Kaum ein anderer deutscher Schriftsteller hatte ein so enges Verhältnis zur Musik wie Thomas Mann. Sein Denken und Fühlen kreisten um Richard Wagner. Er hegte einen tiefen Sinn für dessen theatralische Visionen. Wie Wagner neigte auch er zu Eitelkeit und Selbstverliebtheit. Zeugnis davon legt der neuer Bildband Thomas Mann – Ein Schriftsteller setzt sich in Szene von Rüdiger Görner und Kalterina Latifi ab, erschienen bei wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) THEISS (ISBN 978-3-8062-4247-8). Der Titel ist treffend gewählt. Was zwischen beiden Buchdeckeln auf 270 Seiten eingefangen ist, wirkt wie eine große Inszenierung. Üppig ausgestattet, den Gesetzen der Ästhetik verpflichtet, mal in Sepia, dann wieder in feinsten Grautönen. Als seien Meister der Beleuchtung, die ihr Fach verstehen, mit am Werk gewesen. Der Band gleicht einer großen Aufführung. Die Autoren scheuen sich nach ihren eigenen Worten nicht, die Gestaltung „eine Komposition zu nennen“. Einfach so mal durchblättern genügt nicht. Der ganze Reichtum dieser Dokumentation erschließt sich erst durch Wiederholung und Vertiefung. Es sind Details zu entdecken, die plötzlich wie neu erscheinen. Als habe man sie zuvor noch nie gesehen. Dabei könnte man doch schwören, bereits alle Bilder genau betrachtet zu haben.
Auch wenn diverse vermeintliche Schnappschüsse und zufällige Einstellungen berücksichtigt sind, der Bildband feiert die Fotografie als ganz große Kunst. Betrachter werden hineingezogen in dieses lange bewegte Schriftstellerleben, das, noch tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, beide Weltkriege mit allen Erschütterungen und Katastrophen überdauert und dann noch zehn Jahre in den schwierige Neubeginn hineinreicht. Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren und starb 1955 in Zürich. Der Emigrant, der auf Druck der Nationalsozialisten sein Vaterland verlassen musste, war nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern hatte sich die neutrale Schweiz als Alterssitz gewählt. Zeigt das erste Foto den Dreijährigen, das zweite den sehr ernst dreinschauenden Schüler im Jahr 1892 und das letzte die Hände des alten Mannes, die so viele Seiten mit der charakteristischen zackigen Schrift gefüllt haben, so versteht sich die Sammlung nicht eigentlich als Bildbiographie. Das Gros der Fotos stammt aus den Jahren des Ruhms. Thomas Mann der Weltbürger, der Nobelpreisträger, der Ehrendoktor, der Repräsentant deutschen Geistes in seiner besten Tradition.
Auch wenn einem der Schriftsteller in sehr privater Pose entgegentritt, beim Spaziergang mit dem geliebten Hund, im Bademantel am Strand oder entspannt auf einer Parkbank sitzt, er bleibt auf Distanz. Nichts ist in dieser Inszenierung dem Zufall überlassen. Selbst dann, wenn er aus unbeholfener Bewegung heraus eine Mappe in einem Safe zu verstauen sucht und dabei das Ohr gegen eine Wand richtet als wolle er erlauschen, was sich im Nebenzimmer abspielt, ist man sich nicht ganz sicher, ob nicht auch diese – wie es heißt „klammheimlich“ wirkende Szene doch zuvor geprobt wurde. Dafür ist die Kleiderordnung zu vollkommen. Dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte, Einstecktuch, elegante zweifarbige Slipper, zwischen zwei Fingern die Zigarre. Die Gewandung ist nicht nur ein Kapitel für sich, sie dominiert nahezu jedes einzelne Bild. In jeder Lebenslage ist er perfekt gekleidet. Selbst aus dem Liegestuhl heraus könnte er sich auf der Stelle zu einer festlichen Abendendveranstaltung aufmachen. Er schreibt, liest, diskutiert, denkt, trinkt, isst, wartet als eleganter Gentleman. Zweireiher werden bevorzugt. Selbst der Paletot hat zwei Knopfleisten. Unterwegs ist er meist mit Hut oder mit heller Schiebermütze. Am Arm den Gehstock. Brillen sind meist randlos und wirken eher als Accessoire denn als profane Sehhilfe. Mann raucht stark und lässt sich auch in dieser Situation ablichten als mache er Reklame für die einschlägige Industrie. Lässt er die Kamera nahe an sich herankommen, die Unnahbarkeit schiebt sich dennoch zwischen ihn und die Linse. Und der Betrachter spürt eine gewisse Kälte. Niemand käme wohl auf die Idee, ihn anzufassen. Auch dann nicht, wen er das sprichwörtliche Bad in der Menge nimmt, was er zu genießen scheint. Das Buch ist eine Dokumentation der Einsamkeit, der Einsamkeit des Künstlers, die er auch zum Thema seiner Werke gemacht hat.
Noch in seiner ersten Villa in der Poschingerstraße in München wurde das neueste Grammophon angeschafft. „Nicht ohne sinnende Verwunderung besieht Thomas Mann, gekleidet wie zu einem Konzertbesuch, im Arbeitszimmer das Wohlklangerät“, heißt es dazu beschreibend im Buch. Mit der ihm eigenen Skepsis auch hier. „Stellt man sich so den freilich jüngeren Hans Castorp vor, wie er im Zauberberg-Sanatorium zu Davos das Grammophon zum Entzücken der moribunden Mitpatienten bedient?“ In den knappen Bildbeschreibungen werden auch Verknüpfungen zum schriftstellerischen Wort und Werk hergestellt. Die Herausgeber kennen sich aus. Für den Rundfunk hat er ein ganz persönliches Wunschkonzert zusammengestellt, bei dem er Platten spielen ließ, die schon auf dem abgebildeten Grammophon auflagen. Darunter das Lohengrin-Vorspiel. Er erinnert sich, wie er als Schüler „wiederholt in dem einigermaßen unzulänglichen Lübecker Stadttheater“ diese Oper von Wagner gehört habe. „Sie ist ein herrliches Stück, der Gipfel der Romantik.“ Das Konzert war beim Hörbuch-Verlag als CD erschienen. Mit einem großen Essay stimmen Rüdiger Görner und Kalterina Latifi auf die annähernd zweihundert Fotos ihres Buches – ergänzt um Gemälde, Zeichnungen und Büsten – ein. Nicht alle Aufnahmen sind bekannt, weshalb der deutliche Hinweis auf dem Umschlag „Mit bislang nicht publizierten Fotos“ mehr als gerechtfertigt ist. Insgesamt sollen sich um die 6000 Fotos erhalten haben. „Es hieß, auszuwählen aus einer reichen Fülle an Aufnahmen, um das Selbst Thomas Manns, seine vielschichtige Persönlichkeit in ihrer Vielgesichtigkeit zu zeigen und diese Bilder zum Sprechen zu bringen“, so die Autoren. Das ist ihnen auf eine sehr sinnliche Weise gelungen. Rüdiger Winter