Archiv des Autors: Rüdiger Winter

„Einst spielt‘ ich mit Zepter und Krone“

 

Dietrich Fischer-Dieskaufrühe Aufnahmen. Die Anthologie im Umfang von sieben CDs ist bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen (PH20074). Sieben! Zufall oder Ansicht? Im hiesigen Kulturkreis wird der Zahl eine durch und durch positive Bedeutung beigemessen. Geist, Seele und Körper sollen verhältnismäßig in ihr aufgehen. Verhaltensforscher haben herausgefunden, dass die Sieben von den meisten Menschen als Lieblingszahl genannt wird. Das alles passt auch für Musik. Es hätten noch viel mehr CDs sein können. Die Menge von Titeln des Sängers aus seinen Anfangsjahren gibt es her. Auf ihn bezogen bedeuten „frühe Aufnahmen“ einen relativen Wert. Es gibt da nämlich auch noch die ganz frühen. Er wurde zeitig entdeckt. Erste Rundfunkaufnahmen entstanden mit Anfang zwanzig in den später 1940er Jahren, darunter erstmals Schuberts Winterreise. Die Nachkriegsjahre waren die ideale Folie, vor der ein junger, überdurchschnittlich begabter und völlig unbelasteter Berliner Sänger wie er zu einer Karriere durchstarten konnte, die ihm alle Türen öffnen sollte. Zumal in jenem Teil der Stadt, in dem die westlichen Alliierten das Sagen hatten und den Menschen ihre Freiheiten ließen. Bald wurden Plattenproduzenten auf ihn aufmerksam. Wie bei kaum einem anderen Sänger lagen in seinem Leben Studio, Opernhaus und Konzertpodium so nahe beieinander. Seine gesamte Laufbahn vom kühnen Aufstieg bis zum selbstgewählten Abschluss im Jahre 1992 bildet sich auf Tonträgern ab. So zurückhaltend er auch als Mensch gewesen sein mag, seinen Werdegang und sein Wirken verlegte er in alle Öffentlichkeit.

Die Edition setzt bei 1951 ein. Drei Schubert-Lieder Das Fischermädchen und Ständchen aus dem Schwanengesang sowie Du bist die Ruh‘ bilden den Auftakt. Begleitet wird Fischer-Dieskau von dem damals schon renommierten Gerald Moore. Zwischen beiden sollte sich ein so enge, von gegenseitiger Wertschätzung getragenen Zusammenarbeit entwickeln, dass sich der englische Pianist Anfang der 1970er Jahre, trotz schwerer Krankheit noch auf eine umfängliche Einspielung aller für eine Männerstimme geeigneten Lieder von Schubert mit Fischer-Dieskau für die EMI einließ. Insgesamt hat er mehr als vierhundert Schallplatten besungen – als Solist und im Ensemble. Damit dürfte er einen internationalen Rekord halten. Es gibt zwei Diskographien, die gedruckt vorliegen. Das erste Verzeichnis eines Autorenkollektivs kam 1984 bei Max Hieber, Schallplattenabteilung und Musikverlag in München heraus. Es erfasst die bis dahin veröffentlichten Plattentitel. Eine vollständige Diskographie nach Komponisten, die auch Archivbestände von Rundfunkanstalten und Tonträger in Privatbesitz einbezieht, legte Monika Wolf 2000 in erster Auflage im Verlag von Hans Schneider, Tutzing vor. 539 Buchseiten Dietrich Fischer-Dieskau. Im Zusammenspiel mit der Hänssler-Neuerscheinung kann das Studium beider Diskographien zum Vergnügen der besonderen Art werden. Es wird aber auch offenkundig, dass die Übermacht, mit der ein einziger, wenn auch begnadeter Sänger, den Markt über Jahrzehnte beherrschte, Chancen für Mitbewerber dezimierte.

Die Edition ist nach Genres geordnet: Lied, Oper, geistliche Musik. Eine vierte Abteilung widmet sich dem Konzertsänger. In dieser Rubrik erscheinen auch die Lieder eines fahrenden Gesellen von Mahler mit dem Philharmonia Orchestra unter Wilhelm Furtwängler von 1952 (EMI), die als seine erste offizielle Platteneinspielung gilt. Wieder hatte sich mit Furtwängler ein bedeutender Begleiter gefunden, der das Talent des Sängers erkannte. Wollte man sich nach einem ähnlichen gelagerten Beispiel auf die Suche machen, man würde schwerlich fündig werden. Für mich gehören die Einspielungen der Lieder von Schubert und Mahler am Beginn der Kariere zu den beglückendsten Leistungen von Fischer-Dieskau. So frei und so natürlich sang er später nie wieder. Da stand kein Anfänger vor dem Mikrophon, obwohl er im Grund genommen ja einer war. Verglichen mit Kollegen, die auch früh anfingen, schien er die harte Gesellenzeit nicht nötig gehabt zu haben. Er klingt schon am Start so gut wie fertig. Das elegante Timbre, mit dem er hundertprozentig zu identifizieren würde sein, musste er sich nicht erwerben. Er hatte es. In den folgenden Jahrzehnten feilte er unablässig an seinen Interpretationen und warf sich unerschrocken auf zeitgenössische Musik. Die Unschuld der Jugend verflüchtigte sich. Spätere Aufnahmen wirken auf mich mitunter im dem Maße überinterpretiert wie sich der natürliche Fluss seines reichen Bariton verengte. Vorboten sind schon in Teilen aus der neuen Sammlung herauszuhören, die bis zum Ende der 1960er Jahre reicht.

Obwohl er sehr vielseitig aufgestellt und von einer nicht enden wollenden Neugierde besessen war wie kaum ein anderer, gelang nicht alles perfekt. So ein Beispiel ist für mich die Bauern-Kantate von Johann Sebastian Bach von 1960, die allerdings nicht vollständig geboten wird. Fischer-Dieskau hat sie zweimal eingespielt, im Rias-Archiv lagert noch eine dritte. Die Herausgeber stimmten bereits im Booklet auf solche Kürzungen aus Platzgründen ein. Bei den Opern und Kantate habe sich die Auswahl „überwiegend auf die Beiträge des Baritons beschränken“ müssen. Doch ausgerechnet diese Kantate büßt in der Reduktion auf die letzten fünf von insgesamt vierundzwanzig Nummern nicht nur ihren Sinn sondern auch ihren opernhaften Charme ein. Mit der Arie „Dein Wachstum sei feste“, die den Kern der Auszüge bildet, tut er sich schwer. Das singende Lachen – eine der größten Herausforderungen für einen Solisten – will ihm nicht so leicht über die Lippen gehen, um als das erkennbar zu werden, was es sein soll. Die etwas sieben Jahre später ebenfalls bei der Electrola entstandene Trauermusik eines kunsterfahrenen Kanarienvogels ist zum Glück nicht gerupft worden. Erst in der Vollständigkeit offenbart sich die anrührende Mischung aus Skurrilität und echter Trauer. Vor Kürzung bewahrt wurde zudem die dramatische Kantate für zwei Stimmen Apollo e Dafne in italienischer Sprache, die 1966 bei Deutsche Grammophon produziert wurde und damit fast schon in die mittlere Phase des Sängers fällt. Günther Weissenborn dirigiert Mitglieder der Berliner Philharmoniker. Den Sopranpart singt Agnes Giebel, die man mehrfach an der Seite von Fischer-Dieskau findet. Bei diesem Werk handelt es sich um eine CD-Premiere.

Wenig überraschend gibt sich das in Mono und Stereo unterteilte Opernangebot. Die Titel dürften Sammlern bekannt sein, zumal sie auch durch die Mitwirkung anderer Solisten geschätzt werden wie die Die Frau ohne Schatten und Arabella (beider DG) mit Inge Borkh und Lisa Della Casa. Jeweils gut drei Minuten sind kaum der Erwähnung wert. Wie hier stellt sich auch bei der kurzen Sequenz „Sonniges Land. Mildes Drängen schon nahen Sommers“ aus Hindemith Mathis der Maler (DG) die Frage, ob solche Streiflichter geeignet sind, ein Rollenporträt auch nur ahnen zu lassen? Wer, bitte soll sich das anhören? Dann doch lieber mehr einzeln produzierte Arien, die für sich stehen und auch so wirken. Mit „Einst spielt‘ ich mit Zepter und Krone“ aus Zar und Zimmermann und der Arie des Grafen „Wie freundlich strahlt die holde Morgensonne / Heiterkeit und Fröhlichkeit“ aus dem ebenfalls von Lortzing komponierten Wildschütz (beide EMI 1955) gibt es zumindest zwei davon. Fischer-Dieskau hat ja um dieses Repertoire immer einen Bogen gemacht, was schade ist. Aber er hat es immerhin berührt. Die Edition bringt das in freundliche Erinnerung. Rüdiger Winter

Jugend unter sich

 

Erwachen: Diesen Titel haben der Tenor Robert Pohlers und sein Begleiter Friedrich Praetorius ihrer CD mit Liedern von Felix Mendelssohn Bartholdy gegeben. Sie ist bei Genuin erschienen (GEN 21746). Die genaue Anzahl der Lieder im Schaffen des Komponisten ist offenbar auch mehr als einhundertsiebzig Jahren nach seinem Tod ungewiss. Derzeit sind etwas einhundertdreißig Titel erfasst, lässt Holger Schneider, der Autor des Booklet-Textes wissen. „Dies hängt in erster Linie mit den Umständen ihrer Entstehung zusammen.“ Viele der Lieder seien für Jubelfeste, als kleine Geschenke, als handschriftliche Kopie in Albumblättern oder Stammbüchern entstanden. Mendelssohn habe „heillosen Respect vor dem Druck gehabt“. Er wird weiter mit den Worten zitiert, so lange an seinen Kompositionen korrigieren zu müssen, „bis ich’s nicht mehr besser zu machen weiß“. Etliche Gesänge seien überdies „keineswegs für professionelle Sänger gedacht“ gewesen, so Schneider. Vielmehr habe Mendelssohn kompositorisch Rücksicht „auf die sängerischen Fähigkeiten manch eines ambitionierten Talents“ genommen.

Das gilt natürlich nicht für den 1994 in Leipzig geborenen Pohlers, der auf dem Cover der CD rechts zu sehen ist. Der hat eine musikalische Ausbildung hinter sich wie sie gründlicher nicht sein kann. Mit zehn Jahren wurde er in den Thomanerchor aufgenommen, blieb bis 2013 und trat in diesen Jahren auch schon solistisch hervor. Es schloss sich ein Gesangsstudium an der Leipziger Musikhochschule an, die den Namen Felix Mendelssohn Bartholdy trägt. Der Komponist hatte seine letzten Jahre in dieser Stadt verbracht und deren musikalisches Leben entscheidend geprägt. Er starb 1847 mit nur achtunddreißig Jahren wenige Monate nach seiner geliebten Schwester Fanny. Begraben wurde er bei den Seinen in Berlin. Gleich Pohlers begann auch der zwei Jahre jüngerer Pianist Praetorius, der aus der Lutherstadt Wittenberg stammt, seine Ausbildung bei den Thomanern. Als 1. Präfekt des Chores nahm er Dirigierunterricht beim damaligen Thomaskantor Georg Christoph Biller. Dieses Fach belegte er anschließend auch an der Musikhochschule „Franz Liszt“ in Weimar. Um den musikalischen Nachwuchs muss man sich also keine Sorgen machen. Bei aller persönlichen Begabung stehen Pohlers und Praetorius auch für das erfolgreiche Wirken deutscher Ausbildungsstätten.

Für ihre erste gemeinsame CD haben sie sich ein Programm ausgedacht, mit dem sie durch die Natur wandern – beginnend im Frühling, endend im Winter, welcher „trotz oder gerade wegen seiner Kälte oft auch an Heimat und Vertrautes erinnert“, schreiben sie in einem gemeinsamen Vorwort für das Booklet. Es wird beim Vortrag nicht mit Gefühlen gespart. Pohlers verfügt über einen sehr leichten und hohen Tenor, der genau richtig ist für Mendelssohns lyrische Erfindungen. Es ist, als ob er die Stimme schweben lässt. Sein Vortrag ist so beweglich, dass er sich stets den jeweiligen inhaltlichen Situationen, die nicht selten ein Wechselbad der Emotionen sind, anpassen kann. Dabei folgt ihm sein Pianist bis in jeden Winkel, setzt aber auch die eigenen Akzente so, dass sich der Sänger dem Klavier anpassen muss. Das macht die Interpretation so frisch. Schließlich war der Komponist bei der Arbeit an einigen Liedern des Programms so alt wie seine Interpreten jetzt. Jugend unter sich mit ihren Empfindungen, Träumen und Nöten. Für die Interpretation liegt darin ein so interessanter wie sympathischer Ansatz.

Mit gut einer Dreiviertelstunde hält sich der zeitliche Rahmen auf der CD in Grenzen. Das Thema ist erschöpfend behandelt und wird – so gern ich noch weiter zugehört hätte – nicht überstrapaziert. Gesungen werden siebzehn Lieder, darunter Das erste Veilchen, Morgengruß, Im Herbst, Abendlied und Nachtlied. Gut, dass auch die Texte abgedruckt sind. Für das Verständnis wäre das nicht nötig gewesen. Pohlers hat offenkundig schon in der Thomasschule sehr gut gelernt, immer verständlich zu singen. Für jedwedes Liedgut ist das eine unverzichtbare Voraussetzung. Er hat das Zeug, sich als Liedsänger einen Namen zu machen. Durch die von Mendelssohn gewählten literarischen Vorlagen treten auch vergessene Dichter aus ihren Schatten hervor. So einer ist der in Leipzig wirkende Adolf Böttger (1815-1870), der auch im Booklet als der „vergessene Poet der Romantik“ genannt wird. Er hinterließ ein umfängliches Werk. Ein Gedicht von ihm soll Robert Schumann zu seiner Frühlingssinfonie inspiriert haben. Mendelssohn vertonte sein Gedicht Im Frühling, das Pohlers betont versonnen darbietet. Wer heute das Internet nach Böttger durchsucht, wird zuerst auf seine Übersetzungen von Lord Byron ins Deutsche aufmerksam. Rüdiger Winter

Resteverwertung

 

In der langen Liste der Aufnahmen von Gustav Mahlers Rücker-Liedern sind Soprane nicht die Regel sondern die Ausnahme. Anja Harteros hat sie auf ihrer neuesten CD mit Richard Wagners Wesendonck-Lieder und den Sieben frühen Liedern von Alban Berg gekoppelt. In allen drei Fällen wurden die Orchesterfassungen gewählt. Die Aufnahme ist beim Eigenlabel der Münchner Philharmoniker, die unter der Leitung ihres Chefdirigenten Varlery Gergiev begleiten, erschienen (MPHIL 0024). Als Kooperationspartner wird BR Klassik genannt, die Lizenz erteilte die Service-GmbH BRmedia. Alle sind optisch nahezu gleichberechtigt aufgeführt. Es wird nicht übersichtlicher auf den Musikmarkt, wo einst die großen Firmen das Sagen und ihre jeweiligen Stars unter Vertrag hatten. Man wusste auf Anhieb, wer bei wem sang und dirigierte, wo also eingekauft werden musste, um jemand ganz bestimmten hören zu können. Für die Kunst selbst müssen die geteilten Zuständigkeiten keinen Abbruch bedeuten. Vielmehr treten die beteiligten Künstler in ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sogar noch deutlicher hervor. Auf dem aktuellen Cover steht neben Harteros und Gergiev kein Firmenloge mehr. Es ist, als agierten sie nur für sich und für ihr Publikum. Die Neuerscheinung aus München entstand in der Philharmonie am Gasteig. Kleingedruckt wird im Booklet mitgeteilt, dass die einzelnen Liedgruppen zu deutlich unterschiedlichen Zeiten aufgenommen wurden – Wagner im Januar 2018, Mahler im April 2019 und Berg im Januar 2020. Für eine einzige CD mit gut einer Stunde Spielzeit ist das eine lange Spanne. Und das Foto der Künstlerin auf dem Cover? Man könnte schwören, dass es aus einer Serie stammt, die mindestens zwölf Jahre alt ist. Schon Berlin Classics dürfte für die Lieder-CD „Von ewiger Liebe“, die 2009 erschien, darauf zurückgegriffen haben. Es wäre gewiss reizvoll gewesen, die CD unter dem Gesichtspunkt zu hören, ob die Sängerin die Zyklen in eine interpretatorische Beziehung setzen würde und könnte. Dies hätte allerdings einen engen Produktionszeitraum vorausgesetzt. Nun aber wirken die Werke von sich getrennt – als Resteverwertung auf sehr hohem Niveau.

