Schmuse-Bach

 

Es ist guter Brauch geworden bei einigen CD-Firmen, Sänger in den Booklets selbst zu Wort kommen zu lassen. Eigentlich sollten sie sich ja singend mitteilen. Wenn aber das Kerngeschäft mit einigen klugen Worten begleitet wird, kann das nicht schaden. Für den Bariton Benjamin Appel ist Johann Sebastian Bach der Komponist, dessen Musik „die inneren Hürden einreißt, die trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer genialen Konstruktion einzigartige spirituelle, emotionale Kraft besitzt“. Ihn habe besonders zum „Innehalten und Nachdenken gebracht“, dass „in unserer Zeit, in der Wertbegriffe sich ständig verändern oder neu definiert werden“ Bach Musik unvergleichlich wie ein „Felsen in der Brandung“ stehe. Er treffe „authentisch immer den richtigen Ton“. Appel hat seine neue CD bei Sony ausschließlich Bach gewidmet (19075851622). Begleitet wird er vom Concerto Köln, einem auf historische Aufführungspraxis spezialisierten Orchester, das 1985 gegründet wurde und in der aktuellen Produktion auch durch dunkle, satte Klänge fasziniert.

„Willkommen, werter Schatz“„aus der Kantate Schwingt freudig euch empor (BWV 36) kann als freundliche Einladung zu der Aufnahme verstanden werden. Beide Seiten harmonieren vortrefflich. Es wird nicht gehetzt, so dass sich die Musik angemessen entfalten kann. Obwohl es sich um eine Kirchenkomposition handelt, verbreitet Appl ein durch und durch weltliches Flair. Auch die Arien „Mache dich, mein Herze, rein“ und „Gebt mir meinen Jesum wieder“ aus der Matthäuspassion (BWV 244) hebt er durch seinen Vortragstil aus dem Bibel-Kontext ins allgemein Menschliche. Dabei scheut er sogar vor veristische anmutenden Nuancen nicht zurück, wenn nämlich die Reue des Verräters Judas besungen wird und der „verlorene Sohn“ den „Mörderlohn“ voller Abscheu und Ekel von sich wirft. Was einerseits also sehr effektvoll wirkt, stellt sich zugleich auch als grenzwertig dar, und ich frage mich, ob es sich um individuelles Kalkül handelt oder ob es Schwierigkeiten des Sängers offenbart, dramatische Momente zu erfassen und angemessen darzustellen. Bach ist schließlich nicht Mascagni. Besser vermag Appl seine dramatischen Möglichkeiten im Rezitativ „Ach, soll nicht dieser große Tag“ und in der folgenden Arie „Seligster Erquickungstag“ aus der Kantate Wachet! Betet! Betet! Wachet! (BWV 70) auszutesten. Hingegen gerät er mit der Arie des Pan „Zu Tanze, zu Sprunge, so wackelt das Herz“ aus der Kantate Geschwinde, ihr wirbelnden Winde (BWV 201), auch unter dem Namen Der Streit zwischen Phoebus und Pan bekannt – hörbar in Bedrängnis. In der Tat trägt die Arie, die in der Bauernkantate (BWV 212), die auf der CD mit der Sinfonia vertreten ist, nochmals aufgenommen wird, opernhafte Züge. Sie hat es in sich und ist eine Herausforderung für jeden Sänger. Das rechtfertigt aber nicht, aus dem Herz, das „wackelt“, einen nahezu ungenießbaren Koloratursalat anzurichten. Mit schnellen Läufen tut sich Appl schwer. Und „Scherz“ wird immer noch mit e und nicht mit ä wie „Schärz“ geschrieben – und gesungen. Derlei Verfärbungen fallen auch an anderen Arien auf. Trotz aller kritischen Einwände kommt der junge Bariton letztlich sympathisch rüber. Mit der Arie „Bist du bei mir“ aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, die eigentlich von Gottfried Heinrich Stölzel stammt, und „Jesus bleibet meine Freude“ aus der Kantate Herz und Mund und Tat und Leben (BWV 147) entschädigt er mit fast schon schmusigen Tönen für manches herbe Ungemach.

In seiner bisherigen Karriere hatte sich Benjamin Appl dem Liedgesang verschrieben. Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Auftritte, die er auf seiner eigenen Homepage ankündigt, sind vornehmlich diesem Genre verpflichtet. Hinzu kommen im Herbst 2018 Brittens War Requiem und später das Weihnachtsoratorium. Operntermine habe ich nicht gefunden. Dabei hat dieser Sänger durchaus einschlägige Erfahrungen beispielsweise als Graf in Mozarts Figaro in London oder als Aeneas in Purcells Oper Dido and Aeneas beim Aldeburgh Festival gesammelt. Er sieht blendend aus, ist groß gewachsen, charmant und sympathisch im Auftreten. Schon rein äußerlich bringt er also alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn mit. Sängerisch sowieso. Opernhäuser wären gut beraten, den jungen Bariton mit einer passenden Aufgabe zu betrauen. Wann, wenn nicht jetzt?

