raucheisen am Flügel. Hier wie dort ist „Tom der Reimer“ zu hören. „Die Uhr“, die Prey mehrfach eingespielt hat, dürfte in dieser Einspielung seine erste Auseinandersetzung mit dem Stück auf Tonträgern sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die alte Schelllackplatte mit 78 Umdrehungen pro Minute von Anfang der 1950er, die der Sammler Michael Seil extra für diese Edition überspielte. Dem jungen Prey kommt das Verdienst zu, die Ballade, die erheblich zum Klischee vom betulichen und verschroben Carl Loewe beigetragen hat, in ein ganz neues Licht zu setzen – nämlich als hintergründiges und musikalisch fein gestricktes Meisterwerk.

Das Wolf-Lied „Heimweh“ nach einem Gedicht von Eichendorff ist mir besonders nahe gegangen, weil sich damit auch ein persönliches Erlebnis verbindet. Der gebürtige Berliner Hermann Prey gab noch vor dem Fall der Mauer einen Liederabend im Osten der geteilten Stadt, wo er aufgewachsen ist. Als Zugabe wählte er genau dieses Lied, das von der Erinnerung an die verloren gegangenen Heimat getragen ist. Es endet mit dem pathetischen Ausruf „Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!“ Da war kein Halten mehr im Publikum. Wie ein Mann fuhr es von den Sitzen und tobte vor Begeisterung. Rüdiger Winter

Zu Gitarre und Klavier

 

Einer der größten Vorzüge von Georg Poplutz ist mir zunächst gar nicht bewusst geworden – seine Textgenauigkeit. So selbstverständlich geht er damit um. Als ob es für einen Sänger die natürlichste Sache der Welt ist, nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich exakt verstanden zu werden. Im Grunde sollte es auch so sein, ist es aber leider nicht immer. Poplutz fließen die Worte leicht über die Lippen. Er weiß, was er singt. Erst nach dem zweiten, dritten Lied seiner Schönen Müllerin von Franz Schubert wurde mir klar: Dieser Tenor singt ja vollkommen genau, die Konsonanten wie die Vokale. Im Booklet der bei Spektral erschienen CD-Aufnahme (SRL4-14129) sind auch die Texte von Wilhelm Müller abgedruckt. Ein Zeile fällt ins Auge: „Sahst du sie gestern Abend nicht am Thore stehn …“ Im Lied „Eifersucht und Stolz“ verwendet der Dichter die alte Schreibweise für Tor – nämlich Thor. Seit der großen Reform von 1901, mit der die deutsche Sprache vereinheitlicht wurde, ist das nicht mehr korrekt, im Grunde also falsch. In neuer Zeit halten sich die meisten Drucke an die Reform. Mein Eindruck ist, dass Poplutz die Annäherung an das Original ganz bewusst versucht – also das gestrichene „h“ mitsingt. Schließlich hat es Schubert ja auch komponiert.

Dieser Feinsinn ist typisch für diese Aufnahme, bei der der Sänger nicht vom Klavier, sondern gleich von zwei Gitarren begleitet wird. Antje Asendorf spielt eine romantische, Stefan Hladek eine Quintbassgitarre. Im Booklet geht der Musikwissenschaftler Till Gerrit Waidelich, ein ausgewiesener Schubert-Kenner, der Sinnhaftigkeit dieser Aufführungspraxis nach. Obwohl es keine stichhaltigen Belege dafür gibt, dass sie vom Komponisten selbst favorisiert wurde, finden sich allerlei praktische Anhaltspunkte, so zu verfahren. Immerhin wurde in der Wiener-Zeitung vom 12. August 1824 die Neuerscheinung des „Cyklus“ vom Verleger mit dem Hinweis verbunden, dass das Werk „nächstens“ auch „mit Gitarre-Begleitung eingerichtet“ herauskommen werde. Dies war laut Waidelich „eine damals sehr übliche Interpretations- und Publikationsform“. Die „Anfang des 20. Jahrhunderts kolportierten Behauptungen, Schubert habe gleichsam alle seine ein- und mehrstimmigen Vokalwerke mit Gitarrenbegleitung konzipiert, steht auf wackligen Füßen“. Waidlich kommt zu dem Schluss, dass der Sänger möglicherweise „bei diskreten akkompagnierenden Instrumenten, wie es Gitarren sind, noch eher im Zentrum“ stehe. Diesen Eindruck hatte ich auch. Der Zufall wollte es, dass ich erst die CD gehört und danach den Text gelesen habe. Neben der schon erwähnten Wortdeutlichkeit gefiel mir die stimmliche Präsenz des Tenors, der aus der virtuosen Gitarren-Begleitung deutlicher hervortrat, als es mitunter bei konventionellen Interpretationen der Fall ist. Georg Poplutz verfügt über einen hellen, jungenhaften und leichten Tenor – wie geschaffen für Lieder, die neben Oratorien und Kantaten das Zentrum seines Wirkens bilden. Im Netz, das vieles weiß, ist allerdings kein Geburtsdatum auszumachen. Er dürfte so um die vierzig sein.