Die Rückert-Lieder waren von Mahler genau so wenig als Zyklus gedacht wie die anderen Werke. Erst durch die Aufführungsgeschichte wurden sie im Zusammenhang wahrgenommen und gedeutet. Die Instrumentierung von Liebst Du um Schönheit stammt nicht einmal von Mahler selbst. Diese Arbeit besorgte der Verlagsangestellt Max Puttmann, was auch im Booklet-Text von Susanne Stähr herausgestellt wird. Die Autorin arbeitet auch die tiefen inhaltlichen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Liedern und Lebenssituationen Mahler trefflich heraus. „Das bin ich selbst“, soll er über das Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen gesagt haben. Es war übrigens das erste Lied der Gruppe, das auf Tonträger gelangte. Die Amerikanerin Sara Cahier, eine Altisten, nahm es 1930 unter Selmar Meyrowitz auf (Naxos). Bei der Uraufführung 1905 unter Mahlers Leitung in Wien, ließe er sie von einem Mann singen. Im Großen und Ganzen trägt Anja Harteros alle Lieder auf der CD technisch ohne Fehl und Tadel vor. Ihre vielen Fans werden sie dafür sehr lieben. Es gibt auch für mich nichts auszusetzen, außer, dass der Umgang mit dem Text hätte noch genauer ausfallen können. Die Interpretation bewegt sich mehr an der Oberfläche denn in der Tiefe – ohne oberflächlich zu sein. Geboten wir eine zeitgemäßer, moderner Ansatz ohne grüblerischen Weltschmerz und Todessehnsucht. Die großen alten Damen der Liedkunst sollten – was auch unfair und ungerecht wäre – nicht zum Vergleich herangezogen werden. Immer mal wieder macht sich die die Opernsängerin Harteros bemerkbar durch etwas veristische und brustige Tonproduktionen. Sollte ich mich für ein Werk entscheiden müssen, ich würde Wesendonck-Lieder von Wagner nehmen. Es liegt ja in der Werkgeschichte begründet, dass sich hier auch schon die Isolde ankündigt, mit der die Künstlerin erst kürzlich in München erfolgreich debütierte.(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rüdiger Winter

Kennst Du das Land?

 

Die erste Bekanntschaft mit Verdi bescherte mir ein Querschnitt durch seine Oper Aida. Mein Bruder hatte die Platte zu Weihnachten geschenkt bekommen. Die wurde sofort aufgelegt. Und ich – fast noch ein Kind – durfte mithören. Es war nicht nötig, mich zu Ruhe und Stillsitzen zu verpflichten. „O wäre ich erkoren!“, schmetterte es durch die Heilige Nacht. Ich wusste nicht genau, was das bedeuten sollte. Erkoren? In der Kleinstadt in Thüringen, wo ich meine ersten Jahre verbrachte, war niemand und nichts erkoren. „Leiser“, rief mein Vater und verpasste meinem frühen Erwachen für Opernmusik einen gehörigen Dämpfer. Meine Mutter vermittelte. Sie hatte die Platte ausgesucht, kannte das Werk und hatte es auf der Bühne gesehen. Sie war unser Opernführer, der als Buch im Haus nicht vorrätig war. Viel später gelangte die alte Platte auf CD. Jetzt findet sie sich in der Edition Oper auf Deutsch, erschienen bei Deutsche Grammophon (483 7295). Insgesamt wurden fünfzehn Werke berücksichtigt. Den Radames singt Sandor Konya. Ihm habe ich also meinen ersten, bewusst wahrgenommenen Ton von Verdi zu verdanken. Das begründet Treue und Dankbarkeit, obwohl ich längst andere Tenöre in dieser Rolle bevorzuge. Der strahlende Ton von Konya aber ist mir unvergessen geblieben. Hat sich regelrecht eingebrannt im Gedächtnis. Er ist immer sofort herauszuhören, eine Eigenschaft, die ich fortan bei allen Sängern suchte, so unverwechselbar ausgeprägt wie bei Konya aber nur selten fand. Konya schluchzte so schön, was meiner eigenen Sentimentalität entgegenkam. Ich entdeckte, dass man bei Musik auch heulen darf. Gloria Davy als Aida, Cvetka Ahlin als Amneris und Paul Schöffler als Ramfis. Nur Hans Hotter, der Amonasro, sagte mir schon etwas. Meine Mutter, die ihn in Hamburg als Don Giovanni gehört und gesehen hatte, kam aus dem Schwärmen nicht heraus. Ich wunderte mich, weil er so sang, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund. Diese freche Bemerkung brachte uns nicht näher. 1961, als die Aufnahme unter der Leitung von Argeo Quadri entstand, hatte er seine besten Jahre hinter sich.

Nach Jahrzehnten wiedergehört, finde ich immer noch etwas von jener Atmosphäre wieder, die mir die Ohren für Opernmusik geöffnet hat. Arien, Duette und Chorszenen – einschließlich Triumphmarsch – sind so geschickt zusammengestellt, dass sich die Handlung in großen Zügen erschließt. Vor allem aber deshalb erschließt, weil in deutscher Übersetzung gesungen wird. Insofern haben diese mehrfach aufgelegten Opernquerschnitte der Edition einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur musikalischen Volksbildung geleistet. Sie bescherten Generationen ihre erste Begegnung mit Oper, gaben Anstöße fürs Leben.

In den 1960er Jahren war an Internet, in dem sich alle möglichen Informationen über Komponisten, ihre Werke, Sänger, Dirigenten oder komplette Libretti abrufen lassen, nicht zu denken. Ein paar Klicks und schon weiß man auch nach sechzig Jahren alles über diesen 1961 erstmals veröffentlichten Querschnitt. Es ist nicht zu hoch gegriffen, in dieser Sammlung ein wichtiges Kapitel deutscher Operngeschichte zu sehen, das sich über die nostalgischen Erinnerungen erhebt, die der eine oder andere mit einzelnen Titeln verbindet. Den Ungarn Sandor Konya (1923-2003) singt die mit Abstand meisten Tenorrollen in der Edition. Bei Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es ihn nach Deutschland verschlagen, wo er die Sprache lernte und seine Ausbildung absolvierte. Debütierte hat er 1951 in Bielefeld als Turiddu in Cavalleria rusticana von Mascagni. Damit ist er auch in den mit Leoncavallos Bajazzo gekoppelten Szenen, in denen er der Canio gibt, zu hören. Seine Sopran-Partnerinnen sind wieder die Davy (Santuzza) und Anny Schlemm (Nedda). Walter Berry singt Alfio und Tonio. Am Pult steht Janos Kulka. Eine Stärke Konyas ist seine Vielseitigkeit, die ihm eine enorme Popularität einbrachte. Selbst in Bayreuth machte er als Lohengrin, Parsifal, Walter von Stolzing, Froh und Junger Seemann umjubelte Station. Mit seinem typischen Schmelz in der Stimme führt er Offenbachs Hoffmann noch weiter weg vom Original als es durch die Übersetzung ohnehin geschieht. Die Amerikanerinnen Mattiwilda Dobbs (Olympia) und Gladys Kuchta (Giuletta) sowie die Tschechin Hedi Klug (Antonia) sind für ihre Aufgaben auch nur bedingt zu gebrauchen, während Ruth Siewert der Stimme der Mutter die Magie schuldig bleibt. Interessante kernige Akzente in der von Richard Kraus geleiteten Produktion setzt der noch junge Thomas Stewart als Lindorf, Coppelius und Dappertutto. Er ist auch der Nabucco in der Szenenfolge durch diese Verdi-Oper, die Horst Stein betreute. Seine Frau Evelyn Lear singt die Fenena, während sich der früh verstorbene Martti Talvela in der Rolle des Zacharias mit seinem flexiblen Bass als ausgesprochener Schönsänger in Erinnerung bringt. Einen gewissen Seltenheitswert hat sich die Aufnahme bis heute durch die Mitwirkung von Liane Synek bewahrt. Meist im hochdramatischen Fach tätig, ist sie fast ausschließlich durch Livemitschnitt dokumentiert. Auf der Bühne konnte sie ihren dramatischen Instinkten offenbar jenen freien Lauf lassen, der sich im Studio, wo es auf Genauigkeit ankommt, verbietet. Deshalb hinterlässt sie nicht den herausgehobenen Eindruck, den sich Opernbesucher, die sie noch in Aufführungen erlebten, bewahrt haben. Für Konya, der den Ismail sing, fallen das Terzett mit den beiden Damen und die Chorszene „Sagt, wer rief mich hier in dunkler Nacht“ ab.

Kein originärer Opernquerschnitt ist Puccinis La Bohème. Die Szenen wurden – wie einst auch bei anderen Firmen verbreitete Praxis – einer Gesamtaufnahme entnommen, die wenige Monate vor dem Bau der Mauer in der DDR, nämlich in Christuskirche in Oberschöneweide entstand. Es handelt sich um eine deutsch-deutsche Gemeinschaftsproduktion, für die der Westen die Solisten, der Osten den Kinderchor der Komischen Oper, den Chor der Staatsoper, die Staatskapelle Berlin und die Aufnahmetechnik beisteuerte. Wieder trägt Konya als Rodolfo in entscheidendem Maße dazu bei, den Deutschen ein auf Empathie beruhendes Puccini-Bild einzupflanzen. Viele Jahrgänge von Opernfreunden litten mit ihm in seiner aussichtslosen Liebe zur totkranken Mimi (Pilar Lorengar), mit dem eiskalten Händchen. Auf den Besetzungszettel der Sammlung tauchen auch Namen von Sängern auf, die in ihren Stammhäusern sehr beliebt waren und bei international Eindruck machten, auf den Musikmarkt aber viel zu kurz kamen. So einer ist Klaus Bertram, der sich als Collin von seinem alten Mantel trennt, damit Medikamente für Mimi gekauft werden können. Er baut die Wirkung der berühmten Szene auf liedhafte Schlichtheit und erzieht gerade dadurch die größte Wirkung. Der Bassbariton gehört ein Vierteljahrhundert zum Ensemble der Staatsoper Stuttgart. Neben dieser Bohéme existiert nur noch eine weitere offizielle Opernaufnahme – ein Querschnitt durch Verdis Troubadour mit Bertram als Ferrando. Er wurde ebenfalls für die Grammophon produziert, in der Edition aber leider nicht berücksichtigt.

Verehrern des Tenors Ernst Kozub dürfte die Neuerscheinung doppelt willkommen sein. Sie enthält zwei Opernquerschnitte, die es bisher noch nicht auf CD geschafft hatten: Carmen und Rigoletto, 1962 erstmals veröffentlicht. Die Platten waren nur noch antiquarisch zu finden, kommen aber klanglich nicht an die CD-Qualität heran. Kozub, 1924 geboren und bereits 1971 gestorben, galt als große Hoffnung, ohne dass er die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen konnte. Er hätte der bedeutendste deutsche Heldentenor der Nachkriegszeit werden können. Der Dirigent Georg Solti glaubte an ihn und setzt ihn schon 1955 bei seiner Zauberflöte für den Hessischen Rundfunk als Tamino ein. 1962 wünschte er ihn sich für seinen Wiener Studio-Ring als Siegfried. Kozub reiste aber nur unzureichend vorbereitet an und musste durch den gestandenen Wolfgang Windgassen ersetzt werden. Als José und Herzog fasziniert er – ganz typisch für ihn – mehr durch die Fülle seines verschwenderischen Materials als durch in die Tiefe gehende Gestaltung. Hinter glanzvoller stimmlicher Kulisse bleiben die Figuren blass. Dennoch war er kein Blender. Er konnte nicht anders. Marcel Gouraud legt als Carmen-Dirigent am Pult ein flottes Tempo vor, ohne die Solisten vor sich her zu treiben. Rosl Schwaiger ist die Micaela, Franz Crass der Escamillo, und Gisela Litz versucht sich in der Titelrolle als Femme fatale. Der von Horst Stein energisch dirigierten Rigoletto-Querschnitt mit Dietrich Fisch-Dieskau in der Titelrolle bewahrt auch die Stimme von Gisela Vivarelli mit abgedunkelter Höhe als Gilda. Die 1926 geborene schweizerische Koloratursopranistin hatte sich bereits 1964 aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne zurückgezogen.

Als Komponist dominiert Verdi die Edition. Mit La TraviataHilde Güden ist als Violetta und Fritz Wunderlich als Alfred besetzt – sowie Die Macht des Schicksals mit Stefania Woytowicz als Leonore und Jess Thomas als Alvaro kommt er auf fünf Titel von fünfzehn. Beide Male ist auch Fischer-Dieskau – Georg Germont und Don Carlos – mit von der Partie. Profi durch und durch und gewöhnlich auf glanzvollem Parkett und Festivals unterwegs, war sich dieser Sängern neben anderen berühmten Kollegen nicht zu schade, den Verkaufserfolg populärer Massenprodukte wie diese Querschnitte durch seine Mitwirkung zu fördern. Mit der Edition, die solche Titel konzentriert anbietet, wird auch dieser Aspekt deutlicher als bei der Betrachtung einzelner Veröffentlichungen, die mit zeitlichem Abstand auf den Markt gelangten. Dass Fischer-Dieskau, von dem noch mehrfach die Rede sein wird, auch bei der Hochzeit des Figaro in Erscheinung tritt, versteht sich fast von selbst. Es war ein gesuchter Graf und ist als solcher in rund zehn Aufnahmen und Mitschnitten überliefert. Seine Gräfin ist die liebenswerte Maria Stader, die ihre damals sechsundfünfzig Jahre nicht verleugnen kann, die Susanna Rita Streich, der Cherubin Hanny Steffek und der Figaro Walter Berry. Die Leitung der Berliner Philharmoniker hat Ferdinand Leiter. Mignon von Ambroise Thomas hat es immerhin auf drei Querschnitte in deutscher Sprache gebracht, die Einspielung mit dem Pariser Orchestre des Concerts Lamoureux ist eine davon. Die französischen Musiker und ihr Dirigent Jean Fournet garantieren ursprüngliches Flair. Wie damals nicht unüblich wurde gleichzeitig ein Querschnitt in der Originalsprache produzierter mit Jane Berbier statt Irmgard Seefried in der Titelrolle, Mady Mesplé statt Catherine Gayer (Philine), Gérard Dunan statt Ernst Haefliger (Wilhelm Meister) und Xavier Depraz statt Kieth Engen (Lothario). „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Stimmlich ist die Seefried genau richtig, wenngleich sie 1963 im Vergleich mit ihren frühen Jahren etwas matter klingt. Goethes „Wilhelm Meister“ als literarische Vorlage dürfte das Seine getan haben, dem Werk bei den Deutschen – zumindest zeitweise – zu überdurchschnittlicher Beliebtheit zu verhelfen.

