Entdeckungen in der Traumwelt

 

„… von sanftem Traum umflossen“: Die Wörter „Ich lag…“ vorangestellt, wird aus dem Zitat, mit dem der Tenor Malte Müller seine CD titelt, der Beginn eines Liedes aus dem so genannten vierten Strauß der umfänglichen Gedichtsammlung „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Sämtliche zweiundzwanzig Lieder der Neuerscheinung bei Spektral (SRL4-18167) sind auf Texte dieses Dichters, der zwischen 1788 und 1866 lebte, komponiert. Wäre er nicht so oft vertont worden, dürfte sich die Erinnerung an ihn in deutlich engeren Grenzen halten als es ohnehin der Fall ist. Zwar sind Straßen nach ihm benannt, Denkmäler an seinen Wirkungsstätten errichten worden. Das Geburtshaus in Schweinfurt und das Wohn- und Sterbehaus in Neuses, das inzwischen ein Stadtteil von Coburg ist, gehören dort zu den ersten Adressen. Auf seinem Grab liegen manchmal frische Blumen. Vom Volksmund aufgeschnappt ist das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“, das auf Rückert zurückgeht. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der eines der bekanntesten Konterfeis des Dichters mit den schulterlangen Haaren, der auch Italien bereiste und Teile des Korans ins Deutsche übersetzte, schuf.

Das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“ geht auf Rückert zurück. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der dieses charismatische Konterfei des Dichters mit den schulterlangen Haaren schuf.

Vor allem aber lebt Rückert als Textdichter fort. Für seine CD wählte der Sänger Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Loewe, Franz Liszt, Richard Strauss, Alban Berg, Modest Mussorgsky, Robert Radecke, Giacomo Meyerbeer, Wilhelm Kienzl, von dem das Titel gebende Lied stammt, sowie von Hannah Mathilde von Rothschild (1832-1924), die sich vornehmlich als Mäzenin betätigte und nur gelegentlich komponierte, aus. Es hätten noch viel mehr sein können. Denn auch Brahms, Cornelius, Marschner, Lachner, Silcher, Hiller, Sinding, Nietzsche, Hindemith und wie sie alle heißen, bedienten sich bei Rückert. Am nachhaltigsten dürfte dessen Wirkung auf Gustav Mahler gewesen sein. Der griff in seinen erschütternden „Kindertotenliedern“ auf Verse Rückerts zurück, mit denen dieser den Verlust seiner eigenen Kinder verarbeitete. Eine Sammlung von fünf Liedern Mahlers ist unter den Namen des Dichters zusammengefasst. Diese so genannten „Rückert-Lieder“ finden sich denn auch bei Malte Müller. Sie beschließen das Programm seiner CD. Eingeleitet wird es mit Berg, dessen Lied „Ich will die Fluren meiden“ den Sänger von der Realität in seine thematische Traumwelt, die viele Entdeckungen bereithält, führt. Im Booklet sind alle Texte abgedruckt. So ist stets ein schneller Abgleich der Vertonungen mit den literarischen Vorlagen möglich, die auch für sich allein Bestand haben – und umgekehrt. Eine der erfreulichen Nebenwirkungen der CD ist die Anregung, sich Rückert wieder mehr zuzuwenden.

Müller legt hörbar großen Wert darauf, die Texte sehr deutlich zu vermitteln. Er will immer genau verstanden werden. Bei den zu Extremen neigenden Strauss-Titeln („Ein Obdach gegen Schnee und Regen“, „Gestern war ich Atlas“, „Die sieben Siegel“, „Morgenrot“ und „Ich sehe wie in einem Spiegel“) ist das nicht immer einfach. Hier und da hätte sich ein flotteres Tempo angeboten. Das Lied „Aus der Jugendzeit“ von Radecke, das ein Volkslied geworden ist, gewinnt nicht durch seine Bodenlastigkeit. Besonders gut gelingt Müller die anrührende Ballade „Des fremden Kindes heil’ger Christ“ von Loewe, die in jüngster Zeit bei Sängern wieder Aufmerksamkeit findet, nachdem sie über Jahrzehnte nur in einer gekürzten Aufnahme von Karl Erb vorgelegen hatte. Rüdiger Winter