Kaiserjagd im Wienerwald

 

Manche Dichter sind durch Vertonungen stärker im Gedächtnis geblieben als durch ihre gedruckten Werke im Originalzustand. Johann Nepomuk Vogl gehört in diese Kategorie. Er stammte aus Wien, wo er 1802 geboren wurde und 1866 starb. Und da er auf dem Zentralfriedhof der Stadt begraben liegt, ist seine Unsterblichkeit ohnehin garantiert. Das Ehrengrab ist ein Platz für die Ewigkeit. Wien geht gerade an diesem Ort respektvoll mit seinen Toten um. Vogl trat als Lyriker und Balladendichter in Erscheinung, verfasste Dramen und Novellen. Zudem betätigte er sich als Herausgeber und Publizist. Zeitzeugen rühmen seine charismatische und modisch gewandete Erscheinung in der Öffentlichkeit. Er war Mitglied eines literarischen Zirkels, der sich regelmäßig im Silbernen Kaffeehaus in Wien traf, das nicht mehr existiert. Zu Lebzeiten wurde Vogl von Zeitgenossen oft vertont. Marschner, Kreutzer, Lachner, Raff und Proch – um nur die bekanntesten zu nennen – haben sich bei ihm bedient. Die vielleicht tiefsten Spuren hat der Balladendichter Vogl bei Carl Loewe hinterlassen, der dieses Genre als Komponist zu höchster Vollendung führte. Loewe habe sich nie über einen Mangel an geeigneten Texten beklagt, resümierte der Musikwissenschaftler Günter Hartung aus Halle bei einer wissenschaftlichen Konferenz zum 200. Geburtstag des Komponisten. „Das Unglück bestand nur darin – und jetzt kommt man auf den entscheidenden Punkt –, dass das ihm zubestimmte Genre, das anfangs seine Produktivität geweckt hatte, sich in einem stetigen und unaufhaltsamen Verfall befand.“ In der Evolution der großen Dichtung habe es seit 1815 eine immer geringere Rolle gespielt. Balladen alten Stils hätten – von wenigen Nachzüglern der klassischen Zeit abgesehen – bald nur noch Epigonen und Dilettanten geschrieben. Durch die professionelle Literaturkritik sei die Gattung nicht mehr gewürdigt worden, so Hartung.

In der Gesamtaufnahme der Lieder und Balladen Loewes von cpo, die 2007 erschien, gehen siebzehn von 344 Titeln auf Vogl zurück. Darunter sind sehr populäre Stücke wie Die verfallene Mühle, Heinrich der Vogler, Das Erkennen, Urgroßvaters Gesellschaft. Die Kaiserjagd im Wienerwald – auch Der Schützling genannt – führt im Gesamtwerk eher ein Schattendasein, was auch mit ihrem Inhalt zu tun hat. Auf einer neuen Balladen-CD von Carl Loewe bei AV Artworks Vienna Records (VR 20-001) legt der Bass-Bariton Stefan Unterleithner die dritte nachweisbare Einspielung vor. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Titeln, die es auf bis zu vierzig und mehr bringen. In der cpo-Edition wird sie von Roman Trekel gesungen. Lange vorher hatte sich 1970 Eberhard Wächter –  Österreicher wie Unterleithner – auf seiner Preiser-Platte der Ballade zugewandt. Mit gut zehn Minuten ist sie eine der längsten. Diese Ausmaße verlangen dem Interpreten viel Gestaltungsvermögen ab, um der Langeweile zu wehren. Bei Unterleithner sind dabei durchaus Reserven festzustellen. Er hat erkennbare Schwierigkeiten, das rasante Jagdgetümmel, mit dem die Ballade anhebt, einzufangen. Er läuft fast Gefahr, dass sich die Stimme überschlägt. Wohlmeinende Hörer könnten darin den Versuch ausmachen, die Stimmung der Szene durch Verzicht auf Kantilenen besonders plastisch auszumalen. Lyrische Passsagen – und das gilt für die ganze CD – gelingen wesentlich besser. Sie sind eine Stärke seines markanten Bassbaritons. Es ist Unterleithner zugute zu halten, das er um diese nahezu unbekannte Ballade keinen Bogen macht und deren Diskographie erweitert.

