Carl Maria von Weber hat um die neunzig Lieder hinterlassen, darunter Duette und Kanons. Im Vergleich mit Schubert, Wolf, Schumann oder Loewe ist dies nicht sonderlich viel. Das Genre stand aber auch nicht im Mittelpunkt seines Schaffens. Es möge seltsam erscheinen, dass er, „der Schöpfer, der romantischen Oper, auf dem Gebiet des Klavierlieds keineswegs als Neuerer und Wegweiser einer Epoche aufgetreten ist“, heißt es in Reclams Lied-Führer (2008), dem Standartwerk für den privaten Gebrauch des Musikfreundes, der nicht zwingend vom Fach sein muss. Sein, Webers, „Liedschaffen ist reich an Melodie, Charakteristik, Esprit und Originalität, aber es steht noch unentschieden zwischen den Epochen, und es lässt bei allem freien und unbefangenen Individualismus der Form und der Empfindung die zwingende Unmittelbarkeit des Ausdrucks vermissen, die den wahren Lyriker kennzeichnet“. Lieder waren Nebenprodukte im Schaffen Webers. Sie lassen sind von den frühen bis in die späten Jahre seines kurzen Lebens nachweisen. Er war erst neununddreißig Jahre, als 1826 in London starb. Es gibt bis heute keine vollständige Einspielung der Lieder. Selbst der auf das deutsche Liedgut spezialisierte Pianist Michael Raucheisen schenkte ihnen nur mäßige Aufmerksamkeit. Unter den mehr als tausendeinhundert veröffentlichten Titeln seines Aufnahmekanons beim Reichsrundfunk Berlin sind nur neunzehn von Weber, zur Hälfte von Erna Berger gesungen. Wenn auch keine Sololiedersammlung sondern ein Chorzyklus, hat es Leyer und Schwerdt nach Gedichten des 1813 in den Freiheitskriegen gefallen Theodor Körner – einst eines der bekanntesten Werke des Komponisten – zu keiner Aufnahme gebracht. Nur einzelne Teile wie Lützows wilde Jagd wurden gelegentlich aufgeführt und eingespielt.
Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich auf deutschem Boden vornehmlich Peter Schreier in der DDR (Eterna 1978) und Dietrich Fischer-Dieskau (Claves 1991) sowie Hermann Prey (Electrola 1978) in der Bundesrepublik der Lieder von Weber angenommen und Platten produziert. In Frankreich sind Irène Joachim (diverse Labels, 1959 mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet), in England Margret Price (BBC 1970) und der Tenor Martyn Hill (Decca 1976) mit kompakten Einspielungen hervorgetreten. Einzelne Gruppen finden sich auch bei anderen Sängern, darunter Olaf Bär. In jüngster Zeit widmeten sich beispielsweise die Sopranistin Andrea Chudak (Antes 2013) und der Tenor Robin Tritschler (Signum 2019) verstärkt Weber. Sämtliche Lieder mit Gitarrenbegleitung veröffentlichten Patrizia Cigna und Adriano Sebastiani 2018 bei Brilliant Classics.
Kommt eine neue CD mit Liedern von Carl Maria von Weber auf den Mark, ist dies noch immer ein besonderes Ereignis für Musikfreunde, die sich mit diesem Genre beschäftigen. Der Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann hat sich bei Panclassics (PC 10428) frühen Liedern in Koproduktion mit dem SRF 2 Kultur aus der Schweiz zugewandt. Aufgenommen wurde im September 2020 in der Radiostation Zürich. Die CD ist also taufrisch. Insgesamt sind sechs Titel zu hören: Die Zeit (Josef Ludwig Stoll, 1778-1815), Meine Lieder, meine Sänge (Wilhelm von Löwenstein-Wertheim, 1789-1847), Liebe-Glühen (Friedrich Wilhelm Gubitz, 1786-1870), Was zieht zu deinem Zauberkreise und Klage (Karl Friedrich Müchler, 1763-1857), Sind es Schmerzen, sind es Freuden (Ludwig Tieck, 1773-1853). Die Biografien der Textdichter – allesamt Zeitgenossen von Weber – werden im Booklet von Autor Thomas Seedorf zumindest kurz angerissen. Sie sind ein Kapitel für sich. Bis auf Tieck verschwanden sie mehr oder weniger in der Versenkung. Kaum einer würde sich ihrer erinnern, hätte sich nicht Weber, der mit einigen von ihnen auch persönlich bekannt war, ihrer Verse angenommen. Sie haben keine Weltliteratur verfasst. Und doch hat Weber in den Werken offenbar auch ein Zeitgefühl ausgedrückt gefunden und durch seine Musik vertieft. Frühe Lieder gehören zu seinen bekanntesten. Im Booklet können die Texte nachgelesen werden, was zu empfehlen ist.
Müller-Brachmann hätte auf den Vortrag mehr Schlichtheit verwenden sollen. Damit wäre er Weber gerechter geworden. Sein Interpretationsansatz ist mir in den Details zu dramatisch – und oft zu unruhig. Im so genannten Schwanengesang von Franz Schubert, der den größten Teil der neuen CD beansprucht, ist der Sänger mehr in seinem Element und findet auch zu großer Ruhe. Den Doppelgänger, der sich zu einer unheimlichen Szene auswächst, dürfte ihm nicht so schnell jemand nachmachen. Darf es ein Lied mehr sein? Eine Besonderheit dieser Aufnahme des erst nachträglich durch Verlegerhand als Zyklus in die Musikgeschichte eingegangen Schwanengesangs ist die Erweiterung um das Rellstab-Lied Herbst, das Schubert, wie im Booklet mitgeteilt, „dem reisenden Violinvirtuosen Heinrich Panolka ins Stammbuch schrieb“ an Position 9. Am Klavier – einem Grand Piano von Carl Strobel Wien 1824/1825 – begleitet Jan Schultsz. Rüdiger Winter