Auf den Wogen des Lebens …

 

Enoch Arden von Richard Strauss erfreut sich eines ungebrochenen Interesses. Zuletzt hatte die umtriebige Brigitte Fassbaender das Melodram in Stuttgart öffentlich dargeboten und war damit auch ins Radio gekommen. Ihr rüstiger Auftritt bescherte der Achtzigjährigen viel Beifall und Aufmerksamkeit. Nun bringt eine prominente CD-Neuerscheinung fast schon unbarmherzig in Erinnerung, welchen besonderen Umständen das Opus entsprang. Es ist eine Danksagung an den legendären Schauspieler Ernst von Possart (1841-1921), der als Intendant in München dem aufstrebenden Komponisten und Dirigenten unter die Arme gegriffen hatte. Beide bestritten gemeinsam auch die ersten Aufführungen. Davon hat sich keine Aufnahme erhalten, wohl aber gibt es einige Platten, auf denen Possart mit dem Pathos der Jahrhundertwende seine Zuhörerschaft in Bann schlägt, wenn nicht gar ins Mark trifft. Enoch Arden, ein Werk, das nach einem Schauspieler mit großer theatralischer Bandbreite verlangt. So einer ist Bruno Ganz. Wie Possart war auch er ein berühmter Hamlet und Franz Mohr. Myrios classics hat seine Einspielung jetzt auf den Markt gebracht (MYRO25). Begleitet wird er am Klavier von Kirill Gerstein. Produziert wurde im Herbst 2016. Am 16. Februar 2019 ist Bruno Ganz mit 77 Jahren gestorben.

Das Dokument kann getrost als Vermächtnis gelten. Es lebt von seiner Stimme, braucht die Bilder nicht. Ist die CD im Player erst einmal in Gang gesetzt, das wilde Vorspiel verstrichen, kommt man Bruno Ganz sehr nahe, hängt an seinen Lippen, die nicht zu sehen sind. Er breitet das dramatische Geschehen mit der ihm eigenen Melancholie aus. Als sei das Ende schon im Anfang gegenwärtig. Die Spannung lässt über mehr als sechsundfünfzig Minuten hinweg nie nach. Es ist als verwandele sich der Erzähler unmerklich in die titelgebende Figur. Mit seinen monologischen Passagen gibt das der Text her. Insofern erweist es sich als glückliche Wahl, das Melodram von einem Mann im fortgeschrittenen Alter darbieten zu lassen. Denn Enoch Arden stirbt verlassen und einsam – nicht den Jahren, sondern seinem Schicksal nach – als alter und gebrochener Mann. Auch wer die Geschichte gut kennt, hört sie von diesem Schauspieler wie zum ersten Mal. Gnädige Kürzungen straffen den Fortgang der Handlung. Hier und da findet sich Worte um der Deutlichkeit Willen ersetzt. Aus „Dorfgeklätsch“ – um so ein Beispiel zu nennen – wird „Dorfgeschwätz“. Dann wieder verweigert sich Ganz sprachlicher Modernisierung indem er an dem schönen alten Wort „Fürbasswandern“ festhält. An die Substanz des Melodrams gehen die diskreten Änderungen nicht. Am Zustandekommen der Aufnahme hat der Pianist Gerstein einen größeren Anteil als seine sensible musikalische Begleitung. Wie er im Booklet berichtet, musste er Bruno Ganz erst zu dem Projekt überreden.

 

Dietrich Fischer-Dieskau wäre nicht Dietrich Fischer-Dieskau, hätte er vom Melodram nur eine Aufnahme hinterlassen. Es gibt deren drei. Mindestens. Wer weiß, vielleicht finden sich mit der Zeit noch weitere Einspielungen. Tüchtig wie er war, kann man sich da nie sicher sein. Die erste entstand bereits Mitte der sechziger Jahre für die Deutsche Grammophon mit Jörg Demus am Klavier. Sie ist offenbar nie auf CD gelangt. Jedenfalls habe ich keine Übernahme gefunden. Unter dem Gelblabel wurde 2005 eine zweite Version gemeinsam mit anderen Melodramen herausgegeben. Diesmal begleitete Burkhard Kehring. Auf dem Cover spaziert Fischer-Dieskau durch einen goldenen Blätterwald. Ein stimmungsvolles Bild aus dem Spätherbst eines erfüllten Lebens. Er hatte die aktive Sängerlaufbahn längst beendet und ging auf die achtzig zu. Seine Sprechstimme war erstaunlich jung und frisch geblieben. Eine gewisse Brüchigkeit fällt unter der technischen Beherrschung des unverwechselbaren Organs nicht sonderlich ins Gewicht. Im Gegenteil. Sie kann als interpretatorische Nuance ausgelegt werden. Wer gut singen gelernt hat, der kann in der Regel gut sprechen. Bis ins hohe Alter. Mit Enoch Arden wankt schließlich eine am Schicksal gebrochene Gestalt heran. Es kann nicht schaden, wenn ihn der Vortragende mit einer gehörigen Portion eigener Lebenserfahrung ausstattet. Bei Fischer-Dieskau ist das herauszuhören.

