Nanu! Dieses Cover kenne ich doch. Genau so sah die Schallplatte aus. Ich sehe sie vor mir. Oben im Regal des Musikgeschäfts – als es diese auch noch in DDR-Kleinstädten gab. Händler stellten neue Platten so zur Schau, dass sie sofort ins Auge fielen. Sie waren noch nicht wie Karteikarten in Kästen verstaut, um dem rasanten Wachstum der Branche Rechnung zu tragen. Es wurde zunehmend zum Problem, die Menge an Neuerscheinungen unterzubringen und zu präsentieren. Plattenhüllen stiegen nicht selten zu Kultstatus auf – in der Klassik wie im Pop. Sie sind längst Sammlerobjekte geworden. Das Auge hört mit. Mehr und mehr Firmen besinnen sich auf die Wirkung der ursprünglichen Aufmachung. Gelangt eine Langspielplatte auf CD, wird die Hülle nicht selten dem Original nachempfunden. Vom Format passt es. Aus dreißig mal dreißig Zentimetern werden zwölfmal zwölf. Damit schrumpft aber auch der sinnliche Genuss. Eine CD fasst sich für viele Sammler nicht so schön an wie eine Hochglanz-LP, die einem regelrecht durch die Finger gleitet. Sie behandeln ihre Platten wie einen Holzstich von Dürer. Sanft, zärtlich und liebevoll. Dass nur kein Fingerabdruck haften bleibt, keine Ecke einknickt. Berlin Classics führt das das nostalgische Verfahren mit Wiederauflagen aus DDR-Beständen fort. Jetzt kommen Volkslieder, gesungen Peter Schreier, zu neuen Ehren (0301291BC). Sie wurden 1975 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig eingespielt. Mit dabei sind der Rundfunkchor und Mitglieder des Thomanerchors Leipzig sowie Musiker des Gewandhausorchesters – dirigiert von Horst Neumann. Die Auswahl ist für die damaligen politischen Verhältnisse Zeit auffällig gesamtdeutsch. Der „Jäger aus Kurpfalz“ trifft auf die stolzen Burgen „An der Saale hellem Strande“, es wird „am Neckar gegrast“, und das „Ännchen von Tharau“ führt gar in die Gegend um das alte Königsberg, das im DDR-Altlas ausschließlich den sowjetischen Namen Kaliningrad trug. Unter den üppigen Arrangements wirken die Lieder wie mit Zuckerguss überzogen. Von der ursprünglichen Schlichtheit in Ton und Text ist nichts übrig geblieben. Als würde den Volkslieder misstraut. Anstatt sich von der kitschigen Dekoration stimmlich etwas abzusetzen, lässt sich Schreier voll darauf ein und sattelt hier und da sogar noch drauf. Selten fand ich Musik so altmodisch, so aus der Zeit gefallen wie diese vorgeblichen Volkslieder.
Andre CDs von Berlin Classics aus DDR-Bestand stecken in einer aufklappbaren Ummantelung, schwarz gerahmt, schwarze Schrift auf weißem Grund. Unweigerlich drängt sich der Gedanken an Traueranzeigen auf. Als gäbe es einen Verlust zu beklagen – die gute alte Plattenzeit. Und so wird denn in den Booklets viel geschwärmt. Eine Gala Unter den Linden mit Künstlern der Deutschen Staatsoper (0300925BC) sowie die 5. Sinfonie von Gustav Mahler, aufgefüllt mit vier Liedern aus Des Knaben Wunderhorn (0300922BC) sind neu aufgelegt worden. Alle Titel sind ursprünglich beim Label Eterna erschienen. Der nicht unelegante Schriftzug in Versalien ist auf den jeweiligen Hüllen beibehalten worden, was vor allem Sammler aus dem Osten rühren dürfte. Eterna weckt die guten Erinnerungen, verweist auf die Habenseite der untergegangenen DDR, die sich gern auf das klassische Erbe berief. Auch wenn das Label, wie der gesamte zweite deutsche Staat längst Geschichte sind, die Plattenaufnahmen haben überdauert. Sie sind zweifach historisch – nämlich durch ihr Alter und durch die mit dem Fall der Mauer 1989 veränderten politischen Bedingungen.
