Die Orchesterwerke von Franz Liszt führen vergleichsweise noch immer ein Schattendasein. Obwohl Liszt nicht weniger als 13 nummerierte Sinfonische Dichtungen geschaffen hat und dazu zwei große Tondichtungen, die der Sinfonie-Form nahestehen (Eine Faust-Symphonie sowie Eine Sinfonie nach Dantes Divina Commedia, jeweils mit Singstimmen), hat sich im Standardrepertoire eigentlich nur Les Préludes, das vermutlich bekannteste aller Orchesterwerke dieses Komponisten, wirklich durchgesetzt. Und auch hier litt diese Tondichtung lange unter der missbräuchlichen Verwendung während der Nazi-Zeit als „Russland-Fanfare“ der Deutschen Wochenschau. Die relativ geringe Beschäftigung mit dem Liszt’schen Orchester-Œuvre schlägt sich auch diskographisch nieder.
Erst zwischen 1968 und 1971 wurden erstmalig sämtliche dieser Werke in Stereo eingespielt, nämlich durch den niederländischen Dirigenten Bernard Haitink für Philips. Zuvor gab es wenige ernsthafte Versuche, am nennenswerten sicherlich jener von Nikolai Golowanow, der für Melodia in den frühen 1950er Jahren immerhin zwölf der 13 Sinfonischen Dichtungen einspielte (es fehlt Von der Wiege bis zum Grabe, das lange Zeit als „Irrung eines Greisen“ abgetan wurde); daneben gab es eine zaghaftere Annäherung etwa durch Hermann Scherchen und später durch Georg Solti. Besonders ambitioniert war in dieser Hinsicht Kurt Masur mit seinem Gewandhausorchester Leipzig. In den Jahren von 1977 bis 1980 legte er nicht nur die Orchesterwerke, sondern auch die Werke für Klavier und Orchester vor (VEB Deutsche Schallplatten Berlin, heute EMI/Warner). Mitte der 80er folgte dann die bis heute wohl idiomatischste Gesamteinspielung durch das Budapest Symphony Orchestra unter der Stabführung von Árpád Joó (Hungaroton). Und in jüngster Zeit spielte Gianandrea Noseda mit dem BBC Philharmonic eine Gesamtaufnahme für Chandos ein. All diese Aufnahmen haben ihre Meriten oder zumindest einen historischen Stellenwert.
Was nun die Neueinspielung durch Martin Haselböck mit seinem Orchester Wiener Akademie für Gramola hervorhebt, ist der Anspruch, diese Werke erstmals im Originalklang des 19. Jahrhunderts zu präsentieren. Dass Haselböck ein großer Verfechter des noch heute als Komponisten oft unterschätzten Franz Liszt ist, darf außer Frage stehen, hat er doch zwischen 2010 und 2017 für nicht weniger als vier Labels Einspielungen gemacht (NCA, Alpha Classics, cpo, Gramola), die nun allesamt in einer handlichen, 9 CDs umfassenden Box zum attraktiven Preis erschienen (Gramola 99150). Aufnahmestätte war in allen Fällen der Franz-Liszt-Saal im Liszt-Zentrum Raiding im österreichischen Burgenland. Die ansonsten tadellose Beilage verschweigt allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen die genauen Aufnahmedaten, die man nur mit etwas Recherche bei den ursprünglichen Originalveröffentlichungen nachvollziehen kann. Abgesehen von CD 8 (Einzelstücke) enthält diese Kassette auch nichts bislang Unveröffentlichtes.