Bei der Bearbeitung der Schönen Müllerin handelt es sich um ein Auftragsarbeit der Weilburger Schlosskonzerte. Die Aufnahme ist kein Mitschnitt, sondern entstand unter Studiobedingungen. Ich scheue mich nicht, von einem Glücksfall zu sprechen, dass sie zustande kam. Die alte Frage, die sich beim Liedgesang stellt, ob der Vortragende nun als Betroffener oder als Interpret dieser Betroffenheit in Erscheinung treten sollte, beantwortet Poplutz mit seiner Interpretation nicht ganz eindeutig. Nach meiner Beobachtung ist er sowohl das Eine wie das Andere, ohne sich dramatisch zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Sein Stil ist zurückhaltend, versöhnlich, doch nicht introvertiert und schwermütig. Es ist, als komme er mit offenen Armen auf seine Hörer zu, um mit leisen Tönen für Schubert und sein Werk zu werben.

Lieder an die Entfernte: Unter diesem Titel hat Poplutz bei Spektral auch Robert Schumanns Dichterliebe, Ludwig van Beethovens An die ferne Geliebte, umrahmt von neun Schubert-Liedern, eingespielt (SLR4-16153). Diesmal wird er von Hilko Dumno an Klavier begleitet. Im Booklet äußern sie die Hoffnung, dass „unsere Lieder an die Entfernte in die Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, Freude und Traurigkeit, Sehnsucht und Liebe entführen“ mögen. Daran ist nicht der geringste Zweifel angebracht. Auch dieser CD ist eine große Verbreitung zu wünschen, zumal auch hier die Vorzüge der Schönen Müllerin ebenfalls zur Geltung gebracht werden. Rüdiger Winter

 

Hier nun der komplette Text von Till Gerrit Waidelich, den uns der Autor freundlicherweise zur Verfügung stellte: Dass beide Liederzyklen Franz Schuberts nach Gedichten von Wilhelm Müller (1794-1827) von Menschen erzählen, die sich im Freien aufhalten, während der Hörer sie im geschlossenen Raum erlebt, darf man durchaus als bemerkenswertes Detail wahrnehmen. Zum Musizieren im Freien taugen dagegen bekanntlich die meisten Tasteninstrumente (Klaviere und Flügel) kaum, auf Wanderungen zumal. Dort bedurfte man solcher Instrumente, die man auch bei Ständchen verwendete, und Zupfinstrumente waren hier erste Wahl. Bekannt waren schon zu Schuberts Zeiten (und sind noch heute) von Zupfinstrumenten begleitete Ständchen in Opern, etwa das des Mozartschen Don Giovanni mit einer Mandoline. Geläufig ist auch die Nachahmung des Gitarrenklangs durch gezupfte Streichinstrumente – bei Mozart in der Entführung aus dem Serail und in Figaro – sowie der Einsatz einer veritablen Gitarre für die Arie des Grafen Almaviva in Rossinis Il barbiere di Siviglia (1816) oder Donizettis Don Pasquale (1843). Hier handelt es sich jedoch um relativ einfache Akkordbrechungen, die kaum einen Vergleich mit melodisch, rhythmisch und harmonisch ausgefeilter Liedbegleitung oder auch den in dieser Zeit üblichen Harfen-Parts im Rahmen von Orchesterpartituren zulassen. Und auch bei den meisten Schubert-Liedern, jene aus den späten Zyklen sind da keine Ausnahme, werden höchste Ansprüche an den oder die Instrumentalpartner gestellt, deren Aufgaben weit über das hinausreichen, was gleichzeitig oder arpeggierend gezupfte Akkorde betrifft. Und doch finden sich in verschiedenen Klavieraccompagnements auch Nachahmungen typischer Gitarren- oder auch Harfenbegleitungen.

