Alter Wein in neuen Schläuchen. So mutet die nunmehr neu erschienene Mammutbox Sergiu Celibidache: The Munich Years an, die Warner präsentiert (0190295581541). Nicht weniger als 51 Stunden Musik auf 49 CDs verteilt – die gesamte, einst bei EMI erschienene Hinterlassenschaft der siebzehnjährigen Münchner Chefdirigentenzeit des rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache (1912-1996) auf Tonträger. Mit einer Ausnahme, könnte man jetzt beckmesserisch hinzufügen, denn neben den zwischen 1979 und 1996 entstandenen Aufnahmen mit den Münchner Philharmonikern wurde als Bonus-CD eine bereits 1948 angefertigte Studioaufnahme (sic) der ersten Sinfonie von Sergei Prokofjew mit den Berliner Philharmonikern beigegeben. Dies wird für den Celi-Kenner indes kaum ein Kaufgrund sein, legte Audite das Werk (wenn auch live) doch bereits vor Jahren in seiner exzellenten Kassette Celibidache: The Berlin Recordings 1945-1957 vor, die in operalounge.de besprochen und gelobt wurde.
Überhaupt scheint sich diese Neuveröffentlichung, die im Grunde nichts Neues beinhaltet, an Neulinge, nicht an Fortgeschrittene in Sachen Celibidache zu wenden. So widmet sich der von David Patmore verfasste Begleittext recht ausführlich der Hinwendung des Dirigenten zum Zen-Buddhismus und seiner damit verbundenen Philosophie, dass Musik nur im gegenwärtigen Moment, also Jetzt, existiere. Dies bedingte die lebenslange Abneigung Celibidaches gegen Tonaufnahmen, sieht man einmal von den ganz frühen Jahren ab. Tatsächlich wird im Booklet auch das bereits auf den EMI-Veröffentlichungen imprägnierte chinesische Zeichen Shou als Symbol für Langlebigkeit erläutert und soll „den Fortbestand von Celibidaches musikalischem und geistigem Erbe symbolisieren“.
Was ist nun konkret enthalten? Die relativ chronologisch aufgebaute Box beginnt bei den Wiener Klassikern. Mit Haydns späten Sinfonien Nr. 92, 103 und 104 sind drei besonders beliebte aus dem umfangreichen Œuvre des Meisters aus Rohrau enthalten. Mozart ist hingegen instrumental allein durch seine große g-Moll-Sinfonie (Nr. 40) und die Ouvertüre zu Don Giovanni vertreten. Ihnen gemein ist der aus heutiger Sicht sehr unzeitgemäße Zugang mit enorm gedehnten Tempi, was insbesondere in den schnellen Sätzen auffällt. Anhänger der historischen Aufführungspraxis werden diese Aufnahmen meiden wie der Teufel das Weihwasser, obschon man aufgrund der ihnen hier zuteil werdenden erhabenen Größe Details heraushören kann, die sonst untergehen. Beethoven war einer derjenigen Sinfoniker, welche Celibidache am meisten beschäftigten. Es liegt hier ein beinahe vollständiger Zyklus vor, ausgenommen die erste Sinfonie, die lediglich in einem In-House-Mitschnitt überliefert ist und in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt wurde. Dafür gibt es die Vierte doppelt, einmal von 1987 und einmal von 1995, wobei sich bereits anhand dieses Werkes die immer weiter ins Extreme gehende Verlangsamung der Tempovorstellung des Dirigenten in seinem letzten Lebensjahrzehnt nachvollziehen lässt. Celibidache lässt einen wuchtigen, titanenhaften Beethoven spielen, wie man ihn in den 1990er Jahren sonst allenfalls noch bei Carlo Maria Giulini und Takashi Asahina erleben konnte. Die Solisten in der hier außergewöhnlich zelebrierten, gut 77-minütigen neunten Sinfonie sind Helen Donath, Doris Soffel, Siegfried Jerusalem und Peter Lika; es singt zudem der Philharmonische Chor München.
