Schwan am Spiess

 

Am Ende der Einspielung seiner Carmina Burana im Oktober 1967 in Berlin bedankt sich Carl Orff in seiner unverwechselbaren Art bei den Mitwirkenden für die Zusammenarbeit. Er hatte die Aufnahme mit Chor und Orchester der Deutschen Oper sowie den Schöneberger Sängerknaben unter der Leitung von Eugen Jochum durch seine Anwesenheit und seinen Rat autorisiert. So ist es auch auf dem Cover ausdrücklich vermerkt. Diese besonderen Umstände machten es also möglich, ein Werk genau so für die Ewigkeit festzuhalten, wie es dem Komponisten vorgeschwebt hat. Orff erzählt unter viel Räuspern, wie erst das Medium Schallplatte zur Verbreitung des Stückes beitrug. 1952 sei ebenfalls gemeinsam mit Jochum die erste Aufnahme gemacht worden, die über den Rundfunk auch in die USA gelangte. Dort hätten zwar längst die Noten vorgelegen. Sie seien aber unbeachtet geblieben, Erst diese Platte habe eine Flut von Aufführungen und weiteren Einspielungen zur Folge gehabt. Die Carmina Burana, die bei der Uraufführung 1937 in Frankfurt am Main wegen ihres teils deftigen Inhalts gespaltene Aufmerksamkeit fand, entpuppte sich als eines der erfolgreichsten musikalischen Schöpfungen obwohl die Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert in mittellateinischer und mittelhochdeutscher Sprache überliefert sind – Sprachen, die nur Gelehrte verstehen. Orff sieht darin aber einen Vorteil. Man könne das Stück überall aufführen und brauche keine Übersetzung. Jeder und keine verstehe es. Obwohl dem Chor die größten Aufgaben zukommen, haben auch die drei Solisten gut zu tun. In gefürchtete schwindelerregende Höhen steigt Gundula Janowitz auf, wenn sie sich stimmlich dem unbekannten Süßesten ganz hingibt. Herzzerreißend brät Gerhard Stolze als Schwan am Spieß. Dietrich Fischer-Dieskau, der am häufigsten gefordert ist, agiert gespalten. Er muss in ein Wechselbad der Gefühle steigen, besingt die Liebe in höchsten Tönen, verspricht sich von einem Kuss, dass er ihn ins Leben zurück bringt und muss sich auch mit wildem Grimm und voll Bitterkeit an die Brust schlagen.

Die Produktion – einschließlich der Ansprache von Orff – eröffnet eine neue Edition der Deutschen Grammophon anlässlich der 125. Geburtstages des Komponisten, der am 10. Juli 1895 in München auf die Welt gekommen ist (00289 483 8639). Angeboten hätte sich auch die erwähnte erste Einspielung, die ebenfalls mit dem Gelblabel erschien und in der Elfride Trötschel, Hans Braun und Paul Kuen mitwirkten. Obwohl historisch bedeutsam, kann sie klanglich mit der späteren Einspielung nicht mithalten. Die Carmina schreit – wie alle Kompositionen des Visionärs Orffs – nach Stereo, damit die rasanten und kühnen Effekte wirkungsmächtig zum Klingen gebracht werden. Aber es geht auch nicht ganz ohne Mono in so einer Sammlung, mit der Rezeptionsgeschichte betrieben werden soll. Von 1949 haben sich einige Nummern aus der Carmina Burana mit Kammerchor und Symphonie-Orchester des RIAS unter der Leitung von Ferenc Fricsay erhalten. Als Solisten treten Anny Schlemm und ebenfalls Fischer-Dieskau in Erscheinung. Sie sind Teil der Bonus-CD, die auch die zwei Ohrwürmer aus der Oper Die Kluge „Ach hätt’ ich meiner Tochter nur geglaubt“ und „Als die Treue ward geboren“ – enthält, die bereits 1944 in Dresden mit Lorenz Fehenberger, Hans Löbel, Gottlob Frick und Kurt Böhme eingespielt wurden. Da die Grammophon keine eigenen Gesamteinspielung im Katalog hat, ist die populäre Oper wenigstens bruchstückhaft berücksichtigt. Das Lamento d‘Arianna nach Monteverdi und die freie Transkriptionen Entrata nach The Bells von William Byrd, der eine Zeitgenosse Shakespeares war, zeugen davon, wie stark sich der Komponist von alter Musik, mit der alles begann, inspirieren ließ. Das Lamento wird bewegend von Elisabeth Höngen vorgetragen, während für Entrata eine der seltenen Aufnahme des Stückes mit Hermann Scherchen und dem Orchester der Wiener Staatsoper gewählt wurde. Gleichfalls von Jochum betreut wurden die Kantaten Catulli Carmina und Trionfo di Afrodite, die Orff erst nachträglich mit der Carmina Burana zum Tryptichon Trionfi verband.

