Singen wie vor 200 Jahren

 

Das Cover dieser CD macht neugierig. Nicht wegen des als Illustration gewählten Bildes. Caspar David Friedrichs Mondaufgang am Meer, das im Original in der Alten Nationalgalerie in Berlin besichtigt werden kann, steht ehr für hinlänglich Bekanntes, nicht aber für Neuland. Der Titel ist es, der aufhorchen lässt: Schubert. The small song cycles, erschienen bei passacaille (1084). Es singt der Tenor Markus Schäfer. Begleitet wird er von Zvi Meniker. Was es mit den kleinen Zyklen auf sich hat, erklären der im Liedgesang bewanderte Schäfer und sein Pianist im Booklet selbst: „Es handelt sich nicht um geplante Zyklen wie Die schöne Müllerin oder die Winterreise, sondern meistens um Lieder, die er zu verschiedenen Zeiten geschrieben und dann in Zusammenhang gebracht hat. Er hat ja immer nach Lust und Laune komponiert, ohne vorher zu planen, denn anders als bei Mozart kam ihm die Inspiration nicht auf Bestellung oder mit Aussicht auf eine Aufführung, oder wie bei Beethoven mit einem Auge auf den Verleger. Sobald der Funke übersprang, begann er zu komponieren. So ist jedes Lied, egal wie kurz, ein Kleinod. Deshalb gibt es so viele unveröffentlichte Lieder, und oft hat er seine Lieder erst eine Weile nach der Komposition nur für eine Veröffentlichung zusammengestellt. Jeder Zyklus weist eine eindeutige Entwicklung, eine Richtung, einen Anfang und ein Ende auf. Und auch wenn es manchmal etwas versteckt ist, hat jeder Zyklus ein Thema.“

Selbst sehr populäre Titel wie „Du bist die Ruh“ oder „Nähe des Geliebten“, wirken in zyklischer Zuordnung plötzlich anders. Diese Erfahrung fällt den Hörern aber nicht in den Schoß. Sie müssen sich darauf einlassen. Es kann auch nicht verkehrt sein, die Texte, die sich im Booklet finden, neu zu lesen, sie nachträglich auf sich wirken zu lassen. Das Publikum ist zu einer Entdeckungsreise eingeladen. Schäfer macht es ihm leicht, weil er so gut zu verstehen ist. Ausdruck und inhaltliche Vermittlung scheinen ihm wichtiger als Schöngesang. Nicht selten geraten Töne etwas herb. Doch wenn es darauf ankommt, holt er die große Farbpalette hervor und schöpft er aus einem großen Vorrat an lyrischem Schmelz. Naxos und Hyperion waren in ihren großen Gesamteinspielungen andere Wege gegangen. Während sich Naxos bei der Zusammenstellung nach den literarischen Vorlagen richtete, folgte Hyperion der Entstehungszeit auf Grundlage des Werkverzeichnisses von Ernst Deutsch. Markus Schäfer und sein Pianist gehen nun bei ihrer Auswahl einen dritten Weg und geben damit auch neue Anstöße für die Aufführungspraxis, die Nachahmung verdienen. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis wichtig, dass in der vom Musikwissenschaftler Walther Dürr (1932-2018) herausgegebenen Neuen Schubert-Ausgabe die Lieder nach ihren Opuszahlen geordnet seien.

Der Wiener Hofopernsänger Johann Michael Vogl und Franz Schubert in einer Karikatur von Franz von Schober, der beide miteinander bekannt gemacht hat/ Wikipedia

Nicht genug damit. Beide Interpreten haben sich an Johann Michael Vogl erinnert und seinen individuellen Vortragsstil nachgespürt. Er gilt als erster Schubert-Sänger der Musikgeschichte. Wie hat er gesungen? Wie hat es geklungen? Vogl wurde 1768 bei Steyr geboren und stieg zu einem Hofopernsänger in Wien auf, wo er vor allem in Werken von Mozart und Gluck gefeiert wurde. Nebenher war er auch als Regisseur tätig. 1817 lernte er Schubert kennen und erkannte die Bedeutung von dessen Liedern. Trotz des Altersunterschieds von knapp dreißig Jahren wurden sie Freunde und traten gemeinsam auf. Vogl organisierte auch Konzertreisen und trug damit wesentlich dazu bei, dass Schubert bekannt wurde. Diese Fürsorge dauerte auch nach Schuberts frühem Tod im Jahr 1828 an. Vogl betreute den Nachlass und sorgte dafür, dass die Schöne Müllerin herausgeben wurde. „Wie seine eigenen handschriftlichen Abschriften der Lieder zeigen, hatte der Sänger die Angewohnheit, seine Gesangslinien zu verzieren“, schreibt der belgische Flötist, Kunst- und Musikwissenschaftler Jan De Winne im Booklet und schickt ein Zitat aus einem 1823 geschriebenen Brief Schuberts hinterher. Daraus geht hervor, dass der Komponist kein Problem damit hatte. Vogl, so Schubert, beschäftige sich fast ausschließlich „mit meinen Liedern“ und schreibe selbst die Singstimme heraus. Vogl habe also nicht nur die Vokallinie variiert, sondern auch seine „Sprechstimme und manchmal sogar das Falsett“ eingesetzt, um die Expressivität zu steigern, ist weiter zu erfahren. De Winne ist sich darüber im Klaren, dass solche Freiheiten „den Unmut der Puristen der aktuellen Interpretationspraxis“ erregen. Es könnte aber auch „neues Interesse an der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts“ gefördert werden. Aus Zeugnissen von Schuberts Zeitgenossen gehe hervor, „dass diese Debatte schon damals geführt wurde“. Für diese CD ist das Booklet Pflichtlektüre. Das hätte gleich auf dem Cover vermerkt werden müssen. Auch wer sich mit Schubert gut auszukennen glaubt, bleibt ohne genauen Blick in den schriftlichen Teil der Neuerscheinung ratlos zurück. Was es zu hören gibt, erklärt sich nicht von selbst.