 

Stets wirkungsvoll in Szene gesetzt ist er auf den Titelbildern seiner CDs. Noch relativ neu ist eine Produktion aus London, aufgenommen im Dezember 2016 für das englischen Label hyperion. Appl bestreitet die siebte Folge der Gesamtaufnahme der Lieder von Johannes Brahms (CDJ33127). Angelika Kirchschlager hatte mit Vol. 1 die Edition eröffnet, gefolgt von Christine Schäfer (Vol. 2), Simon Bode (Vol. 3), Robert Holl (Vol. 4), Christopher Maltman (Vol. 5) und Ian Bostridge (Vol. 6). Begleiter und Inspirator des Unternehmens ist der Pianist Graham Johnson, der auch schon bei der hyperion-Produktion aller Schubert-Lieder am Flügel gesessen hatte. Er begleitet Appl auch bei Konzerten. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen der CD erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. „Liebe und Frühling I und II“ aus den Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme, die der Zwanzigjährige der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den 49 Deutschen Volksliedern, mit deren Zusammenstellung und Ordnung sich Brahms gegen das Ende seines Lebens beschäftigt hatte. Warum nur acht? Wenn hyperion so verfährt wie bei der Aufnahme der Schubert-Lieder, dann dürften die zunächst jeweils einem Künstler gewidmeten CDs in der abschließenden Gesamtausgabe in der Reihenfolge ihres Entstehens neu angeordnet werden. So finden dann auch die Liedgruppen zusammen, die zusammen gehören. Um bei den Volksliedern zu bleiben. Vier hatte Angelika Kirchschlager aufgenommen, sechs Christine Schäfer, drei Simon Bode. Mit Appl sind es nun schon einundzwanzig. Fehlen also noch achtundzwanzig. Einzeln betrachtet ergeben die bisherigen Veröffentlichungen noch kein geschlossenes Bild des Liederwerks. Während Bostridge mit den Liedern und Gesängen op. 32 und den Vier Liedern op. 96 und Holl mit den Vier ernsten Gesängen mehrere Liedgruppen geschlossen darbieten, muss sich Appl bisher mit Stückwerk begnügen. Es sei denn, er wird noch für weitere Aufgaben herangezogen. Das Projekt ist ja noch nicht abgeschlossen.

Brahms liegt Appl. Sein weiches, sensibles Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem zur Schwermut neigenden Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein wie jetzt auch bei Bach. Appl sollte sich noch mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Einwände gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird auch gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt Wie ist da Whie zu hören. Das eingeschobene h sollte weg.

 

Benjamin Appl Sony Heimat

Benjamin Appl, 1982 in Regenburg geboren, inzwischen vornehmlich in London lebend, hatte sich auf die Suche nach Heimat begeben. Was ist Heimat für einen, der noch ein Kind war, als der eiserne Vorhang in Europa fiel, der sich immer völlig frei bewegen konnte, heute hier, morgen dort. Der nie etwas anderes gekannt hat als diese grenzenlose Freiheit. Ist Europa schon die Heimat geworden für einen wie ihn? Oder schwingt da im tiefsten Innern doch eine Sehnsucht nach einem ganz konkreten Ort mit? Nach einer Stadt, einem Dorf, einem Landstrich. Heimat ist ein schwieriges Wort. Es wurde und wird noch immer missverstanden und missbraucht. Dabei ist es ein schönes Wort. Bei jungen Leuten, die sich nicht mit dem historischem Ballst der Großväter herumschleppen müssen, hat es wieder eine Chance, völlig unverkrampft gebraucht zu werden. Seiner ersten CD bei Sony hatte er den Titel Heimat gegeben (88985393032). Der Sänger ist Exklusivkünstler der Firma. Daran knüpfen sich viele Hoffnungen, für den Künstler wie auch für sein Publikum. Nach Überzeugung des Gramophone Magazins stieg Appl bereits zum „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedersänger“ auf. So weit würde ich nicht gehen. Noch nicht. In diesen Blumenstrauß der Huldigung ist Vorschusslorbeer eingebunden. Der Kreis der Konkurrenten ist groß. Immer mehr talentierte junge Sänger drängen auf den Markt. Appl hat seine eigenen Möglichkeiten bislang nicht ausgeschöpft. Was auch auf der Sony-CD zu hören ist. Die Register sind noch nicht ausgeglichen. Hohe Töne reißt er mitunter nach oben anstatt sie aus den unteren Lagen anschwellen zu lassen. Appls Stimme klingt etwas älter und gesetzter als es seine Fotos erwarten lassen. Er ist sehr gut zu verstehen. Das sind beste Voraussetzungen für einen Liedsänger. Wenn er intensiv an der Vervollkommnung seiner Technik weiterarbeitet, wird er erst zur Spitze aufsteigen, wo ich ihn noch nicht sehe. Und dennoch soll das Werturteil des Musikmagazins nicht kleingeredet werden. Vor allem jene Musikfreunde dürften es gern zur Kenntnis nehmen, die sich mit Liedern beschäftigen, die ihren Fischer-Dieskau, Prey, Wunderlich, Goerne oder Gerhaher sehr gut kennen und schätzen, die aber immer auf der Suche nach neuen Eindrücken und Stimmen sind. Appl lässt Gefühle zu, nicht nur sublimiert als Kunst, sondern in Wort und Schrift.

