Startet eine Firma eine neue Gesamtaufnahme aller Lieder von Johanne Brahms, ist dies immer noch ein besonderes Ereignis auf dem Musikmarkt. Zuletzt hatte Hyperion aus London so eine Edition mit insgesamt 249 Titeln einschließlich der Volksliedbearbeitungen vorlegt. Diese abgezogen beläuft sich die einschlägige Abteilung im Schaffen von Brahms auf etwa 200 originäre Lieder. Nun hat Naxos den ersten Schritt für eine eigene Produktion getan. Vol. 1 wird von Christoph Prégardien bestritten, begleitet von Ulrich Eisenlohr (8.57428). Beide sind auf dem weiten Feld des Liedgesangs ausgewiesene Fachleute und bringen die für das Vorhaben notwendige Prominenz mit. Die Diskographie des 1956 geborenen Tenors Prégardien ist lang und umfasst neben Liedern auch Oratorien und Opern. Eisenlohr, Jahrgang 1950, begleitete bei Naxos schon Schubert-Lieder und wirkt als Professor für Liedgestaltung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Er beschäftigt sich auch in theoretischen Schriften mit Musik und arbeitete ebenfalls an der Schubert-Edition mit. Man darf gespannt sein, welche Solisten für die weiteren Aufgaben gewonnen werden. Am Flügel dürfte Eisenlohr für das Ganze gesetzt sein. Dafür spricht sein auf Fortsetzung angelegter feinsinniger Textbetrag im Booklet. Dessen Analysen sind auch für den musikalischen Laien gut verständlich. Gebührende Erwähnung finden die Verfasser der literarischen Vorlagen, wenngleich die von Brahms gewählten Gedichte „selten von höchster künstlerischer Qualität“ seien. Eisenlohr: „Die Lieder dieser CD sind zwischen 1864 und 1888 entstanden. Oft sind die einzelnen Lieder eines Opus zu verschiedenen Zeiten komponiert und erst nachträglich zusammengefasst worden – dies aber niemals zufällig, es sind immer inhaltliche und kompositorische Querverbindungen vorhanden.“ Aufgenommen wurde im September 2020 im nach dem Dirigenten Hans Rosbaud benannten Studio des SWR in Baden-Baden.
Mit der Programmauswahl auf der ersten noch taufrischen CD wird viel Pulver verschossen. Das Beste nicht zuletzt, sondern zuerst. In den Werkgruppen Opus 32, 43, 86 und 105 finden sich mehrere der bekanntesten Lieder von Brahms. Gleich an erste Stelle steht – einem Programm gleich – aus den Vier Gesängen Op. 43 Von ewiger Liebe, für mich ein Gipfel der hochromantischen Liedkunst. Eisenlohr gelingt es, diese – wie er schreibt – „abendlich ruhige Landschaft“ noch vor dem Einsatz des Sänger musikalisch so eindrücklich darzustellen als sei er Maler und nicht Pianist. Prégardien folgt ihm mit einer ehr schlichte Vortragsweise, stets bemüht, einen volksliedhaften Ton zu finden. Es folgt die ähnlich angelegte Mainacht. Zu hören sind des weiteren Feldeinsamkeit, „Wie Melodien zieht es mir“, „Immer leiser wird mein Schlummer“, Auf dem Kirchhofe, „Wie bist du, meine Königin“. Der Liedsänger Christoph Prégardien legt größten Wert darauf, auch mit dem Wort verständlich zu sein. Wer die Texte näher besehen oder beim Hören mitlesen möchte, findet sie auf Naxos.com im Netz. Sie können in der Originalsprache sowie in englischer Übersetzung heruntergeladen werden. Die genaue Seite ist auf CD-Hülle angegeben. Ein – wie ich finde – Papier sparender und praktischer Service, an dem man sich bei dieser Firma inzwischen gewöhnt hat. Der Auftakt für die neue Edition ist gelungen. Rüdiger Winter