 

Deshalb ist es eine gute Idee gewesen, ein Werkstattgespräch zwischen Sänger und Pianist als vielsagendes Protokoll abzudrucken: Zvi Meniker: Ich denke, wir sollten uns von Schuberts Sänger Johann Michael Vogl inspirieren lassen und einige Verzierungen und Veränderungen einfügen. Besonders seine Veränderungen zu den Harfner-Gesängen sind wunderbar, nicht nur als Auszierungen, sondern auch als äußerst ausdrucksvolle Erweiterungen, ja fast Verbesserungen.

Markus Schäfer: Ja, ich würde Vogls Veränderungen zu den Harfner-Gesängen einfach übernehmen, die sind unübertrefflich. Und ich würde die zum Fischer auch nehmen; da macht Vogl in jeder Strophe etwas anderes, aus dem Strophenlied macht er fast ein durchkomponiertes Werk.

Z.M.: Ja, tatsächlich! Weißt Du, ich denke, wir sollten auch mit den anderen Strophenliedern etwas Ähnliches machen…

M.S.: Zum Beispiel bei den anderen aus Opus 5, Nähe des Geliebten und Der König in Thule?

Z.M.: Und sicher auch bei den Refrain-Liedern. Bei den beiden lustigen würde ich sogar in meinem Part etwas verändern, vielleicht auch beim König in Thule, da es so ein „einfaches“ Lied ist.

M.S.: Meinst Du nicht, dass das zu viel wird?

Z.M.: Naja, wenn Du siehst, was Vogl aus dem Fischer gemacht hat… Ich würde sowieso nicht alle Strophen genau gleich singen und spielen, etwas verändern müssen wir; und von wem könnten wir besser lernen als von Vogl? Nicht umsonst hat Schubert aus Salzburg an seine Familie geschrieben: „Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten was ganz Neues, Unerhörtes.” Schubert hat den Hofopernsänger Vogl also wirklich hochgeschätzt…“

M.S.: Dann lass uns diese Sachen ausprobieren, und schauen wir, wie es im Konzert wirkt. Ob wir das Publikum zum Heulen bringen, wie Schubert und Vogl es getan haben!

Der Tenor Markus Schäfer und seine Begleiter Zvi Meniker (links) gehen ungewöhnliche Wege bei der Interpretation von Schuberts Liedern. Ausschnitt dem Booklet. Foto: Assen Boyadjiev

M.S. & Z.M.: Etwa so, liebe Zuhörer, ist diese Aufnahme entstanden. Obwohl Schuberts Lieder uns schon länger bekannt sind, waren wir erstaunt, wie die bloße Anordnung nach den Zyklen, die er selber zusammengestellt und herausgegeben hat, die Lieder für uns in ganz neuer Sichtweise erscheinen lässt. Jedes Lied ist ein Kleinod an sich, aber jeder Zyklus bringt die Lieder zusammen und lässt sie aufeinander wirken, ohne dass ein Lied seine Stimmung und seinen Zauber verliert. Erstaunlich ist die Mannigfaltigkeit in diesen sechs Sammlungen mit 22 Liedern – ein winziger Teil von den etwa 600, die Schubert in nur 14 Jahren geschrieben hat. Wir waren entzückt, wie der Erzähler im Lied Heliopolis I – hoffentlich sind Sie es auch. Ende des Gesprächs Und was hat der Erzähler zu verkünden? „Wende, so wie ich, zur Sonne Deine Augen! Dort ist Wonne, dort ist Lebe…“

Schäfer legt die Strophe mehr als Staunen denn als Entzücken an und erzielt gerade dadurch die vielleicht noch viel größere Wirkung. Gemeinsam mit dem Lied eines Schiffers an die Dioskuren und mit Der Wanderer bildet es das als Drei Lieder bezeichnete Opus 65. Mit der Zusammenstellung in dieser Gruppe wird der zyklische Gedanken mit am deutlichsten.

Als sehr passend erweist sich die Begleitung mit dem Fortepiano, einem Hammerflügel. Der härtere Klang schafft eine gewisse entrückte Distanz zu den Darbietungen, signalisiert, dass Ungewohntes versucht wird. Zivi Meniker spielt ein Instrument, das 2012 in der Werkstatt des US-amerikanischen Klavierbauers Paul McNulty nach einem historischen Flügel des Wieners Conrad Graf aus Schuberts Zeit hergestellt wurde. McNulty arbeitet heute in Tschechien und zwar in Divisov in der Mittelböhmischen Regien. Nach historisch verbürgten Überlieferungen soll Graf das Holz für die Resonanzböden seiner Instrumente in Böhmen gefunden haben. Rüdiger Winter