Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer

.

Mein Musik-Unterricht wurde von mir nicht geliebt und führte damals zu keinem Erfolg. Die Absicht unseres Musiklehrers war nur die beste. Mittels der Kodály-Methode sollte jedes Kind lernen, zunächst ganz schlichte, dann auch anspruchsvollere Volkslieder quasi vom Blatt zu singen. Abgelauscht hatte Zoltán Kodály seine Lieder den Bauern in den Dörfern im Norden Ungarns und im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet, wo er – dem Beispiel seines Freundes Béla Bartók folgend – auf der Suche nach der ursprünglichen Musik der ländlichen Bevölkerung war.

Diesen Spuren folgte kurzzeitig auch der im rumänischen Cluj aufgewachsene, in Budapest ausgebildete György Ligeti bei seiner Untersuchung ungarisch-rumänischer Volksmusik. Ursprüngliche Volksmusik und avantgardistische Formen verband Ligeti in seinem wichtigsten Spätwerk, einem Stück für Mezzosopran und vier Schlagzeuger Síppal, dobbal, nádihegedűvel / Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen, das er Katalin Károlyi widmete.

Ihre von der Pianistin Klára Würtz begleitete Sammlung Hungarian Songs beginnt Katalin Károlyi deshalb mit einer Ligeti-Referenz und ebenfalls mit Liedern nach Gedichten von Ligetis Zeitgenossen Sandor Weöres, den drei Weöres-Liedern/ Három Weöres-dal, die sie bis zum heftigen Aufschrei ausdrucksvoll und kernig gestaltet; gemäßigter im Ausdruck und volksliedhafter in der Anlage sind Ligetis aus den 1950er Jahren stammende fünf Lieder nach Gedichten von János Arany, einem wichtigen ungarischen Dichter des 19. Jahrhunderts.

Die folgenden rund 25 Lieder von Kodály und Bartók stammen aus verschiedenen Sammlungen aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so auch Bartóks erst 2002 im Druck erschienen Zehn Ungarische Volkslieder BB 43. Károlyi kreischt und schreit, ist wiegenliedhaft sanft, lockend und immer wieder rau und derb und versteht es aus Sprachpartikeln Gesangslinien zu formen. Besonders ausdruckvoll, archaisch hämmernd, rhythmisch grob und grell im Ausdruck sind die 1924 entstandenen Dorfszenen BB 87 nach Liedern, die Bartók wenige Jahre zuvor in der heutigen Slowakei aufspürte und die Károlyi auf Ungarisch singt. Die schöne Auswahl, bei der es Klára Würtz in den manchmal kaum minutenlangen Liedern innerhalb Sekunden gelingt, eine besondere Atmosphäre zu erzeugen, entstand im Juni 2018 im niederländischen Schiedam (Brillant Classics 96926). Der Eindruck ist intensiv und bezwingend.

In eine andere Welt katapultiert Aylish Kerrigan sings Kurt Weill. Im Stile einer frivolen Vortragskünstlerin unternimmt Kerrigan eine kaschemmenschwülstige Reise durch Weills Oeuvre von der Dreigroschenoper bis zu den Broadway-Stücken wie Lady in the Dark, One Touch of Venus und Street Scene. Mutig und unerschrocken. Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer. Auf der Liebhaber-CD (métier 15631) wird sie von Vladimir Valdivia begleitet. Rolf Fath

Pacinis Oper „Gli arabi nelle Gallie“

.

Mit Spannung erwartet gab das Rossini-Festival in Wildbad dieses Jahr (2023) eine absolute Welterstaufführung, nämlich Pacinis Oper Gli arabi nelle Gallie, konzertant in der Trinkhalle und ebenfalls sehr verdientermaßen im DLR-Radio (vielleicht dann auf CD bei Naxos, wenngleich das Tenor-Unglück daran Zweifel haben lässt). Man kann Wildbads Initiative – trotz der gelegentlich problematischen  Sängerauswahl – gar nicht hoch genug loben, haben sie doch in der Vergangenheit neben dem Rossini-Kanon immer wieder absolut Seltenes ausgegraben, worüber wir in operalounge.de immer wieder berichtet haben (auch dank der unermüdlichen Besuche unseres Korrespondenten Rolf Fath).

