Die Suche nach „ihr“

 

„Aber was ist mir IHR?“ Diese Frage stellte sich Joyce DiDonato, nachdem sie Yannick Nézet-Séguin dazu überredet hatte, mit ihm gemeinsam Franz Schuberts Winterreise aufzuführen. Davon später. Nézet-Séguin ist nur im Nebenjob Pianist. Hauptberuflich bekleidet er gleichzeitig die Funktion als Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York, des Philadelphia Orchestra und des kanadischen Orchestre Métropolitain. Viel mehr geht nicht. Nézet-Séguin ist gebürtiger Kanadier und sechs Jahre jünger als seine 1969 geborene Kollegin. „Du musst dich aber wirklich angesprochen fühlen“, hatte er gedrängt. „Du musst dich stark dazu berufen fühlen, diese Welt zu betreten und einige Zeit darin zu leben“, wird er von der Mezzosopranistin weiter zitiert. Nachzulesen sind seine sehr berechtigten Mahnungen im Booklet des Mitschnitts eines Konzerts vom 15. Dezember 2019 in der New Yorker Carnegie Hall, der bei Erato erschienen ist (01995284145). Es sei ihr trotz großer Anstrengungen nicht gelungen, in die Welt des Protagonisten hineinzufinden. „Es war keine Frage des Geschlechts“, so die Sängerin. Schließlich sei sie daran gewöhnt, auf der Bühne Hosen zu tragen. Stattdessen habe sich ihr die Frage aufgedrängt, die am Beginn dieses Textes steht: „Aber was ist mir ihr?“

Auf der Suche nach „ihr“: Joyce DiDonato und ihr Begleiter am Klavier Yannick Nézet-Séguin/ Foto Chris Lee/Erato

Gemeint ist das Mädchen, welches gleich im ersten Lied der Winterreise von Liebe, die aber Mutter gar von Eh‘ und damit wohl auch für ehrbare gesellschaftliche Verhältnisse spricht. Seine Spur verliert sich im Voranschreiten des Liederzyklus. Dichter Wilhelm Müller lässt das Schicksal des Mädchens, dessen Profil immer mehr verschwimmt, offen. Und es darf die Frage erlaubt sein, ob es sich überhaupt um eine Gestalt mit literarischem Wirklichkeitsbezug handelt in dieser Geschichte aus „schauerlichen Liedern“, wie Schubert seine Winterreise selbst bezeichnet hatte? Oder dient das Mädchen mehr als Projektionsfläche, auf der der Wanderer sein inneres Elend, das Leiden an seiner Zeit abbilden kann? Müller, gerade mal sechsundzwanzig, war 1819 von einer langen Reise durch Italien, diesem Sehnsuchtsort deutscher Künstler, in die Heimat zurückgekehrt. Ohne Aussicht auf einen festen Broterwerb. Auf die Befreiungskriege waren die Karlsbader Beschlüsse gefolgt, mit denen die maßgeblichen Staaten des Deutschen Bundes liberale und nationale Bewegungen zu unterdrücken trachteten. Müller: „Das Vaterland hat mich mit Reif und Schnee und Nebel begrüßt …“ Das sei noch zu ertragen, „aber die Philisterei …“ Mit diesen Äußerungen ist seine Winterreise fest umrissen. Ihre Verse entstanden zwischen 1821 und 1822. „Aber was ist mir IHR?“ Schauen wir genauer hin. In zehn von vierundzwanzig Liedern kommt eine junge Frau vor. Im zweiten Lied spielt zunächst der Wind „mit der Wetterfahne auf meines schönen Liebchens Haus“. Im heutigen Sprachgebrauch hat Liebchen – wenn es denn überhaupt noch Verwendung findet – eine ins Negative gehende Konnotation. Zu Müllers Zeiten dürfte das anders gewesen sein. Die Brüder Grimm, Zeitgenossen von Müller, vermerkten in ihrem großen Wörterbuch einen zunehmend allgemeinen Gebrauch des Wortes. Goethes Faust nennt Margarethe Liebchen und in Bürgers berühmter Ballade Lenore fragt der als Toter heimkehrende Wilhelm die Braut: „Schläfst, Liebchen, oder wachst du?“ Und Luther nannte sich in einem Brief an seine Frau scherzhaft selbst Liebchen.