Was ist noch im Angebot? Mit Eugen Onegin und Tiefland zwei Titel, die auf deutschen Bühnen nicht wegzudenken waren. Die Tschaikowsky-Oper hatte es bereits 1962 sogar ins deutsche Fernsehen geschafft. Wer die Übertragung aus München kennt, sieht noch immer Fritz Wunderlich als introvertierten Lenski auf der leeren Bühne vor sich. In einen Mantel gehüllt, sieht er mit seiner großen Arie „Wohin seid ihr entschwunden“ mit dunklen Ahnungen dem Duell mit seinem Freund Onegin entgegen. Er hat auch optisch das Bild des sensiblen Dichters geprägt. Für die Grammophon gab er also gar keine andere Wahl, ihn im Querschnitt zu besetzen. Er sollte dessen Veröffentlichung 1967 nicht mehr erleben, Wunderlich starb bereits 1966 bei einem Unfall. Wie schon im TV ist auch die junge Brigitte Fassbaender als Olga mit dabei. Tatjana wird von Evelyn Lear gegeben, Gremin von Martti Talvela und Onegin von Fischer-Dieskau. Musikalischer Leiter ist Otto Gerdes, der dirigierende Grammophon-Musikproduzent, der vor allem durch seine Tannhäuser-Aufnahme mit Birgit Nilsson als Venus und Elisabeth in Erinnerung blieb. Für Marta in D‘Alberts Tiefland ist Inge Borkh mit ihrem tragischen Ton in der Stimme eine ideale Besetzung. Obwohl ihr im Querschnitt die wichtigsten Szenen geblieben sind, verzehrt man sich nach einer Gesamtaufnahm. Der Verzicht erscheint heute als vertane Chance, zumal Hans Hopf als Pedro und Thomas Stewart als Sebastiano auch die Erwartungen an die männlichen Hauptrollen erfüllten.

Übersichtlich ist die Diskographie des Dirigenten Reinhard Peters, der 2008 in Berlin gestorben ist. Mit der Stadt war er zunächst durch sein Wirken an der Staatsoper im Osten und später an der Deutschen Oper im Westen eng verbunden. 1964, das neue Haus an der Bismarckstraße war seit drei Jahren eröffnet, gelangte der Querschnitt durch Rossinis Barbier von Sevilla in den Handel. Peters dirigiert das Orchester der Deutschen Oper. Leicht geht ihm das nicht von der Hand. Er rückt das Werk über weite Strecken stilistisch zu sehr in die Nähe deutscher Spielopern. Nur allzu ergeben folgen ihm in dieser Lesart Rita Streich (Rosina), Ernst Haefliger (Almaviva), Ivan Sardi (Bartolo), Kim Borg (Basilio) und auch Raimund Grumbach als Figaro. Und wenn deutsche Spieloper, dann doch bitte das Original. Das findet sich in Gestalt von Zar und Zimmermann in der Edition. Als Sachwalter dieser noch immer unterschätzten Gattung bringt sich der Dirigent Hans Gierster am Pult der Bamberger Symphoniker, die auch sehr tüchtige Opernmusiker sind, in Erinnerung. Ob Fischer-Dieskau als Zar die trefflichste Besetzung ist, darf hinterfragt werden. Man nimmt ihn nicht ganz ab, dass er auf der Werft selbst „zur Axt“ greift. Friedrich Lenz als Peter Iwanow ist da schon rollendeckender eingesetzt, Karl Christian Kohn als van Bett auch. Für Ingeborg Hallstein ist die Marie richtig – und Wunderlich gibt als Marquis von Cháteauneuf ein so kurzes wie glanzvolles Gastspiel. Das Lied „Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen“ ist ihm wie in die Kehle komponiert.

„Verschwundene Kostbarkeiten“ überschreibt der Publizist und Stimmenkenner Jürgen Kesting seinen Booklet-Text zu den historischen Opernquerschnitten in deutscher Sprache. „Sie sind im Verlauf der Jahre, ungeachtet der oft exzellenten Ensembles aus den Katalogen verschwunden …“ Sie seien als „nicht idiomatisch“ verworfen worden. „Man mag heute allerdings die Gegenfrage stellen“, so Kesting weiter, „ob in vielen der heutigen Einspielungen von den Stars aus den Vereinten Nationen des globalisierten Opernbetriebs wirklich in der Originalsprache gesungen wird.“ Zu hören sei wohl ehr die jeweilige Verkehrssprache, in der nicht viel mehr hergestellt wird als ein „Sound“, der vage an Französische erinnere, nicht zu reden vom Russischen. Rüdiger Winter

Schwere Kost

 

Die kompletten Opern und Fragmente von Modest Mussorgsky auf siebzehn CDs? Wer sich ein wenig auskennt im Werk des russischen Komponisten, rechnet nach. Nach einem Blick ins Booklet beantwortet sich die Frage rasch. Bei Profil Edition Günter Hänssler wurden die mehr oder weniger vollendeten Werke jeweils in den Instrumentierungen von Nikolai Rimsky-Korsakov und von Dmitry Shostakovich berücksichtigt. Das erklärt den Umfang der neuen Edition (PH21002). Mussorgsky starb 1881 mit nur dreiundvierzig Jahren an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit. Gemeinsam mit Rimsky, Alexander Borodin, Mili Balakirev und César Cui gehörte er zur so genannten Gruppe der Fünf – auch als „Das mächtige Häuflein“ bekannt. Sie hatten sich 1862 in Sankt Petersburg zusammengetan und wollten die nationalrussische Musik in der Nachfolge von Michail Glinka fördern. Anders als der weitgereiste Tschaikowski strebten sie keine Orientierung an westliche Vorbilder an, lehnte sie sogar entschieden ab. Diese doppelte Abgrenzung – die geopolitische und die künstlerische – hat sich auch in den Einspielungen als unverwechselbares Klangbild niedergeschlagen. Für die historischen gilt dies noch mehr als für jene, die der Gegenwart näher sind. Als sich die Sowjetunion auflöste, endete auch die Abschottung. Sänger und Dirigenten vor allem der jüngeren Generation kamen zunehmend mit westlichen Erfahrungen und Kollegen in Berührung. Dadurch änderte sich auch der Interpretationsstil. Mussorgsky klingt heute anders als früher.

Für die Aufnahmen gilt das noch nicht. Sie sind zwischen 1946 und 1963 entstanden. Wie Lothar Brandt im Booklet vermerkt, sei buchstäblich keines seiner Bühnenwerke in einer von ihm fertiggestellten geschweige denn autorisierten Version überliefert. Seine musiktheoretischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen. Was er wusste, hatte er sich mehr oder weniger selbst beigebracht – und nicht im Studium. Das sei ganz im Sinne von Balakirev gewesen, der als „so etwas wie der Chef-Ideologe und künstlerische Vordenker des Mächtigen Häufleins“ galt. Durchgesetzt haben sich die Bühnenwerke Mussorgsky letztlich erst durch Bearbeitungen. Boris Godunov war das einzige Werk, das noch zu Lebzeiten des Komponisten 1874 in St. Petersburg auf die Bühne kam. Es ist in mehreren Fassungen überliefert. Brandt: „Schon der Uraufführungs-Dirigent Edouard Napravnik hatte bereits bei der Premiere für zahlreiche Kürzungen und Umstellungen gesorgt.“ Der 1839 geborene und 1916 gestorbene Napravnik war selbst ein bedeutender Komponist, der auch Opern – darunter Dubrovsky nach Puschkin – schuf. Die Edition wird mit diesem Werk in der Instrumentierung von Rimsky-Korsakov, der als einziger der Fünfergruppe eine akademische Ausbildung besaß, eröffnet. In die Studioproduktion von 1948 mit Chor und Orchester des Bolshoi-Theaters in Moskau sind allerdings zusätzlich künstlerische Eingriffe durch den Komponisten Mikhail Ippolitov-Ivanov und den Dirigenten Nikolai Golovanov eingeflossen. Die Fassungsgeschichte wird dadurch nicht übersichtlicher. Obwohl sich im Westen frühere Mitschnitte erhalten – so aus der Met – darf die Moskauer Aufnahme für sich beanspruchen, in ihrer Zeit die bislang kompletteste gewesen zu sein. Für ihr Alter klingt sie erstaunlich gut.

Maria Maksakova in „Snegurochka“/ Wikipeia engl.

Die Stimmen treten ungemein präsent hervor. Nur, wenn Blech und Chor mit den charakteristischen hohen Sopranen gleichzeitig zum Einsatz kommen, wird die Wiedergabe etwas eng und nähert sich der Übersteuerung, ein Manko, welches der Einspielung genauso in anderen Ausgaben anhaftet. Solche Einwendungen sind vergessen, wenn Mark Reizen als Boris auftritt – der stimmgewaltige legitime Nachfolger von Fedor Chaliapin, der in der Sammlung mit einer eigenen Bonus-CD bedacht wird, die berühmten Londoner Live-Aufnahmen von 1928 inklusive. Er ist der unumstrittene Star der Einspielung, durch ihn wurde sie legendär. Am Ruhm haben aber auch Maxim Mikhailov als Pimen sowie die Tenöre Georgy Nelepp als Gregory – der falsche Dmitri – und Ivan Kozlovsky als einfältiger Narr, der den Zaren einen Mörder nennt, Anteil. Wie auf den meisten anderen sowjetischen Schallplatten hinterlassen die Männer den wesentlich stärkeren Eindruck als die Sängerinnen. Maria Maksakova nimmt man die Entschlossenheit, selbst Zarin werden zu wollen ehr ab als die Liebebekundungen, mit denen sie Dmitri umgarnt. In der von Shostakovich instrumentierten Version, der der Ruf vorausgeht, sehr nahe am originalen Klavierauszug zu sein, singt Boris Shtokolv die Titelpartie. Er war ein gefeierter Star am Mariinsky-Theater als Petersburg noch Leningrad hieß. Mitgeschnitten wurde sie 1960 als Vorstellung an diesem Haus, woran die Nebengeräusche einschließlich Souffleur keinen Zweifel aufkommen lassen. Umso mehr Eindruck macht Shtokolv, der es in seiner Stimmgewalt mit Reizen durchaus aufnehmen kann, im Vergleich mit diesem der Partie aber gewisse gestalterische Feinheiten schuldig bleibt. Dirigent ist Sergey Yeltsin, der auch mit Eltsin transkribiert wird.

Wie schon in der Rimsky-Korsakov-Edition von Hänssler bleibt der genaue Zugang zu den Werken für Westeuropäer, die des Russischen nicht mächtig sind, schwierig. Es gibt zwar Richtlinien für die Umschrift. Sie werden aber nicht immer konsequent angewendet. In der DDR, wo Russisch in der Schule ein Pflichtfach war, galten andere Regeln als im Westen. Unterschiede in der Transliteration wirken auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung fort. Die Neuerscheinung offenbar diese Schwierigkeiten. Als salomonische Löschung wurde deshalb weitgehend Englisch für das Booklet gewählt, eine Praxis, die sich allgemein eingebürgert hat. Alle Titel, Personenzuordnungen und kurzen Szenenbeschreibungen für die vielen Tracks wurden entsprechend übersetzt. Alternativ gibt es Inhaltangaben nach Art eines Opernführer und Erklärungen zu den einzelnen Titeln von Lothar Brandt auch in Deutsch. Der Textbeginn der einzelnen Szenen wurde phonetisch erfasst, so dass man beim Hören nicht ganz die Orientierung verliert. Diese Besprechung hält sich an die Schreibweise des Booklets.

Der große russische Bass Mark Reizen singt mit 74 Jahren Romanzen von Tschaikowsky in einem Film-Clipp der Firma VAI..

Die Aufnahmen von Khovanshchina liegen zeitlich ebenfalls auseinander. Beide entstanden in Moskau im Studio, Rimskys Version 1953, für die Shostakovich-Alternative, die als Soundtrack für eine Verfilmung diente, begannen 1959. Reizen ist beide Male Dosifey, das Haupt der Altgläubigen, die sich gegen eine Kirchenreform im 17. Jahrhundert wenden und die überlieferten Bräuche pflegen, weshalb sie verfolgt werden. In die komplizierten politischen Auseinandersetzungen um Macht und Vorherrschaft eingeflochten ist die Liebe zwischen Fürst Andrei Khovansky, dem Sohn des Anführers der Strelizen, einer Palastwache, aus der sich die erste mächtige Berufsarmee rekrutierte, und der Altgläubigen Marfa. Bereits 1946, als Khovanshchina erstmals in der Sowjetunion auf Platten gelangte, war Reizen als Dosifey, der eine seiner Glanzrollen war, dabei. Seine Ausstrahlung prägte auch beide von Tradition getragene Einspielungen der Edition, obwohl in der späteren mit Evgeny Swetlanov ein vergleichsweise junger Dirigent am Pult wirkte. 1953 steht als Marfa wieder die berühmte Maksakova an der Seite von Alexei Bolshakov als Andrei auf dem Besetzungszettel. 1959 singen und spielen in der Verfilmung Kira Leonova und Anton Grogoriev. Mussorgsky arbeitete bis zu seinem Tod an dem Werk und hinterließ einen bis auf wenige Szenen fast vollständigen Klavierauszug.

Fjodor Schaljapin, Gemälde von Boris Michailowitsch Kustodijew 1922/ Wiki engl.

Die komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy geht auf die gleichnamige Erzählung von Gogol zurück. Erst zum 30. Todestag des Komponisten kam die szenische Uraufführung mit Klavierbegleitung zustande. Es folgten etliche Versuche, das hinterlassene Material für die Bühne spielbar zu machen. Hänssler greift auf die Fassung des Musikwissenschaftlers Paul (Pavel) Lamm von 1931 zurück, die der Komponist Wissarion Shebalin orchestriert. Sie wurde 1955 mit Chor und Orchester der Slowenischen Nationaloper Ljubljana eingespielt. Warum ausgerechnet dort und nicht in der Sowjetunion, bleibt rätselhaft, zumal das einstige Jugoslawien wegen seiner eigenständigen Politik im Kreml auf der Feindesliste stand. Durch eine Übernahme der Produktion von Philips noch auf Schallplatte wurde das Werk auch im Westen besser bekannt nachdem es bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren Aufführungen in Monte-Carlo, Barcelona, Brüssel, New York, London und Stockholm gab. An der Komischen Oper Berlin wurde sie 1948 gespielt. Nur bruchstückhaft ist Die Heirat ebenfalls nach Gogol überliefert. 1934 ergänzte Mikhail Ippolitiv-Ivanov das Fragment mit eigener Musik. In dieser Form findet es sich mit einer Spieldauer von fast siebenundfünfzig Minuten in der Edition. Die Aufnahme entstand 1952 beim Moskauer Rundfunk unter der Leitung von Alexej Kovalev. Kurz nach seinem Erscheinen des Romans Salambo von Gustave Flaubert entwarf Mussorgski 1883 das Libretto für seine gleichnamige Oper. Schauplatz ist Karthago. Obwohl er sich drei Jahre damit beschäftigte liegen nur sechs Nummern vor, die in unterschiedlichen Aufnahmen aus den fünfziger Jahren in die Sammlung einflossen. Bereits 1939 ging Maria Maksakova für die Chorkantate Joshua, die auf dem Gesang der libyschen Krieger beruht, ins Studio. Rüdiger Winter

Rundfunkgeschichte

 

Es ist an die zehn Jahre her, dass Preiser mit der Carmen von Elisabeth Höngen überraschte. Für eine österreichische Firma war das Ehrensache. Diese Sängerin wurde an der Wiener Staatsoper vergöttert wie eine Heilige. Da fiel es nicht sonderlich ins Gewicht, wenn die Aufnahme aus dem fernen Dresden stammte. Zumal auch noch Karl Böhm dirigierte. Schließlich hat die Höngen die Rolle auch in Wien gesungen, zwischen 1944 und 1955 sage und schreibe dreiunddreißigmal. Das ist vergleichsweise viel. Böhm hingegen, der ein Gespür für die Dramatik des Werkes hatte, stand in Wien 1944 nur noch bei vier Vorstellungen am Pult. In Dresden wählte er gedehnte Tempi, die es ihm ermöglichten, Steigerungen und Höhepunkte besonders wirkungsvoll aufzubauen. Sängern, einschließlich Chor, kommt das sehr entgegen. Schon das Vorspiel wirkt wie ein Kondensat seines musikalischen Konzepts. Lange vor Preiser hatte BASF 1973 eine Schallplatte mit Szenen veröffentlicht. Wenn sich aber Profil Edition Günter Hänssler mit einer neuen Folge aus der Semperoper Dresden meldet, können die Ersten schnell die Letzten sein, wenigstens aber auf die Plätze verwiesen werden. Hörte sich die Preiser-Ausgabe schon sehr gut an, punktet Hänssler mit den originalen Bändern. Als würde sich der Vorhang tatsächlich heben. Der Klang ist in Tiefe und Breite gestaffelt, entfaltet sich also räumlich. Stereophonie ist schon zum Greifen nahe. Wenn gleich zu Beginn die Straßenjungen ausmarschieren, kommt ihr Gang über die Bühne der Wirklichkeit nahe. Überhaupt sind die großen Ensembleszenen von großer Klarheit und nie übersteuert. Hänssler bietet mit seiner Carmen (PH16076) mehr als nur ein beliebiges Tondokument.