Die Berliner Staatsoper war die erste Adresse in der DDR. Nach ihrem aufwändigen Umbau hat sie einen Teil ihres alten Ostcharmes behalten. Eine radikale moderne Lösung, die im Architektenwettbewerb favorisiert worden war, wurde bekanntlich verworfen. Im Booklet geht Autor Klaus Thiel diesen Hintergründen aus dem Weg. Er verlegt sich auf die Fakten aus der wechselvollen Geschichte des Hauses. Seine Schilderungen enden 1987, dem Erscheinungsjahr des Albums. Viel Lob und Anerkennung wird über den einstigen musikalischen Hausherrn Otmar Suitner ausgegossen, der 2010 gestorben ist. Der kam aus Österreich in die DDR, wirkt zunächst in Dresden und übernahm den Posten des Berliner Generalmusikdirektors 1964 – als der Mauerbau gerade mal drei Jahre zurück lag. Suitner – so ist zu lesen – sei „im guten Einvernehmen mit dem neuen Intendanten Prof. Hans Pischner“ in der Lage gewesen, „Produktionen wie die überaus erfolgreiche Frau ohne Schatten und schließlich sogar einen Parsifal und den Palestrina herauszubringen“. Daran ist nicht der geringste Zweifel angebracht, auch wenn die Inszenierungen dieser Werke noch immer als eine Art Wunder erscheinen, während sie im Westen rauf und runter gespielt wurden. Unerwähnt bleibt, dass in der Amtszeit dieser beiden Männer eine neue Produktion von Wagners Ring des Nibelungen nach dem Rheingold kurzerhand abgebrochen – wenn nicht gar verboten wurde und eine auch im Westen Aufsehen erregende Elektra kurz nach der Premiere wieder vom Spielplan verschwand. In beiden Fällen war Ruth Berghaus die Regisseurin. Wer künstlerisch und ästhetisch nicht auf Linie war, dem wurden die Zähne der Macht gezeigt.
Für die Gala nun wird gespielt und gesungen, was das Publikum gern hört, was nicht weh tut, was niemanden aufbringt, nicht aufwühlt oder gar Anlass für Ablehnung und Buhrufe bieten könnte. Die sozialistische DDR gab sich gediegen und klassisch. Mozart, Beethoven, Weber, Nicolai, Wagner und Strauss – und nicht Dessau, Matthus, Meyer oder Schostakowitsch. Am Pult der Staatskapelle standen verschiedene Dirigenten. Suitner zu vorderst, gefolgt von Heinz Fricke, Siegfried Kurz und dem feinsinnigen Arthur Apelt, der sich mehr und mehr aus dem aktuellen Betrieb zurückzog, dem Publikum aber stets sinnliche Abende bescherte. Alle Sängerinnen und Sänger waren seinerzeit erste Kräfte. Nicht alle gehörten nach 1990 zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Als die Platten auf den Markt kamen, war für sämtliche Mitwirkende die Welt noch in Ordnung. Celestina Casapietra wurde als Elisabeth im Tannhäuser gefeiert. In der eingespielten Hallenarie klingt sie etwas stumpf in der Höhe und unterschlägt Buchstaben. Wie eine Kopie von Fischer-Dieskau trägt Siegfried Lorenz das Lied an den Abendstern vor. Kein Wunder, dass er nach der Tannhäuser-Premiere im Dezember 1977, die seinen Aufstieg beschleunigte, stets heftig beklatscht wurde.