Sein Bericht findet sich unter den diesjährigen Festspielen. Und der englische Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist Alexander Weatherson, (operalounge.de-Lesern kein Unbekannter wegen seiner vielen klugen Texte, darunter der fundamentale Beitrag zu Donizettis Duc d´Albe und Maria di Rohan), hat uns seinen Artikel zu Pacinis Oper überlassen, den wir mit seiner freundlichen Genehmigung der website der Londoner Donizetti Gesellschaft entnahmen und ins Deutsche übersetzten. Danke Alex

.

Die Oper von Pacini ist um so spannender, als sie uns an einen Abschnitt der muslimischen und europäischen Geschichte erinnert, der kaum noch bekannt ist. Natürlich wissen wir von den Arabern in Süd-Spanien und dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Toleranz, Kunst und Wissenschaft ebendort. Aber kaum bekannt ist, dass die spanischen Araber bis nach Süd-Frankreich vorgedrungen waren und in der berühmten Schlacht von Narbonne 732 von Karl Martell vernichtend geschlagen und damit zurückgedrängt wurden. Bis heute ist dieser arabischen Einfluss in der Region noch zu finden. Auch wenn der historische Back-drop der Opern-Handlung nur als Staffage für die konventionelle Liebesgeschichte dient (und sich in ähnlichen Werken wie Maometto II, Les Abencerages oder I Normanni a Salerno wiederfindet), so ist sie für uns Heutige von Interesse ob der ethnischen Anklänge an eine vergessene Vergangenheit im Zusammenleben von Europäern und Muslimen (dazu auch der Artikel bei Wikipedia: Der Islam in Europa).

.

.

Giovanni Pacini/ Wikipedia

Nun also Alex Weatherson: Von all seinen unglaublichen Opern (und er behauptete, einhundert geschrieben zu haben) sind Giovanni Pacinis Gli arabi nelle Gallie sicherlich die fantastischste. Aus irgendeinem Grund – und obwohl die ursprüngliche Fassung durchaus gelungen war – betrachtete er sie als ein elastisches Produkt, das nach Belieben erweitert oder verkleinert werden kann. Unzählige Hinzufügungen, Kürzungen, Änderungen und so weiter, so dass es für jeden Hörer mindestens eine Ausgabe gab, die dessen Geschmack entsprach. Zwischen der Uraufführung 1827 und 1855 wurde in einer unendlichen Reihe von Wiederaufnahmen jede Arie, jedes Duett, jedes Ensemble ganz oder teilweise, manchmal auch immer wieder neu geschrieben, ebenso wie jeder Chor, jedes concertato, jedes Finale, jede preghiera – sogar in einer Art obsessione  concertata für Korrekturen. Selbst die hochgelobte introduzione des ersten Aktes war nicht sakrosankt, denn im tragischen finale ultimo, in dem der berühmte Tenor Giovanni David sterbend vor einem weinenden Kreis von Freunden und Feinden stottert, musste sich der maurisch-merowingische Held immer wieder leise davonschleichen, damit die Primadonna, der Sopran oder der Mezzosopran, das Rampenlicht in einem wahren Feuerwerk an Fioritur einnehmen konnte. Es war der Fall der Würfel, dass sowohl die Musik als auch die Handlung von der Laune des Komponisten abhingen.

Und wie launisch konnte man sein? Es gibt ein Alternativmaterial zu dieser Oper, das dreimal so lang ist wie die Originalpartitur! Gli arabi nelle Gallie ist wie ein chinesischer Würfel, dessen Seiten sich drehen lassen, um beliebig viele Abbilder, beliebig viele Bühnenbilder zu erhalten: Für jede neue Besetzung – für jedes neue Theater – gab es eine immer größere Auswahl an Arien und Cabaletten, die Oper konnte Platz für jede Art von Stimme finden, Sopran, Mezzosopran, Tenor oder Bass, jeder der comprimari konnte einen schmeichelhaften Soloplatz in der einen oder anderen der verfügbaren Versionen finden. Keine Tonart und kein Tempo waren jemals festgelegt, die Soloinstrumente waren immer verhandelbar, und mit der Hinzufügung weiterer Stücke wurde die Auswahl immer größer, so dass neue Musik, die für diese oder jene Bühne geschrieben wurde, mit der Musik aller vorangegangenen Aufführungen gekreuzt werden konnte, und zwar bis ins Unendliche…

