Dietrich Fischer-Dieskau – frühe Aufnahmen. Die Anthologie im Umfang von sieben CDs ist bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen (PH20074). Sieben! Zufall oder Ansicht? Im hiesigen Kulturkreis wird der Zahl eine durch und durch positive Bedeutung beigemessen. Geist, Seele und Körper sollen verhältnismäßig in ihr aufgehen. Verhaltensforscher haben herausgefunden, dass die Sieben von den meisten Menschen als Lieblingszahl genannt wird. Das alles passt auch für Musik. Es hätten noch viel mehr CDs sein können. Die Menge von Titeln des Sängers aus seinen Anfangsjahren gibt es her. Auf ihn bezogen bedeuten „frühe Aufnahmen“ einen relativen Wert. Es gibt da nämlich auch noch die ganz frühen. Er wurde zeitig entdeckt. Erste Rundfunkaufnahmen entstanden mit Anfang zwanzig in den später 1940er Jahren, darunter erstmals Schuberts Winterreise. Die Nachkriegsjahre waren die ideale Folie, vor der ein junger, überdurchschnittlich begabter und völlig unbelasteter Berliner Sänger wie er zu einer Karriere durchstarten konnte, die ihm alle Türen öffnen sollte. Zumal in jenem Teil der Stadt, in dem die westlichen Alliierten das Sagen hatten und den Menschen ihre Freiheiten ließen. Bald wurden Plattenproduzenten auf ihn aufmerksam. Wie bei kaum einem anderen Sänger lagen in seinem Leben Studio, Opernhaus und Konzertpodium so nahe beieinander. Seine gesamte Laufbahn vom kühnen Aufstieg bis zum selbstgewählten Abschluss im Jahre 1992 bildet sich auf Tonträgern ab. So zurückhaltend er auch als Mensch gewesen sein mag, seinen Werdegang und sein Wirken verlegte er in alle Öffentlichkeit.
Die Edition setzt bei 1951 ein. Drei Schubert-Lieder Das Fischermädchen und Ständchen aus dem Schwanengesang sowie Du bist die Ruh‘ bilden den Auftakt. Begleitet wird Fischer-Dieskau von dem damals schon renommierten Gerald Moore. Zwischen beiden sollte sich ein so enge, von gegenseitiger Wertschätzung getragenen Zusammenarbeit entwickeln, dass sich der englische Pianist Anfang der 1970er Jahre, trotz schwerer Krankheit noch auf eine umfängliche Einspielung aller für eine Männerstimme geeigneten Lieder von Schubert mit Fischer-Dieskau für die EMI einließ. Insgesamt hat er mehr als vierhundert Schallplatten besungen – als Solist und im Ensemble. Damit dürfte er einen internationalen Rekord halten. Es gibt zwei Diskographien, die gedruckt vorliegen. Das erste Verzeichnis eines Autorenkollektivs kam 1984 bei Max Hieber, Schallplattenabteilung und Musikverlag in München heraus. Es erfasst die bis dahin veröffentlichten Plattentitel. Eine vollständige Diskographie nach Komponisten, die auch Archivbestände von Rundfunkanstalten und Tonträger in Privatbesitz einbezieht, legte Monika Wolf 2000 in erster Auflage im Verlag von Hans Schneider, Tutzing vor. 539 Buchseiten Dietrich Fischer-Dieskau. Im Zusammenspiel mit der Hänssler-Neuerscheinung kann das Studium beider Diskographien zum Vergnügen der besonderen Art werden. Es wird aber auch offenkundig, dass die Übermacht, mit der ein einziger, wenn auch begnadeter Sänger, den Markt über Jahrzehnte beherrschte, Chancen für Mitbewerber dezimierte.