Hätte ich nicht den kompletten Lohengrin von Eberhard Büchner selbst gehört, ich würde ihn an Hand der Gralserzählung diese Leistung nicht abkaufen. Büchner singt die berühmte Szene leicht, lyrisch und fast versonnen, im Kern aber etwas kraftlos und müde. Peter Schreier liefert mit der Ferrando-Arie „Un aura amorosa“ aus Mozarts Cosi fan tutte selbst den Beweis für seine unerschütterliche Beliebtheit. Wo Schreier auftauchte, ist Theo Adam nicht weit gewesen. Als leicht gestelzter Don Alfonso wirkt er in einem weiterem Ausschnitt aus dieser Oper mit, bei dem auch der vielseitige Günther Leib als Guglielmo, nochmals die Casapietra – diesmal als Fiordiligi – und die wegen ihres warmen, mütterlichen Alts äußerst beliebte Annelies Burmeister zum Einsatz kommen. In seinem eigentlichen Element ist Adam mit dem Fliedermonolog aus Wagners Meistersingern. Reiner Goldberg hat mit Siegmunds „Winterstürmen“ gegen ein sehr langsames Tempo anzukämpfen, so dass ihm für die Gestaltung nicht viel bleibt. Der Szene fehlt es an Schmiss und Rausch. Ekkehard Wlaschiha machte auf der Bühne stärkeren Eindruck als im Studio, wo er Pizarros Arie aus Fidelio für die Gala zu singen hatte. Die Stütze vieler Produktionen war seinerzeit die lyrische Sopranistin Magdalena Hajossyova aus Bratislava, die mit der ruhig vorgetragenen Kavatine der Agathe, „Und ob die Wolke sie verhülle“, zu hören ist. Für die gut bestückte Soubretten-Fraktion des Hauses tritt Carola Nossek mit der Arie der Anna „Wohl denn! Gefasst ist der Entschluss“ aus dem Lustigen Weibern von Windsor an und macht ihre Sache sehr gut. Das Finale bilden Ausschnitte aus dem Rosenkavalier mit Siegfried Vogel als spielfreudigem Ochs. Zum Schlussterzett finden sich die Casapietra als Marschallin, Margot Stejskal als Sophie und Ute Trekel-Burckhardt als Octavian, anfangs nicht ganz optimal aufeinander abgestimmt, zusammen.
Mit Gustav Mahler tat sich die DDR schwer, obwohl die Anfänge und einige über die Jahre verstreute Aufnahmen sehr verheißungsvoll gewesen sind. Hermann Scherchen hatte noch 1960 mit dem Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester die 3. Sinfonie und das Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie eingespielt, Leopold Ludwig die 4. Sinfonie mit Anny Schlemm in Dresden. Dort wurde auch das Lied von der Erde unter Heinz Bongartz mit Eva Fleischer und Ernst Gruber für den Rundfunk produziert. Ebenfalls aus Leipzig hat sich von 1976 die von Herbert Kegel betreute 8. Sinfonie als Live-Mitschnitt erhalten. Weitere Dokumente werden im Booklet zu der wiederaufgelegten 5. Sinfonie gestreift. Das Hohelied, das dort auf die Einspielung Suitners von 1984 gesungen wird, macht weniger deren Rang deutlich, als dass es sich zeigt, wie abgeschottet die DDR war. Um diese Zeit war weltweit alles aus Mahler herausgeholt worden, was möglich war. Es konnte zwischen den legendären Aufnahmen von Bruno Walter, Dimitri Mitropoulos, dem schon erwähnten Scherchen, Leonard Bernstein, Jascha Horenstein oder John Barbirolli gewählt werden. Platten, von denen sich nicht eine in die DDR verirrt hatte.