Es wurden Originalinstrumente oder originalgetreue Nachbauten historischer Instrumente verwendet, um dem Klangbild, welches Liszt im Weimar der 1850er Jahre erzielte, so nahe wie möglich zu kommen. Auch wurde bei der Auswahl des Aufnahmeortes darauf geachtet, dem nicht mehr existenten Konzertsaal des Weimarer Schlosses weitmöglichst zu entsprechen. Was bei diesen Einspielungen im Originalklang sofort auffällt, ist das deutlich kompaktere und schlankere Klangbild, welches auf der einen Seite zwar bislang wenig gehörte Details offenlegt, auf der anderen Seite aber hie und da auch etwas schmalbrüstig anmutet. Im direkten Hörvergleich mit anderen Aufnahmen fehlt durch den fast kammermusikalischen Ansatz dann auch ab und an die Monumentalität, die das Liszt-Bild Jahrzehnte lang geprägt hat. Ob dies ein Nachteil ist, muss freilich jedermann für sich selbst entscheiden. Unstrittig ist indes, dass gerade der Liszt’sche Gassenhauer Les Préludes hier eine insgesamt nicht ganz zufriedenstellende Aufführung erreicht. Überhaupt ist der betont nüchtern-geradlinige Ansatz, den Haselböck verfolgt, für solch urromantische Werke womöglich nicht der Weisheit letzter Schluss. Tempomäßig unterscheidet sich Haselböck nicht allzu stark von älteren Aufnahmen, ausgenommen vielleicht eine sehr getragene Hunnenschlacht (16:25). Einmal mehr wird dem geneigten Hörer und der geneigten Hörerin durch diese Kollektion vor Augen geführt, dass es neben Les Préludes noch weitere absolut hörenswerte Sinfonische Dichtungen dieses Komponisten gibt, denen ein Platz im Konzertrepertoire durchaus zustünde. Besonders Tasso, Mazeppa und Prometheus, aber auch der von Liszts Schwiegersohn Wagner geliebte, sehr kontemplativ ausgelegte Orpheus wären hier anzuführen, die auch diskographisch nicht gar so schlecht vertreten sind.
Dagegen dürften die weniger zugänglichen und außerhalb von Gesamtaufnahmen so gut wie niemals eingespielten Tondichtungen Héroïde funèbre und Die Ideale auch in Zukunft randständiges Repertoire bleiben. Neben den genannten eigentlichen Sinfonischen Dichtungen weiß diese Ausgabe auch mit weiteren Orchesterwerken aufzuwarten. Von der nahezu unbekannten Évocation à la Chapelle Sixtine über die wenig geläufige Ergänzung des Tasso namens Le Triomphe funèbre du Tasse (die dritte der Trois Odes funèbres – die beiden anderen sind auf CD 7 enthalten) bis hin zur Weltersteinspielung der Kreuzeshymne Vexilla Regis Prodeunt. Liszts starke Affinität zum Katholizismus wird in diesen Stücken einmal mehr deutlich. Als sehr gelungen dürfen gerade die Aufnahmen diverser Orchestrierungen gelten, seien es Liszts eigene Werke oder jene von Schubert, drei Märsche und die sogenannte Wanderer-Fantasie in vier Sätzen, bearbeitet für Klavier und Orchester. Der Repertoirewert der orchestrierten Ungarischen Rhapsodien Nr. 1-6 wurde bereits u. a. vom Musikschriftsteller David Hurwitz hervorgehoben. Bei diesen Werken vergisst man dann auch den Einsatz des historischen Instrumentariums, welches gerade bei den großsinfonischen Stücken an seine Grenzen stößt. So stellen sowohl die Dante– wie auch die Faust-Sinfonie eher interessante Ergänzungen der Diskographie als tatsächliche neue Referenzaufnahmen dar, auch wenn die Leistung der Beteiligten (Tenor Steve Davislim, Chorus sine nomine) keinen Grund zum Tadel bieten. Summa summarum fraglos ein löbliches Mammutprojekt, das zu einem Großteil zu überzeugen weiß und einen interessanten neuen Blickwinkel auf die vielfach noch heute verkannten Orchesterwerke von Franz Liszt bietet, ohne freilich die bisherigen Referenzen klar vom Thron zu stoßen. Der sehr gute Klang und die erfreulich hochwertig anmutende Präsentation steigern den Wert dieser ersten Gesamteinspielung auf historischen Instrumenten. Daniel Hauser