So könnte der junge Franz Schubert ausgesehen haben. Bewiesen ist es nicht. Die Kreidezeichnung soll von Leopold Kuppelwieser stammen, der zum Freundeskreis Schuberts gehörte.

Schubert hatte für die zwanzig von ihm erstmals in einem Zyklus vertonten Lieder vermutlich primär Interpreten wie den von ihm favorisierten Tenorbariton Carl von Schönstein (1796-1876) auserkoren. Einzelne Lieder hat er dann in adaptierter und teils auch transponierter Fassung nochmals niedergeschrieben, möglicherweise für seine Klavierschülerin Caroline Esterhazy, auch für sie allerdings stets mit Klavierbegleitung. Den vollständigen Zyklus aber übergab er zur Veröffentlichung dem befreundeten Verleger Maximilian Joseph Leidesdorf (1787-1840), und da eigenhändige Manuskripte Schuberts, die dort publiziert wurden, allesamt verloren sind, ist das Werk in erster Linie aus einigen Abschriften sowie den fünf Heften überliefert, in denen es im Druck erschien. Und diese Ausgabe ist wiederum explizit dem Baron Schönstein gewidmet.

Als man am 12. August 1824 in einer Anzeige der Wiener-Zeitung erstmals erfuhr, dass es einen „Cyklus von Gedichten von Wilhelm Müller […] in Musik gesetzt […] von Franz Schubert“ zu kaufen gebe, kündigte der Verleger Leidesdorf zugleich an: „Nächstens erscheint dasselbe Werk mit Guitarre-Begleitung eingerichtet.“ Dies war eine damals sehr übliche Interpretations- und Publikationsform. Eine ganze Reihe Schubertscher Solo- und mehrstimmiger Gesänge wurde noch zu seinen Lebzeiten mit Gitarrenbegleitung dargeboten oder auch publiziert. Alternativversionen für unterschiedliche Instrumente wurden teils separat vertrieben, teils auch übereinander oder gar ineinander gedruckt. Anton Diabelli, der Schuberts Müllerin bei deren Zweitauflage in sein Programm nahm, hatte 1821 auch Einzelnummern aus Paisiellos Molinara mit Gitarrenbegleitung herausgegeben. Bei Wohin („Ich hört ein Bächlein rauschen“, gedruckt in der Sammlung Philomele) besagt der Zusatz „eingerichtet und herausgegeben von Anton Diabelli“ hinreichend, dass die „Begleitung der Guitare“ (!) vom Verleger stammt und er behielt sich auch das „Eigenthumsrecht“ an seiner Bearbeitung vor. Insofern ist die These des Gitarristen Alfred Rondorf (1895-1972), dieses Lied sei ein Schubertsches Originalarrangement, weshalb er es in eine Anthologie angeblich „originaler“ Schubertscher Lieder mit Gitarre aufnahm, nicht stichhaltig.

Der Komponist hatte 1823 ein Jahr hinter sich, in dem er seit Beginn an einer ernsten Erkrankung, vermutlich Syphilis, laborierte, Wochen zu Therapien im Spital verbracht haben muss und dennoch neben vielen anderen Werken bereits zwei Opern vollendet hatte. Ende November 1823 schrieb Schubert seinem in Breslau weilenden Freund Schober en passant, er habe seit der Oper Fierrabras „nichts componirt, als ein Paar Müllerlieder“, als handle es sich um Kleinigkeiten. Aber deren Stellenwert wird dann im nächsten Satz doch deutlicher, denn er ergänzt, dass diese „in 4 Heften erscheinen“ würden, „mit Vignetten von Schwind“, eine durchaus aufwendigere Angelegenheit, und zunächst wurde auf diese Illustration des Umschlags auch verzichtet und erschien sie erst bei späteren Auflagen.