Vom charismatischen Wiener Dichter Johann Nepomuk Vogl stammen die Texte zu siebzehn Balladen von Carl Loewe. Foto: Wikipedia

Mit dem Wiener Kongress hat sie einen konkreten historischen Hintergrund. Als Gastgeber lud Kaiser Franz I. im September 1814 die gekrönten Häupter von Russland, Dänemark und Bayern zur Jagd ein. Wort und Musik schildern das weidmännische Treiben. Ein Reh bringt sich vor seinen Verfolgern in den Armen von Zar Alexander in Sicherheit. Der nun bittet beim gastgebenden Herrscher um Gnade für das Tier und bekommt sie mit der Versicherung, dass diesem Reh hinfort kein Haar gekrümmt werde, weil es ihn, den Kaiser, immerdar an das edle Herz des Zaren erinnern möge. Eine Huldigung also. Solcherart ist die Botschaft. Den Komponisten dürfte vornehmlich der dramatische Gehalt gereizt haben. „Horch, Hörnerklang, horch, Treiberruf, ha! wie das klingt und schallt! Der Österreicher Kaiser jagt nicht fern von Wien im Wald.“ Loewe, dem es als Organist und Kantor in Stettin qua Amt verboten war, Opern zu schreiben, nutzte gern jede andere Möglichkeit, szenische Situationen darzustellen. Der Pianist Yu Chen holt sie wirkungsvoll aus dem Flügel heraus. Subtiler hätten gewisse Momente in anderen Balladen ausfallen können. So ist der unheimliche Dialog zwischen Vater und Sohn im Erlkönig unter Wert verkauft, und der gestandene Schmied von Helgoland in Odins Meeresritt hätte angesichts des unter seinem Hammer unverhofft zu mächtiger Größe anwachsenden Hufeisens für das Luftross des mythischen Gottes etwas ängstlicher staunen können. Dafür findet der Sänger den Einstieg perfekt und bemüht sich, gut verstanden zu werden, was für Balladen unerlässlich ist. Insgesamt vierzehn Balladen wurden eingespielt, darunter Herr Oluf, Tom der Reimer, Graf Eberstein, Prinz Eugen, Süßes Begräbnis und die unverwüstliche Uhr. Verehrer des Komponisten Carl Loewe dürfte die neue CD sehr freuen.

„Herr Oluf reitet spät und weit / Zu bieten auf seine Hochzeitleut …“ Auf Hochzeitleut“ bieten? Ein Blick in das Deutsche Wörterbuch der Grimms offenbart den Sinn der schönen Wendung, die Johann Gottfried Herder in die Übersetzung der Ballade unbekannter Herkunft aus dem Dänischen ins Deutsche hineingelegt hat. Sie findet sich in dem Wort Aufgebot wieder, mit dem eine Hochzeit noch heute in den Standesämtern öffentlich bekanntgegeben wird. Herr Oluf will sich also vermählen, trifft aber – was nicht vorgesehen ist – bei seiner Ankündigungstour auf Erlkönigs Tochter, deren Zauber er gar zu schnell unterliegt. Er ist anfällig. Und am Hochzeitstage selbst, als bereits Met und Wein gereicht werden, fehlt er. Die Verwunderung währt nicht lange. Herr Oluf kehrt als Toter heim. Carl Loewe hat die Ballade Herr Oluf 1821 im Alter von fünfundzwanzig Jahren komponiert. Sie ist also ein Frühwerk und gehört neben Treuröschen und Walpurgisnacht zu den Drei Balladen op. 2. Darin offenbart sich sein außergewöhnliches dramatisches Talent. Namhafte Sänger in großer Zahl haben sich ihr gewidmet, darunter Josef Greindl, Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Quasthoff, Robert Holl, Kurt Moll, Thomas Hampson.

 

