Nach siebenunddreißig Jahren ist der Münchener Tristan unter der Leitung von Leonard Bernstein endlich bei CMajor/Unitel auf DVD erschienen – in herkömmlichem Format, das mir vorliegt (746208), und als Blu-ray. Anlass war der 100. Geburtstag des Dirigenten. Die große Firmen, bei denen er unter Vertrag stand, haben ihre Archive durchforstet und alles, was von und mit Bernstein produziert wurde, neu aufgelegt. Da kommt vieles zusammen. In den wenigen Fachgeschäften brechen die Tische unter der Last dieses reichen Erbes. Neue Bücher sind erschienen, und im Deutschen Fernsehen gab die Filmdokumentation „Das zerrissene Genie“ tiefe Einblicke in die Schaffensnöte und in das bewegte Privatleben von Bernstein, der am 25. August 1918 in Lawrence (Massachusetts) geboren wurde und am 14. Oktober 1990 in New York starb.
Aus der Fülle ragt Wagners Musikdrama Tristan und Isolde auch deshalb heraus, weil es sich um eine echte Ausgrabung handelt und weil sich noch viele Zuschauer an die Fernsehübertragung durch den Bayrischen Rundfunk erinnern können. Zudem ist dieses Dokument die einzige Auseinandersetzung Bernsteins mit einem kompletten Werk Wagners. Deshalb scheint es überraschend, dass sich keine der beiden großen Exklusivfirmen Bernsteins diese Erstveröffentlichung erstritten hat. Ansonsten sind nur Szenen und Orchesterstücke aus Opern dieses Komponisten überliefert. Einen großen konzertanten Querschnitt durch den Tristan hatte Bernstein 1969 mit seinen New Yorker Philharmonikern dirigiert. Die Isolde war Eileen Farrell, der Tristan Jess Thomas, die Brangäne Joanna Simon, damals noch keine dreißig. Der Radiomitschnitt ist bei Gala erschienen, gekoppelt mit weiteren Live-Szenen aus Walküre und Götterdämmerung. Bisher nicht offiziell auf DVD gebracht haben es das ebenfalls im Fernsehen übertragene Finale der Walküre und der dritte Aufzug des Siegfried aus dem Wiener Konzerthaus von 1985 mit Ute Vinzing (Brünnhilde), Christa Ludwig (Erda), James King (Siegfried) und Thomas Stewart (Wotan/Wanderer).
Auch die Bayreuther Festspiele hatten sich ernsthaft für Bernstein interessiert. Er sollte dort den Tristan dirigieren. Wie Wolfgang Wagner in seiner Autobiographie „Lebensakte“ (Albrecht Knaus Verlag 1994) berichtet, wurden unverbindliche Kontakte noch von seinem Bruder Wieland 1965 in Wien geknüpft. „Leonard Bernstein wünschte in Begleitung seiner eigentlichen Erarbeitung des Werkes zur Bayreuther Aufführung Schallplatten- und Fernsehaufnahmen sowie Aufzeichnungen aus der Arbeit selbst.“ Dergleichen sei aber im ersten Jahr einer Neuinszenierung, die aufwändige und konzentrierte Proben benötige und „im Hinblick auf die Erfordernisse der anderen auf dem Spielplan stehenden Werke allein zeitlich undurchführbar“, so Wolfgang Wagner. „Bernsteins und meine Standpunkte konnten daher nicht miteinander vereinbart werden, und so endete der Kontakt am 19. November 1970.“ Es sollte also noch ein Jahrzehnt vergehen, bis er in München fand, was Bayreuth ihm nicht bieten konnte.
Zustande gekommen ist eine halbszenische Aufführung mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz. Der Geiger Bernd Heber erinnert sich in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks über die Aufnahme. Bernstein habe ein Orchester gewollt, das den Tristan noch nie gespielt habe, um seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Die Sänger agierten auf einem Podest hinter dem Orchester vor einem großen Segel, das farblich den jeweiligen Situationen der Handlung angepasst wurde. Nur wenige Requisiten hatten Platz, etwa eine antike Bank für das Paar beim Liebesduett im zweiten, eine Sitzgelegenheit für Tristan im dritten Aufzug. Durch geschickte Kameraführung gewannen zumindest die Zuschauer an den Bildschirmen die Illusion einer Bühnenaufführung. Für die Menschen im Saal dürfte die Optik wesentlich prosaischer gewesen sein. Dafür waren sie dabei. Ihr tosender Beifall ist nachvollziehbar.