Sanquirico: Volte_Sotterranee_(Scena“Gli Arabi nelle Gallie“ zur Oper von Giovanni_Pacini)/ Wikipedia

Den Theatern, den Direktionen, den Impressarii und den großen und kleinen Künstlern stand Musik in allen Schwierigkeitsgraden zur Verfügung, sowohl Vokal- als auch Orchestermusik. Pacini scheint seine all-passenden Gli arabi nelle Gallie wie ein Allzweck-Kleidungsstück geschneidert zu haben, mit Anpassungen und Ausstattungen, die kein Komponist zuvor in Erwägung gezogen hatte – oder wieder in Erwägung ziehen würde. Was Jahrhunderte lang oft auf eine einfache Gleichsetzung von einem Mann zwischen zwei Frauen oder einer Frau zwischen zwei Männern hinausläuft, lieferte Achille de Lauzières 1855 (wenn auch unbeabsichtigt) Pacini beide Szenarien auf einmal mit der bemerkenswerten Folge, dass Adelaide Borghi-Mamos „männliche“ Schwangerschaft das Publikum zum Lachen brachte. In diesem Fall bot er ein modernes – radikales – Modell für die Opern-Bühne: nicht nur eine Oper für alle Jahreszeiten, sondern eine androgyne Oper für beide Geschlechter!

Warum hat er das getan? Wir können nur raten. Sein Kampf um die Vorherrschaft mit Bellini begann 1827. Bellini, der Publikumsliebling, war weder vielseitig noch besonders fließend im Stil, Pacini war beides. Bellini musste „Blut schwitzen“, um seine Opern zu schreiben, Pacini wollte seine Rivalen zum Schwitzen bringen. Doch der Änderungswahn hielt noch lange an, nachdem Bellini von der Bildfläche verschwunden war, und gipfelte in der überdimensionalen Pariser Ausgabe von 1855, die auf Wunsch von Kaiser Napoléon III. inszeniert wurde. Natürlich mit einer überbordenden Anzahl neuer Stücke – auf den neuesten Stand gebracht und vom Anheben des Taktstocks bis zum letzten Ton der Partitur märchenhaft neu komponiert.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Der Tenor Giovanni David als Algenor in der Uraufführung/ Gemälde von Hayez/ Wikipedia

Sofern nicht noch frühere, verworfene Partituren auftauchen (was keineswegs unmöglich ist), können Gli arabi nelle Gallie als Pacinis 35. Oper gelten. Er selbst wurde am 11. Februar 1796 in Catania geboren und war zum Zeitpunkt der Komposition 31 Jahre alt. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr komponierte er für die Bühne und hatte auch sechsundfünfzig Jahre später, als er starb, noch immer Lust auf das Theater. Er hörte nie auf, Musik zu schreiben, seine Musik war unaufhaltsam. Jeden Tag verbrachte er Stunden am Schreibtisch, keine Abschweifung, keine Romantik, keine amourösen Verwicklungen (er hatte drei Ehefrauen in Folge und eine Reihe hochkarätiger Mätressen, darunter Pauline Bonaparte) unterbrachen jemals den Fluss. Er schrieb während der Mahlzeiten, in seinem Bad, in seiner Kutsche, im Schlaf (wie seine Kritiker behaupten), in den Pausen zwischen den Aufführungen einer Oper, die er gerade schrieb. Er erzürnte seine Feinde, verblüffte seine Freunde und unterhielt ein großes Publikum mit seinen öffentlichkeitswirksamen Possen und seinem Gespür für Publicity.

