Wagners vergessener Prophet

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Gewiss hätte sich Richard Wagner auch ohne Zutun von Angelo Neumann weltweit durchgesetzt. Der umtriebige Theaterdirektor hat entscheidend dafür gesorgt, dass es schneller ging. Er war vom Glauben an Wagner besessen. Und er wollte mit Wagner sein eigenes Geld verdienen. Das ist ein perfektes Rezept für den Erfolg. Zunächst aber gab er Leipzig seinen bedeutendsten Sohn zurück. Der war 1813 in der Stadt geboren worden, wo er viele Widersacher hatte. In der einschlägigen Wagner-Literatur aus früheren Jahren läuft einem Neumann oft über den Weg. Ein eigenständiges Werk über sein Leben und sein segenreiches Wirken gab es bisher offenbar nicht. Mit seinem Buch Josef „Angelo“ Neumann – Wagners vergessener Prophet hat Heinz Irrgeher diese Lücke geschlossen. Es ist im Leipziger Universitätsverlag erschienen (ISBN 973-3-96023-334-4). Am Anfang steht die Eloge! Mit der Witwe von Kurt Masur, Tomoko Masur, die auch Präsidentin des nach dem Dirigenten benannten Internationalen Instituts ist, dem Intendanten und Generalmusikdirektor der Oper Leipzig, Ulf Schirmer, und dem neuen Intendant der Mailänder Scala, Dominique Meyer, outen sich gleich drei namhafte Persönlichkeiten als Neumann-Verehrer, die seine Bedeutung hoch schätzen. Das klingt gut.

Neumann kam am 18. August 1838 mit dem Vornamen Josef in einem kleinen Ort in der Nähe von Preßburg, dem heutigen Bratislava, zur Welt. Um seinen achtzehnten Geburtstag herum siedelte die Familie nach Wien über, was ihn auf die Idee gebracht haben dürfte, die Stadt als seinen Geburtstort anzugeben. Das machte mehr her. Neumann, der sich zunächst als Opernsänger ausbilden ließ und in diesem Beruf auch einen erfolgreichen Start hinlegt hatte, war durch und durch Künstler. Insofern darf es nicht wundern, wenn er auch seinen Lebenslauf mit Elementen künstlerischer Freiheit versah. Gemeinsam mit dem Autor klappern die Leser sämtliche Stationen, auf den er Spuren hinterließ, ab. Um 1860 konvertierte er vom jüdischen zum römisch-katholischen Glauben. In das protestantische Leipzig, wo sein eigentlicher Aufstieg begann, zog er als Mitglied der evangelischen Kirche ein. Die Theaterdirektion war 1875, ein Jahr vor der ersten geschlossenen Aufführung des kompletten Ring des Nibelungen in Bayreuth, neu ausgeschrieben worden. Die Wahl fiel auf Augst Förster aus Wien, der Neumann als neuen Operndirektor mitbrachte. Dessen Wagner-Erweckung fand denn auch 1876 in Bayreuth statt. Irrgeher spricht von einem relevanten Erlebnis, das für Neumann „fortan lebensverändernd und –bestimmend sein würde und dessen Auswirkungen auf die Ring-Rezeption sowohl in ihrer unmittelbaren als auch mittelfristigen Wirkung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können“. Dabei hatte er zunächst auf seinen Chef Förster gehört, der den ersten Zyklus besucht hatte und zu dem Schluss gekommen war, Neumann können sie die Reise zur zweiten Aufführungsserie sparen, weil das „Ding“ vielleicht mit Ausnahme der Walküre unaufführbar sei. Neumann machte sich dann doch auf den Weg, weil ihn ein Wiener Freund begreiflich machte, „dass er als Operndirektor von Leipzig eigentlich verpflichtet sei, sich mit dem Werk vertraut zu machen“. Recht hatte der Mann. Neumann wurde auch bei Wagner selbst vorgelassen. Die Idee vom Ring in Leipzig, gegen die sich viel Widerstand auftuen würde, war geboren.

