Sanfte Töne in der alten Scheune

 

Es ist dringend geraten, erst einen tiefen Blick in das Booklet zu werfen, bevor die CD in den Player geschoben wird. Für eine Neuerscheinung hat das das englische Label Chandos nämlich etwas Besonderes ausgedacht, was sich – wie ich finde – auf Anhieb nicht von selbst erschließt, sondern der Erklärung bedarf. Ludwig van Beethovens An die ferne Geliebte und Franz Schuberts Schwanengesang wurden nämlich auf unterschiedliche Weise aufgenommen bzw. abgemischt (CHAN 20126). Wer sich also nicht vorher informiert, wird sich womöglich wundern. Es singt der Bariton Roderick Williams. Für das Booklet hat er einen bemerkenswert offenen und sehr aufschlussreichen Text beigesteuert, in dem er einräumt, dass sein Respekt vor diesen Komponisten so groß gewesen sei, dass er sich zunächst gefürchtet habe, deren Lieder zu interpretieren. Schließlich ist der Engländer Williams selbst als Komponist hervorgetreten. Er wolle gar nicht erst versuchen, den einen so wie den anderen zu singen. Beethoven sei noch der Klang der späten Klassik eigen“, während Schubert „bereits die Dunkelheit der frühen Romantik“ erkunde. „Daher entschieden wir uns, die beiden Werke in leicht unterschiedlichen Klangeigenschaften einzuspielen.“ So sei bei Beethoven – am auffälligsten bei dem den Zyklus abschließenden Lied „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ die Stimme mitunter „etwas weiter entfernt platziert, um dem Klavier gebührende Prominenz einzuräumen“. Es klinge fast, als sänge er, Williams, über die Schulter seines Pianisten Iain Burnside, mit dem er künstlerisch hervorragend harmoniert. Wenn man es also weiß, ist die Wirkung groß und überzeugend.

Dagegen wurde Schwanengesang „auf traditionelle Art und Weise aufgenommen“. Bei diesen „höchst außergewöhnlichen und fortschrittlichen Liedern wird die Gesangslinie in gleichwertiger Partnerschaft von Klavier unterstützt“, so Williams. Er bedient sich einer transponierten Fassung. Sie wurde von der Edition Peters für tiefe Stimme herausgegeben, ist aus dem Booklet zu erfahren. Produziert wurde die mit gut fünfundsechzig Minuten nicht überstrapazierte CD im April und Mai 2019 in der Potton Hall, einer umgebauten ehemaligen alten Scheune mit Holzboden und Gewölbedecke in der stimmungsvollen Landschaft von Suffolk, von der sich der Komponist Benjamin Britten inspirieren ließ. Die für die kleine Form offenkundig ideale Akustik fließt in die Aufnahme als sehr weicher, gar milder Klang ein. Als würden die Töne schweben. Es sind keine Härten und kein Widerhall zu vernehmen. Unter solchen Bedingungen kann sich Roderick Williams mit seinem ausgesprochen lyrischen Bariton besten verwirklichen. „Der Atlas“ und „Der Doppelgänger“, hochdramatisch wie sie sind, verführen ihn nicht dazu, die Stimme unnötig zu strapazieren. Es bleibt beim Schöngesang. Obwohl Mitte fünfzig, kommt er deutlich jünger herüber. Sänger und Pianist nehmen sich viel Zeit. Sie haben überhaupt keine Eile und hetzen sich nicht gegenseitig. Die Lieder können sich also in Text und Musik so entfalten, dass alles gut zu verstehen ist. Rüdiger Winter