Ein deutsch gesungene Carmen dürfte nicht unbedingt das Ereignis sein, nach dem man sich 2021 verzehrt. Höngen hin oder her. Mit dieser Edition aber wird ein spannendes Kapitel Musikgeschichte beleuchtet. Das macht die Neuerscheinung aus. Beigaben in Form von Texten, Biografien und Fotos wachsen sich zum kleinen Buch aus, das zudem noch sehr sinnlich gestaltet ist. Beigesteuert werden Erinnerungen von Gertrud Döhnert, der persönlichen Mitarbeiterin von Böhm in seiner Dresdener Zeit, die sogar seine Briefe öffnen durfte. Nichts anderes war zu erwarten. Wenngleich man gern ein anderes Datum lesen würde – die Oper wurde am 4. und 5. Dezember 1942 mitgeschnitten. Ein größerer Widerspruch zwischen Kunst auf der einen und politischer Wirklichkeit auf der anderen Seite ist kaum vorstellbar. Während also Carmen auf der Bühne behauptete, dass „die Liebe von Zigeunern“ stamme, tobte der von Hitlerdeutschland entfesselte Krieg an allen Fronten. Die Ermordung der europäischen Juden war beschlossene Sache. Und der Untergang Dresdens nicht mehr weit, wenngleich zum damaligen Zeitpunkt unvorstellbar.

Im Booklet wird auf den Abdruck des Librettos in der weithin bekannten Übersetzung durch den Österreicher Julius Hopp (1819-1885), der auch komponierte, verzichtet. Das ist nicht weiter schlimm, weil man eh jedes Wort versteht und für alle Fälle gewiss eine alte Reclam-Ausgabe vorrätig hat. Noch Christa Ludwig sang 1961 auf den Text für ihre Einspielung bei der Electrola. Wer sich also auf den Mitschnitt einlässt, Vorbehalte zurückstellt und die Aufnahmen in der Originalsprache oder in der ursprünglichen Fassung als Opera comique im Schrank lässt, erlebt ein Wunder an gesanglicher Akkuratesse. Diese musikalische Genauigkeit, diese Deutung von einzelnen Wörtern, Gesten und Gedanken durch die Höngen vollzieht sich ganz unabhängig von der Partie. Sie hätte auch Orlofsky oder Herodias singen können. Die Wirkung würde wohl dieselbe sein. Kein Ton wird vereinzelt herausgestellt. Sie verbindet Noten und Text zu einer in sich geschlossenen Kette als ob sie im jeweiligen Moment schon das erfasst, was erst noch komme und was schon hinter ihr liegt. Dies geschieht mit Leichtigkeit und ohne jede Anstrengung. Stimmlich ist sie ideal. Niemand, der ihr zuhört, käme auf die Idee, dass Singen Schwerstarbeit und höchste Konzentration ist. Was sie von sich gibt, ist nicht die zehnte Wiederholung im Studio, um es besser und noch besser zu machen. Es ist faktisch live. Im Freundeskreis kursiert eine Anekdote aus Wien. Dort blieb eine Sängerin als Azucena hinter den Erwartungen im Publikum zurück. Darauf ein Besucher: „Jetzt fehlt mir aber die Höngen.“ Viele Jahre konnte ich mit diesem Seufzer nichts anfangen. Nun verstehe ich ihn. Diese Sängerin – sie lebte zwischen 1906 und 1997 – ist für ihre Zeit gut dokumentiert. Im unmittelbaren Vergleich schneiden die Aufnahmen für mich sehr unterschiedlich ab. Kaum eine erreicht das in sich geschlossene Niveau der Dresdener Carmen.

Elisabeth Höngen als Carmen in Dresden/ Foto Booklet/Hänssler.

Die anderen Mitwirkungen haben es nicht leicht gegen sie, obwohl sie sich nicht zu verstecken brauchen. Allen voran die lyrische Elfriede Weidlich als mütterliche Micaela, die bis 1950 eine der Lieblinge des Dresdener Publikum auch als Susanna, Zerline oder Mimi gewesen ist. Danach verließ sie die 1949 gegründete DDR und wirkte fortan in Hannover. Torsten Ralf, der schwedische Tenor, der 1935 nach Dresden kam und drei Jahre später den Apollo in der Uraufführung der Daphne von Strauss sang, erfüllt als Don José alle Anforderungen, die an einen lyrischen Heldentenor gestellt sind. In Dresden genoss er Kultstatus weit über seine Zeit hinaus. Das ging so weit, dass Peter Schreier, der ihn auch verehrte, seine Söhne die Vornamen Torsten und Ralf gab, wie im Booklet zu erfahren ist. Der 2019 verstorbene Tenor hatte die Schirmherrschaft über die Semper-Oper-Edition. Auch in der neuen Folge wird er in dieser Funktion noch genannt. Bemerkenswert ist, wie Ralf die unterschiedlichsten Situationen, in die die Figur gestellt ist, stimmlich erfasst und anrührend gestaltet. Als Sergeant auf der Wache gibt er den Macho, im Zusammentreffen mit Micaela ist er der liebevolle Sohn, der sich um die Mutter sorgt, gegenüber Carmen überwindet er anfängliche Scheu, um sie schließlich ohne jede Rücksicht für sich zu verlangen. In seinem Besitzanspruch kann er das Wesen dieser Frau nicht verstehen. Er, der schon einmal unbeherrscht getötet hat, muss auch sie töten. Josef Herrmann – auch er in Dresden hoch geehrt – ist 1942 noch im Vollbesitz seiner Stimme. Darauf verlässt er sich und unternimmt keine nachhaltigen Versuche, in die etwas eindimensionale Rolle mehr gestalterisches Profil zu investieren. Noch ist Elfride Trötschel die Frasquita. 1949 wird sie die Micaela sein. Und das ist auch nachzuhören. Die Hänssler-Edition hält neben der Gesamtaufnahme eine Bonus-CD mit eigenem ebenfalls verschwenderisch ausgestatteten Booklet bereit. Drauf finden sich neben vielen anderen historischen Dokumenten drei Szenen aus einer Produktion des Mitteldeutschen Rundfunks unter der Leitung von Hans Löwlein, mit der die Wiederaufnahme der Oper im Jahr 1950 in Dresden begleitet wurde. Mehr ist nicht erhalten. Dabei wurde auch schon für die Aufnahme eine Anregung des Musikwissenschaftlers Ernst Krause aufgegriffen, Carmen in der neuen Übersetzung des Intendanten der Komischen Oper Berlin, Walter Felsenstein, einzustudieren. Fragte Jose Micaela bisher, „Wie? Du kommst von der Mutter?“, will er nun in Gestalt von Heinz Sauerbaum wissen, „Wie geht’s meiner Mutter?“ Klanglich kann es die Aufnahme des kompletten Werkes im Opernhaus mit der Studioeinspielung allemal aufnehmen. Direkt vor die Mikrophone gestellt, können die Sänger jedoch nicht annähernd die Bühnenatmosphäre erzeugen.

 

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Dresdner Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth/ Foto:  MDR/Hänssler 

Steffen Lieberwirth, Projektleiter und Spiritus Rector der Edition, hat die besonderen technischen Gegebenheiten im Booklet dargestellt und uns seinen Beitrag freundlicherweise zur Verfügung gestellt, wofür wir danken: Die vorliegende Carmen-Gesamtaufnahme von 1942 ist rundfunktechnisch ein zukunftsweisendes Pionierdokument aus der Frühphase der Tonbandaufzeichnung im Reichsrundfunk: Beginnend mit dem Jahr 1942 war die technische Entwicklung von Bandmaschinen so weit gediehen, dass sie sich als hochgeeignet für den Rundfunkeinsatz erwiesen und in den folgenden Jahren von allen Funkhäusern angeschafft werden konnten. In den Reichssendern Dresden und Leipzig lösten sie schnell die bisherigen Plattenschneider ab, lagen doch gleich mehrere Vorteile der sogenannten HF-Magnetophone auf der Hand: Der Leiter der technischen Labore der Reichsrundfunkgesellschaft, Hans-Joachim von Braunmühl, schwärmte 1942 in seinem Bericht an die Rundfunkredakteure von den Vorzügen der zukunftsweisenden Technik. Nach jahrelangen Versuchen konnte er endlich vermelden, dass das neue „Magnetophon im Rundfunkbetrieb aus der Forderung der Programmgestaltung nach einem die Möglichkeiten der Schallplatte übersteigenden Verfahren“  entwickelt worden sei, „welches einerseits alle Ansprüche für höchstwertige musikalische Aufnahmen erfüllen kann und andererseits in transportabler Ausführung den Sendungen des Zeitgeschehens ganz neue Möglichkeiten bietet“. Mitten im Zweiten Weltkrieg wurden nun Schritt für Schritt alle deutschen Funkhäuser mit den modernen Magnetophonen ausgestattet und die Maschinen im Sendebetrieb erfolgreich eingesetzt. Weil bisher in einer Sendeabwicklung längere Musikwerke nur von Schallplatten abspielbar waren, standen alle drei bis vier Minuten heikle Plattenwechsel mit Überblendungen an. Sendungen von Magnetband waren hingegen vergleichsweise erholsam: 20 Minuten Spieldauer dürften für jeweils einen Sinfonie-Satz oder eine größere Opernszene ausgereicht haben. Kein Wunder also, dass die Magnetophon-Bänder die bisher eingesetzten Schallplatten zügig aus dem Sendeablauf verdrängten.

„Carmen“ in Dresden: Techniker bei der Aufnahme. Das AEG-Magnetophon reformierte ab 1942 den Sendebetrieb im Rundfunk. Damit eroberten sich nun auch Opern-Gesamtaufnahmen zunehmend die abendlichen Sendeplätze und wurden laut Hörerbefragungen zu einer der beliebtesten Radioformate. Die Bandlaufgeschwindigkeit betrug 77 cm/s. Bei einer Bandlänge von 1000 Metern ergaben sich damit knapp 22 Minuten Aufzeichnungszeit pro Tonband. Für die Gesamtaufnahme der Carmen liefen zwei sich abwechselnde Magnetophone und bespielten knapp 8 Magnetophonbänder. Foto/Booklet zur CD-Ausgabe

Begeistert waren gleichermaßen Rundfunkredakteure wie Radiohörer auch von dem klanglichen Quantensprung der Tonbandaufnahme und deren natürlicher Wiedergabe. Das störende Plattenknistern gehörte damit ein für allemal der Vergangenheit an. Fieberhaft wurde in den Musikredaktionen nach Aufnahmemöglichkeiten und Werkvorschlägen für den neuen Tonträger „Tonband“ gesucht. Vorrangig wurde auch das Dresdener Opernhaus bedacht. So fiel die Wahl einer Tonbandaufzeichnung mittels nagelneuer Technik auf unsere Dresdner „Carmen“-Neuinszenierung im Dresdner Opernhaus mit Karl Böhm am Dirigentenpult. Beeindruckend – weil szenisch überzeugend wiedergegeben – ist auch die ausgeklügelte räumliche Mikrophonierung der Rundfunkaufnahme: So sind beispielsweise die Trompeten-Signale der aufmarschierenden Soldaten „Schnell herbeigestürmt, wie’s Wetter“ dank geschickter Ausnutzung verschiedener Standorte im Saal und auf der Bühne oder der Auftritt des Don José mit seinem Lied „He, Holla! Halt! Wer da“ aus den Tiefen der Hinterbühne äußerst effektvoll umgesetzt und werden in der Semperoper zum raumakustischen Erlebnis. Respekt vor dieser Pionierleistung der damaligen Toningenieure! Dem angestrebten Klangbild entgegen, kamen auch die Mitte der 1930er Jahre beim Rundfunk eingeführten rauscharmen „Neumann-Kondensatormikrophone“ (auch „Rundfunkflaschen“ genannt). Dank deren sensibler Membranen gelangen erstmals Aufnahmen mit zufriedenstellender Richtwirkung und Klangballance sowie eine praktikablere Platzierung im Aufnahmeraum. Für die Aufzeichnung der Dresdner „Carmen“-Inszenierung wurden 1942 mehrere dieser damals hochmodernen Mikrophone auf der Bühne, im Orchestergraben und im Zuschauerraum des Dresdner Opernhauses installiert. Rüdiger Winter

 

Die dramatische Schlussszene der Oper Carmen fand auch ihren Niederschlag in den  Liebig-Bildchen die einst  so populär waren wie die Oper selbst. Diese Sammelbilder wurden Produktpackungen von Liebigs Fleischextrakt beigefügt, benannt nach dem deutschen Chemiker Justus von Liebig. 

Eine große Inszenierung

 

Kaum ein anderer deutscher Schriftsteller hatte ein so enges Verhältnis zur Musik wie Thomas Mann. Sein Denken und Fühlen kreisten um Richard Wagner. Er hegte einen tiefen Sinn für dessen theatralische Visionen. Wie Wagner neigte auch er zu Eitelkeit und Selbstverliebtheit. Zeugnis davon legt der neuer Bildband Thomas Mann – Ein Schriftsteller setzt sich in Szene von Rüdiger Görner und Kalterina Latifi ab, erschienen bei wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) THEISS (ISBN 978-3-8062-4247-8). Der Titel ist treffend gewählt. Was zwischen beiden Buchdeckeln auf 270 Seiten eingefangen ist, wirkt wie eine große Inszenierung. Üppig ausgestattet, den Gesetzen der Ästhetik verpflichtet, mal in Sepia, dann wieder in feinsten Grautönen. Als seien Meister der Beleuchtung, die ihr Fach verstehen, mit am Werk gewesen. Der Band gleicht einer großen Aufführung. Die Autoren scheuen sich nach ihren eigenen Worten nicht, die Gestaltung „eine Komposition zu nennen“. Einfach so mal durchblättern genügt nicht. Der ganze Reichtum dieser Dokumentation erschließt sich erst durch Wiederholung und Vertiefung. Es sind Details zu entdecken, die plötzlich wie neu erscheinen. Als habe man sie zuvor noch nie gesehen. Dabei könnte man doch schwören, bereits alle Bilder genau betrachtet zu haben.