Für das Booklet hat er einen persönlichen Text verfasst: „Jeder von uns kennt aufgrund verschiedener Erfahrungen die Empfindung von Geborgenheit, die einen durch einen Ort, eine Situation oder Personen vermittelt wird. Manchmal erfährt man aber auch Einengung, Vorurteil oder Schmerz“, schreibt er. Dichter und Komponisten, hätten sich seit Jahrhunderten damit beschäftigt. „In unserer Zeit ist diese Thematik noch aktueller und drängender denn je, wo viele ihre Heimat verlieren oder aufgeben.“ Heimat sei etwas, was Menschen wirklich bewege. In den Liedern der CD sieht er ein Stück seiner Lebensreise. Es seien Texte, die trösteten, Freude bereiteten, Erinnerungen wachriefen, aber auch Lieder, die von Aufbruch und Findung berichteten, „nicht zuletzt aber als Wegbegleiter und Wegbereiter von Vertrautheit und Halt“. Andere wiederum spiegelten Momente wieder, in denen ein Stück Heimat verlorengegangen sei. Entsprechend ist die Auswahl getroffen. Die Literatur zum Thema Heimat ist groß. Dichter und ihre Komponisten fühlten sich zu allen Zeiten ausgestoßen, an den Rand der Gesellschaft in Außenseiterpositionen gedrängt. Auf einen Prolog mit Franz Schuberts „Seligkeit“ folgen die Themen Wurzeln, Räume, Menschen, Unterwegs und Sehnsucht, ausschließlich von deutschsprachigen Komponisten bestritten. Zu Schubert, der mit Liedern am häufigsten vorkommt, treten Max Reger, Johannes Brahms, Franz Schreker, Hugo Wolf, Richard Strauss und Adolf Strauss hinzu.

Adolf Strauss? Über diesen 1902 geborenen Komponisten ist wenig bekannt. Er schrieb den Tango „Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen“ im KZ Theresienstadt unmittelbar vor dem Todestransport in die Gaskammern von Auschwitz. Musikalisch kann dieser Titel, der an Barmusik denken lässt, mit den anderen Liedern nicht mithalten, zumal er zwischen „Wanderer an den Mond“ und „Heimweh“ von Schubert geklemmt ist. Durch die tragischen Umstände seines Entstehens schon. Appl hat gut daran getan, in seinem Programm, mit diesem Lied auf nachdenkliche Weise innezuhalten bei seiner Suche nach Heimat. Zugleich aber empfiehlt er sich als Begabung für dieses leicht gestrickte und eingängige Genre jenseits der hohen Schule des Liedgesangs. Appl hat Sexappeal in der Stimme. Die abschließende CD-Abteilung „Grenzenlos“ wird vom Franzosen Francois Poulenc und den Engländern Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Sir Henry Bishop (1786-1855), Peter Warlock (1894-1930), John Ireland (1879-1962) bestritten, bevor das Programm mit einem Prolog ausklingt, bestehend aus zwei Liedern des Norwegers Edvard Grieg – „An das Vaterland“ und „Ein Traum“. Hier schließt sich der Kreis. Heimat und Vaterland als immerwährender Traum. Ein schöner Gedanke.

 

Zunächst hatte Benjamin Appl bei Champs Hill diverse Lieder aufgenommen. Dem Vernehmen nach ist er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu diesem englischen Label ergeben haben dürften. Stunden, Tage, Ewigkeiten ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: „Der Atlas“, „Ihr Bild“, „Die Stadt“, „Der Doppelgänger“. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm gut. Appl lässt sich Zeit beim Singen. Dadurch kann er textlichen und musikalischen Details ausbreiten. Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied „Gruß“ in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser CD. Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu.

Begleiter ist – wie auch bei der ersten Sony-Produktion James Baillieu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der Sänger ebenfalls zu Wort: „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen.“ Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil auf dieser CD wirkt selbstbewusst und frisch, und doch nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er noch einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen. Und in Gedanken der gestrenge Fischer-Dieskau. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter