Für ihr zweites Soloalbum bei Decca hat Lise Davidsen wieder ein gemischtes Programm gewählt. Ließ sie sich auf der ersten CD mit Tannhäuser-Elisabeth, Ariadne auf Naxos und Liedern von Richard Strauss – darunter die vier letzten – vernehmen, singt sie nun deutsche und italienische Arien sowie die Wesendonck-Lieder von Richard Wagner (485 1507). Begleitet wird sie vom London Philharmonic Orchestra unter Mark Elder. Für ihren neuen Star gibt sich die Decca spendabel. Aufgenommen wurde an vier Tagen im August 2020 in der Londoner Henry Wood Hall, benannt nach dem englischen Dirigenten. In seiner Vielfalt lässt die Auswahl auf den ersten Blick keinen inhaltlichen Zusammenhang erkennen. Man muss das Booklet lesen. Darin spricht die Sängerin am Beispiel von Medea („Dei tuoi figli la madre“) und Santuzza („Voi lo sapete“) von ihrer Empathie für die dargestellten Frauen und deren Nöte und Konflikte. In der künstlerischen Umsetzung kann das natürlich nur ansatzweise gelingen. Für Rollenporträts reichen einzelne Arien nach meiner Auffassung meist nicht aus. Es fehlt die dramaturgische Einbettung in das Handlungsgeschehen. Das aber ist der Künstlerin nicht anzulasten. Arien-CDs, die in der Vergangenheit noch viel verbreiteter waren, haben ihre gestalterischen Grenzen. Bei „Pace, pace mio Dio“ aus Verdis La Forza del destino und dem „Ave Maria“ aus Otello fällt dieses Problem weniger ins Gewicht, weil diese Szenen – wie auch im Booklet herausgestellt – als Gebete angelegt sind. Die Desdemona könnte etwas entrückter klingen. Der Beginn ist zu robust angegangen, und der Schluss haucht leicht unstet aus.
Ist Lise Davidsen in ihrem Element, flutet die Stimme als würden Schleusen geöffnet. Beeindruckend sind Volumen und Energie. Als wisse sie manchmal nicht wohin mit dieser Kraft. Das kommt gut an und wird von Freunden dieses Stimmentyps als maßgebliches hochdramatisches Potenzial geschätzt. Feuilletons sagen ihr eine große Karriere im Wagner-Fach voraus. Gelegentlich wird sie gar als die neue Kirsten Flagstad gepriesen. Einmal in die Welt gesetzt, gewinnt so ein griffiges Urteil seine eigene Dynamik. Man wird es noch oft lesen. Wie die Flagstad stammt auch die Davidsen aus Norwegen. Aus gemeinsamer Herkunft muss sich aber noch keine Gleichsetzung ergeben. Vorschlosslorbeeren wecken Erwartungen, die erst durch harte Arbeit erfüllt werden müssen. Lise Davidsen ist dazu entschlossen. Ich bemerke einen Mangel an Ausdruck und Identifikation mit dem zu Singenden.
Auf der neuen CD klingt in meinen Ohren vieles gleich. Sie ist noch jung genug, um daran arbeiten zu können und das Profil der Figuren zu schärfen. Sie sollte sich nicht verschleißen lassen und ihre gewaltigen Ressourcen klug verwalten. Ja jetzt noch keine Isolde und keine Brünnhilde. Wobei diese Rollen bereits in der Luft liegen. Die strapaziöse Leonoren-Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ und auch Beethovens „Ah! perfido“ enthalten lehrreiches Gefahrenpotenzial, mit dem sich eine noch junge Sängerin auseinandersetzen sollte. Im Booklet anerkennt die Sängerin, „dass Wagner letztlich ihre Bestimmung sein dürfte“, behandelt aber entsprechende Rollenangebote „mit Vorsicht“. Schließlich wolle sie ihre Karriere nicht dadurch verkürzen, indem Isolde oder Brünnhilde „zu früh“ angehe. Die Wesendonck-Lieder am Ende der CD lassen ihre Eignung dafür erkennen, mahnen aber auch zur notwendigen Arbeit am Detail. „Stille wird’s“: Bei dieser Stelle im Treibhaus sollte einem doch der Atem stocken. Auch nach wiederholtem Hören ist nicht zu verstehen, was da wird. Es klingt wie „Stille wir …“ Solcher Art sind meine kritischen Anmerkungen. Die Sängerin gibt nicht nur Einblick in den Stand ihrer momentanen Möglichkeiten, sie öffnet auch großzügig ihren Kleiderschrank. Für das Booklet, das in Konkurrenz mit einem Moderjournal zu treten entschlossen ist, hat sie sich gleich fünfmal umgezogen. Kleider machen Leute? Für sie gilt der alte Spruch natürlich nicht. Rüdiger Winter