Auch wenn diverse vermeintliche Schnappschüsse und zufällige Einstellungen berücksichtigt sind, der Bildband feiert die Fotografie als ganz große Kunst. Betrachter werden hineingezogen in dieses lange bewegte Schriftstellerleben, das, noch tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, beide Weltkriege mit allen Erschütterungen und Katastrophen überdauert und dann noch zehn Jahre in den schwierige Neubeginn hineinreicht. Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren und starb 1955 in Zürich. Der Emigrant, der auf Druck der Nationalsozialisten sein Vaterland verlassen musste, war nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern hatte sich die neutrale Schweiz als Alterssitz gewählt. Zeigt das erste Foto den Dreijährigen, das zweite den sehr ernst dreinschauenden Schüler im Jahr 1892 und das letzte die Hände des alten Mannes, die so viele Seiten mit der charakteristischen zackigen Schrift gefüllt haben, so versteht sich die Sammlung nicht eigentlich als Bildbiographie. Das Gros der Fotos stammt aus den Jahren des Ruhms. Thomas Mann der Weltbürger, der Nobelpreisträger, der Ehrendoktor, der Repräsentant deutschen Geistes in seiner besten Tradition.

Die Visconti-Verfilmung der Novellen-Vorlage „Der Tod in Venedig“ von 1971 verwendete das Adagetto der 5. Sinfonie von Gustav Mahler als eine Art atmosphärischer Leitmusik, was Mahlers  Musik eine ungemeine Verbreitung bescherte, wenngleich sich Käufer dieser DG-LP/CD beim Anhören des kompletten Werkes vielleicht wunderten, dass die übrige Musik nicht ganz ihren Erwartungen entsprach … Der Regisseur hatte im Film aus dem Schriftsteller Aschenbach einen Komponisten gemacht, um die Musik besser platzieren zu können.  

Auch wenn einem der Schriftsteller in sehr privater Pose entgegentritt, beim Spaziergang mit dem geliebten Hund, im Bademantel am Strand oder entspannt auf einer Parkbank sitzt, er bleibt auf Distanz. Nichts ist in dieser Inszenierung dem Zufall überlassen. Selbst dann, wenn er aus unbeholfener Bewegung heraus eine Mappe in einem Safe zu verstauen sucht und dabei das Ohr gegen eine Wand richtet als wolle er erlauschen, was sich im Nebenzimmer abspielt, ist man sich nicht ganz sicher, ob nicht auch diese – wie es heißt „klammheimlich“ wirkende Szene doch zuvor geprobt wurde. Dafür ist die Kleiderordnung zu vollkommen. Dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte, Einstecktuch, elegante zweifarbige Slipper, zwischen zwei Fingern die Zigarre. Die Gewandung ist nicht nur ein Kapitel für sich, sie dominiert nahezu jedes einzelne Bild. In jeder Lebenslage ist er perfekt gekleidet. Selbst aus dem Liegestuhl heraus könnte er sich auf der Stelle zu einer festlichen Abendendveranstaltung aufmachen. Er schreibt, liest, diskutiert, denkt, trinkt, isst, wartet als eleganter Gentleman. Zweireiher werden bevorzugt. Selbst der Paletot hat zwei Knopfleisten. Unterwegs ist er meist mit Hut oder mit heller Schiebermütze. Am Arm den Gehstock. Brillen sind meist randlos und wirken eher als Accessoire denn als profane Sehhilfe. Mann raucht stark und lässt sich auch in dieser Situation ablichten als mache er Reklame für die einschlägige Industrie. Lässt er die Kamera nahe an sich herankommen, die Unnahbarkeit schiebt sich dennoch zwischen ihn und die Linse. Und der Betrachter spürt eine gewisse Kälte. Niemand käme wohl auf die Idee, ihn anzufassen. Auch dann nicht, wen er das sprichwörtliche Bad in der Menge nimmt, was er zu genießen scheint. Das Buch ist eine Dokumentation der Einsamkeit, der Einsamkeit des Künstlers, die er auch zum Thema seiner Werke gemacht hat.

„Mein Wunschkonzert: Thomas Mann spricht über Musik, die er gern hört“. Erschienen ist die CD im Hörverlag (978-3867175647).

Noch in seiner ersten Villa in der Poschingerstraße in München wurde das neueste Grammophon angeschafft. „Nicht ohne sinnende Verwunderung besieht Thomas Mann, gekleidet wie zu einem Konzertbesuch, im Arbeitszimmer das Wohlklangerät“, heißt es dazu beschreibend im Buch. Mit der ihm eigenen Skepsis auch hier. „Stellt man sich so den freilich jüngeren Hans Castorp vor, wie er im Zauberberg-Sanatorium zu Davos das Grammophon zum Entzücken der moribunden Mitpatienten bedient?“ In den knappen Bildbeschreibungen werden auch Verknüpfungen zum schriftstellerischen Wort und Werk hergestellt. Die Herausgeber kennen sich aus. Für den Rundfunk hat er ein ganz persönliches Wunschkonzert zusammengestellt, bei dem er Platten spielen ließ, die schon auf dem abgebildeten Grammophon auflagen. Darunter das Lohengrin-Vorspiel. Er erinnert sich, wie er als Schüler „wiederholt in dem einigermaßen unzulänglichen Lübecker Stadttheater“ diese Oper von Wagner gehört habe. „Sie ist ein herrliches Stück, der Gipfel der Romantik.“ Das Konzert war beim Hörbuch-Verlag als CD erschienen. Mit einem großen Essay stimmen Rüdiger Görner und Kalterina Latifi auf die annähernd zweihundert Fotos ihres Buches – ergänzt um Gemälde, Zeichnungen und Büsten – ein. Nicht alle Aufnahmen sind bekannt, weshalb der deutliche Hinweis auf dem Umschlag „Mit bislang nicht publizierten Fotos“ mehr als gerechtfertigt ist. Insgesamt sollen sich um die 6000 Fotos erhalten haben. „Es hieß, auszuwählen aus einer reichen Fülle an Aufnahmen, um das Selbst Thomas Manns, seine vielschichtige Persönlichkeit in ihrer Vielgesichtigkeit zu zeigen und diese Bilder zum Sprechen zu bringen“, so die Autoren. Das ist ihnen auf eine sehr sinnliche Weise gelungen. Rüdiger Winter

Münchner Belcanto

 

Das schweizerische Label Relief hat sich aus dem reichen Fundus deutscher Rundfunkarchive, der noch weitestgehend unerschlossen ist, Gaetano Donizettis Rita herauspickt (CR 1928). Der leichtgestrickte Einakter im Stile der Opéra Comique von 1841 ist nicht das zentralste Werk des überaus tüchtigen italienischen Komponisten, der mehr als siebzig Bühnenwerke hinterlassen hat. Im Booklet wird der Inhalt präzise erzählt, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Es wird nämlich so deutlich gesungen, dass jedes Wort der deutschen Übersetzung von Josef Strobl, dem Dirigenten der Aufnahme, zu verstehen ist. Insofern legt diese Produktion einmal mehr Zeugnis davon ab,  welch großer Wert in den Studios einst darauf gelegt wurde, dass das Publikum den Inhalt genau verstand und immer nachvollziehen konnte. In dem Werk mangelt es nicht an gesprochenen Dialogen.

Die Gastwirtin Rita (Ingeborg Hallstein) musste schon an ihrem zehn Jahre zurückliegenden Hochzeittag Prügel ihres Mannes Gasparo (Karl Christian Kohn) einstecken. Als er von einer Seereise nicht zurückkehrte, wurde er für tot erklärt. Die vermeintliche Witwe heiratet Beppe (Erwin Wohlfahrt), den sie nun ihrerseits züchtig, wenn er nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Dennoch liebt Beppe seine herrische Frau. Plötzlich tritt ein Fremder auf den Plan, der sich bald als der vermisste Gasparo herausstellt. Er lebt in Kanada und will dort eine neue Ehe eingehen. Dazu muss er frei sein. Er glaubt, Rita sei bei einem Brand ums Leben gekommen und will sich das in der alten Heimat amtlich beurkunden lassen. Als die Totgeglaubte lebendig vor ihm steht, verlangt er den Trauschein von ihr, um ihn zu vernichten. Beppo aber wittert seine Chance, sich aus den Fesseln seiner Ehe zu befreien und ist bereit, Rita freizugeben. Gasparo will sie aber nicht zurück. Was tun? Beide Männer spielen um die Frau ein ganz böses Spiel. Wer gewinnt, muss sie behalten. Gasparo verliert, und Beppo ist froh, seine Freiheit wiedererlangt zu haben. Gasparo aber gibt sich nicht geschlagen. Er fingiert ein Duell mit seinem Gegner, entreißt Rita während der Turbulenzen den Trauschein und beschwört sie, Beppe in Zukunft besser zu behandeln. So zieht er wieder von dannen und lässt das nun glücklich vereinte Paar zurück.

Die Aufnahme entstand an zwei Tagen im Dezember 1960 im Herkulessaal der Münchner Residenz. Es handelt sich um eine Produktion des Bayerischen Rundfunks mit dessen Symphonieorchester. Wie in einem Hörspiel wird durch allerlei akustisches Beiwerk Nähe zur Wirklichkeit suggeriert. Technisch ist der Einspielung ihr Alter nicht anzuhören. Sie klingt frisch, sehr frisch sogar. Es hat sich wieder einmal gelohnt, auf die originalen Bänder zurückzugreifen, wie man das von Relief gewohnt ist. Historisch wirkt die mehr als sechzig Jahre alte Aufnahme durch den Musizierstil und die Art des Singens. Allen drei Solisten ist der italienische Belcanto nicht in die Wiege gelegt. Sie gehen ihre Aufgaben mit deutscher Spielfreude an. Dabei besticht Ingeborg Hallstein als resche Gastwirtin mit Haaren auf den Zähnen durch geschliffene Koloraturen.

Im Booklet gibt es kurze bebilderte Biographien der Sängern, versehen mit Hinweisen auf ihre offiziellen Schallplatten. Sehr lesenswert ist er profunde Einführungstext in die Oper Rita von Alfred Gänsthaler, dem Präsident der Freunde der Musik Gaetano Donizettis (Wien). Rüdiger Winter

Kaiserjagd im Wienerwald

 

Manche Dichter sind durch Vertonungen stärker im Gedächtnis geblieben als durch ihre gedruckten Werke im Originalzustand. Johann Nepomuk Vogl gehört in diese Kategorie. Er stammte aus Wien, wo er 1802 geboren wurde und 1866 starb. Und da er auf dem Zentralfriedhof der Stadt begraben liegt, ist seine Unsterblichkeit ohnehin garantiert. Das Ehrengrab ist ein Platz für die Ewigkeit. Wien geht gerade an diesem Ort respektvoll mit seinen Toten um. Vogl trat als Lyriker und Balladendichter in Erscheinung, verfasste Dramen und Novellen. Zudem betätigte er sich als Herausgeber und Publizist. Zeitzeugen rühmen seine charismatische und modisch gewandete Erscheinung in der Öffentlichkeit. Er war Mitglied eines literarischen Zirkels, der sich regelmäßig im Silbernen Kaffeehaus in Wien traf, das nicht mehr existiert. Zu Lebzeiten wurde Vogl von Zeitgenossen oft vertont. Marschner, Kreutzer, Lachner, Raff und Proch – um nur die bekanntesten zu nennen – haben sich bei ihm bedient. Die vielleicht tiefsten Spuren hat der Balladendichter Vogl bei Carl Loewe hinterlassen, der dieses Genre als Komponist zu höchster Vollendung führte. Loewe habe sich nie über einen Mangel an geeigneten Texten beklagt, resümierte der Musikwissenschaftler Günter Hartung aus Halle bei einer wissenschaftlichen Konferenz zum 200. Geburtstag des Komponisten. „Das Unglück bestand nur darin – und jetzt kommt man auf den entscheidenden Punkt –, dass das ihm zubestimmte Genre, das anfangs seine Produktivität geweckt hatte, sich in einem stetigen und unaufhaltsamen Verfall befand.“ In der Evolution der großen Dichtung habe es seit 1815 eine immer geringere Rolle gespielt. Balladen alten Stils hätten – von wenigen Nachzüglern der klassischen Zeit abgesehen – bald nur noch Epigonen und Dilettanten geschrieben. Durch die professionelle Literaturkritik sei die Gattung nicht mehr gewürdigt worden, so Hartung.

In der Gesamtaufnahme der Lieder und Balladen Loewes von cpo, die 2007 erschien, gehen siebzehn von 344 Titeln auf Vogl zurück. Darunter sind sehr populäre Stücke wie Die verfallene Mühle, Heinrich der Vogler, Das Erkennen, Urgroßvaters Gesellschaft. Die Kaiserjagd im Wienerwald – auch Der Schützling genannt – führt im Gesamtwerk eher ein Schattendasein, was auch mit ihrem Inhalt zu tun hat. Auf einer neuen Balladen-CD von Carl Loewe bei AV Artworks Vienna Records (VR 20-001) legt der Bass-Bariton Stefan Unterleithner die dritte nachweisbare Einspielung vor. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Titeln, die es auf bis zu vierzig und mehr bringen. In der cpo-Edition wird sie von Roman Trekel gesungen. Lange vorher hatte sich 1970 Eberhard Wächter –  Österreicher wie Unterleithner – auf seiner Preiser-Platte der Ballade zugewandt. Mit gut zehn Minuten ist sie eine der längsten. Diese Ausmaße verlangen dem Interpreten viel Gestaltungsvermögen ab, um der Langeweile zu wehren. Bei Unterleithner sind dabei durchaus Reserven festzustellen. Er hat erkennbare Schwierigkeiten, das rasante Jagdgetümmel, mit dem die Ballade anhebt, einzufangen. Er läuft fast Gefahr, dass sich die Stimme überschlägt. Wohlmeinende Hörer könnten darin den Versuch ausmachen, die Stimmung der Szene durch Verzicht auf Kantilenen besonders plastisch auszumalen. Lyrische Passsagen – und das gilt für die ganze CD – gelingen wesentlich besser. Sie sind eine Stärke seines markanten Bassbaritons. Es ist Unterleithner zugute zu halten, das er um diese nahezu unbekannte Ballade keinen Bogen macht und deren Diskographie erweitert.

Vom charismatischen Wiener Dichter Johann Nepomuk Vogl stammen die Texte zu siebzehn Balladen von Carl Loewe. Foto: Wikipedia

Mit dem Wiener Kongress hat sie einen konkreten historischen Hintergrund. Als Gastgeber lud Kaiser Franz I. im September 1814 die gekrönten Häupter von Russland, Dänemark und Bayern zur Jagd ein. Wort und Musik schildern das weidmännische Treiben. Ein Reh bringt sich vor seinen Verfolgern in den Armen von Zar Alexander in Sicherheit. Der nun bittet beim gastgebenden Herrscher um Gnade für das Tier und bekommt sie mit der Versicherung, dass diesem Reh hinfort kein Haar gekrümmt werde, weil es ihn, den Kaiser, immerdar an das edle Herz des Zaren erinnern möge. Eine Huldigung also. Solcherart ist die Botschaft. Den Komponisten dürfte vornehmlich der dramatische Gehalt gereizt haben. „Horch, Hörnerklang, horch, Treiberruf, ha! wie das klingt und schallt! Der Österreicher Kaiser jagt nicht fern von Wien im Wald.“ Loewe, dem es als Organist und Kantor in Stettin qua Amt verboten war, Opern zu schreiben, nutzte gern jede andere Möglichkeit, szenische Situationen darzustellen. Der Pianist Yu Chen holt sie wirkungsvoll aus dem Flügel heraus. Subtiler hätten gewisse Momente in anderen Balladen ausfallen können. So ist der unheimliche Dialog zwischen Vater und Sohn im Erlkönig unter Wert verkauft, und der gestandene Schmied von Helgoland in Odins Meeresritt hätte angesichts des unter seinem Hammer unverhofft zu mächtiger Größe anwachsenden Hufeisens für das Luftross des mythischen Gottes etwas ängstlicher staunen können. Dafür findet der Sänger den Einstieg perfekt und bemüht sich, gut verstanden zu werden, was für Balladen unerlässlich ist. Insgesamt vierzehn Balladen wurden eingespielt, darunter Herr Oluf, Tom der Reimer, Graf Eberstein, Prinz Eugen, Süßes Begräbnis und die unverwüstliche Uhr. Verehrer des Komponisten Carl Loewe dürfte die neue CD sehr freuen.