Aufgeführt wurde jeweils nur ein Aufzug, der erste am 13. Januar, der zweite am 27. April und der dritte am 10. November. So lange dürfte sich kein anderer Tristan hingezogen haben. Nutznießer waren vor allem die Solisten, die sich nicht völlig verausgaben mussten und ihre Kräfte einteilen konnten, zumal das Werk völlig ohne Striche gegeben wurde. Und dennoch: Dem Tristan Peter Hofmann stand der Schweiß sichtbar auf der Stirn. Er gab, was er zu geben vermochte. Lyrische Passagen gelangen durchaus anrührend. Dieser Stärken schien er sich durchaus bewusst gewesen zu sein und kostete sie aus. Hingegen verloren sich dramatische Ausbrüche oft im Ungenauen. Der Mitschnitt offenbart mir erneut, dass Hofmann letztlich kein Heldentenor gewesen ist. Er verkörperte allenfalls die Vorstellung von diesem so begehrten wie seltenen Typ der Oper und bemühte sich, den Erwartungen zu entsprechen. Die räumliche Enge auf dem Podium ließ ihm keine Möglichkeit, der Interpretation durch körperlichen Einsatz oder Bewegungen zusätzliche Wirkung zu verleihen. Er war dazu verurteilt, über weite Strecken auf einem Fleck zu stehen. In so einer Position haben selbst die versiertesten Sänger bei Liederabenden ihre Schwierigkeiten. Dass sich der attraktive Hofmann gewinnbringend in Szene setzten konnte, lässt sich an seinem Siegmund in der Bayreuther Walküre-Inszenierung von Patrice Chéreau ablesen. Infolge dieses aufsehenerregenden Debüts war er als Wagnersänger an alle führenden Opernhäuser katapultiert worden.
Hildegard Behrens, die in München als Isolde besetzt war, hatte einen ähnlich spektakulären Start in die internationale Karriere wie der sieben Jahre jüngere Hofmann. Sie galt 1977 nach der Salome unter Herbert von Karajan bei den Salzburger Festspielen als die Entdeckung des Jahres und wurde von der Kritik mit Lobenshymnen überschüttet. Fortan sang sie fast nur noch großes Fach. So gab es für Bernstein offenkundig gar keine andere Wahl, als sich der beiden neuen Sterne am Opernhimmel zu versichern. Für mich war auch die Behrens keine ideale Isolde. Nach Mödl, Varnay oder Nilsson punktete sie mit ihrer vergleichsweise lyrischen Stimme. Das kam gut an – auch als Gegenentwurf zum stimmlich übermächtigen Dreigestirn aus der ihr vorangegangenen Generation. Und im Vergleich mit der Konkurrenz, die heutzutage mit Wagner unterwegs ist, schneidet sie immer noch gut ab. „O sink’ hernieder, Nacht der Liebe.“ Das will erst einmal so schwebend und leicht gesungen sein wie von Behrens und Hofmann, die für mich mit dieser Szene ziemlich genau auf der Mitte des Werkes den Höhepunkt der Produktion markieren. Es ist, als würde darauf alles zugeschnitten sein – vom Titelpaar genauso wie von Bernstein. Nicht immer waren diese drei so eins. Oft musste der Dirigent die emotionalen Lücken füllen, die von den Sängern hinterlassen wurden. Das „furchtbare Sehnen“, das „schmachtende Brennen“ – Tristans Leiden und seine Qual sind deutlicher aus dem Orchester zu hören denn aus der Kehle des Tenors, der im letzten Akt für alle Fälle die Noten bei sich hatte. Dafür durfte er wenigstens das unvorteilhafte Lurex-Wams aus den vorangegangenen Abenden gegen ein locker sitzendes Hemd tauschen.
Insgesamt brachte die Behrens mit ihren gelegentlich brustigen Tiefen deutlich mehr gestalterische Elemente ein als Hofmann und die anderen Solisten und führte das Mammutprojekt mit dem Liebestod zu einem würdigen Abschluss. Yvonne Minton (Brangäne), Bernd Weikl (Kurwenal) und Hans Sotin (Marke) fielen durch ihre stimmlichen Qualitäten und die Wortdeutlichkeit mehr auf als durch schauspielerische Attitüden in der spärlichen Kulisse. Thomas Moser, als junger Seemann bestens bei Stimme, legte sein schlichtes Lied zu Beginn als eine Arie an. Das mag von Wagner so nicht gewollt gewesen sein, machte aber viel her, so dass ich versucht war zurückzuspulen, um es noch einmal zu hören. Wie ein Da capo. Bekanntlich folgte auf die Konzerte in München die Veröffentlichung des Audiomitschnitts bei Philips. Jetzt weiß ich einmal mehr, warum mich diese Aufnahme nie wirklich erreichte, warum ich sie fast nie auflege. Sie verlangt nach der Optik, auch wenn die schon damals nicht optimal gewesen und mit den Jahren nicht glamouröser geworden ist. Optik schließt in diesem Falle auch die Wirkung des Zusammenspiels zwischen Sängern und Dirigenten ein. Bernstein wird an den richtigen Stellen wirkungsmächtig in den Fokus gerückt. Immer, wenn er ins Zentrum des Betrachters gerät, spielt sich das Drama auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ab. In Bayreuth wäre er nicht zu sehen gewesen.
Ein Dokument für Hardcore-Fans von Leonard Bernstein, die unbedingt alles haben wollen, was er hinterlassen hat, ist eine DVD von Major/Unitel, die mit dem Segen von Radio France auf den Markt gekommen ist – als Blu-ray und im herkömmlichen Format (746808). Mit dem Orchestre National de France führt er Werke französischer Komponisten auf. Die Symphonie Fantastique von Hector Berlioz erklingt in einer – wie von diesem Dirigenten nicht anders zu erwarten – emotional hoch aufgeladenen Interpretation. Der Mitschnitt aus dem Théatre des Champs-Elysée in Paris stammt von 1976, was ihm auch anzusehen ist. In etwas besseren Bildern vollzieht sich die Aufführung von Albert Roussels 3. Sinfonie in selben Haus. Im Booklet wird zu Recht darauf verwiesen, dass es sich bei diesem Werk mit seinem drängenden Beginn um eine Auftragskomposition des Bernstein-Lehrers Serge Koussevitzky anlässlich des 50. Bestehens des Boston Symphony Orchestra handelt. Auf dem Programm des Konzerts von 1981 standen noch das populäre sinfonische Poem Le Rouet d’Omphale von Camille Saint-Seans und die schmissige Ouvertüre zur Oper Raymond von Ambroise Thomas.
Das Eigenlabel des London Symphony Orchestra LSO hat Leonard Bernsteins Musial Wonderful Town auf den Markt gebracht (LSO0813). Es ist bereits die dritte Einspielung unter Simon Rattle. Das Stück hat Konjunktur und ist auch auf deutschen Spielplänen zu finden. Die Staatsoperette Dresden brachte 2017 sogar eine deutschsprachige Aufführung zustande, die auch auf CD gelangte. Der jüngsten Rattle-Aufnahme waren eine Studioproduktion mit der Birmingham Contemporary Music Group und dem Chorensemble London Voices von 1998, die jetzt bei Warner neu vorgelegt wurde sowie der Konzertmitschnitt auf DVD mit den Berliner Philharmonikern aus dem Jahr 2002 mit der identischen Besetzung der Hauptrollen – nämlich Kim Criswell (Ruth Sherwood), Audra McDonald (Eileen Sherwood) und Thomas Hampson (Bob Baker). Nun singen die besonders in Barockopern erfolgreiche Daniela de Niese und die ehr dem Musical verpflichtete Alysha Umphress die beiden Schwestern, die in den dreißiger Jahren nach New York kommen, um dort ihr Glück als Autorin und Schauspielerin zu versuchen, dabei in allerlei Turbulenzen geraten. Ruth trifft schließlich auf Bob, den Redakteur einer Zeitung, der sich zunächst lustig über sie macht, mit dem sie aber am Schluss ein Paar wird während ihre Schwester Eileen einer erfolgreichen Bühnenkarriere entgegensieht Diese Rolle ist mit dem Bariton Nathan Gunn besetzt, der vornehmlich auf Opernbühnen anzutreffen ist. Bernstein komponierte das Stück 1953 als Fünfunddreißigjähriger. Es beschwört den legendären Big Appel, und Rattle und seinen Sängern gelingt es, den typischen Sound der Stadt, der seinen Ausdruck in zig Filmen Songs und Musicals gefunden hat, noch einmal heraufzubeschwören. Rüdiger Winter