Er war auch ein äußerst professioneller Komponist, der seine Verträge pünktlich und schnell erfüllte und eine ganze Reihe von unbestrittenen Erfolgen vorweisen konnte. Sowohl sein Il barone di Dolsheim vom 23. September 1818 als auch sein Il falegname di Livonia vom 12. April 1819, die an der Scala aufgeführt wurden, wurden bei ihrer Premiere mehr als vierzig Mal gespielt; La schiava in Bagdad, das am 28. Oktober 1819 am Carignano in Turin aufgeführt wurde, hatte Giuditta Pasta in der Titelrolle; La gioventù di Enrico quinto, das am 26. Dezember 1820 am Teatro Valle in Rom gegeben wurde, hatte eine proto-shakespearische Handlung und eine lange Lebensdauer.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Brigida Lorenzani sang den Leodate der Uraufführung/ Wikipedia

Im folgenden Jahr feierte Cesare in Egitto dank Pauline Bonaparte Borghese einen römischen Triumph bei der Eröffnung des Karnevals im Teatro Argentina (26. Dezember 1821), wobei die Rolle der Kleopatra allgemein als Darstellung der sich in ihrer Loge räkelnden Prinzessin galt; Amazilia (6. Juli 1825); L’ultimo giorno di Pompei (19. November 1825) und Niobe mit der unübertroffenen Besetzung von Giuditte Pasta, Luigi Lablache und Giovanni Battista Rubini (aufgeführt am 19. November 1826), alle drei für das Teatro S. Carlo in Neapel komponiert und allesamt große Erfolge, wobei das letzte von ihnen die wichtigste Opernmelodie der damaligen Zeit lieferte: „I tuoi frequenti palpiti“, eine unwiderstehliche Cabaletta, die für Rubini geschrieben wurde und später von einem Anwärter nach dem anderen auf den vokalen Ruhm übernommen wurde, um sie in so unpassende Werke wie Semiramide, Norma und Lucia di Lammermoor einzufügen, unabhängig von der Handlung – eine Erkennungsmelodie, die in einer Transkription von Liszt eine Apotheose über den Alpen erreichte, eine Hommage an die pacinische Bravour, die damals wie heute zum Zuhören zwingt.

Es war Niobe, die seinem ersten ehrgeizigen Versuch, berühmt zu werden, unmittelbar vorausging: Die Oper, die am 8. März 1827 auf die berühmte Bühne kam, basierte wie so viele andere der damaligen Zeit auf einer französischen Quelle, in diesem Fall auf der absurden Novelle Le Rénégat des Vicomte d’Arlincourt von 1822 – byronisch, erschütternd, aber anständig und mit nicht existierenden historischen Referenzen. Aus dem Ausgangsfeuilleton wurde eine Folge von Versen abgeleitet, die zwar brauchbar, aber nicht im Geringsten vornehm waren, ja, der schlaffe Text von Gli arabi könnte sogar der fons et origo für das seltsame Schicksal dieser Oper gewesen sein: Pacini, der Texte von fast allen Theaterdichtern mit der gleichen Melodienfröhlichkeit vertonte, scheint geglaubt zu haben, dass einige von ihnen (Angelo Anelli, Andrea Leone Tottola, Gaetano Rossi, Salvadore Cammarano und Francesco Maria Piave) es wert waren, respektiert zu werden, während ein großer Teil aller anderen (einschließlich Giovanni Federico Schmidt, Luigi Romanelli und Felice Romani) es nicht waren. Und er  fühlte sich daher frei, ihre Verse zu ändern, wann und so oft er wollte. Dass dies nicht immer der Hackordnung der zeitgenössischen Vorstellungen von poetischem Verdienst entsprach, beunruhigte ihn überhaupt nicht, sondern war symptomatisch für seine Weigerung, sich anzupassen, was seine Zeitgenossen gleichermaßen verblüffte und bestürzte.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Stefania Favelli sang die Ezilda der Uraufführung/ Wikipedia