„Herr Oluf reitet spät und weit / Zu bieten auf seine Hochzeitleut …“ Auf Hochzeitleut“ bieten? Ein Blick in das Deutsche Wörterbuch der Grimms offenbart den Sinn der schönen Wendung, die Johann Gottfried Herder in die Übersetzung der Ballade unbekannter Herkunft aus dem Dänischen ins Deutsche hineingelegt hat. Sie findet sich in dem Wort Aufgebot wieder, mit dem eine Hochzeit noch heute in den Standesämtern öffentlich bekanntgegeben wird. Herr Oluf will sich also vermählen, trifft aber – was nicht vorgesehen ist – bei seiner Ankündigungstour auf Erlkönigs Tochter, deren Zauber er gar zu schnell unterliegt. Er ist anfällig. Und am Hochzeitstage selbst, als bereits Met und Wein gereicht werden, fehlt er. Die Verwunderung währt nicht lange. Herr Oluf kehrt als Toter heim. Carl Loewe hat die Ballade Herr Oluf 1821 im Alter von fünfundzwanzig Jahren komponiert. Sie ist also ein Frühwerk und gehört neben Treuröschen und Walpurgisnacht zu den Drei Balladen op. 2. Darin offenbart sich sein außergewöhnliches dramatisches Talent. Namhafte Sänger in großer Zahl haben sich ihr gewidmet, darunter Josef Greindl, Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Quasthoff, Robert Holl, Kurt Moll, Thomas Hampson.

 

Unlängst ist Konstantin Krimmel hinzugekommen. Er hat das Stück ins Programm seiner Debüt-CD Saga aufgenommen, die bei Alpha Classics (Alpha 549) erschien. Von Loewe gibt es mit Tom der Reimer, Erlkönig und Odins Meeresritt noch drei weitere Zugnummern, die ohne künstlerisches Zutun allerdings nicht zum Selbstläufer werden. Vielmehr muss der Sänger gerade bei den populären Stücken darauf achten, etwas zu geben, was die Vorgänger so noch nicht angeboten haben. Bei Krimmel ist eine feine Dramaturgie zu hören. Er baut Spannung auf, indem er innerhalb einzelner Stücke sehr geschickt mit dem musikalischen Fluss arbeitet. Mal hält er inne, mal zieht er an. Am Beginn ist oft noch nicht klar, wie es endet. Als ob sich Handlungen erst während des Vortrages entwickeln. Auch wer die literarischen Vorlagen auswendig kennt, ist gespannt, wie es weitergeht. Auch Pausen oder neue Ansätze zwischen Versen und Gedanken werden genauso zum Ausdrucksmittel wie Interpunktionen. Dabei hat er in Doriana Tchakarova am Flügel eine versierte Partnerin, die seinen Intentionen folgt, zugleich aber auch eigene Akzente setzt. Der Sänger war zum Zeitpunkt der Aufnahme grade mal sechsundzwanzig Jahre alt. Ganz so jung klingt er nicht. Vielmehr wirkt die Stimme des Baritons mit rumänischen Wurzeln fest, kerngesund und belastbar. Er hat ein breites Ausdrucksspektrum zur Verfügung. Er weiß, was er singt. Krimmel erfasst die dichterische Struktur der Balladen genau. Er baut seine Interpretation vom Wort her auf. Singend erzählt er Geschichten. Dafür hat er mit der akribischen Deutlichkeit des Vortrags die denkbar besten Voraussetzungen. Bei ihm sind die Hochzeitleut aus der Ballade von Herrn Oluf wirklich Hochzeitleut und keine Hochzeit(s)leut. Authentischer habe ich Loewe in jüngster Zeit nicht gehört. Schon gar nicht aus so jungem Munde. Man könnte mitschreiben, was er singt. Der Abdruck der Texte im umfänglichen Booklet wirkt da fast schon wie Hohn.

 

Mit der Zeile „Meister Oluf, der Schmied von Helgoland, verlässt den Ambos um Mitternacht“ beginnt Loewes Ballade Odins Meeresritt. Der Bassbariton David Jerusalem hatte sie an den Beginn seiner CD In Erlkönigs Reich gesetzt, die bei hänssler Classic herausgekommen ist (HC 17012). Besser konnte der Einstieg nicht gewählt sein. Raumgreifend zieht der Sänger seine Hörer in den Bann. Sie geraten ohne Umschweife in diese wundersame Welt, wo der feurige Rappe durch die Lüfte schießt, die alten Weiden so grau scheinen, ein Zwerg seine Königin im tiefen Wasser versenkt und Elfen auf grünem Strand tanzen. Balladen erzählen Geschichten, unheimliche und spannende Geschichten, sie stecken voller Symbole, Topoi und historischer Anspielungen. Als Relikte des Bildungsbürgertums sind sie aus der Mode gekommen. Umso erfreulicher ist es, dass sich wieder ein junger Sänger, Jahrgang 1985, in aller Öffentlichkeit auf diese anstrengende Bildungsreise begibt. Und wieder Lust auf Balladen macht. Jerusalem huscht nicht über die wortreichen Strecken hinweg. Er lotet und kostet sie aus. In seinem Vortrag bleibt nichts offen. Dafür braucht es die Gabe verständlichen Singens, für die ein Sänger in der Übung bleiben muss. Daran hat der Pianist Eric Schneider hörbaren Anteil, weil er sehr sangesfreudige Tempi anschlägt und inhaltsbezogene Akzente setzt. Der umfassend gebildete Schneider ist ein Enkel des Schriftstellers Albrecht Schaeffer und hat zweitweise selbst Schauspielunterricht genommen. Er und Jerusalem sind ein perfektes Team für die gemeinsame CD mit Balladen von Carl Loewe und Franz Schubert.

Mit dem Erlkönig gibt es sogar einen unmittelbaren Berührungspunkt zwischen den Komponisten. Beide Versionen sind vergleichend im Angebot. Und das ist gut so. Loewe muss sich nicht hinter Schubert verstecken. Für Schubert aber muss nicht gestritten werden. Für Loewe schon. Sein Platz in der Musikgeschichte ist ihm immer noch nicht ganz sicher. Er ist aber wieder stark im Kommen. In die große cpo-Edition mit allen Liedern und Balladen hatten sich seinerzeit viele jüngere Sänger eingebracht. Und die Internationale Carl Loewe Gesellschaft mit Sitz in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten, arbeitet wirkungsmächtig an der Verbreitung seines Schaffens und Ruhms. Kein Zweifel, die neue CD wird auch in diesem Kreis aus Fachleuten und engagierten Musikfreunden viel Aufmerksamkeit finden. Zumal sich Jerusalem nicht scheute, neben Meisterstücken wie Tom der Reimer und Herr Oluf auch die gern verspottete Uhr ins Programm genommen zu haben, die in seiner frischen Interpretation ihre Betulichkeit verliert. Jerusalem hat sich ein eigenes Timbre mit Wiederkennungswert erarbeitet. Seine Stimme wirkt sehr belastbar. Flexibel kann er zwischen dramatischen und lyrischen Passagen wechseln. Mittellage und Tiefe sind stabil und fest. Der Aufstieg zur Höhe könnte noch eleganter und freier klingen. Wer in Loewes Archibald Douglas nach einem Text von Theodor Fontane über mehr als zwölf Minuten die Spannung hält, hat die Feuerprobe als Balladensänger bestanden. Es wäre erfreulich, würde dieses Genre in seiner Karriereplanung einen festen Platz behalten.

 

Liedern und Balladen, die im Wesentlichen von Stéphane Degout bestritten werden, sind bei harmonia mundi (HMM 902367) im Angebot. Begleiter am Klavier ist Simon Lepper. Diese CD – und das macht ihren besonderen Reiz aus – enthält zwei Versionen von Edward, einem abgründiger Dialog zwischen Sohn und Mutter um Vatermord. Die aus Schottland stammende Textvorlage wurde ebenfalls von Herder ins Deutsche übersetzt. Von dem Stoff hatten sich sowohl Johannes Brahms als auch Loewe anstecken lassen. Brahms lässt sie mit verteilten Rollen singen. Den Part der Mutter übernahm die inzwischen siebenundsiebzigjährige Felicity Palmer. Das macht die Interpretation eindeutig. Die Palmer stattet ihren Part mit den Resten ihrer einst schönen Stimme opernhaft aus und macht sehr deutlich, wer in der Geschichte die treibende Kraft ist. Degout ist dadurch die Möglichkeit gegeben, den Sohn als fremdbestimmte tickende Zeitbombe darzustellen, verdruckst wie eine Shakespeare-Gestalt. Bei Loewe agiert der Solist allein und ist dadurch vor große gestalterische Herausforderungen gestellt, weil die Dichtung als innerer Monolog erscheint. Es ist, als ob der Sohn die Stimme der Mutter wie im Wahn in sich hört und sich dazu angestiftet fühlt, das Schwert gegen den Vater zu erheben. So klingt es denn auch. Degout gelingt eine packende und gnadenlose Wiedergabe, die in der umfangreichen Loewe-Diskographie ihresgleichen sucht.

 

„… von sanftem Traum umflossen“: So hat der Tenor Malte Müller seine CD bei Spektral (SRL4-18167) betitelt. Dabei handelt es sich um den Beginn eines Liedes aus dem so genannten vierten Strauß der umfänglichen Gedichtsammlung „Liebesfrühling“ von Friedrich Rückert. Sämtliche zweiundzwanzig Lieder der Einspielung folgen Texten dieses Dichters, der zwischen 1788 und 1866 lebte. Wäre er nicht so oft vertont worden, dürfte sich die Erinnerung an ihn in noch engeren Grenzen halten als es ohnehin der Fall ist. Zwar sind Straßen nach ihm benannt, Denkmäler an seinen Wirkungsstätten errichten worden. Das Geburtshaus in Schweinfurt und das Wohn- und Sterbehaus in Neuses, das inzwischen ein Stadtteil von Coburg ist, gehören dort zu den ersten Adressen. Auf seinem Grab liegen manchmal frische Blumen. Vom Volksmund aufgeschnappt ist das geflügelte Wort vom „lieben Freund und Kupferstecher“, das auf Rückert zurückgeht. Damit leitete er seine Briefe an den Kupferstecher Carl Barth ein, mit dem er befreundet war und der eines der bekanntesten Konterfeis des Dichters mit den schulterlangen Haaren, der auch Italien bereiste und Teile des Korans ins Deutsche übersetzte, schuf. Rückert ist einer von Loewes bevorzugten Dichtern. Malte Müller hat sich für die anrührende Ballade Des fremden Kindes heil’ger Christ entschieden, die in jüngster Zeit bei Sängern wieder Aufmerksamkeit findet, nachdem sie über Jahrzehnte nur in einer gekürzten Aufnahme von Karl Erb vorgelegen hatte. Rüdiger Winter

Singen wie vor 200 Jahren

 

Das Cover dieser CD macht neugierig. Nicht wegen des als Illustration gewählten Bildes. Caspar David Friedrichs Mondaufgang am Meer, das im Original in der Alten Nationalgalerie in Berlin besichtigt werden kann, steht ehr für hinlänglich Bekanntes, nicht aber für Neuland. Der Titel ist es, der aufhorchen lässt: Schubert. The small song cycles, erschienen bei passacaille (1084). Es singt der Tenor Markus Schäfer. Begleitet wird er von Zvi Meniker. Was es mit den kleinen Zyklen auf sich hat, erklären der im Liedgesang bewanderte Schäfer und sein Pianist im Booklet selbst: „Es handelt sich nicht um geplante Zyklen wie Die schöne Müllerin oder die Winterreise, sondern meistens um Lieder, die er zu verschiedenen Zeiten geschrieben und dann in Zusammenhang gebracht hat. Er hat ja immer nach Lust und Laune komponiert, ohne vorher zu planen, denn anders als bei Mozart kam ihm die Inspiration nicht auf Bestellung oder mit Aussicht auf eine Aufführung, oder wie bei Beethoven mit einem Auge auf den Verleger. Sobald der Funke übersprang, begann er zu komponieren. So ist jedes Lied, egal wie kurz, ein Kleinod. Deshalb gibt es so viele unveröffentlichte Lieder, und oft hat er seine Lieder erst eine Weile nach der Komposition nur für eine Veröffentlichung zusammengestellt. Jeder Zyklus weist eine eindeutige Entwicklung, eine Richtung, einen Anfang und ein Ende auf. Und auch wenn es manchmal etwas versteckt ist, hat jeder Zyklus ein Thema.“

Selbst sehr populäre Titel wie „Du bist die Ruh“ oder „Nähe des Geliebten“, wirken in zyklischer Zuordnung plötzlich anders. Diese Erfahrung fällt den Hörern aber nicht in den Schoß. Sie müssen sich darauf einlassen. Es kann auch nicht verkehrt sein, die Texte, die sich im Booklet finden, neu zu lesen, sie nachträglich auf sich wirken zu lassen. Das Publikum ist zu einer Entdeckungsreise eingeladen. Schäfer macht es ihm leicht, weil er so gut zu verstehen ist. Ausdruck und inhaltliche Vermittlung scheinen ihm wichtiger als Schöngesang. Nicht selten geraten Töne etwas herb. Doch wenn es darauf ankommt, holt er die große Farbpalette hervor und schöpft er aus einem großen Vorrat an lyrischem Schmelz. Naxos und Hyperion waren in ihren großen Gesamteinspielungen andere Wege gegangen. Während sich Naxos bei der Zusammenstellung nach den literarischen Vorlagen richtete, folgte Hyperion der Entstehungszeit auf Grundlage des Werkverzeichnisses von Ernst Deutsch. Markus Schäfer und sein Pianist gehen nun bei ihrer Auswahl einen dritten Weg und geben damit auch neue Anstöße für die Aufführungspraxis, die Nachahmung verdienen. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis wichtig, dass in der vom Musikwissenschaftler Walther Dürr (1932-2018) herausgegebenen Neuen Schubert-Ausgabe die Lieder nach ihren Opuszahlen geordnet seien.

Der Wiener Hofopernsänger Johann Michael Vogl und Franz Schubert in einer Karikatur von Franz von Schober, der beide miteinander bekannt gemacht hat/ Wikipedia

Nicht genug damit. Beide Interpreten haben sich an Johann Michael Vogl erinnert und seinen individuellen Vortragsstil nachgespürt. Er gilt als erster Schubert-Sänger der Musikgeschichte. Wie hat er gesungen? Wie hat es geklungen? Vogl wurde 1768 bei Steyr geboren und stieg zu einem Hofopernsänger in Wien auf, wo er vor allem in Werken von Mozart und Gluck gefeiert wurde. Nebenher war er auch als Regisseur tätig. 1817 lernte er Schubert kennen und erkannte die Bedeutung von dessen Liedern. Trotz des Altersunterschieds von knapp dreißig Jahren wurden sie Freunde und traten gemeinsam auf. Vogl organisierte auch Konzertreisen und trug damit wesentlich dazu bei, dass Schubert bekannt wurde. Diese Fürsorge dauerte auch nach Schuberts frühem Tod im Jahr 1828 an. Vogl betreute den Nachlass und sorgte dafür, dass die Schöne Müllerin herausgeben wurde. „Wie seine eigenen handschriftlichen Abschriften der Lieder zeigen, hatte der Sänger die Angewohnheit, seine Gesangslinien zu verzieren“, schreibt der belgische Flötist, Kunst- und Musikwissenschaftler Jan De Winne im Booklet und schickt ein Zitat aus einem 1823 geschriebenen Brief Schuberts hinterher. Daraus geht hervor, dass der Komponist kein Problem damit hatte. Vogl, so Schubert, beschäftige sich fast ausschließlich „mit meinen Liedern“ und schreibe selbst die Singstimme heraus. Vogl habe also nicht nur die Vokallinie variiert, sondern auch seine „Sprechstimme und manchmal sogar das Falsett“ eingesetzt, um die Expressivität zu steigern, ist weiter zu erfahren. De Winne ist sich darüber im Klaren, dass solche Freiheiten „den Unmut der Puristen der aktuellen Interpretationspraxis“ erregen. Es könnte aber auch „neues Interesse an der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts“ gefördert werden. Aus Zeugnissen von Schuberts Zeitgenossen gehe hervor, „dass diese Debatte schon damals geführt wurde“. Für diese CD ist das Booklet Pflichtlektüre. Das hätte gleich auf dem Cover vermerkt werden müssen. Auch wer sich mit Schubert gut auszukennen glaubt, bleibt ohne genauen Blick in den schriftlichen Teil der Neuerscheinung ratlos zurück. Was es zu hören gibt, erklärt sich nicht von selbst.