Bei der ersten nachweisbaren Darbietung von vier Liedern (es waren die Numern 1-4) aus dem Zyklus, die Ende 1825 durch den Bariton (und nachmalig berühmten Bach-Forscher) Johann Theodor Mosewius (1788-1858) in Breslau erfolgte, ist zwar nicht bekannt, wer außer ihm mitwirkte. Aber der Konzertzettel lässt uns nicht darüber im Zweifel, dass „sämmtliche Gesangstücke […] mit Begleitung des Pianoforte ausgeführt“ wurden. Dass man dies hier eigens betonte, deutet jedoch darauf, dass das nicht unbedingt selbstverständlich war, da Gesangstücke ja auch unbegleitet, unter Verwendung von einzelnen anderen Instrumenten oder ganzen Ensembles hätten erklingen können.

Der Dichter Wilhem Müller (1794 – 1827) auf einem Stich von Johann Friedrich Schröter. Foto: Wikipedia

Der Zyklus umfasst die Darstellung aller Stadien der Gefühlwelt eines wohl erstmals und letztlich vergeblich liebenden Müllerburschen. Zunächst kennt dieser weder das Ziel seines Wanderns, noch die Empfindung von Liebe überhaupt. Allenfalls die Nixen im Bach, dessen Lauf er folgt, lassen eine Ahnung von Herzensangelegenheiten aufkeimen, und die Ankunft und Anstellung an einer neuen Mühle erwecken in ihm die Zuneigung zur Tochter seines Dienstherrn, eine komplizierte Konstellation. Zweifel, Enthusiasmus und eine vorläufig noch realistische Einschätzung seiner Situation lösen sich ab, zumal sich nun in die klar ausgerichteten Liebesgefühle bereits die Resignation mischt. Und diese artikuliert sich dann unwillkürlich durch die an die Wand gehängte Laute und deren über die Saiten streifendes Band, ein Zupfinstrument, das wie eine Aeolsharfe gleichsam von selbst zu tönen beginnt. Dass die Müllerin nun ihre Vorliebe für „Grün“ äußert, erweckt seine zunächst unbestimmte Eifersucht, die sich dann konkret auf den Nebenbuhler, einen Jäger, konzentriert. Dessen Attraktivität für die Geliebte nimmt er wahr und erwägt, wie es wäre, selbst mit dessen Eigenschaften bedacht zu sein. Dem Entschluss, sich der Hoffnung nicht länger hinzugeben, Abschied zu nehmen, folgt der immer klarere Entschluss, sich auch vom Leben zu verabschieden. Mehrfach schüttet der Liebende nun sein Herz dem Bach aus, seinem getreuen und vertrauten Begleiter. Er beginnt also sein Inneres zu befragen und nimmt sich das Leben.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller hat wohl die Erfahrung seiner eigenen unglücklichen Liebe zu Luise Hensel, bei der er gleichfalls mehrere Nebenbuhler hatte, in die Gedichte einfließen lassen. Der Titel des Gedichtzyklus’ greift den damals populären deutschen Titel eines „Dramma giocoso“ von Giovanni Paisiello auf, L’amor contrastato ossia la molinara (Neapel 1788). Auch in dem Libretto wird eine Frau geschildert, die sich von zwei Liebhabern hofieren lässt und mit deren Gefühlen spielt. Bei Zusammenkünften eines Kreises von Literaten, Künstlern und Musikern im Hause des Staatsrats von Staegemann in Berlin kamen 1816 Teilnehmer, darunter der Dessauer Student Müller auf die Idee, gemeinsam ein Liederspiel unter dem Titel Rose, die Müllerin, zu schreiben und aufzuführen. Zehn der Lieder dieses Spiels, die nur teilweise von Müller gedichtet waren, setzte der Berliner Komponist Ludwig Berger in Musik und publizierte sie auch. Außerdem inspirierte er Wilhelm Müller, weitere Gedichte zu diesem Sujet zu verfassen, die dann teils einzeln in verschiedenen Periodika erschienen, aber auch als geschlossener Zyklus von 23 Gedichten, die durch einen Prolog eingeleitet und durch einen Epilog geschlossen wurden. Diese die Handlung rahmenden und auch kommentierenden Erläuterungen scheinen in ihrem lockeren, teils sogar ironischen Tonfall – die bereits die Ironie eines Heinrich Heine erahnen lassen – das tieflotende Abbild des Seelenlebens zu relativieren. Schubert dürfte sie bewusst weggelassen haben.