Die Edition ist nach Genres geordnet: Lied, Oper, geistliche Musik. Eine vierte Abteilung widmet sich dem Konzertsänger. In dieser Rubrik erscheinen auch die Lieder eines fahrenden Gesellen von Mahler mit dem Philharmonia Orchestra unter Wilhelm Furtwängler von 1952 (EMI), die als seine erste offizielle Platteneinspielung gilt. Wieder hatte sich mit Furtwängler ein bedeutender Begleiter gefunden, der das Talent des Sängers erkannte. Wollte man sich nach einem ähnlichen gelagerten Beispiel auf die Suche machen, man würde schwerlich fündig werden. Für mich gehören die Einspielungen der Lieder von Schubert und Mahler am Beginn der Kariere zu den beglückendsten Leistungen von Fischer-Dieskau. So frei und so natürlich sang er später nie wieder. Da stand kein Anfänger vor dem Mikrophon, obwohl er im Grund genommen ja einer war. Verglichen mit Kollegen, die auch früh anfingen, schien er die harte Gesellenzeit nicht nötig gehabt zu haben. Er klingt schon am Start so gut wie fertig. Das elegante Timbre, mit dem er hundertprozentig zu identifizieren würde sein, musste er sich nicht erwerben. Er hatte es. In den folgenden Jahrzehnten feilte er unablässig an seinen Interpretationen und warf sich unerschrocken auf zeitgenössische Musik. Die Unschuld der Jugend verflüchtigte sich. Spätere Aufnahmen wirken auf mich mitunter im dem Maße überinterpretiert wie sich der natürliche Fluss seines reichen Bariton verengte. Vorboten sind schon in Teilen aus der neuen Sammlung herauszuhören, die bis zum Ende der 1960er Jahre reicht.
Obwohl er sehr vielseitig aufgestellt und von einer nicht enden wollenden Neugierde besessen war wie kaum ein anderer, gelang nicht alles perfekt. So ein Beispiel ist für mich die Bauern-Kantate von Johann Sebastian Bach von 1960, die allerdings nicht vollständig geboten wird. Fischer-Dieskau hat sie zweimal eingespielt, im Rias-Archiv lagert noch eine dritte. Die Herausgeber stimmten bereits im Booklet auf solche Kürzungen aus Platzgründen ein. Bei den Opern und Kantate habe sich die Auswahl „überwiegend auf die Beiträge des Baritons beschränken“ müssen. Doch ausgerechnet diese Kantate büßt in der Reduktion auf die letzten fünf von insgesamt vierundzwanzig Nummern nicht nur ihren Sinn sondern auch ihren opernhaften Charme ein. Mit der Arie „Dein Wachstum sei feste“, die den Kern der Auszüge bildet, tut er sich schwer. Das singende Lachen – eine der größten Herausforderungen für einen Solisten – will ihm nicht so leicht über die Lippen gehen, um als das erkennbar zu werden, was es sein soll. Die etwas sieben Jahre später ebenfalls bei der Electrola entstandene Trauermusik eines kunsterfahrenen Kanarienvogels ist zum Glück nicht gerupft worden. Erst in der Vollständigkeit offenbart sich die anrührende Mischung aus Skurrilität und echter Trauer. Vor Kürzung bewahrt wurde zudem die dramatische Kantate für zwei Stimmen Apollo e Dafne in italienischer Sprache, die 1966 bei Deutsche Grammophon produziert wurde und damit fast schon in die mittlere Phase des Sängers fällt. Günther Weissenborn dirigiert Mitglieder der Berliner Philharmoniker. Den Sopranpart singt Agnes Giebel, die man mehrfach an der Seite von Fischer-Dieskau findet. Bei diesem Werk handelt es sich um eine CD-Premiere.
Wenig überraschend gibt sich das in Mono und Stereo unterteilte Opernangebot. Die Titel dürften Sammlern bekannt sein, zumal sie auch durch die Mitwirkung anderer Solisten geschätzt werden wie die Die Frau ohne Schatten und Arabella (beider DG) mit Inge Borkh und Lisa Della Casa. Jeweils gut drei Minuten sind kaum der Erwähnung wert. Wie hier stellt sich auch bei der kurzen Sequenz „Sonniges Land. Mildes Drängen schon nahen Sommers“ aus Hindemith Mathis der Maler (DG) die Frage, ob solche Streiflichter geeignet sind, ein Rollenporträt auch nur ahnen zu lassen? Wer, bitte soll sich das anhören? Dann doch lieber mehr einzeln produzierte Arien, die für sich stehen und auch so wirken. Mit „Einst spielt‘ ich mit Zepter und Krone“ aus Zar und Zimmermann und der Arie des Grafen „Wie freundlich strahlt die holde Morgensonne / Heiterkeit und Fröhlichkeit“ aus dem ebenfalls von Lortzing komponierten Wildschütz (beide EMI 1955) gibt es zumindest zwei davon. Fischer-Dieskau hat ja um dieses Repertoire immer einen Bogen gemacht, was schade ist. Aber er hat es immerhin berührt. Die Edition bringt das in freundliche Erinnerung. Rüdiger Winter