Eigentlich eine Oper

 

Mit Abstand von fast dreißig Jahren ist das Oratorium Das Sühneopfer des neuen Bundes von Carl Loewe nun zum zweiten Mal auf CD erschienen. Die überhaupt erste Aufnahme kam 1991 bei FSM mit dem Chor der St. Nikolauskirche Frauenfeld und dem Collegium Musicum St. Gallen unter der Leitung von Mario Schwarz heraus. Obwohl stark gekürzt, fand sie schon deshalb große Aufmerksamkeit, weil der bis dahin vor allem auf sein Balladenschaffen reduzierte Komponist plötzlich auch als Musikdramatiker wahrgenommen wurde. Jetzt legt Oehms in Co-Produktion mit dem Bayerischen Rundfunk eine komplette Einspielung vor (OC 1706), die etwa eine halbe Stunde mehr Zeit beansprucht als die Vorgängerin, die mit einer CD auskam. Diesmal singen die Arcis-Vokalsolisten München, die 2005 von Thomas Gropper gegründet wurden. Sie verstehen sich als semiprofessionelles Ensemble aus etwa achtzig Frauen und Männern unterschiedlicher Altersgruppen, die größtenteils musikalisch ausgebildet sind. Es spielt das Barockorchester L’arpa festante, das seit 1983 besteht und seinen Namen von der so betitelten Oper von Giovanni Battista Maccioni herleitet, mit der 1653 das erste Münchner Opernhaus eröffnet wurde. Markenzeichen dieses Ensembles sind die Bemühungen um Originalklang bei Aufführungen und Produktionen. Monika Mauch (Sopran), Ulrike Malotta (Mezzosopran), Georg Poplutz (Tenor) und Andreas Burkhart (Bass) bilden das traditionelle Solistenquartett.

Gropper, der die musikalische Leitung hat, ist selbst als Sänger tätig und hat noch bei Dietrich Fischer-Dieskau Unterricht genommen. Am Stadttheater Ingolstadt sang er Figaro, Don Giovanni und Papageno, bei den Opernfestspielen in der Bad Hersfelder Stiftruine die Titelpartie in Monteverdis L’Orfeo. Mit dieser Erfahrung dürfte Gropper genau der Richtige  sein für das Passions-Oratorium, das viele opernhafte Elemente in sich trägt. Wie Gropper im Booklet herausgearbeitet hat, war es Loewe, der seine zentrale berufliche Aufgabe über fast ein halbes Jahrhundert als Organist, Kantor und städtischer Musikdirektor in Stettin, dem heutigen Szczecin, versah, „aufgrund seines Arbeitskontrakte untersagt, für die dortige Opernbühne zu komponieren“. Draus erklärt sich, dass er das „erlaubte“ Genre des Oratoriums musiktheatralisch aufgeladen habe. Insofern ist das Oratorium auch als eine Art heimliche Oper zu verstehen. „Im Wechsel aus Bibelstellen, Chorälen und freier Dichtung“ habe der Kirchenliedforscher und Lehrer am Stettiner Marienstift, Wilhelm Telschow, sein Libretto geformt. Der Passionsbericht sei „aus den verschiedenen Evangelien kompiliert, hauptsächlich aus Matthäus und Johannes, und sprachlich vereinfacht, die Jesusworte hingegen bleiben original“. Gropper: „Dazu kommen Psalmen (113, 116, 117) und Choralverse. In den frei hinzugedichtete Texten für Prolog, Epilog und einzelnen Arien wird in schlichter Sprache versucht, einen emotionalen Zugang herzustellen, etwa indem am Passionsgeschehen beteiligte Figuren ihre Wahrnehmungen und Gedanken äußern.“

Nach einer knappen musikalischen Einleitung übernehmen solistisch besetzte „Stimmen aus dem Volke“, die sich im Chor fortsetzen. Das ist von großer Wirkung. Loewe versucht sich über das ganze Werk verteilt in solchen überraschenden Formen und Lösungen, die seine eigene Handschrift deutlich erkennen lassen. Umso verwunderlicher ist es, dass sein oratorisches Schaffen schon zu seinen Lebzeiten und erst recht danach in tiefe Vergessenheit fiel. Durch den unangebrachten Vergleich mit Mendelssohn und Schubert, den er letztlich nicht bestehen konnte, ist ihm viel Ungerechtigkeit widerfahren. Loewes Stil habe „seine Wurzeln in der mitteldeutschen und norddeutschen Kantorentradition“, so Gropper. Und das ist nicht die schlechteste Tradition. Die zahlenmäßig übersichtliche Besetzung lässt es zu, das Werk klar, gar leicht, elegant und unverschnörkelt darzubieten. Dadurch tritt seine eigenwillige Struktur umso deutlicher hervor. Alle Solisten sind vorzüglich ausgesucht. Sie sind immer gut zu verstehen, fügen sich ohne Eitelkeit in das Ensemble. Im üppig ausgestatteten Booklet, das auch den vollständigen Text enthält, werden sie ausführlich in Wort und Bild vorgestellt. Auch das Klangbild der in der Himmelfahrtskirche in München-Sending produzierten Aufnahme lässt keine Wünsche offen. Rüdiger Winter