Das Ergebnis war, dass der ursprüngliche Text von Romanellis Gli arabi nelle Gallie nach einigen Aufführungen nur noch in einigen wichtigen Teilen erhalten blieb. Die Oper wurde noch vor der Premiere auf den Kopf gestellt (wie ein Manuskript der ersten Strophe in Neapel zeigt), und ein großer Teil der Verse wurde vom Komponisten selbst hinzugefügt. Die ursprüngliche Besetzung war kompetent, wenn auch nicht herausragend: Ezilda, die gallische Prinzessin, wurde von der Sopranistin Stefania Favelli gesungen; Agobar, ihr lange verschollener Kindheitsverlobter, der zum Anführer der Mauren wurde, wurde von dem virtuosen Tenor Giovanni David gesungen; Sein Rivale um ihre Hand, der verwirrte General Leodato, wurde von der Mezzosopranistin Brigida Lorenzani gesungen, während die nicht unbedeutenden Rollen von Gondair, Zarele, Aloar und Mohamud von Vincenzo Galli, Teresa Ruggeri, Lorenzo Lombardi bzw. Carlo Poggiali übernommen wurden.

Die Oper sorgte von Anfang an für Furore, die Weite des Schauplatzes, der neo-stereophone Einsatz der spektakulären Eröffnung (Pacini hatte Il crociato in Egitto mit eifrigem Gehör bearbeitet) brachten das Publikum auf einen Siedepunkt der Begeisterung, der die ganze Zeit über anhielt, aber es war erstaunt zu entdecken, dass die ansteckend synkopierten cabaletten, für die er berühmt war, zum ersten Mal durch eine gewaltige Schlussszene für David in einem orchestral herausragenden Bühnenbild, das wirklich bewegend war, in den Schatten gestellt wurde.

Alle erwarteten ein brillantes envoi, und alle waren überrascht. In dieser Oper, so rühmte sich Pacini stolz, hatte er zum ersten Mal seine Muse über die leichte Publikumsbeschwörung seiner früheren Opern hinausgetrieben und strebte nun nach einem emotionalen Kern. Seine Instrumentierung, die bereits (wie wenige bemerkt haben) eine seiner besten Eigenschaften war, wurde nuancierter, luftiger, bitterer, idiosynkratischer. Und er drängte seine Darsteller in eine neue Arena, indem er sie zwang, affektiv im Einklang mit gut eingesetzten Soloinstrumenten zu singen – insbesondere den unverschämten Giovanni David, dessen Missbrauch seiner Kopfnoten zu stören begann. Dieses Kunststück allein wurde als geradezu wundersam angesehen, und auch Bellini nahm davon Kenntnis. Selbst der feindseligste Kritiker berichtete, dass die Oper „als meisterhafte Inszenierung“ angesehen wurde, dass Pacini als „der große Erneuerer der modernen Musik“ hochgehalten wurde (z. B. Harmonicon in London). Eine Ansicht, die bei seinem Catania-Konkurrenten nicht gerade auf Gegenliebe stoßen dürfte…

.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Vincenzo Galli war der Gondoir der Uraufführung/ Lithographie von C. Biron, Königliche Bibliothek Stockholm