Wilhelm Müllers eigenes Verhältnis zur Musik, Gesang und zu Musikinstrumenten, ist nur durch wenige Äußerungen belegbar. Gegenüber dem Komponisten Bernhard Klein bekannte er 1822, ein „musikalischer Stümper“ zu sein und schrieb ihm: „in der Tat führen meine Lieder […] nur ein halbes Leben, ein Papierleben, schwarz auf weiß – […] bis die Musik ihnen den Lebensodem einhaucht, oder ihn doch, wenn er darin schlummert, herausruft und weckt.“ Von seiner sehr musikalischen Frau oder anderen begabten Sängern ließ Müller sich Lieder eher vorsingen, als sie selbst anzustimmen, obwohl er in der Dessauer Liedertafel unter Friedrich Schneider als Erster Tenor mitwirken durfte, wobei er – wiederum gegenüber Klein – behauptete, er habe in diesem Kreise kaum gesungen, vielmehr getrunken und allenfalls eigene Verse deklamiert. Seine Behauptung, er sei unmusikalisch, mag daher eine halbwahre, kokette Behauptung sein.

In den Gedichten von Müllers Zyklus, der 1816-20 über einen Zeitraum von vier Jahren entstand, was für den rasch produzierenden Müller eher ungewöhnlich war, kommt nun der Begriff Gitarre nicht unmittelbar vor, Müller suggeriert ja überdies, sie seien einem „reisenden Waldhornisten“ zu verdanken, so dass das mehrfach erwähnte und auch klanglich – nachgeahmt – erschallende „Posthorn“ dazu unmittelbarer zu passen scheint. Konkreter kommen dagegen in den Liedtexten Harfen sowohl sprichwörtlich sowie als Instrument konkret vor. Ob Wilhelm Müller die spezifischen Unterschiede zwischen Leier, Laute und Gitarre kannte und wahrgenommen hätte, ist eher zu bezweifeln. Er mag diese Instrumente wohl eher nach der klanglichen und metrischen Eignung der Worte in seinem Versmaß eingeflochten haben. Und so kann der Gitarrenklang auch für jenen der Laute stehen, die eine wichtige Rolle spielt, zumal Schubert selbst im Text eines frühen Terzetts mit Gitarrenbegleitung reimt „Ertöne Leyer, zur Festesfeyer“.

Wie aber steht es nun wirklich um Schuberts Verhältnis zur Gitarre? Eine ganze Reihe von Persönlichkeiten aus Schuberts Umfelds, darunter auch der Pianist Joseph Gahy und der Dichter Franz Grillparzer haben sich als mehr oder minder tüchtige Gitarrenspieler bewährt, und in Wien wirkte bis 1819 etwa der hochbedeutende italienische Gitarrenvirtuose Mauro Giuliani (1781-1829). Während man aber etwa bei dem Violinvirtuosen Paganini mit Fug und Recht sagen kann, er habe für die Gitarre vieles komponiert, stehen die Anfang des 20. Jahrhunderts kolportierten Behauptungen, Schubert habe gleichsam alle seine ein- und mehrstimmigen Vokalwerke ursprünglich mit Gitarrenbegleitung konzipiert, auf wackeligen Füßen.

Moritz von Schwind – Schubertiade (1868) Drawn from memory, the image shows Franz Schubert at the piano, and Josef von Spaun, Johann Michael Vogl, Franz Lachner, Moritz von Schwind, Wilhelm August Rieder, Leopold Kupelwieser, Eduard von Bauersfeld, Franz von Schober, Franz Grillparzer. Picture on the wall of Countess Caroline Esterházy