 

Deshalb ist es eine gute Idee gewesen, ein Werkstattgespräch zwischen Sänger und Pianist als vielsagendes Protokoll abzudrucken: Zvi Meniker: Ich denke, wir sollten uns von Schuberts Sänger Johann Michael Vogl inspirieren lassen und einige Verzierungen und Veränderungen einfügen. Besonders seine Veränderungen zu den Harfner-Gesängen sind wunderbar, nicht nur als Auszierungen, sondern auch als äußerst ausdrucksvolle Erweiterungen, ja fast Verbesserungen.

Markus Schäfer: Ja, ich würde Vogls Veränderungen zu den Harfner-Gesängen einfach übernehmen, die sind unübertrefflich. Und ich würde die zum Fischer auch nehmen; da macht Vogl in jeder Strophe etwas anderes, aus dem Strophenlied macht er fast ein durchkomponiertes Werk.

Z.M.: Ja, tatsächlich! Weißt Du, ich denke, wir sollten auch mit den anderen Strophenliedern etwas Ähnliches machen…

M.S.: Zum Beispiel bei den anderen aus Opus 5, Nähe des Geliebten und Der König in Thule?

Z.M.: Und sicher auch bei den Refrain-Liedern. Bei den beiden lustigen würde ich sogar in meinem Part etwas verändern, vielleicht auch beim König in Thule, da es so ein „einfaches“ Lied ist.

M.S.: Meinst Du nicht, dass das zu viel wird?

Z.M.: Naja, wenn Du siehst, was Vogl aus dem Fischer gemacht hat… Ich würde sowieso nicht alle Strophen genau gleich singen und spielen, etwas verändern müssen wir; und von wem könnten wir besser lernen als von Vogl? Nicht umsonst hat Schubert aus Salzburg an seine Familie geschrieben: „Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten was ganz Neues, Unerhörtes.” Schubert hat den Hofopernsänger Vogl also wirklich hochgeschätzt…“

M.S.: Dann lass uns diese Sachen ausprobieren, und schauen wir, wie es im Konzert wirkt. Ob wir das Publikum zum Heulen bringen, wie Schubert und Vogl es getan haben!

Der Tenor Markus Schäfer und seine Begleiter Zvi Meniker (links) gehen ungewöhnliche Wege bei der Interpretation von Schuberts Liedern. Ausschnitt dem Booklet. Foto: Assen Boyadjiev

M.S. & Z.M.: Etwa so, liebe Zuhörer, ist diese Aufnahme entstanden. Obwohl Schuberts Lieder uns schon länger bekannt sind, waren wir erstaunt, wie die bloße Anordnung nach den Zyklen, die er selber zusammengestellt und herausgegeben hat, die Lieder für uns in ganz neuer Sichtweise erscheinen lässt. Jedes Lied ist ein Kleinod an sich, aber jeder Zyklus bringt die Lieder zusammen und lässt sie aufeinander wirken, ohne dass ein Lied seine Stimmung und seinen Zauber verliert. Erstaunlich ist die Mannigfaltigkeit in diesen sechs Sammlungen mit 22 Liedern – ein winziger Teil von den etwa 600, die Schubert in nur 14 Jahren geschrieben hat. Wir waren entzückt, wie der Erzähler im Lied Heliopolis I – hoffentlich sind Sie es auch. Ende des Gesprächs Und was hat der Erzähler zu verkünden? „Wende, so wie ich, zur Sonne Deine Augen! Dort ist Wonne, dort ist Lebe…“

Schäfer legt die Strophe mehr als Staunen denn als Entzücken an und erzielt gerade dadurch die vielleicht noch viel größere Wirkung. Gemeinsam mit dem Lied eines Schiffers an die Dioskuren und mit Der Wanderer bildet es das als Drei Lieder bezeichnete Opus 65. Mit der Zusammenstellung in dieser Gruppe wird der zyklische Gedanken mit am deutlichsten.

Als sehr passend erweist sich die Begleitung mit dem Fortepiano, einem Hammerflügel. Der härtere Klang schafft eine gewisse entrückte Distanz zu den Darbietungen, signalisiert, dass Ungewohntes versucht wird. Zivi Meniker spielt ein Instrument, das 2012 in der Werkstatt des US-amerikanischen Klavierbauers Paul McNulty nach einem historischen Flügel des Wieners Conrad Graf aus Schuberts Zeit hergestellt wurde. McNulty arbeitet heute in Tschechien und zwar in Divisov in der Mittelböhmischen Regien. Nach historisch verbürgten Überlieferungen soll Graf das Holz für die Resonanzböden seiner Instrumente in Böhmen gefunden haben. Rüdiger Winter

Die kleinen Dinge versteckt

 

Ein neues Italienische Liederbuch von Hugo Wolf ist bei Spektral erschienen. Es singen Anke Vondung und Werner Güra, am Klavier begleitet von Christoph Berner (SRL4-20182). Wer sich diesem Werk – ob im Studio oder live – zuwendet, trifft auf harte Konkurrenz. Es herrscht überhaupt kein Mangel an Aufnahmen. Einzelne Titel gelangten schon vor neunzig Jahren auf Schellack. Damals begann der britische Musikproduzent Walter Legge damit, vorsichtig den Plattenmarktwert des Komponisten zu erkunden. The Hugo Wolf Society nannte sich die Sammlung von Alben für einen erlesenen Käuferkreis, die nach und nach als Subskription veröffentlicht wurden. Sie haben sich bis in die Gegenwart erhalten und waren zuletzt noch bei der EMI herausgegeben worden. Ohne Legge, der von Wolf besessen war und prophetisch für ihn kämpfte, dürfte das Werk dieses Komponisten, das hauptsächlich aus Liedern besteht, nicht seinen verdienten Platz im internationalen Kunstbetrieb gefunden haben. In besagte Edition ist der Zyklus nicht komplett eingegangen. Von den 46 Liedern wurden nur achtzehn berücksichtigt. Als Solisten waren unter anderen Elena Gerhardt, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis gewonnen worden. Der Pianist Michael Raucheisen bedachte Wolf in seiner legendären Liededition beim Reichsrundfunk in Berlin mit einem beträchtlichen Kapitel.

Vollständig ist das Liederbuch erst relativ spät entdeckt worden. Bei den Salzburger Festspielen im Heimatland des Österreichers Hugo Wolf, wagten 1958 Irmgard Seefried und Dietrich Fischer- Dieskau die erste Aufführungen. Edith Mathis und Peter Schreier folgten 1976 nach. Dann dauerte es fast vier Jahrzehnte, dass Diana Damrau und Jonas Kaufmann 2018 mit dem Liederbuch gastierten. Plattenfirmen waren tüchtiger. Nachdem Elisabeth Schwarzkopf und Fischer-Dieskau 1959 unter der Obhut von Legge das Liederbuch in London eingespielt hatten, das bis heute Referenzstatus hat, ging es Schlag auf Schlag. Inzwischen haben sich an die zwanzig Aufnahmen angesammelt, die mit einigen Mühen alle noch zu haben sind – Erna Berger und Hermann Prey (Vox) sind darunter, Ileana Cotrubas und Thomas Allen (Enchant), Janet Baker und John Shirley-Quirk (ICA Classics),Elly Ameling und Tom Krause (CBS), Julia Kleiter und Christoph Pregardien (Challenge), Barbara Bonney und Hákan Hagegard (Teldec), Christiana Oelze und Hans Peter Blochwitz (Edel Records), Ruth Ziesak und Andreas Schmidt (RCA), Soile Isokoski und Bo Skovhus (Ondine) sowie bei Deutsche Grammophon Christa Ludwig und Fischer-Dieskau, der – wen wundert’s – am häufigsten auf Besetzungszetteln genannt wird.

Wer angesichts dieser Fülle nicht übersehen werden will, muss einiges zu bieten haben. Anke Vondung und Werner Güra haben es durchaus. Gemeinsam mit ihrem Pianisten verlassen sie die vom Komponisten gewollte Reihenfolge der Lieder. Nicht die „kleinen Dinge“, die uns auch entzücken können, stehen am Beginn. Los geht’s es mit „Ein Ständen, euch zu bringen“. Dieses Lied rutscht von der letzten Stelle des ersten Teils an den Anfang und macht dort als Entree durchaus Sinn. Lediglich sechs Lieder – und zwar die Nummer 27 sowie die letzten fünf behalten ihre angestammten Plätze. „Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen“ ist als Rausschmeißer unangefochten. Versöhnlicher kann das Liederbuch gar nicht ausklingen. Grund für die neue Reihung ist der Versuch, der Sammlung einen vor allem an den Texten orientierten Zusammenhalt zu geben. „In zahlreichen Konzerten erprobt, soll sie den dramaturgischen Bogen, das aufeinander Zugehen und sich im Streit wieder voneinander Abwenden der beiden Liebenden noch schärfen – und damit das theatralische Element, das in den 46 Mini-Dramen steckt, verdeutlichen“, so Pianist Berner im Booklet. Bei der Arbeit habe man sich die Kulisse eines toskanischen Städtchens ausgemalt. Auch dort entfalteten „Gegensätze ihr kreatives Potenzial“. Die Muttersprachlichkeit beider Solisten garantiert ein hohes Maß an Wortverständlichkeit. Anke Vondung und Werner Güra kosten die Texte aus, indem sie deren lyrisches Potenzial genauso erkunden wie die freche Ironie. Sie werfen sich die Bälle nur so zu, dass es eine Freude ist, ihnen zuzuhören. Sie treten als ein Paar in Erscheinung, das seine Erfahrungen gesammelt hat, das also weiß, wovon es redet, worüber es sich streitet und warum es sich wieder versöhnt. Die kurzen anonymen Gedichte hatte Paul Heyse (1830-1914) auf dem toskanischen Dialekt ins Deutsche übertragen. Heyse, der als erster Deutscher den Literaturnobelpreis erhielt, hatte Italien für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts neu entdeckt. Es galt nach eigenem Bekunden als sein zweites Vaterland. Er war in seiner Zeit ungemein populär, und seine Bücher und Übersetzungen fehlten in keinem Bücherschrank. Rüdiger Winter

Pathos ohne Kitsch

 

Dass Artur Rodziński (1892-1958), der polnische Dirigent mit österreichisch-ungarischen Wurzeln, heutzutage etwas aus dem Blickfeld verschwunden ist, kann man angesichts seiner Qualitäten nur bedauern. Es ist von daher hoch erfreulich, wenn Sony Music nun die 16 CDs umfassende Box Artur Rodziński / New York Philharmonic – The Complete Columbia Album Collection (19439787752) vorlegt.

Die größten Spuren hinterließ der gebürtige Europäer tatsächlich in Amerika, wo er 1925 Assistent von Leopold Stokowski in Philadelphia wurde. 1929 übernahm er sodann als Musikdirektor zunächst das Los Angeles Philharmonic, um 1933 in selber Funktion zum Cleveland Orchestra zu wechseln. Dort blieb er ein Jahrzehnt und legte die Basis für den späteren Welterfolg des Orchesters unter seinem Nachfolger George Szell. Den endgültigen Karrieresprung machte Rodziński dann im Jahre 1943, als er das seit John Barbirollis Abgang 1941 ohne formalen Chefdirigenten agierende New York Philharmonic übernahm, eines der damaligen sogenannten Big Three (neben Boston und Philadelphia; erst in den 1950er Jahren wurde es endgültig zu den heute geläufigeren Big Five, als man Chicago und Cleveland ebenfalls in diese oberste Liga aufnahm). Konflikte mit dem Orchestermanager Arthur Judson kennzeichneten Rodzińskis New Yorker Engagement von Anfang an. Nicht zuletzt aufgrund dieser Problematik endete sein Vertrag bereits 1947. Im selben Jahr wechselte er nach Chicago, doch auch dort gab es ernsthafte Differenzen mit dem Direktionsgremium, so dass Rodziński nach nur einer Spielzeit hinwarf und fortan nur mehr als Gastdirigent auftrat. In seinem letzten Lebensjahrzehnt entstanden noch zahlreiche Einspielungen, machten sich aber auch zunehmende gesundheitliche Verfallserscheinungen des Dirigenten bemerkbar. Dies ging soweit, dass ihm ärztlich dringend von weiteren Dirigierverpflichtungen abgeraten wurde. Freilich scheint sich Rodziński nicht daran gehalten zu haben und übernahm nach seiner Rückkehr nach Chicago Wagners Tristan an der Lyric Opera (übrigens sein einziger dortiger Auftritt). Kurze Zeit später, am 27. November 1958, starb Artur Rodziński im Alter von 66 Jahren in Boston.

Freude für die Fans: die CD-Hüllen mit den originalen Plattencovern der alten LPs 

Seine diskographische Hinterlassenschaft ist ausgesprochen reichhaltig und erstreckt sich auf mehrere Labels. So spielte er in Cleveland und New York für Columbia Records ein, wechselte in Chicago zu RCA Victor, um später neuerlich für ein paar New Yorker Nachzügler abermals zu Columbia zu wechseln. Es folgten Produktionen für Westminster (1954-1956) und ganz zuletzt für EMI (1957-1958), die sämtlich mit europäischen Orchestern, nämlich dem Wiener Staatsopernorchester, dem Royal Philharmonic Orchestra sowie dem Philharmonia Orchestra zustande kamen. Dergestalt nimmt es nicht wunder, dass nur die EMI-Aufnahmen und ein kleiner Teil jener für Westminster bereits in Stereo festgehalten wurden.

Die hier nun vorgelegten Einspielungen entstanden größtenteils zwischen 1944 und 1946, als Rodziński Musikdirektor des New York Philharmonic war, bereichert um ein paar Aufnahmen von 1950 mit dem studioeigenen Columbia Symphony Orchestra. Gemessen am enormen Alter, ist die klangliche Aufbereitung wahrlich gut gelungen (24-bit/192 kHz-Remastering von den Originalbändern). Die meisten dieser Einspielungen erleben hier gar ihr verspätetes CD-Debüt.

Was aber ist nun konkret enthalten? Schwerpunkte umfassen die Komponisten Brahms (Sinfonien Nr. 1 und 2), Rachmaninow (Sinfonie Nr. 2 und Klavierkonzert Nr. 2 mit György Sándor), Tschaikowski (Sinfonie Nr. 6, Nussknacker-Suite, Mozartiana-Suite) und vor allem Wagner (dritte Szene des ersten Aufzuges und kompletter dritter Aufzug der Walküre, Siegfried-Idyll, diverse Auszüge aus Tristan und Lohengrin). Opern-Aficionados dürften frohlocken angesichts der Besetzung: Helen Traubel als üppig-opulente Sieglinde, Brünnhilde und Isolde, der fast vergessene, aber betörend heldische Emery Darcy als Siegmund sowie Herbert Janssen als vielleicht etwas heller Wotan stehen im Zentrum.