Das namenlose Mädchen in träumerischer biedermeierlicher Pose, gemalt von Ludwig Richter, der die Verse von Wilhelm Müller illustrierte. Foto: OBA

Im Lied Erstarrung sucht der Wanderer „nach ihrer Tritte Spur“, die von Eis und Schnee verweht sind. Die süßen Träume unter dem Lindenbau sind unbestimmter Zuordnung: „Ich schnitt in seine Rinde / So manches liebe Wort; / Es zog in Freud’ und Leide zu ihm mich immerfort.“ Wenn aber das Posthorn „von der Straße her klingt“, macht sich alsbald bittere Enttäuschung breit. Die Post bringt keinen Brief aus der Stadt, „wo ich ein liebes Liebchen hatt‘“. Und wieder fällt manche Trän‘ in den Schnee, die im Frühling zum Bache anschwellen, der an einer ganz bestimmten Stelle die Stadt erreicht: „Da ist meiner Liebsten Haus.“ Der Wanderer ist Auf dem Flusse angelangt. Der Fluss, symbolträchtig und bedeutungsschwer in Mystik und Literatur. Er führt Leben und Fruchtbarkeit mit sich, zugleich aber auch totbringende Gefahr. Menschen lassen sich in seine Tiefen fallen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. In der Winterreise ist der Fluss zugefroren, wie „mit harter, starrer Rinde … überdeckt“. Der Wanderer gräbt „mit einem spitzen Stein“ den Namen seiner Liebsten und Stund‘ und Tag hinein: Den Tag des ersten Grußes, / Den Tag, an dem ich ging, / Um Nam‘ und Zahlen windet / Sich ein zerbrochner Ring“. Der Rückblick fällt bitter aus für unseren Wanderer. Immer und immer wieder ruft er sich – einer Hoffnung gleich – die Bilder aus besseren Tagen herauf. „Wie anders hast du mich empfangen / Du Stadt der Unbeständigkeit. – Die runden Lindenbäume blühten, / Die klaren Rinnen rauschten hell, / Und ach, zwei Mädchenaugen glühten / Da war’s geschehen um dich, Gesell.“ An dieser Stelle verlässt er die Perspektive des Ich-Erzählers. Er, der Gesell, wird zur zweiten Person. Dadurch gewinnt er Abstand und Distanz. Die Folge ist, dass in den nächsten fünf Liedern – Der greise Kopf, Die Krähe, Letzte Hoffnung, Im Dorfe und Der stürmische Morgen – das Mädchen selbst keine Rolle spielt. Es kommt nicht vor. Plötzlich taucht „ein helles, warmes Haus“ auf – „Und eine liebe Seele drin“. Es sollte sich aber wieder als Täuschung erweisen. Erst sechs Lieder weiter – im Frühlingstraum – kehrt das Bild „von einer schönen Maid“ zurück. Jetzt träumt der Wanderer nur noch „von Lieb‘ um Liebe… / Von Herzen und von Küssen, / Von Wonn‘ und Seligkeit“, als habe er derlei nie selbst erfahren. Noch zwei Lieder trennen ihn vom Leiermann „drüben hinterm Dorfe“, den keiner hören und sehen will, den die Hunde anknurren. „Wunderlicher Alter, / Soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“

Joyce DiDonato dürfte von vornherein klar gewesen sein, dass es schwer würde, ihren ambitionierten Ansatz singend darzustellen. Und doch unternimmt sie den hörenswerten Versuch. In jenen Momenten, in denen dieses Mädchen direkt oder indirekt in Erscheinung tritt, passt sie Stimme und Ausdruck den jeweiligen Situationen an. Dies geschieht aber äußerst diskret und nie vordergründig. So zeigt sich das Bild dieses Mädchens mal in zarten Umrissen, mal als Gedanke, mal wie in einen unbestimmten Sehnsuchtsschimmer eingehüllt. Der Wanderer ist dann nicht mehr allein. Sein Schicksal teilt sich weniger erbarmungslos mit – auch wenn sich die Interpretin nicht davor scheut, dramatische Härten auch schon mal veristisch deutlich zu machen. Wer in den konzeptionellen Ansatz der Sängerin nicht eingeweiht ist, ihre schriftlich dargelegten Gedanken nicht zur Kenntnis nahm, dürfte der betont lyrisch-weibliche Ansatz mit der Hinwendung zu der namenlosen jungen Frau nicht entgehen. Nézet-Séguin lässt sich am Flügel auf das Konzept ein. Er hält sich mit auffälligen eigenen Ambitionen und Akzenten zurück, lässt stets der Sängerin den Vortritt. Er dürfte – ganz Künstler und Gentleman – akzeptiert haben, dass sich seine singende Kollegin dem Liederzyklus am Ende doch ganz anders angenähert hat als er es ihr zu Beginn der Zusammenarbeit geraten hatte. Insofern spielt er seine Rolle als professioneller klassischer Begleiter sehr gut.