Immerhin gibt es eben einen (einzigen) ganz konkreten Beleg, dass Schubert den Instrumentalpart jenes erwähnten Terzetts mit einer Gitarre besetzte, nämlich bei dem am 27. Sept. 1813 vollendeten Ständchen „Auf die Nahmensfeyer meines Vaters“. Hier steht ganz sicher fest, dass er es für Singstimmen mit „Quitarre“ (so seine eigentümliche Orthographie) niederschrieb. Er mag zu dieser Zeit, als er sich 16jährig im Stimmwechsel befand, die Vokalstimmen seinen drei älteren Brüdern zugedacht und selbst den Instrumentalpart gezupft haben, oder doch auch mitgesungen haben (zumal einzelne Akkorde vokal vierstimmig sind). Auf alle Fälle besagt diese Besetzung wohl mehreres: Eine Gitarre war der Familie Schubert ein vertrautes Instrument, und vielleicht mag dieses Ständchen auch für eine vermeintlich spontane Darbietung geplant und bei einem Ausflug am Namenstag von Franz Vater und Sohn am 4. Oktober gesungen worden sein, da es sonst wahrscheinlicher gewesen wäre, das Klavier heranzuziehen. Wenige Wochen später entstand zu ähnlichem Anlass ein genauso ungewöhnlich – mit Geige und Harfe – begleitetes Lied. Ein Gitarrenquartett, das man zeitweilig für eine Originalkomposition Schuberts hielt (es stammt von Wenzel Thomas Matiegka 1773-1830), hat er nur wenige Monate später arrangiert. Und ein Jahr nach seiner Vertonung der Schönen Müllerin hatte Schubert auch großes Interesse an der kurz zuvor erstmals konstruierten Bogengitarre, dem Arpeggione, für das er eine zweisätzige Sonate mit Klavierbegleitung schrieb.

Weil sie aus dem frühen 19. Jahrhundert und zudem angeblich oder wirklich aus Schuberts Umfeld stammen, gelten auch drei Instrumente als halbwegs authentische Zeugen, wie Gitarren beschaffen gewesen sein könnten, die Schubert besessen oder gar gespielt haben mag. Von zwei sogenannten „Gitarren aus Schuberts Besitz“ gibt es Abbildungen: Die eine befindet sich im Wiener Schubertbund (sie stammt aus der Kirche St. Anna, zu der es direkte Bezüge der Familie Schubert gibt). Die zweite soll Schubert einem Amateursänger geschenkt haben, dem Johann Karl Umlauff von Frankwell, der mehrfach bei zeitgenössischen Aufführungen mehrstimmiger Schubertscher Männergesänge mitwirkte (1913 befand sie sich in Wiener Neustadt). Darüber hinaus wird Schubert eine heute in den Sammlungen des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde verwahrte Gitarre, die in der Gestalt einer Lyra geformt ist, bekannt gewesen sein und er vielleicht auch darauf gespielt haben, da sie Schuberts Mentor, dem Bariton Johann Michael Vogl gehörte, einem der einflussreichsten Freunde und Interpreten Schubertscher Gesänge. Im Verzeichnis der Hinterlassenschaften Schuberts nach seinem Tod 1828 wird dagegen keine Gitarre erwähnt.

Franz Schubert/OBA

Wohl im Entstehungsjahr des Zyklus’ (1823) wurde Schubert vor dem Schloss Atzenbrugg neben einem Gitarrespieler auf dem Rasen sitzend abgebildet, während seine Freunde mit Ballspielen beschäftigt sind. Der Gitarrist sitzt vorn in der Mitte, ganz zentral zwischen Moritz von Schwind und Schubert. Man hielt ihn früher für eine Darstellung des Schubert-Sängers Johann Michael Vogl, nimmt inzwischen aber an, dass es sich um den begabten Pianisten (und Gitarristen) Joseph von Gahy (1793-1864) handelt. Das Blatt (eine Radierung Ludwig Mohns nach einer Zeichnung von Schuberts Freunden Schober und Schwind) ist ein Gemeinschaftswerk dreier eng mit Schubert verbundener Personen, die eine Gitarre dort sicher nicht bloß zufällig zeigen wollten, sondern diese dürfte für ländliche Ausflüge der Schubertianer ein typisches Instrument gewesen sein.

Der Sänger des Zyklus ist nun einerseits Erzähler wie jener einer Ballade, andererseits artikuliert er sich in wörtlicher Rede (Gesang) stellvertretend für mehrere Personen, wobei er in erster Linie Sprachrohr des Müllerburschen bleibt. Möglicherweise steht der Sänger bei diskreter akkompagnierenden Instrumenten, wie es Gitarren sind, noch mehr im Zentrum. Vielleicht ist dadurch atmosphärisch eher assoziierbar, dass es sich um einen wandernden (Müller-)burschen handelt und keinen Sänger im Konzertsaal (Foto oben: Ein Schubert-Abend in einem Wiener Bürgerhause/ Kopie von Wilhelm Giessel (1869–1938) nach dem Gemälde von Julius Schmid (1854–1935). Till Gerrit Waidelich