Das Herz verlangt nach Ruh‘

 

Eigentlich sollte der Komponist Gustav Jenner im Sommer 2020 auf der Insel Sylt mit einem Festival geehrt werden. Er stammt aus Keitum, wo er am 3. Dezember 1865 als Sohn eines Arztes in behüteten Verhältnissen zur Welt kam. Gestorben ist er am 29. August 1920 in Marburg. Aufgrund der Corona-Krise mussten Veranstaltungen zum 100. Todestag abgesagt werden. Nach Auskunft des Initiators und künstlerischen Leiters des Festivals, Carl-Martin Buttgereit, soll es in ähnlicher Form nun in der Zeit vom 25. April bis 2. Mai 2021 stattfinden. Zugesagt hatte bereits Ulf Bästlein. Wer mit Jenner und seinem noch weitgehend unerschlossenen Werk nähere Bekanntschaft schließen will, geht auch ohne die Veranstaltungen auf Deutschlands beliebtester Ferieninsel nicht leer aus. Der Bariton hat nämlich bei Naxos eine CD mit Liedern vorgelegt (8.551422).

Durch ihre Textvorlagen von Theodor Storm und Klaus Groth, der neben Fritz Reuter als Begründer der neueren niederdeutschen Literatur gilt, ergibt sich ganz von selbst der Bezug zur Herkunft des Komponisten, die ihn stark prägte. Da wird „einsam“ gewandert (Groth), sich „verirrt“ (Storm) und das wunde „Herz verlangt nach milder Ruh‘“ (Groth). Groth ist in seinen hochdeutschen Versen oft viel konkreter und unmittelbarer als der meisterhafte Storm, der lyrisch viel stärker abstrahieren kann. Wie Bästlein im Booklet schreibt, trat Jenner 1884 mit einem Chorlied von Groth erstmals öffentlich als Komponist in Erscheinung und vertonte noch wenige Monate vor seinem Tod mit „Wir können auch die Trompete blasen“ Verse von Storm. Zweiundzwanzig Lieder seines Schaffens gehen auf Storm, siebzehn auf Groth zurück. Sie sind komplett auf der CD versammelt, „größtenteils als Weltersteinspielungen“, wie er nicht ohne Stolz herausstellt. „Jenners Werke haben nie etwas Monumentales, sie zeichnen sich vielmehr durch klangliche Transparenz aus“, so Bästlein weiter. Er sei kein Komponist der großen musikalischen Formen gewesen, habe nur das Fragment einer Sinfonie hinterlassen und sei nie über Opern-Pläne hinausgekommen. „Mehr als zwei Drittel seines Werkes bestehen aus Vokalkompositionen, der Schwerpunkt seines Schaffens blieb das Lied.“ Der Sänger kennt sich also aus. Seinem Text folgt noch eine ausführliche Betrachtung des Musikwissenschaftlers Johannes Behr. Er vertieft das Thema feinsinnig mit einer Fülle von Material über Leben und Werk Jenners, der übrigens der einzige Schüler von Johannes Brahms gewesen ist und sich dessen Stil verpflichtet fühlte.

Ulf Bästlein erkennt diesen Bezug auch in seinem Vortrag an, legt aber zugleich größten Wert darauf, Jenner nicht als Brahms-Epigonen erscheinen zu lassen, der er auch nicht gewesen ist. Er ahmte Brahms nicht nach, er ließ sich von ihm inspirieren. Der Sänger hat hörbare Freude an seinem Programm. Dadurch kann er überzeugender vermitteln und nachdrücklicher für diese Lieder werben. Sie haben es verdient, dem Vergessen entrissen zu werden. Mitunter klingt seine Stimme etwas herb, wodurch einige Titel noch authentischer wirken. Begleitet wird der Sänger von Charles Spencer, der einen Flügel aus dem Jahr 1928 spielt. „Seine lange nachschwingenden, singenden Töne“ würden Interpreten beim Versuch, „der atmosphärisch verdichteten Intimität der Lieder Gustav Janners, gerecht zu werden, immer wieder inspiriert“, ist im Booklet über das Instrument aus der vormals Leipziger Firma Julius Feurich zu lesen. Rüdiger Winter