Unlängst ist Konstantin Krimmel hinzugekommen. Er hat das Stück ins Programm seiner Debüt-CD Saga aufgenommen, die bei Alpha Classics (Alpha 549) erschien. Von Loewe gibt es mit Tom der Reimer, Erlkönig und Odins Meeresritt noch drei weitere Zugnummern, die ohne künstlerisches Zutun allerdings nicht zum Selbstläufer werden. Vielmehr muss der Sänger gerade bei den populären Stücken darauf achten, etwas zu geben, was die Vorgänger so noch nicht angeboten haben. Bei Krimmel ist eine feine Dramaturgie zu hören. Er baut Spannung auf, indem er innerhalb einzelner Stücke sehr geschickt mit dem musikalischen Fluss arbeitet. Mal hält er inne, mal zieht er an. Am Beginn ist oft noch nicht klar, wie es endet. Als ob sich Handlungen erst während des Vortrages entwickeln. Auch wer die literarischen Vorlagen auswendig kennt, ist gespannt, wie es weitergeht. Auch Pausen oder neue Ansätze zwischen Versen und Gedanken werden genauso zum Ausdrucksmittel wie Interpunktionen. Dabei hat er in Doriana Tchakarova am Flügel eine versierte Partnerin, die seinen Intentionen folgt, zugleich aber auch eigene Akzente setzt. Der Sänger war zum Zeitpunkt der Aufnahme grade mal sechsundzwanzig Jahre alt. Ganz so jung klingt er nicht. Vielmehr wirkt die Stimme des Baritons mit rumänischen Wurzeln fest, kerngesund und belastbar. Er hat ein breites Ausdrucksspektrum zur Verfügung. Er weiß, was er singt. Krimmel erfasst die dichterische Struktur der Balladen genau. Er baut seine Interpretation vom Wort her auf. Singend erzählt er Geschichten. Dafür hat er mit der akribischen Deutlichkeit des Vortrags die denkbar besten Voraussetzungen. Bei ihm sind die Hochzeitleut aus der Ballade von Herrn Oluf wirklich Hochzeitleut und keine Hochzeit(s)leut. Authentischer habe ich Loewe in jüngster Zeit nicht gehört. Schon gar nicht aus so jungem Munde. Man könnte mitschreiben, was er singt. Der Abdruck der Texte im umfänglichen Booklet wirkt da fast schon wie Hohn.

 

Mit der Zeile „Meister Oluf, der Schmied von Helgoland, verlässt den Ambos um Mitternacht“ beginnt Loewes Ballade Odins Meeresritt. Der Bassbariton David Jerusalem hatte sie an den Beginn seiner CD In Erlkönigs Reich gesetzt, die bei hänssler Classic herausgekommen ist (HC 17012). Besser konnte der Einstieg nicht gewählt sein. Raumgreifend zieht der Sänger seine Hörer in den Bann. Sie geraten ohne Umschweife in diese wundersame Welt, wo der feurige Rappe durch die Lüfte schießt, die alten Weiden so grau scheinen, ein Zwerg seine Königin im tiefen Wasser versenkt und Elfen auf grünem Strand tanzen. Balladen erzählen Geschichten, unheimliche und spannende Geschichten, sie stecken voller Symbole, Topoi und historischer Anspielungen. Als Relikte des Bildungsbürgertums sind sie aus der Mode gekommen. Umso erfreulicher ist es, dass sich wieder ein junger Sänger, Jahrgang 1985, in aller Öffentlichkeit auf diese anstrengende Bildungsreise begibt. Und wieder Lust auf Balladen macht. Jerusalem huscht nicht über die wortreichen Strecken hinweg. Er lotet und kostet sie aus. In seinem Vortrag bleibt nichts offen. Dafür braucht es die Gabe verständlichen Singens, für die ein Sänger in der Übung bleiben muss. Daran hat der Pianist Eric Schneider hörbaren Anteil, weil er sehr sangesfreudige Tempi anschlägt und inhaltsbezogene Akzente setzt. Der umfassend gebildete Schneider ist ein Enkel des Schriftstellers Albrecht Schaeffer und hat zweitweise selbst Schauspielunterricht genommen. Er und Jerusalem sind ein perfektes Team für die gemeinsame CD mit Balladen von Carl Loewe und Franz Schubert.