 

Mit der bislang dritten Produktion, die 1993 beim WDR in Köln mit Gerhard Oppitz am Klavier entstand, hatte unlängst Hänssler Classic überrascht (HC16048). Alle drei verfügbaren Einspielungen unterscheiden sich allerdings nicht so gravierend voneinander, als dass sich beim Hören ein verdreifachter Gewinn einstellte. Fischer-Dieskau bleibt – wie könnte es auch anders sein – immer er selbst. Es gibt bei ihm erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Klang der Sprech- und der Singstimme. Egal, in welcher Form er sich äußert, er ist immer auf Anhieb zu identifizieren. Er neigte schon früh zum Rezitieren. Und war in den sechziger Jahren mit der damals außerordentlich beliebten Schauspielerin Ruth Leuwerik verheiratet. Der Hang zum Drama, zum Sprechen war immer da. So hatte er beispielsweise eine Aufnahme von Schuberts Schöner Müllerin mit gesprochenem Prolog und Epilog versehen. Fischer-Dieskau kam also im Alter lediglich aufs Rezitieren zurück, er musste es für sich nicht neu erfinden oder erst entdecken. Mit den großen Barden der Schauspielkunst konnte er es hingegen nicht aufnehmen. Enoch Arden dauert in der zuletzt veröffentlichten Aufnahme an die fünfzig Minuten. Obwohl zweigeteilt, stellt sich mit der Zeit eine gewisse Redundanz im Vortrag ein. Fischer-Dieskau wirkt auch eine Spur zu vornehm und drückt sich zu gewählt aus. Manchmal will das nicht zu der bewegten und in Teilen auch rauen Seemannsgeschichte passen.

Enoch Arden kann nach einem Missgeschick nicht mehr eigenständig als Fischer arbeiten. Er verlässt seine Familie, um für deren Unterhalt auf jenem Schiff als Hochbootsmanns anzuheuern, auf dem er in jungen Jahren schein einmal gedient hatte. Frau Annie und die Kinder lässt er in der Obhut seines Freundes Philipp zurück, der auf seine stille Art immer noch in Annie verliebt ist, die ihm aber einst den eigenwilligen Enoch vorgezogen hatte. Das Schiff gerät auf seiner Reise nach China in schwere Seenot. Gemeinsam mit zwei Kameraden kann sich Enoch auf eine Insel retten. Die Gefährden sterben, er bleibt für zehn Jahre auf dem Eiland gefangen, bis er zufällig gerettet wird. Gealtert und durch die Entbehrungen schwer gezeichnet, findet er in seinen Heimatort zurück, wo er längt für tot erklärt worden ist. Annie lebt nun mit Philipp zusammen. Der Heimkehrer gibt sich nicht zu erkennen. Er siecht gebrochenen Herzens einsam dahin und offenbart sein Schicksal erst auf dem Totenbett der Wirtsfrau Miriam, die sich seiner angenommen und ihn beherbergt hatte. „Ein Schiff! Ein Schiff! Ich bin gerettet!“ Das sind seine letzten Worte.

 

Das Melodram „Enoch Arden“ geht auf eine Ballade des englischen Dichters Alfred Tennyson (1809 – 1892) zurück. Foto: Wikipedia

Die Geschichte erzählt der englischen Dichter Alfred Tennyson (1809 – 1892) in einer Ballade. Er erzählt sie wortreich und ausschweifend, die Vorgeschichte inbegriffen. Tennyson entstammte bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war Priester und Lehrer. Ausgestattet mit den finanziellen Zuwendungen einer Tante, begann er ein Studium am renommierten Trinity College in Cambridge. Dort begegnete er auch dem zwei Jahre jüngeren Arthur Henry Hallam (1811 bis 1833). Sie wurden Mitglieder im legendären Apostel-Debattierclub, in dem sich unter Bezugnahme auf die Zahl der Jünger Jesu die jeweils zwölf besten Studenten bei Tee und Sardellen-Sandwiches trafen, um über Religion, Kunst und andere gesellschaftliche Themen zu diskutieren. Tennyson und Hallem arbeiteten an einem gemeinsamen Gedichtband, unternahmen Reisen und verbrachten die Ferien zusammen. Sie begaben sich sogar in geheimer Mission in die Pyrenäen, um in England gesammelte Spenden an Aufständische zu übergeben, die gegen den spanischen König Ferdinand VII. kämpften. Der hatte, nachdem er den Fängen Napoleons entkommen war, seine eigene Herrschaft mit äußerst brutalen Mittel befestigt und die anderen europäischen Königshäuser gegen sich aufgebracht.