In Sachen Schubert ist in der Kassette einzig die Große Sinfonie C-Dur enthalten, daher sei auf die Veröffentlichung des Eigenlabels der Münchner Philharmoniker verwiesen, das vor einiger Zeit dankenswerterweise auch die „Unvollendete“ zur Diskographie Celibidaches beisteuerte (neben einer großartigen Interpretation von Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, die hier ebenfalls fehlt). Überhaupt scheint es Celibidache nicht unbedingt um Vollständigkeit gegangen zu sein, fehlen in seiner Münchner Diskographie doch Schumanns Erste (die anderen drei sind enthalten) und die Sinfonien Nr. 1 und 2 von Bruckner (von der „Nullten“ ganz zu schweigen). Dass sein Konzept von der Langsamkeit auch an seine Grenzen stoßen konnte, wird in den Schumann-Sinfonien teilweise deutlich. Die noch immer unterschätzte Zweite etwa, welche die Zerrissenheit des Komponisten beispielhaft widerspiegelt, mutet durch das gleichmäßig langsame Tempo ein wenig leblos an. Dafür gelingt der spannungsgeladene Übergang vom dritten zum finalen Satz in der Vierten umso beeindruckender – ein Gänsehautmoment. Auch bei den vier Sinfonien von Brahms setzt Celibidache auf Langsamkeit, hier freilich nicht als einziger (man denke neben Giulini etwa auch an Charles Munchs späte Darbietung der ersten Sinfonie aus Paris).
Dass die Münchner Philharmoniker beim Amtsantritt des Rumänen kein genuines Spitzenorchester waren, können sie hie und da nicht ganz verleugnen, auch wenn sich die Orchesterqualität doch nachhaltig gesteigert zu haben scheint, was dann durchaus als Verdienst Celibidaches zu erwähnen wäre. Bruckners Sinfonik stellte fraglos einen Mittelpunkt im Schaffen des Dirigenten dar, wobei es sich bei den hier enthaltenen Münchner Mitschnitten, wie gesagt, um späte Tondokumente von Celibidaches Bruckner-Bild handelt. Wieviel flotter er selbst um 1980 herum noch sein konnte, kann man anhand der bei der Deutschen Grammophon vorgelegten Aufnahme der Sinfonien Nr. 3-5 und 7-9 mit den Orchestern aus Stuttgart und Stockholm erfahren. Von daher vermitteln diese Münchner Aufnahmen womöglich ein etwas einseitiges Bild des ganz späten Celibidache, welches das landläufige Klischee von der Entdeckung der Langsamkeit unterstreicht. Beigegeben sind zudem nicht weniger monumentale Lesarten des Te Deum und der Messe Nr. 3. So großartig einige der Bruckner-Aufnahmen in der Box auch sind (hervorzuheben die Sinfonien Nr. 3, 6, 8 und 9), so sind nicht in jedem Falle Celibidaches beste Aufnahmen der jeweiligen Werke inkludiert. Gerade im Falle der „Romantischen“ muss auf einen Mitschnitt aus Japan von 1993 erinnert werden, der die in der Box berücksichtigte Aufnahme von 1988 klar auf die Ränge verweist. Auch die kathedralartige Fünfte (hier von 1993) hat er in Japan 1986 wohl noch ein wenig überzeugender interpretiert (erschienen bei Altus). Bei der Siebenten darf der Hinweis auf das legendäre Versöhnungskonzert mit den Berliner Philharmonikern von 1992, zustande gekommen durch das Engagement des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, nicht fehlen. Auch dieses übertrifft die hier berücksichtigte Aufnahme. Dafür gelingt die apokalyptische Achte umso majestätischer. Noch zelebrierter geht eigentlich nicht.
Obwohl er keine kompletten Opern dirigierte, konnte auch Celibidache am Werk des Bayreuther Meisters Richard Wagner nicht einfach vorbeigehen. Auszüge aus den Opern Tannhäuser, Tristan, Die Meistersinger, Götterdämmerung und Parsifal sind enthalten; ferner das Siegfried-Idyll. Die größten Highlights hieraus sind womöglich die Ouvertüre zu Tannhäuser und das Vorspiel zum ersten Aufzug der Meistersinger, beide in ihren Dimensionen fast grotesk gedehnt, doch aufgrund der Meisterschaft des Dirigenten doch gänzlich überzeugend. Selten hat man etwa den schlussendlichen Triumph der christlichen Moral über die heidnisch konnotierte Lust am Ende der Tannhäuser-Ouvertüre so markerschütternd vernommen wie hier, wo letztere geradezu niederkartätscht wird. Es ist schade, dass sich Celibidache letzten Endes doch nur bruchstückhaft diesem Komponisten gewidmet hat. Auffällig vor allem das Fehlen des Vorspiels zum ersten Aufzug des Parsifal (es ist nur der Karfreitagszauber enthalten), das doch eigentlich so sehr seiner Philosophie entgegenkommen hätte müssen.