Mit dem Erlkönig gibt es sogar einen unmittelbaren Berührungspunkt zwischen den Komponisten. Beide Versionen sind vergleichend im Angebot. Und das ist gut so. Loewe muss sich nicht hinter Schubert verstecken. Für Schubert aber muss nicht gestritten werden. Für Loewe schon. Sein Platz in der Musikgeschichte ist ihm immer noch nicht ganz sicher. Er ist aber wieder stark im Kommen. In die große cpo-Edition mit allen Liedern und Balladen hatten sich seinerzeit viele jüngere Sänger eingebracht. Und die Internationale Carl Loewe Gesellschaft mit Sitz in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten, arbeitet wirkungsmächtig an der Verbreitung seines Schaffens und Ruhms. Kein Zweifel, die neue CD wird auch in diesem Kreis aus Fachleuten und engagierten Musikfreunden viel Aufmerksamkeit finden. Zumal sich Jerusalem nicht scheute, neben Meisterstücken wie Tom der Reimer und Herr Oluf auch die gern verspottete Uhr ins Programm genommen zu haben, die in seiner frischen Interpretation ihre Betulichkeit verliert. Jerusalem hat sich ein eigenes Timbre mit Wiederkennungswert erarbeitet. Seine Stimme wirkt sehr belastbar. Flexibel kann er zwischen dramatischen und lyrischen Passagen wechseln. Mittellage und Tiefe sind stabil und fest. Der Aufstieg zur Höhe könnte noch eleganter und freier klingen. Wer in Loewes Archibald Douglas nach einem Text von Theodor Fontane über mehr als zwölf Minuten die Spannung hält, hat die Feuerprobe als Balladensänger bestanden. Es wäre erfreulich, würde dieses Genre in seiner Karriereplanung einen festen Platz behalten.

 

Liedern und Balladen, die im Wesentlichen von Stéphane Degout bestritten werden, sind bei harmonia mundi (HMM 902367) im Angebot. Begleiter am Klavier ist Simon Lepper. Diese CD – und das macht ihren besonderen Reiz aus – enthält zwei Versionen von Edward, einem abgründiger Dialog zwischen Sohn und Mutter um Vatermord. Die aus Schottland stammende Textvorlage wurde ebenfalls von Herder ins Deutsche übersetzt. Von dem Stoff hatten sich sowohl Johannes Brahms als auch Loewe anstecken lassen. Brahms lässt sie mit verteilten Rollen singen. Den Part der Mutter übernahm die inzwischen siebenundsiebzigjährige Felicity Palmer. Das macht die Interpretation eindeutig. Die Palmer stattet ihren Part mit den Resten ihrer einst schönen Stimme opernhaft aus und macht sehr deutlich, wer in der Geschichte die treibende Kraft ist. Degout ist dadurch die Möglichkeit gegeben, den Sohn als fremdbestimmte tickende Zeitbombe darzustellen, verdruckst wie eine Shakespeare-Gestalt. Bei Loewe agiert der Solist allein und ist dadurch vor große gestalterische Herausforderungen gestellt, weil die Dichtung als innerer Monolog erscheint. Es ist, als ob der Sohn die Stimme der Mutter wie im Wahn in sich hört und sich dazu angestiftet fühlt, das Schwert gegen den Vater zu erheben. So klingt es denn auch. Degout gelingt eine packende und gnadenlose Wiedergabe, die in der umfangreichen Loewe-Diskographie ihresgleichen sucht.

 

„… von sanftem Traum umflossen“: So hat der Tenor Malte Müller seine CD bei Spektral (SRL4-18167) betitelt. Dabei handelt es sich um den Beginn eines Liedes aus dem so genannten vierten Strauß der umfänglichen Gedichtsammlung „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Sämtliche zweiundzwanzig Lieder der Einspielung folgen Texten dieses Dichters, der zwischen 1788 und 1866 lebte. Wäre er nicht so oft vertont worden, dürfte sich die Erinnerung an ihn in noch engeren Grenzen halten als es ohnehin der Fall ist. Zwar sind Straßen nach ihm benannt, Denkmäler an seinen Wirkungsstätten errichten worden. Das Geburtshaus in Schweinfurt und das Wohn- und Sterbehaus in Neuses, das inzwischen ein Stadtteil von Coburg ist, gehören dort zu den ersten Adressen. Auf seinem Grab liegen manchmal frische Blumen. Vom Volksmund aufgeschnappt ist das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“, das auf Rückert zurückgeht. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der eines der bekanntesten Konterfeis des Dichters mit den schulterlangen Haaren, der auch Italien bereiste und Teile des Korans ins Deutsche übersetzte, schuf. Rückert ist einer von Loewes bevorzugten Dichtern. Malte Müller hat sich für die anrührende Ballade Des fremden Kindes heil’ger Christ entschieden, die in jüngster Zeit bei Sängern wieder Aufmerksamkeit findet, nachdem sie über Jahrzehnte nur in einer gekürzten Aufnahme von Karl Erb vorgelegen hatte. Rüdiger Winter