In die Edition wurden auch das Columbia-Album mit dem kompletten dritten Aufzug der „Walküre“ und diversen anderen Szenen mit Helen Traubel und Herbert Janssen übernommen.

Trotz des historischen Klanges sind eigentlich enthaltenen sinfonischen Darbietungen Rodzińskis ungemein packend, so dass sich die Faszination auch nach fast 80 Jahren einstellt. Er kostet trotz ziemlich rasanter Tempi süffig, jedoch nie ohne einen Anflug von Kitsch das den Werken innewohnende Pathos aus, so gerade in der Pathétique von Tschaikowski, die er für Westminster etwa ein Jahrzehnt später noch einmal, klanglich geringfügig besser (jedoch auch noch in Mono) einspielen sollte. Überhaupt ist Rodziński im russischen Repertoire ungemein stark, wie man auch in den ebenfalls inkludierten Bildern einer Ausstellung von Mussorgski in der Ravel-Orchestrierung oder in Prokofjews fünfter Sinfonie erfahren kann. Vom damals noch lebenden Sibelius ist interessanterweise als einziges die seinerzeit selten gespielte vierte Sinfonie berücksichtigt, bei der Rodziński besonders im düsteren Kopfsatz punkten kann. Ansonsten ist das französische Repertoire gut abgedeckt mit dem vierten Klavierkonzert von Saint-Saëns (am Piano niemand Geringerer als Robert Casadesus) und Saties Trois morceaux en forme de poire (Robert und Gaby Casadesus). Weiterhin die Sinfonie C-Dur sowie das Vorspiel zum dritten Carmen-Aufzug von Bizet, die Suite française von Milhaud und die exotisch angehauchte sinfonische Suite Escales von Ibert.

Verbundenheit zum amerikanischen Repertoire zeigt Rodziński mit Werken von Morton Gould (Spirituals for Orchestra), Copland (Lincoln Portrait; Erzähler: Kenneth Spencer) und Gershwin (An American in Paris). Gewissermaßen als Zugabe sind die beiden sogenannten Twilight Concerts von 1950 mit dem Columbia Symphony Orchestra anzusehen, wo Gassenhauer wie die Guillaume Tell– und die Orphée aux enfers-Ouvertüre und weitere kurze Stücke, oft Auszüge aus kompletten Werken, zum Besten gegeben werden. Alle CD-Hüllen sind den originalen Covern nachempfunden. Die mit vielen Fotos versehene und Textbeigabe ist sehr gediegen. Insgesamt eine ausgesprochen ansprechende Box für jeden Liebhaber legendärer Dirigenten der Vergangenheit ohne Berührungsangst vor edlem Monoklang (Foto oben: Serge Koussevitzky, Music director of the Boston Symphony from 1924-1949/ Courtesy of the Boston Symphony Orchestra). Daniel Hauser

Klingende Seelenwanderung

 

Die Wesendonck-Lieder sind längst nicht mehr nur Sängerinnen vorbehalten – auch wenn sie so nicht gedacht waren. Sie sind die künstlerische Frucht der sehnsuchtsvollen Liebe zwischen Richard Wagner und der reichen Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. Ort des Geschehens ist die Villa in Zürich. Während der idyllische Park die durch Briefe belegte schwärmerische Beziehung noch immer ahnen lässt, sind die Spuren in den dazugehörigen Gebäuden verweht. Aus der im Renaissancestil erbauten Villa Wesendonck ist das Museum Rietberg für außereuropäische Kunst aus Afrika, Amerika, Ozeanien und Asien geworden. Größer können Gegensätze nicht sein. Zwei der insgesamt fünf Lieder für eine Frauenstimme und Klavier – Im Treibhaus und Träume – sind als Studien für Tristan und Isolde ausgewiesen. Wagner instrumentierte nur Träume, die anderen Lieder versah der Dirigent und Komponist Felix Mottl mit Orchesterbegleitung. Als eine der ersten Sängerinnen nahm sich Frida Leider der Lieder an, verzichtete aber auf Stehe still! Die meisten Einspielungen und Mitschnitte – mindestens zehn – dürfte Kirsten Flagstad hinterlassen haben. Es gibt diverse Bearbeitungen und neue Orchestrierungen beispielsweise von Hans Werner Henze. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Herren der singenden Zunft nach den Liedern greifen würden. Mit dem Tenor Jonas Kaufmann (Decca), dem Bariton Konrad Jarnot (Oehms) und dem Bass Günther Groissböck (ebenfalls Decca) sind alle Stimmlagen dokumentiert. Nach einem Eindruck hat keiner von ihnen die Ausdruckspalette dieser feinsinnigen Liedkompositionen erweitern können. Es sind ehr beachtliche sportliche Leistungen gelungen. Jetzt fehlen noch die Countertenöre und Altisten.

Ein reizvolles Gegenstück zu diesen Eskapaden hat das Voyager Quartet bei Solo Musica vorgelegt (SM 358). Wesendonck-Lieder – Transcripted and recomposed by Andreas Höricht. Zu dem Ensemble hatten sich 2014 die orchester- und kammermusikerfahrenen Solisten Nico Christians (1. Violine), Maria Krebs (2. Violine), Klaus Kämper (Violoncello) und Höricht mit der Viola zusammengetan. Bei ihnen stellt sich die Frage nicht, ob dieser Zyklus nun gendergerecht dargeboten werden soll oder nicht. Sie kommen ganz ohne Säger aus. Und das verfehlt seine Wirkung nicht. Die feinsinnige Bearbeitung, mit der großer Respekt vor dem Original bekundet wird, findet zu einer Intimität, die auch der Entstehungsgeschichte und den Gedichten Mathildes inhaltlich mehr als gerecht wird. Es klingt, als müsste es so sein. Jedes Lied – die Reinfolge ist beibehalten – bildet einen eigenen Satz. Die größte Veränderung im Vergleich mit der Vorlage sind bei ist Stehe still! wahrzunehmen. Dieses zweite Lied erklingt im Quartett weniger drängend und bewegt und passt sich dadurch den anderen Nummern stilistisch besser an. „Boten der Liebe“ ist die Neuerscheinung getitelt. Zu Beginn erklingt passenderweise das Vorspiel zu Tristan und Isolde. Am Schluss steht ein Streichquartett von Gustav Mahler Nr. 1.0. Was es mit der seltsamen Nummerierung auf sich hat, klärt Andreas Höricht im Booklet auf und nennt das quasi neu geschaffene Stück „die größte Herausforderung“. Es würden Werke aus seinem gesamten musikalischen Schaffen zu etwas Neuen verbunden. „Angefangen mit dem Jugendwerk, dem fragmentarischen Klavierquartett, über das Adagietto aus der 5. Sinfonie hin zur wieder unvollendeten 10. Sinfonie werden Mahlers Kompositionen übertragen, verbunden und weitergeführt.“ So gehe das Voyager Quartet „auf Seelenwanderung, überbringt klingende Liebesbriefe, verschlüsselte Botschaften und geheime Nachrichten. Ein Psychogramm in betörenden Tönen, recomposed für Streichquartett, dem Medium für spirituelle Botschaften“. Rüdiger Winter

Der Sänger wandert selbst

 

Der Bariton Andrè Schuen ist mit seinen siebenunddreißig Jahren bereits sehr erprobt im Liedgesang. Er tut gut daran, sich nicht auf die Oper festzulegen, wenngleich er bei bisherigen Bühnenauftritten bleibenden Eindruck hinterließ. Er macht etwas her, kann sich bewegen. Er bringt die Natürlichkeit eines Burschen aus Tirol in sein Spiel. Eine Natürlichkeit, die sich auch in seiner Stimme findet. Nun hat er Die schöne Müllerin von Franz Schubert aufgenommen. Sie ist bei Deutsche Grammophon erschienen (483 9558). Am Flügel sitzt Daniel Heide. Der aus Weimar stammende Pianist gilt als gesuchter Bergleiter. Schon im ersten Lied setzt er aufregende Akzente indem er gemeinsam mit dem Sänger das Tempo – wie auch im weiteren Verlauf des Zyklus – aus dem Handlungsverlauf entwickelt und jedem einzelnen Wort des Textes von Wilhelm Müller seinen eigenen musikalischen Ausdruck verleiht. „Die Steine selbst, so schwer sie sind“ rumpeln auch in den Tiefen seines Instruments. Heide hat großen Anteil daran, dass ich dem Vortrag ergriffen gefolgt bin, von Lied zu Lied darauf gespannt, wie es wie es weitergeht. Völlig zu Recht verweist Autor Maximilian Sippenauer im Booklet darauf, dass das Klavier „keinen virtuosen Zierrat“ liefert, sondern !transparent, vergrößernd, fragil wie konvex geschliffenes Glas“ wirke. „Diese feinsinnige Konversation zwischen Klavier und Gesang ist der Schlüssel zu Schuberts Müllerin und erfordert tiefes Vertrauen der Interpreten zueinander.“

Schuen tritt seinen Weg entschlossen an. „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Doch schon bald fällt auf, dass sich dieser Wanderer die Freude an der Bewegung in freier Natur mehr einredet denn wirklich Freude daran zu haben. Er ist wie auf der Flucht, trägt schwer an seinen Gefühlen. Diese Schwermut – heutzutage würde man von Depression reden – wird sein ständiger Begleiter. Was ihm begegnet, was seine Aufmerksamkeit erregt, bezieht er letztlich immer auf sich. Der Bach, der alsbald zu rauschen beginnt, zieht ihn hinab. Er wird den Tod darin suchen, und keiner wird um ihn weinen und trauern. Die Liebe, die er sich von der Begegnung mit der schönen Müllerin erhofft, erweist sich als Trugbild. Sie findet nur als Projektion in seinem Kopf statt, während die junge Frau dem feschen Jäger schöne Augen macht. Sie nimmt ihn nicht einmal richtig wahr.

Je weiter der Zyklus voranschreitet, verhaucht der Vortrag immer mehr, was auf einen sehr kontrollierten Umgang des Interpreten mit seiner Stimme schließen lässt. Andrè Schuen macht sich das Schicksal des Wanderburschen mit Anteilnahme und Empathie zu eigen. Er kann sich gut in ihn hineinversetzen. Seine Darbietung wird dadurch packend und glaubhaft. Er will nicht nur der Erzähler der Geschichte sein, er durchlebt sie selbst und macht damit von einer legitimen Möglichkeit der Liedinterpretation Gebrauch. Das gelingt umso besser, wenn jedes Wort zu verstehen ist wie bei Schuen. Wortdeutlichkeit ist eine seiner Stärken. Wollte er nur daran arbeiten, mit dem Buchstaben W besser umzugehen. Mal haucht er ihn an, um in das betreffende Wort zu finden, an dessen Beginn er steht, mal ist das nicht nötig. Ohne diesen kleinen Schönheitsfehler würde mein Urteil über seine Aufnahme der Schönen Müllerin noch positiver ausfallen. Rüdiger Winter

Gemischte Platte

 

Für ihr zweites Soloalbum bei Decca hat Lise Davidsen wieder ein gemischtes Programm gewählt. Ließ sie sich auf der ersten CD mit Tannhäuser-Elisabeth, Ariadne auf Naxos und Liedern von Richard Strauss – darunter die vier letzten – vernehmen, singt sie nun deutsche und italienische Arien sowie die Wesendonck-Lieder von Richard Wagner (485 1507). Begleitet wird sie vom London Philharmonic Orchestra unter Mark Elder. Für ihren neuen Star gibt sich die Decca spendabel. Aufgenommen wurde an vier Tagen im August 2020 in der Londoner Henry Wood Hall, benannt nach dem englischen Dirigenten. In seiner Vielfalt lässt die Auswahl auf den ersten Blick keinen inhaltlichen Zusammenhang erkennen. Man muss das Booklet lesen. Darin spricht die Sängerin am Beispiel von Medea („Dei tuoi figli la madre“) und Santuzza („Voi lo sapete“) von ihrer Empathie für die dargestellten Frauen und deren Nöte und Konflikte. In der künstlerischen Umsetzung kann das natürlich nur ansatzweise gelingen. Für Rollenporträts reichen einzelne Arien nach meiner Auffassung meist nicht aus. Es fehlt die dramaturgische Einbettung in das Handlungsgeschehen. Das aber ist der Künstlerin nicht anzulasten. Arien-CDs, die in der Vergangenheit noch viel verbreiteter waren, haben ihre gestalterischen Grenzen. Bei „Pace, pace mio Dio“ aus Verdis La Forza del destino und dem „Ave Maria“ aus Otello fällt dieses Problem weniger ins Gewicht, weil diese Szenen – wie auch im Booklet herausgestellt – als Gebete angelegt sind. Die Desdemona könnte etwas entrückter klingen. Der Beginn ist zu robust angegangen, und der Schluss haucht leicht unstet aus.

Ist Lise Davidsen in ihrem Element, flutet die Stimme als würden Schleusen geöffnet. Beeindruckend sind Volumen und Energie. Als wisse sie manchmal nicht wohin mit dieser Kraft. Das kommt gut an und wird von Freunden dieses Stimmentyps als maßgebliches hochdramatisches Potenzial geschätzt. Feuilletons sagen ihr eine große Karriere im Wagner-Fach voraus. Gelegentlich wird sie gar als die neue Kirsten Flagstad gepriesen. Einmal in die Welt gesetzt, gewinnt so ein griffiges Urteil seine eigene Dynamik. Man wird es noch oft lesen. Wie die Flagstad stammt auch die Davidsen aus Norwegen. Aus gemeinsamer Herkunft muss sich aber noch keine Gleichsetzung ergeben. Vorschlosslorbeeren wecken Erwartungen, die erst durch harte Arbeit erfüllt werden müssen. Lise Davidsen ist dazu entschlossen. Ich bemerke einen Mangel an Ausdruck und Identifikation mit dem zu Singenden.

Auf der neuen CD klingt in meinen Ohren vieles gleich. Sie ist noch jung genug, um daran arbeiten zu können und das Profil der Figuren zu schärfen. Sie sollte sich nicht verschleißen lassen und ihre gewaltigen Ressourcen klug verwalten. Ja jetzt noch keine Isolde und keine Brünnhilde. Wobei diese Rollen bereits in der Luft liegen. Die strapaziöse Leonoren-Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ und auch Beethovens „Ah! perfido“ enthalten lehrreiches Gefahrenpotenzial, mit dem sich eine noch junge Sängerin auseinandersetzen sollte. Im Booklet anerkennt die Sängerin, „dass Wagner letztlich ihre Bestimmung sein dürfte“, behandelt aber entsprechende Rollenangebote „mit Vorsicht“. Schließlich wolle sie ihre Karriere nicht dadurch verkürzen, indem Isolde oder Brünnhilde „zu früh“ angehe. Die Wesendonck-Lieder am Ende der CD lassen ihre Eignung dafür erkennen, mahnen aber auch zur notwendigen Arbeit am Detail. „Stille wird’s“: Bei dieser Stelle im Treibhaus sollte einem doch der Atem stocken. Auch nach wiederholtem Hören ist nicht zu verstehen, was da wird. Es klingt wie „Stille wir …“ Solcher Art sind meine kritischen Anmerkungen. Die Sängerin gibt nicht nur Einblick in den Stand ihrer momentanen Möglichkeiten, sie öffnet auch großzügig ihren Kleiderschrank. Für das Booklet, das in Konkurrenz mit einem Moderjournal zu treten entschlossen ist, hat sie sich gleich fünfmal umgezogen. Kleider machen Leute? Für sie gilt der alte Spruch natürlich nicht. Rüdiger Winter