Bis dahin sind es viele Buchseiten, auf denen die Geschichte des Opern- und Theaterlebens in der Messestadt akribisch ausgebreitet wird. Spannend ist, wie Irrgeher, seine beruflichen Erfahrungen als Wirtschafts- und Bankenfachmann in das Buch einbringt indem er bei vielen sich bietenden Gelegenheiten konkrete Rechnungen aufmacht und Beträge für Bauten, Tantiemen oder Gagen von einst in die Gegenwart umrechnet. Es wird deutlich, dass der Theaterbetrieb auch seinerzeit nicht für null zu haben war. Diese oft ins Detail gehenden finanziellen Erhebungen sind eine Stärken dieser Neuerscheinung. Ende April 1878 gingen in Leipzig Rheingold, das zweitgeteilt mit Pause gegeben wurde und Walküre über die Bühne. Zitiert wird Wagners Telegramm: „Heil Leipzig, meiner Vaterstadt, die eine so kühne Theaterdirektion hat.“ Im September folgten Siegfried und Götterdämmerung. „Leipzig ist die erste Ring-Bühne nach Bayreuth“, heißt denn auch eine Zwischenüberschrift im Buch. Der Autor schildert minuziös die schwierigen Umstände der Produktionen, geht auf Sänger ein und reflektiert auch die zeitgenössische Kritik. Anhand vieler Beispiele wird aber auch deutlich, dass sich Neumanns segenreiches Wirken in Leipzig nicht auf Wagner beschränkt blieb. Letztlich war Wagner stets Teil eines Großen und Ganzen, zu dem auch Beethoven, Mozart, Verdi, Flotow, Bizet, Goetz oder Gluck, dem ein ganzer Zyklus gewidmet war, gehörten. Wagner bildete aber stet den Kern des Sendungsbewusstseins von Neumann.

Er brachte den Ring des Nibelungen nach London und nach Berlin, der nächsten Station seiner Theaterlaufbahn. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches fand sich im Victoria-Theater nicht weit entfernt vom Alexanderplatz, eine geeignete Spielstätte. Dieser 1859 eröffnete und bereits 1891 wieder abgerissene Bau bezog seine Einzigartigkeit daraus, dass er über einen geschlossenen und zugleich einen offenen Zuschauerraum verfügte, die sich die Bühne in der Mitte teilten. Der abgeschirmte Saal, verfügte neben dem Parkett über drei Ränge mit insgesamt 1400 Plätzen. Am 5. Mai 1881 hatte Rheingold Premiere. Der Auflauf war enorm: „Für die Auffahrt standen die Berliner Spalier. Selbst in den Bäumen fanden sich Adabeis“, wie es der aus Österreich stammende Autor unter Zuhilfenahme eines vornehmlich in seiner Heimat gebräuchlichen Ausdrucks für Leute, die wichtig tun und überall dabei sein wollen, ausdrückt. Der Polizeipräsident hatte das Geschehen mit seiner berittenen Truppe persönlich überwacht. Unter den Besuchern war Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere 90-Tage Kaiser Friedrich III. mit seiner Frau, der Tochter der englischen Königin Viktoria sowie Prinz Wilhelm, der auf seinen Vater folgende spätere letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. Mehr gesellschaftliche Prominenz ging nicht. Die Aufnahme sei „glänzend“ gewesen. „Wenn das Werk gewirkt hat, so geschah es ohne Pracht – so geschah es allein durch die Macht der Kunst“, sagte der anwesende Komponist nachdem er unter viel Beifall auf die Bühne gerufen worden war.

Nach dem Berliner Triumph schloss Neumann am 1. September 1881 einen Vertrag mit Wagner, „der ihm die ausschließlichen Aufführungsrechte für den Ring für Berlin, Leipzig (was so viel bedeutete, als dass sein Nachfolger den Ring nicht aufführen durfte), Dresden, Breslau, Prag, Belgien, Holland, Schweden, Norwegen und Dänemark einräumte“. Zuvor hatte sich Neumann bereits die alleinigen Aufführungsrechte für London, Paris, Petersburg und sämtliche amerikanische Staaten bis zum 31. Dezember 1883 gesichert. Daraus folgte schließlich die Umsetzung der Idee vom legendären Wagner-Wandertheater. Es wurde ein Sonderzug zusammengestellt, der mit zwölf Wagen doppelt so lang war wie ein üblicher Reisezug. Transportiert werden mussten weit mehr als hundert Personen, Dekorationen, Requisiten, Kostüme, Instrumente und Bühnentechnik. Allein die Rüstungen nahmen vierzig Kisten in Anspruch. Beispielsweise hatte eine Walküre zwanzig Kilogramm Waffen am Körper. Irrgeher listet sämtliche Spielstätten in Deutschland und in Europa auf. Er vermerkt auch, wo es den kompletten Ring gab, wo zusätzlich die Walküre und in welcher Stadt es ergänzend oder einzig Wagnerkonzerte gegeben hat. Wieder erweist sich dabei das Buch als ein für Wagnerfreunde als unverzichtbares Nachschlagewerk, das leider über kein Personenverzeichnis verfügt. Den Angaben zufolge wurden 350 000 Menschen durch das Wander-Theater erreicht. Anfragen aus Amerika seien zu Neumanns späterem Bedauern nicht aufgegriffen worden. Letzte Station im bewegten Leben des Angelo Neumann war Prag, wo er am 20. Dezember 1910 gestorben und auch begraben ist. Rüdiger Winter (Foto oben Wikipedia)