Arthur Henry Hallam war ein emger Freund des Dichters Tennyson. Motive aus gemeinsamem Erleben flossen in die Ballade „Enoch Arden“ ein. Foto: Wikipedia 

Hallam verliebte sich in die Schwester des Freundes, was nicht ohne Spannungen geblieben sein dürfte. Es besteht kein Zweifel, dass diese Erfahrungen in der Ballade im Dreierverhältnis zwischen Enoch, Philipp und Annie ihren literarischen Niederschlag fanden. Erst zweiundzwanzig Jahre alt, starb  Hallam auf der Durchreise nach Prag  in einem einem Wiener Hotel an den Folgen eines Schlaganfalls. Den Tod des Freundes hat Tennyson, der zu einem der beliebtesten und gefeiertsten Dichter Englands aufstieg und als Peer in den Hochadel erhoben wurde, nie verwunden. 1850 veröffentlichte er „In Memorian A.H.H.“ eines seiner umfänglichsten Gedichte, an dem er siebzehn Jahre lang gearbeitet haben soll. Es ist der Erinnerung an Arthur Henry Hallam, dessen Namen er später auch dem eigenen Sohn gab, gewidmet. Enoch Arden erschienen im Jahr 1864 und erfreute sich auf Anhieb größten Zuspruchs. Auch weit über England hinaus. In Deutschland waren gleich mehrere Übersetzungen in Umlauf. Beim Druck wurde nicht gespart. Verlage überboten sich bei der prächtigen Ausstattung. Es gab Ausgaben mit Goldprägung und Illustrationen. Im Reclamverlag erschienen Auflagen für das kleine Geld. Daraus erklärt sich, dass die Ballade noch heute antiquarisch so häufig zu finden ist. Die wohl bekannteste deutsche und von Strauss verwendete Übersetzung stammt von Adolf Strodtmann, der auch selbst als Schriftsteller tätig war. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, Maler und Grafiker fühlten sich davon angezogen.

 

Der Komponist Ottmar Gerster erzielte 1936 mit der Oper „Enoch Arden“ einen seiner größten Erfolge. Szenen daraus sind als Schallplatte des DDR-Labels „Nova“ erschienen. Eine CD-Überspielung gibt es nicht.

Mit seiner Oper Enoch Arden oder Der Möwenschrei landete der Komponist Ottmar Gerster 1936 einen seiner größten Erfolge, der allerdings nicht bis in die Gegenwart anhielt. Die Oper mit teilweise geänderten Namen der Handelnden und vereinfachten Handlungsabläufen ist in einem traditionellen und einprägsamen Stil gehalten und entsprach damit den ästhetischen Vorstellungen im Nationalsozialismus. Gerster, der auf Hitlers so genannter Gottbegnadetenliste stand und damit vor Kriegseinsatz geschützt war, machte seine zweite Kariere in der DDR, wo er zeitweise Direktor der Musikhochschule Weimar gewesen ist. Von der Oper, die damit beginnt, dass Enoch Aarden erneut in See sticht, ist eine Rundfunkproduktion von 1965 überliefert, die in Teilen auf dem der neuen Musik vorbehaltenen DDR-Label Nova herausgekommen ist. Sie wird von Kurt Masur dirigiert. Die Titelrolle singt der im Februar 2020 verstorbene Heldenbariton Hajo Müller, der die meiste Zeit am Nationaltheater Weimar verbrachte. Als Anni, die bei Gerster Annemarie heißt, war die ebenfalls in Weimar engagierte Sopranistin Ingeborg Zobel besetzt, meine erste Marschallin und Fidelio-Leonore. Sie folgte dem Regisseur Harry Kupfer an die Semperoper Dresden und gastierte oft in Leipzig und an der Berliner Staatsoper. Eine Veröffentlichung des Opernquerschnitts auf CD wäre zumindest unter historischen Gesichtspunkten interessant und wünschenswert. Jüngst hat der Stoff als Ballett mit Musik von Gustav Mahler in Münster neue Aufmerksamkeit gefunden.

 

Jon Vickers beeindruckte in seiner Aufnahme bei VAI in englischer Sprache als Rezitator.

Nicht nur Dietrich Fischer-Dieskau hat sich das Werk erschlossen und damit viel für dessen Verbreitung getan. Mit seinem Namen bürgte er quasi für die Qualität dieses Melodrams. Die bereits erwähnte Brigitte Fassbaender nahm Enoch Arden 2013 im Rahmen der von ihr betreuten Gesamtaufnahme aller Lieder von Richard Strauss für das Label Two Pianists Records auf. Der Heldentenor Jon Vickers war über siebzig, als er für das Melodram in englischer Sprache ins Studio ging. Michael York ist einer der berühmtesten Interpreten unter den Schauspielern, die das Werk reizte. In der Produktion mit dem Pianisten Glenn Gould für CBS war Claude Rains, der Captain Renault aus dem Casablanca-Film, der Rezitator. Seine Anhänger sehen ihn als unerreicht. Dass sich auch Gert Westphal damit versuchte, muss gar nicht erst besonders herausgestellt werden. Rüdiger Winter