Unglaublich vollständig

 

Der 100. Todestag von Claude Debussy ist Anlass genug für die großen Labels, gewaltige Boxen mit seinem Gesamtwerk auf den Markt zu werfen. Trotz der Deutschen Grammophon Gesellschaft, welche mit 22 CDs und 2 DVDs in den Complete Works aufzuwarten weiß, gebührt die Krone in diesem Unterfangen Warner (0190295736750). Sage und schreibe 33 CDs umfasst die elegante Box The Complete Works und ist damit bereits auf den ersten Blick noch ambitionierter als das Unterfangen der DG. Warner kann hierfür auf den sehr umfangreichen eigenen Katalog, also EMI, Erato und Virgin, zurückgreifen und bedient sich bei Raritäten zuweilen auch anderer, kleinerer  Labels. Hier ist wirklich alles enthalten, angefangen bei den frühen Liedern über diverse Transkriptionen anderer Komponisten bis hin zu Fragmenten unvollendeter Werke, die sonst kaum je eingespielt wurden. Als Bonus sind auf der letzten CD zudem alle eigenen Aufnahmen des Komponisten selbst enthalten.

Graphisch ausgestattet ist die Edition mit dem wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa. Debussy, der den Künstler sehr schätzte, wählte es selbst als Titelbild für eine Ausgabe von La Mer. 

Die Box wird geziert vom wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji. Dies ist seit Anbeginn gleichsam untrennbar verbunden mit Debussys wohl bekanntestem Orchesterwerk La Mer. Die 33 CDs befinden sich sodann in optisch ebenfalls sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum echten Blickfang werden. Zu den vertretenen Künstlern zählen neben Hokusai Utagawa Hiroshige, Eijiro Kobayashi, Kawase Hasui, Jakuchu, Tsurana Morizumi, Tsukioka Yoshitoshi und Yoshitoshi Taiso. Hier kann diese Kassette wirklich punkten.

Die Auswahl der Aufnahmen umfasst (ausgenommen diejenigen Debussys selbst) einen Zeitraum von gut 60 Jahren. Nicht immer konnte auf die Referenzeinspielungen zurückgegriffen werden, sei es aus Gründen der Zugehörigkeit zu einem anderen Label, sei es aus zumindest hinterfragbarer Auswahl aus dem eigenen Katalog. Trotzdem ist die Ausbeute hoch. So sind beispielsweise La Mer und die Nocturnes in der mittlerweile zum Klassiker gewordenen Einspielung von Carlo Maria Giulini mit dem Philharmonia Orchestra enthalten. Giulini beschäftigte sich eher am Rande mit dem französischen Repertoire, doch La Mer dirigierte er häufig (es gibt weitere Aufnahmen davon u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw-Orchester und dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester). Bei ihm denkt man an die mediterrane See. Freilich ist die Zeit seither nicht stehen geblieben, so dass es nicht schwer fiele, weitere exzellente neuere Interpretationen zu benennen.

Der Komponist Claude Debussy (22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und am 25. März 1918 in Paris gestorben); hier auf einem Foto von Félix Nadar, ca. 1908 (Wikipedia).

Trotz des gewaltigen Umfangs der Box beklagt der Kenner doch hie und da das Fehlen wichtiger Darbietungen, etwa Karajans maßstäbliche EMI-Einspielung von Pelléas et Mélisande. Die 1978 erschienene Produktion aus Berlin, hochkarätig besetzt mit Richard Stilwell, Frederica von Stade, José van Dam und Ruggero Raimondi, darf auch nach vier Jahrzehnten einen Referenzstatus für sich beanspruchen, traf Karajan Debussys Tonsprache doch vorzüglich. Wieso man sich in der Box für die weit weniger geläufige Erato-Einspielung von Armin Jordan aus Monte-Carlo entschied, die auch künstlerisch nicht dasselbe Niveau vorzuweisen hat, bleibt ein Rätsel. Sie entstand fast zeitgleich, 1979, und hat die ungleich weniger bekanntere Besetzung (Eric Tappy, Rachal Yakar, Philippe Huttenlocher und François Loup). Diese kleineren Einschränkungen werden indes an anderer Stelle wieder wettgemacht.

So ist tatsächlich die einzige erhältliche, aber seit langem vergriffene Aufnahme der unvollendeten, hier aber komplettierten Oper Rodrigue et Chimène enthalten (mit Chor und Orchester der Opéra de Lyon unter der Stabführung von Kent Nagano; die Sänger/innen sind neben anderen Donna Brown, Laurence Dale, José van Dam, Jules Bastin und Vincent Le Texier). Im Mittelpunkt steht der berühmte El Cid alias Rodrigo Díaz de Vivar (in der Oper Rodrigue); die Handlung ist somit im Spanien des 11. Jahrhunderts angesiedelt. Die Liebe der beiden Titelfiguren steht unter keinem guten Stern, verwundet Rodrigue doch Chimènes Vater Don Gomez tödlich und ist es ihr infolge dessen aufgrund der Familienehre unmöglich, mit ihm glücklich zu werden.

Das kuriose und selten gespielte Mysterium in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien liegt sogar zweifach – oder vielleicht besser: anderthalbfach vor: einmal komplett inklusive der gesprochenen Dialoge in der berühmten Mono-Einspielung des Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter André Cluytens aus den frühen 1950er Jahren (u. a. mit Rita Gorr, Solange Michel, Jacques Eyser und Véra Korène); einmal als klanglich zu bevorzugende sinfonische Fragmente aus dem Werk mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985.