Ein weiteres Feld, das der Dirigent abdeckte, waren die drei letzten Sinfonien von Tschaikowski; besonders die Fünfte scheint Celibidache am Herzen gelegen zu sein, sind doch neben der hier enthaltenen Aufnahme noch mindestens zwei weitere Darbietungen mit den Münchner Philharmonikern überliefert. Man möchte sagen: Wider Erwarten gelingt ihm das Eintauchen in die hochemotionale Gefühlswelt des zu Lebzeiten etwas verkannten Russen vorzüglich. Diese Musik verträgt auch die exzentrischen Tempomaße, die wiederum angeschlagen werden. Gleichsam als Zugabe ist noch eine nicht minder überzeugende Aufnahme der Nussknacker-Suite dabei. Celibidaches Horizont endete im Hinblick auf Russland aber keinesfalls mit Tschaikowski. Davon zeugen jeweils zwei Sinfonien von Prokofjew sowie Schostakowitsch. Ist die Auswahl bei Prokofjew nicht sonderlich überraschend – die klassizistische Erste und die berühmte Fünfte -, so kann man sich indes schon die Frage stellen, was den Dirigenten wohl dazu bewogen hat, ausgerechnet Schostakowitschs sinfonischen Erstling und die in ihren Dimensionen ebenfalls eher verhaltene Neunte in sein Repertoire aufzunehmen. Gerne hätte man auch die „Leningrader“, die Zehnte oder die Elfte unter seinem Dirigat vernommen. Ferner enthalten ist die Psalmensinfonie von Strawinski, auch nicht unbedingt naheliegend. Das Interesse des rumänischen Maestros für die französische Musik sollte hingegen nicht verwundern, war er doch einige Jahre lang ständiger Gastdirigent des Orchestre National de France und lebte (und starb) bekanntlich auch in La Neuville-sur-Essonne nahe Paris. Berlioz, Debussy, Roussel, Milhaud, Ravel und Fauré repräsentieren in dieser Box Frankreich. Besonders wird man in diesem Zusammenhang wohl La Mer und den Boléro hervorheben müssen. Ersteres ist definitiv kein bloßer See (Klemperers Ausspruch „Szell am See“ eingedenk), letzterer ein besonderes Bravourstück des Dirigenten, das sich diskographisch in seinen Darbietungen über Jahrzehnte nachvollziehen lässt. Die hier enthaltene, ein Mitschnitt von 1994, ragt mit ihren über 18 Minuten schon rein zeitlich heraus und stellt die Letztdeutung dar. Wie essentiell es gerade bei diesem zu Tode gespielten Werk ist, das Tempo bloß nicht zu sehr anzuziehen, hier wird’s eindrucksvoll ersichtlich.
Diverse Ouvertüren und Orchesterwerke runden den rein instrumentalen Teil der Box, der klar überwiegt, ab. Darunter findet man Webers Oberon, Rossinis Guillaume Tell, Semiramide, La scala di seta, La gazza ladra und Verdis La forza del destino, Schuberts Rosamunde, Berlioz‘ La Carnaval romain, Mendelssohns Hebriden (formidabel!) und Sommernachtstraum, Smetanas Moldau und Johann Strauss‘ Fledermaus. Zumindest die Italiener hätte man wohl nicht unbedingt mit Celibidache in Verbindung gebracht. Beschlossen wird die Edition von Vokalwerken, die sich auf die letzten CDs verteilen. Neben nicht weniger als vier Requien von Mozart, Verdi, Brahms und Fauré ist dort auch die h-Moll-Messe von Bach berücksichtigt, chronologisch somit der einzige Berührungspunkt Celibidaches mit der Barockmusik. Freilich ist sein Zugang auch hier ganz von Romantik herkommend, damit allerdings im zeitlichen Kontext nicht unbedingt aus dem Rahmen fallend. Gleichwohl gilt vermutlich keine der genannten Aufnahmen heute noch als Referenz, sofern sie das überhaupt jemals tat. Vielleicht war es daher ganz folgerichtig, dass sich Sergiu Celibidache in seinem Leben primär rein instrumentalen Werken widmete. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass diese Box vornehmlich für den Einsteiger gedacht ist. Langjährige Kenner Celibidaches können getrost bei ihren älteren CD-Ausgaben bleiben, hat Warner doch kein neues Remastering vorgenommen. Die Klangqualität der Stereoaufnahmen (Ausnahme ist besagter Prokofjew aus Berlin) ist trotz der Live-Situation gut, wenngleich man nicht den heutigen Standard hinsichtlich Brillanz und detailgetreuer Abbildung des Orchesters erwarten darf. Dies ist eben der Preis für die Philosophie dieses Dirigenten, die in diesen Live-Mitschnitten mit all ihren Makeln und ihrer gar nicht erst angestrebten Perfektion zumindest ansatzweise auch heute noch nachvollzogen werden kann. Daniel Hauser
Das Foto oben zeigt im Ausschnitt Sergiu Celibidache bei einer Probe mit seinem Münchner Philharmonikern und ist dem Cover der neuen Box bei Warner Classics entnommen/ Roger & Violet/ Warner Classics