Wilhelm Müller (1794-1827), der Dichter von Schuberts Liederzyklus. Der Stich stammt von Johann Friedrich Schröter. Foto: Wikipedia

Mit der Neuerscheinung stelle sich die alte Frage, ob es überhaupt Sinn macht, dass Frauen beim Liedgesang in die Männerrollen schlüpfen und umgekehrt. Joyce DiDonato hat eine ganz neue Möglichkeit aufgetan, indem sie den berühmtesten aller Liederzyklen nicht einfach nur so darbot, wie es ihre Stimme hergibt. Sie bot mehr, indem sie ein eigenes inhaltliches Konzept entwickelte, das Werk auf eine so überraschende wie naheliegende Weise befragt: „Aber was ist mir ihr?“ Schon frühzeitig haben sich Sängerinnen der Winterreise bemächtigt. Lotte Lehmann ist das älteste Beispiel, 1950 trat die Afroamerikanerin Inez Matthews mit ihrer in Europa wenig bekannt gewordenen Einspielung bei Period Records hinzu. Zu den prominentesten Interpretinnen der Neuzeit gehören Christa Ludwig (Deutsche Grammophon), Brigitte Fassbaender (EMI), Margret Price (Forlane) und – man möchte es nicht glauben – Barbara Hendricks (Arte Verum). Rosemarie Lang spielte ihre Aufnahme bei DS/WDR ein, Lois Marshall bei CBC Records Canada, Mitsuko Shirai bei Capriccio. In der akustischen Hinterlassenschaft von Kirsten Flagstad stößt man auf die Krähe, die Post und den Wegweiser. Die im Liedschaffen sehr bewanderte Elisabeth Schwarzkopf – auch das ist eine Information – hat aus gutem Grund auf Lieder aus der Winterreise gänzlich verzichtet.

Winterreise mit Frauenpower verbreiten jüngst in der Produktion von Et’Cetera gleich fünf Solistinnen auf einmal: Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammengeschlossen haben. Sie treten auch einzeln in Opern und mit Liedprogrammen auf. Ihr Pianist ist Maurice Lammerts van Bueren, der die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen hat. Er ist sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl, sich aufs Glatteis zu begeben. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Daran sind Zweifel angebracht. Wenn Schubert seine Winterreise mehrstimmig hätte haben wollen, hätte er sie so komponiert. Durch die Bearbeitung wird die Struktur ohne jeden Mehrwert zerstört. Der gut gemeinte Versuch, der live noch eher vorstellbar ist als im Studio, wird zur formalen Spielerei, zumal die Stimmen der Solistinnen in ihrer dissonanten Unterschiedlichkeit, die gewollt zu sein scheint, dem Zyklus keinen Halt geben. Die Winterreise ist durch die Vielzahl von Aufführungen womöglich überstrapaziert. Überfluss verführt zu Experimenten, die schnell ins Leere laufen. Wenn aber die Neuerscheinung zur Beschäftigung mit dem Original anregt, dann hat sie auch einen Zweck erfüllt.

Die französische Altistin und Dirigentin Nathalie Stutzmann ist die einzige Sängerin, die nicht davor zurückschreckte, gleich alle drei Zyklen von Schubert, nämlich WinterreiseDie schöne Müllerin und Schwanengesang einzuspielen. Die Aufnahmen, die zwischen 2003 und 2008 entstanden, sind gebündelt bei Erato herausgekommen, wunderbar und sehr präsent im Klang. Für die Begleitung ist Inger Södergren zuständig, der die Sängerin nach eigenem Bekunden sehr viel zu verdanken hat. Ohne die Begegnung mit ihr, hätte sie „vielleicht niemals die Liederzyklen von Schubert aufgezeichnet“, sagt sie in einem Interview, das im Booklet abgedruckt ist. Darin wird sie auch gefragt, „ob auch andere Altistinnen Schubert aufgezeichnet haben“. Antwort: „Ich habe danach gesucht, ohne Erfolg …. Kathleen Ferrier hätte es hervorragend machen können, doch vielleicht wagte sie es nicht; schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der es für Frauen nicht zum guten Ton gehörte, Lieder mit männlichen Erzählfiguren zu singen.“ Und weiter im Interview: „Die Dinge haben sich seither ein wenig geändert, auch wenn es immer noch einige hartnäckige Frauenfeinde gibt! Doch würde man sich um die kümmern, wäre das solistische Repertoire der Frauen überaus beschränkt.“ Nathalie Stutzmann gibt sich kämpferisch. Das ist ihr gutes Recht. Nur hat sie nicht so ganz Recht. Wer würde schon den Frauen ihr Repertoire streitig machen wollen? Die vielen mit Sängerinnen eingespielten und aufgeführten Winterreisen – bei weitem nicht alle sind weiter oben aufgeführt – sprechen dagegen. Und jetzt auch noch Joyce DiDonato. Rüdiger Winter