Wenn ich nichts übersehen habe, existierte die Szenenfolge aus Die Bernauerin mit Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks, die von Ferdinand Leitner dirigiert werden, bislang nur als Schallplatte. Nun liegt dieser Mono-Querschnitt von 1957 auch als CD vor. Orff, der auch den Text schrieb, war direkt an der Produktion beteiligt, was ihr Authentizität verleiht. Dargestellt werden die wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre im Leben von Agnes Bernauer (1410-1435). Sie stammte aus dem Volk und war die Geliebte und vermeintliche Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht III. Dessen Vater hintertrieb die nicht standesgemäße Verbindung, indem er Agnes in der Donau ertränken ließ. Ihrem Andenken sind noch immer Festspiele im Innenhof des Straubinger Herzogschlosses gewidmet, die alle vier Jahre von Laienschauspielern veranstaltet werden. Orff betrieb für seine Version, die 1947 in Stuttgart uraufgeführt wurde, intensive Studien, um – wie es bei Wikipedia heißt – „sein Stück in einer Sprache auf die Bühne zu bringen, die seiner Meinung nach im 15. Jahrhundert in Bayern gesprochen wurde. Dieser Umstand erschwert aber auch den Zugang zu dem Werk für Menschen außerhalb des süddeutschen Sprachraums“. Das Werk steht sich quasi selbst im Wege, weil es nur in seiner originalen Form erfahrbar – und nicht zu übersetzen ist. Man muss sich tief hineinhören, um es zu verstehen. Wem das gelingt, dem ist ein packendes hochdramatisches Erlebnis sicher. Überwiegend hat die Musik jedoch nur untermalenden Charakter. Die Chöre sind Sprechgesängen, die handelnden Personen werden bis auf zwei Ausnahmen von Schauspielern dargestellt. Ihren Rang bekommt diese Produktion auch durch die Mitwirkung von Käthe Gold (Agnes) und Fred Liewehr (Albrecht).

Als großes Theater geben sich auch Antigonae und Oedipus der Tyrann. Beide Stereo-Produktionen haben legendären Status im Katalog der Deutschen Grammophon. Zuerst war Antigonae mit Inge Borkh in der Titelrolle auf CD gelangt und mehrfach neu aufgelegt worden. Außerdem mit dabei: Claudia Hellmann (Ismene), Carlos Alexander (Kreon), Gerhard Stolze (Wächter), Fritz Uhl (Hämon), Ernst Haefliger (Tiresias), Kim Borg (Bote), Hetty Plümacher (Eurydike) und Kieth Engen (Chorführer). Wieder liegt die musikalische Leitung in den Händen von Ferdinand Leitner, der viel für Orff getan hat. Hingegen fristete Oedipus für lange Zeit in einer in Leinen gebundene Schallplattenkassette ein luxuriöses Dasein. In meinem Regal sticht sie allein durch ihr eigenwilliges Orange hervor. Dort wird sie zumindest ehrenhalber bleiben, weil die Aufnahme in der neue Edition schon deshalb kein vollwertiger Ersatz ist, da es überhaupt keine Libretti gibt. Nicht alles lässt sich im Netz so einfach beschaffen. Umso mehr ist man auf sein Gehör angewiesen und muss auch auf zwei klugen Essays von Erich Emigholz und Karl Schumann sowie wunderbare Fotos der Solisten verzichten, die da wären: Gerhard Stolze (Oedipus), Astrid Varnay (Jokaste), Karl Christian Kohn (Priester), Kieth Engen (Kreon), Hans Günter Nöcker (1. Chorführer), Rolf Boysen (2. Chorführer), James Harper (Tiresias) und Hubert Buchta (Bote aus Korinth). Musikalisch betreut wurde die Aufnahme in Anwesenheit des Komponisten von Rafael Kubelik. Für beide Einspielungen gilt, dass sich durchweg namhafte Sänger leidenschaftlich und hochprofessionell zur Verfügung stellten, um den sperrigen Werken zum Durchbruch zu verhelfen. Dies trifft auch auf die jüngste Aufnahme in dieser Edition zu: De temporum fine comoedia (Das Spiel vom Ende der Zeiten). Sie entstand im Juli 1973 parallel zur Uraufführung bei den Salzburger Festspielen. Es gab drei Vorstellungen und keine Reprisen in den Folgejahren. Kein Geringerer als Herbert von Karajan hatte sich als Dirigent zur Verfügung gestellt und mit ihm Colette Lorand, Jane Marsh, Kay Griffel, Gwendolyn Killebrew, Kari Lövaas, Anna Tomowa-Sintow, Heljä Angervo, Sylvia Anderson, Glenys Loulis als Sybillen, die das Ende der Zeit verkünden. Zudem wirkten Christa Ludwig, Peter Schreier, Josef Greindl, Hans Helm, Wolfgang Anheisser und der Schauspieler Rolf Boysen als Lucifer mit. Für die Tomowa-Sintow war es der erste Auftritt bei den Salzburger Festspielen, bei denen sie über mehr als zehn Jahre in vielen großen Partien gefeiert wurde. Beim Publikum kam das letzte große Werk von Orff gut an, die Kritik gab sich zurückhaltend.  Rüdiger Winter