Die Reihe der wenig bekannten Werke, die hier beinhaltet sind, ließe sich fast endlos fortsetzen. Die Trois Ballades de François Villon in der Orchesterfassung (mit dem Bariton François Le Roux unter John Nelson) etwa oder die Kantaten  L’Enfant prodigue und Le Gladiateur (beide dirigiert von Hervé Niquet). Beigegeben ist sogar die 1907 revidierte Fassung des Enfant prodigue (in der ganz neuen und ausgezeichneten Einspielung von Mikko Franck).

Die Warner Debussy Edition „The complete Works“: Die 33 CDs stecken in optisch sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum Blickfang werden.

Das Prélude à l’après-midi d’un faune – neben La Mer wohl landläufig das berühmteste Orchesterwerk von Debussy – ist nicht nur in der Orchesterversion enthalten (im Klassiker unter Jean Martinon), sondern auch in zwei Klaviertranskriptionen, eine für vier Hände (von Ravel) und eine für zwei Klaviere (von Debussy selbst). Der anerkannte Debussy-Spezialist Martinon dirigiert auch u. a. La Boîte à joujoux, Printemps und Le Roi Lear.

Wie tief Warner ins eigene Archiv geschaut hat, beweist die Einspielung von Nocturne et Scherzo für Cello und Klavier mit Henrik Brendstrup und Per Salo, die bisher nur in Dänemark erschienen war. Das Streichquartett g-Moll – Debussys einziger Beitrag zu dieser Gattung – wird von Quatuor Ébène überzeugend dargeboten. Die Sonaten für Cello (Maurice Gendron), Violine (Yehudi Menuhin) sowie Flöte, Viola und Harfe (Michel Debost, Yehudi Menuhin, Lily Laskine) schließlich sind in anständigen Interpretationen inkludiert (jeweils mit Jacques Fevrier am Klavier). André Cluytens steuert schließlich Debussys letztes Orchesterwerk Jeux mit dem berühmten Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in einer hinreißenden Darbietung bei.

Hinsichtlich der Klavierwerke kann die Warner-Box abermals punkten. Die Pianistinnen und Pianisten sind über jeden Zweifel erhaben: Youri Egorov (Préludes und Estampes), Samson François (u. a. Children’s Corner und Pour le piano), Aldo Ciccollini (u. a. Le Boîte à joujoux, 6 Épigraphes antiques und Tarantelle styrienne), Monique Haas (D’un cahier d’esquisses und Masques) und Pierre-Laurent Aimard (Images und 12 Études) bürgen für Qualität. Bei den Liedern konnte auf den hochkarätigen Gérard Souzay zurückgegriffen werden, der hinsichtlich der mélodies bis heute Maßstäbe gesetzt hat und stets idiomatisch den richtigen Tonfall trifft (3 Mélodies de Verlaine, 3 Chansons de France, 3 Ballades de François Villon, Fêtes galantes und Le Promenoir des deux amants). Insgesamt also eine trotz kleinerer Einschränkungen eine ungemein erfreuliche und zufriedenstellende Kollektion, welche das Gesamtwerk Debussys noch dazu gefällig und edel aufbereitet präsentiert. Daniel Hauser

 

Ida Rubinstein 1911 als Sebastièn in der Uraufführung. Foto: Wikipedia

Rüdiger Winter zu Le Martyre de Saint Sébastien: Das Bild rechts zeigt den Heiligen Sebastian/ Foto Winter in der Darstellung durch den italienischen Maler Bronzino, einem Hauptvertreter des Manierismus. Es gehört zum Bestand der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid. Debussy hat das Schicksal Sebastians, zum Gegenstand seiner Mysteriums in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien gemacht.

Seine Jugend verbrachte Sebastian in Mailand. Er stieg zum Offizier der Leibwache von Kaiser Diokletian auf. Der Überlieferung nach soll sich Sebastian öffentlich zum Christentum bekannt und Not leidende Christen unterstützt haben. Dafür verurteilte ihn der Kaiser zum Tode. Er überlebte die Hinrichtung durch Bogenschützen und wurde von der Heiligen Irene, die ihn eigentlich für das Begräbnis herrichten wollte, gesund gepflegt. Sebastian ließ von seinem Glauben nicht ab und vertrat ihn nach seiner Genesung abermals öffentlich. Nun ordnet Diokletian an, ihn mit Keulen zu erschlagen. Glaubensbrüder retteten seinen Leichnam aus einem Abflussgraben am Tiber in Rom und setzten ihn in den Katakomben bei. Über seinem Grab wurde schon im 4. Jahrhundert die Kirche San Sebastiano fuori le mura errichtet.

In der Debussy-Edition taucht das Werk gleich zweifach auf, einmal mit den gesprochenen Dialogen in der Mono-Aufnahme unter André Cluytens, zum anderen in Form von sinfonischen Fragmenten mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985. In seiner originalen Form dauert das Mysterium fünf Stunden. Nur eine gute Stunde davon ist musikalisch gehalten.

Die Uraufführung 1911 in Paris geriet zum Skandal, weil der Sebastièn von der sehr leichtbekleideten und aus Russland stammenden Jüdin Ida Rubinstein dargestellt wurde. Sie war damals 26 Jahre alt und galt als eine der exzentrischsten Künstlerinnen ihrer Zeit. R. W.