Im Fall des einen Titels der Serie von Berlin Classics – Die Kluge von Carl Orff (0300748BC) – erweist sich die Verpackungsorgie als gnädig. Denn das Originalcover schreit nicht unbedingt nach einer Ausgrabung. Es wirkte schon beim ersten Erscheinen ziemlich abweisend auf mich und hat durch die Verkleinerung nicht gewonnen. Der Künstler, der es schuf, wird nicht genannt. Die Mitwirkenden lassen sich auf dem Nachdruck nur mit der Lupe entziffern. Im Innern des Albums aber sind sie fein säuberlich aufgelistet. Magdalena Falewicz, die kluge Bauerstochter, war ein Star an der Ostberliner Staatsoper. Sie kam aus Polen in die DDR, sang Pamina, Zdenka, Micaela. Ein gut sitzender, hell leuchtender Sopran. Sie hat es allerdings etwas schwer gegen die anderen Mitwirkenden, die alle deutscher Zunge sind und sprachlich eine Deutlichkeit zelebrieren wie sie seinerzeit an den Sprechtheatern Standard war. Mit Arno Wyzniewski stellte sich einer der renommiertesten Schauspieler als Sprecher zur Verfügung. Insgesamt aber behauptet sich die Sängerin gut. Ein Akzent ist nur bei genauem Hinhören auszumachen. Karl-Heinz Stryczek, der König, ist mit seinem kernigen Bariton, der auch als Telramund stets großen Eindruck machte, glänzend besetzt. Selbst Reiner Süß, der auf der Bühne gern zu Albereien neigte, gibt dem Bauer fast schon tragische Züge. Er hatte im zeitgenössischen Repertoire, zu dem die 1943 uraufgeführte Oper – großzügig gerechnet – noch zu zählen ist, immer seine Stunde. So auch hier. Alle anderen Gesangspartien sind mit Eberhard Büchner, Harald Neukirch, Wolfgang Hellmich, Siegfried Lorenz und Horand Friedrich ebenfalls prominent besetzt. Am Pult des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Leipzig setzt Herbert Kegel so grelle wie lustvolle Akzente, die es für mich zur reinen Freude machen, Orff zuzuhören. Der Klang ist exzellent. Ihre mehr als fünfunddreißig Jahre sind der Aufnahme nicht anzumerken.
Mit einem genauso frischen Sound kann auch ein weiterer Titel von Berlin Classics in historischer Gewandung aufwarten: Der Odem der Liebe – Peter Schreier als Mozart-Tenor (0300754BC). Für elf Arien werden zweiundfünfzig Minuten gebraucht. Die 1967 produzierte LP wurde eins zu eins überspielt, wodurch das ursprüngliche Konzept erhalten bleibt. Gut so. Eine Auffüllung der CD-Kapazität mit anderen Einspielungen wäre auch dem einheitlichen Klangbild abträglich gewesen. Schreier wird von der Berliner Staatskapelle unter Otmar Suitner begleitet, der viele Mozartaufführungen mit und ohne Schreier geleitet hatte. Stand Die Entführung aus dem Serail auf dem Spielplan, waren nicht immer alle vier Arien des Belmonte zu hören wie auf der CD. Nicht selten wurde die so genannte Baumeister-Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“ mit ihren reichlich sechs Minuten weggelassen. Nach Jahren nun wieder gehört, klingen die Arien in meinen Ohren bei aller stilistischen Sicherheit etwas robust. Ein Eindruck, der sich bei den anderen Werken so nicht einstellt: Zauberflöte, Cosi fan tutte, Don Giovanni und La Clemenza di Tito. Schreier war 1978 in der von Ruth Berghaus besorgten ersten Nachkriegsinszenierung in italienischer Sprache der Tito. Noch heute kann ich mich an die starken Bilder und den Schluss mit der Begnadigung der Verschwörer erinnern. In beidem Fällen nimmt es Berlin Classic mit der Originaltreue etwas zu genau. Es werden nämlich auch die ursprünglichen Plattentexte – bei der Klugen nur als Auszug – übernommen, was etwas irritiert, wenn man nicht genau hinschaut. Rüdiger Winter