Die Handlung ist (wenn auch nicht immer) wie folgt: Clodomiro (Tenor), der Thronfolger der Merowinger-Könige, ist mit der kleinen Prinzessin Ezilda (Sopran) verlobt. Nachdem seine Dynastie gestürzt wurde, wurde er nach Spanien verschleppt und von den Mauren zum Islam bekehrt. Nun ist er als Krieger mit Turban zurückgekehrt, um unter dem Namen Agobar Frankreich für seine islamischen Herren zu erobern. Der Vormarsch seiner Truppen zwingt Ezilda, in einer ihrer Burgen Zuflucht zu suchen, unterstützt von ihrem Heerführer Leodato (Mezzosopran), Prinz der Auvergne, der sowohl an ihrer Hand als auch an einem möglichen Sieg über die Mauren verzweifelt. Er wird gefangen genommen, und Agobar droht, ihn zu töten, wird aber von dem klugen Aloar (Tenor) und auch von einem erwachenden Gefühl für seine verschwundene Vergangenheit zurückgehalten. Als er sich in der Gegenwart von Ezilda wiederfindet, die in einer Kirche Zuflucht gesucht hat, werden beide von halb vergessenen Erinnerungen geplagt. Agobar belauscht sie beim Weinen, sie besteht darauf, dass sie um ihren toten Ehemann weint und zeigt ihm den Ring, den Clodomiro ihr als Kind an die Hand gesteckt hat. Agobar zeigt ihr das Paar an seiner eigenen Hand. Ezilda weist ihn wütend als Schwindler, Lügner und Feind ihres Landes zurück. Agobar beschließt in seiner Verwirrung, nach Spanien zurückzukehren, doch Leodato warnt ihn, dass er damit den Verrat durch seine eigenen Soldaten riskiert, und vertraut ihm gleichzeitig an, dass seine Loyalität nicht Karl Martel gilt, sondern seinem lange verschollenen, rechtmäßigen Herrscher (den er natürlich nicht anerkannt hat) Clodomiro. Die Truppen von Karl Martel greifen die Mauren an und fügen ihnen angesichts der Unentschlossenheit von Agobar eine Niederlage zu, aber Ezilda weint – zur Überraschung aller – über die Schande des maurischen Generals aus, den sie zum großen Erstaunen ihrer Damen zurückgewiesen hat. Agobar, der von Aloar über seine Identität aufgeklärt wird, lässt sich von Gondair (Bass) versichern, dass Ezilda bereit ist, ihn zu akzeptieren, und beschließt, mit seinen dezimierten Truppen erneut in die Schlacht zu ziehen. Diesmal jedoch gegen die Truppen von Karl Martel, um die Geschicke seiner eigenen Dynastie (und nicht die seiner muslimischen Herren) wiederherzustellen. Bevor er dies tun kann, wird er von Mohamud (Bass), einem maurischen Loyalisten, niedergestochen. Tödlich verwundet taumelt er zu Ezilda und stirbt in ihren Armen.

,

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Die Trinkhalle in Bad Wildbad/ Rossini in Wildbad

Diese Partitur birgt viele Überraschungen, vor allem in der Erstfassung: Während Leodato eine stattliche entrata hat, tritt Ezilda unauffällig auf (mit einer preghiera in der Fassung der stesura prima; die berühmte Diva Henriette Méric-Lalande fand diese zurückhaltende Ankunft auf der Bühne einfach unzureichend für ihren Status und bestand, als sie die Rolle bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 übernahm, darauf, dass Pacini ihr eine brillante Kavatine lieferte, wie sie sie für angemessen hielt). Der erfahrene Pacini hatte eine eiserne Technik im Umgang mit Damen dieser Eminenz – er kapitulierte einfach (eine Philosophie, die Bellini – und später auch Giuseppe Verdi – wütend machte). Was ihn betraf, so konnte er jede noch so unbequeme oder unlogische Änderung durchsetzen, die von ihm verlangt wurde.  Die Kavatine „Quando o Duce, a te ridendo“ wurde ordnungsgemäß geliefert und versetzte alle in Erstaunen.
Was Gli arabi nelle Gallie betrifft, so wurde diese zweite Ausgabe, wie auch die dritte und vierte Ausgabe und so weiter, mit einem crescendo von Beifall bedacht. Niemand scheint diese Änderungen bedauert zu haben, denn sie hielten die eingefleischten aficionados, die jeden Abend in die Oper gingen, auf Trab. Die Ansicht Verdis, dass eine Oper endlich, unveränderlich und in Stein gemeißelt sein sollte, dass die Künstler vertraglich verpflichtet waren, die von ihm komponierte Musik zu singen, wurde vom Publikum im primo Ottocento nicht geteilt. Agobar, der die Hauptrolle hat (Pacini machte von Anfang an klar, dass er diese Oper für seinen Freund Giovanni David schrieb), hatte zunächst eine auffällige arie di sortita „Non è ver, che sia diletto“ (die mindestens fünfmal umgeschrieben wurde), der in der prima eine weitere preghiera für Ezilda „Lo sguardo tuo, Signor“ mit ihrer köstlich-berührenden Melodie folgte. Ein großartiger Moment der Ruhe in einer geschäftigen Partitur und überhaupt nicht brillant.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Duett aus der Oper zum Klavier/Frontespiece/ Sammlung Philipp Gossett

