Einbruch in Frauendomäne

 

Besitzer von Aufnahmen mit Schwarzkopf, Jurinac, Grümmer, Della Casa und vielen, vielen, vielen anderen Sopranen gehen die Augen über: Im Abendrot! Unter eben diesem Titel legt der Bariton Matthias Goerne seine neue CD bei Deutsche Grammophon vor (486 0274). Sollte auch er sich das getraut haben? Er hat. Mit dem gleichnamigen Lied ist er in eine Frauendomäne eingebrochen. Es ist ja der Abschluss der Vier letzten Lieder von Richard Strauss, die am 22. Mai 1950 in der Royal Albert Hall in London von Kirsten Flagstad unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler uraufgeführt wurden – acht Monate nach dem Tod Komponisten. Der BBC-Mitschnitt hat sich erhalten ist bei Testament veröffentlicht worden. Unmittelbar auf die Flagstad folgte Sena Jurinac, zwei Jahre später setzten Elisabeth Schwarzkopf und Lisa Della Casa mit ihren Interpretationen Maßstäbe, die bis in die Gegenwart nachwirken. Unter den mehr als achtzig offiziellen Einspielungen ist kein Mann zu finden. Goerne ist nicht der erste, der nach dem berühmten Zyklus greift. Jonas Kaufmann ließ sich damit bereits vor einigen Jahren in Wien hören. Und das war gewöhnungsbedürftig genug.

Einem Bariton aber, der den Wotan singt, sind die Ausdrucksmittel für diese subtilen und äußerst fein ziselierten Kompositionen nicht in die Wiege gelegt. Er muss sie sich hart erkämpfen. Erschwerend kommt die Klavierbegleitung hinzu. Kann ein Orchester gewisse Defizite gnädig verhüllen, vermag ein Pianist diese Hilfestellung nicht zu geben. Der Sänger ist auf sich gestellt. Goerne hat den Mut aufgebracht, sich darauf einzulassen. Seine Fans, und die sind bekanntlich zahlreich, werden ihn dafür den nötigen Respekt zollen. „Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand.“ Sprachlich gesehen ist der Auftakt für Interpreten eine Prüfung. Goerne besteht sie nur eingeschränkt, denn er haucht den Konsonanten W des Wörtchens „wir“ an, um ihn dann doch nicht wirkungsvoll zu Klingen zu bringen. Zwischen den erste Buchstaben und das darauf folgende I schiebt er ein H. Ein gestandener Profi wie er sollte eigentlich ohne diesen Griff in die Trickkiste auskommen. Wer ihm das nicht ankreidet, wem es gelingt, das Lied ohne seinen zyklischen Bezug vereinzelt wahrzunehmen, wird durchaus Freude daran finden. An Atmosphäre fehlt es nicht. Goerne nimmt die Stimme zurück, dass sie sogar zu schweben beginnt. Er weiß um die Wirkung von mezza voce. Und in seinem Flügel lässt der Pianist Seong-Jin Cho die letzten Takte so verhauchen als seien sie nie mit einem Orchester in Berührung gekommen. Es bleibt nicht beim Strauss’schen Abendrot. Vorangegangen sind Traum durch die Dämmerung, Morgen!, Ruhe, meine Seele und Freundliche Vision – allesamt ebenfalls originäre Orchesterlieder. Ich bekenne freimütig, auch sie lieber mit einer Sopranistin zu hören. In seinem Element ist er beim grüblerischen Hans Pfitzner. Acht seiner Lieder bilden den zentralen Block des Programms der im Studio produzierten CD. Sehnsucht und Wasserfahrt verlangen nach dem Heldenbariton Goerne. Und dem hört man denn auch die strapaziösen Wotane an. In sich gekehrten Titel wie An die Mark, die depressive Zustände streifen, gelingen stimmlich und darstellerisch am besten.

Man hat sich bereits daran gewöhnt, dass Männer auch Richard Wagners Wesendonck-Lieder beanspruchen. Ungeachtet dessen, dass es sich nach Text und Empfindung um klassische Frauenlieder handelt. Dafür muss nicht einmal der konkrete biografische Entstehungsbezug ins Feld geführt werden. Es scheint kein Zufall, dass solche diametralen Repertoire-Aneignungen in eine Zeit fallen, in der Genderfragen mit Macht auf die Tagesordnung rücken. Traditionelle Geschlechtertrennungen und Rollenverteilungen werden in infrage gestellt – ohne Rücksicht darauf, ob der Inhalt eines konkreten Kunstwerken solches Verfahren hergibt. Welcher Tenor, Bariton oder Bass wird sich als erster über Schumanns Frauenliebe und -leben hermachen oder in die Rolle des Gretchen am Spinnrade schlüpfen? Man darf gespannt sein. Dieses CD-Programm selbst ist nur durch die Zusammenstellung ungewöhnlich, nicht aber durch die berücksichtigten Lieder, die oft gesungen und eingespielt werden. Es fällt auf, dass Goerne mit Atemproblemen zu kämpfen hat. Er muss oft ganz tief und sehr hörbar Luft saugen, um eine Phrase durchhalten zu können. Bei Pfitzner weniger als bei anderen Programmteilen. Ich frage mich, ob man da mittels Aufnahmetechnik nicht hätte etwas abmildern bzw. ausgleichen können. Rüdiger Winter