Eine solche Zuflucht war keineswegs nach dem Geschmack eines ganzen Stammes von primedonne, nicht nur von La Méric-Lalande, und wurde bald wieder abgeschafft. Das finale primo des ersten Aktes ist ein concertato, wie es üblich war, mit lebhaften Auseinandersetzungen, die sowohl amourös als auch kriegerisch sind. Es wurde in den folgenden Spielzeiten außerordentlichen Veränderungen unterworfen – mit einer Fülle von verschiedenen stretten jeder Art, jeder Form, jeder Dynamik – mal als piano, mal als fortissimo bezeichnet – mal unisono, mal kanonisch strukturiert, mal mit Arioso-Einschüben wie Johannisbeeren im Kuchen – man kann es sich aussuchen. Die Originalfassung jedoch, mit einem wütenden Agobar, einer klagenden Ezilda, einem verwirrten Leodato und einem Chor des Dissenses von allen Seiten in einer unwiderstehlichen Woge der Melodie, war eine der besten Versionen von allen. Ebenso enthielt der zweite Akt Neuerungen, die zunehmend verschwammen oder brutal ersetzt wurden. Der zweite Akt enthielt Neuerungen, die zunehmend verschwammen und brutal ersetzt wurden. Er begann mit einem düsteren coro und verlief ursprünglich logisch über ein Duett für Tenor und Mezzosopran, dann eine große Arie für Ezilda, gefolgt von einem Trio, einem weiteren Coro, einer gewaltigen Arie für Agobar (von der es mindestens vier Versionen gibt) und dem ergreifenden Höhepunkt seiner Sterbeszene – eine jener langgezogenen, endgültigen Präsentationen des Opern-Ablebens, die fast zu einer Blaupause für das gesamte melodramma romantico des kommenden halben Jahrhunderts wurde.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Niederlage der Muslime in der Schlacht von Narbonne 759/ Wikipedia

In diesem Fall war sie so wirkungsvoll und berührend wie keine andere, und fast zum ersten Mal wurde dieser letzte Ritterschlag einer anderen Stimme als der einer Sopranprimadonna zuteil! Das konnte natürlich nicht von Dauer sein. Pacini lieferte Giulia Grisi am 12. Mai 1832 im Londoner King’s Theatre ein robustes Arienfinale, das ihren Platz einnehmen sollte: „Nel suo rapido passagio“, dessen rasante (Gesangs-)Passagen ihr solche Beifallsstürme einbrachten, dass die gesamte Musik und Handlung, die zuvor stattgefunden hatten, zynisch in den Schatten gestellt wurden.

Es muss sofort gesagt werden, dass wenig von dieser Musik – und nur wenige der Ersatzstücke – nach Rossini klingt, was auch immer behauptet wurde, Pacini war ein Komponist, der die ererbten Formen beharrlich aushöhlte – nicht mit einem kühnen Meisterstreich wie ein Donizetti oder ein Verdi, sondern Schritt für Schritt mit der Umsicht eines Überlebenden. Trotz einer respektlosen Geschichte von Veränderungen, Anpassungen, Zweifeln und regelrechten Widersprüchen behielten Gli arabi nelle Gallie eine Eigendynamik, die von einer atemberaubenden, auf ihre Art einzigartigen Umsetzung abhing – mit einer völligen Verachtung für die vorhersehbaren Tonalitäten und visuellen Klischees der italienischen Bühne.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: In der Schlacht von Tours und Poitiers im Oktober 732 besiegten die Franken unter dem Kommando von Karl Martell die nach Gallien vorgestoßenen muslimischen Araber und stoppten deren Vormarsch im Westen/ Gemälde von Emile Bayard, 1880, Wikipedia

Es gibt also für jeden ein musikalisches Erlebnis. Man treffe seine  Wahl. Es gibt eine Version, in der Leodato der Star ist (geschrieben für Carolina Ungher), in der sie die ganze gute Musik und drei große Arien hat. Zwischen der ersten Besetzung von 1827 und der letzten von 1855 traten die meisten großen Namen der italienischen Oberschicht in diesem melodramma serio auf: Zu den Ezildas gehörten Adelaide Tosi, Violante Camporesi, Luigia Boccabadati, Caterina Lipparini, Carolina Cortesi, Marietta Albini (die Pacinis zweite Frau wurde), Mathilde Kyntherland, Emilia Bonini und Virginia Blasis sowie die bereits erwähnte Henriette Méric-Lalande (die in mehr als einer Wiederaufnahme sang) und Giulia Grisi. Zu den Leodatos gehörten Adele Cesari, Rosa Mariani, Annetta Fink-Lohr, Clorinda Corradi-Pantanelli, Teresa Cecconi und Amalia Schütz-Oldosi; die schräge, aber sympathische Rolle des Agobar wurde von Giovanni David (in mehr als zehn Wiederaufnahmen) gesungen, aber auch von Giovanni-Battista Rubini (in Vicenza), Domenico Reina, Giovanni Basadonna, Napoleone Moriani, Pietro Gentili und Salvatore Patti. Zu den Sängern kleinerer Rollen gehörten (überraschenderweise) Celestino Salvatori und Vincenzo Galli sowie Antonio Tamburini und Luigi Lablache!

.

Zu Pacinis „Arabi“: Karte des arabischen Imperiums um 700/ Wikipedia

Die Wiederaufnahme durch das Théâtre Impérial-Italien am 30. Januar 1855 mit Napoleon III. in seiner Loge (als Neffe von Pauline Bonaparte im Exil erinnerte er sich mit Rührung an die Oper im Teatro Apollo in Rom am 17. Januar 1829, als er von den Gedanken an seine Heimat bewegt war) wurde mit angemessener Publizität aufgenommen, nun in Form einer winzigen Grand opéra in vier Teilen, einem wahrhaft radikalen rifacimento, mit Angiolina Bosio als Ezilda und dem wild-emotionalen Carlo Baucardé als Agobar. Jede Nummer wurde umgeschrieben oder neu orchestriert, der Text wurde fast durchgängig überarbeitet, und alle religiösen und patriotischen Elemente wurden zur Freude der Kaiserin Eugénie verdoppelt. (Dieser Höhepunkt der unsterblichen Partitur wurde als Gli arabi nelle Gallie und nicht als L’ultimo dei Clodovei herausgegeben, wie manchmal berichtet wird – dies war nur der Titel einer Zeitungsrezension). Es blieb nicht lange dabei. Pacini war nie ein Favorit in der französischen Hauptstadt, aber es war sein einzige Oper ebendort, die dem lokalen Geschmack entsprach. Gli arabi nelle Gallie waren ein großer Erfolg – ein alter Hut, ungeachtet seinet Umarbeitung unter kaiserlicher Schirmherrschaft. Und sollte nun für immer verschwinden, aber der Komponist wurde mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet.

.

Zu Pacinis „Arabi““: Henriette Méric-Lalande sang Ezilda bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 (hier in Bellinis „Straniera“)/ BNF Gallica

Die unendlich lange Liste der Wiederaufnahmen in drei Jahrzehnten gibt einen überzeugenden Einblick in die Nachfrage nach diesem tapfer aktualisierten Bühnenspektakel. Seine Unverwüstlichkeit könnte als sinnbildlich für Pacinis gesamte Karriere angesehen werden: Sein Leben drehte sich um ständige Wiederaufführungen. Er überlebte sowohl Bellini als auch Donizetti. Und ungeachtet der glanzvollen Oberfläche seines anfänglichen Schaffens entstanden seine wichtigsten Opern in der glücklichen Zwischenzeit, als der erste von ihnen gestorben war und der zweite sich ins Ausland abgesetzt hatte. In der Mitte seines Lebens, als andere seiner Generation einfach nur maestro di cappella dieses oder jenes Provinzdoms waren, war Pacini immer noch auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Mit seinem Saffo von 1840 begann er eine fast uneinnehmbare Reihe herausragender Kompositionen, von denen viele mit einer Begeisterung aufgenommen wurden, die durch das Aufkommen von Verdi nicht ausgelöscht wurde.

.

Auf jeden Fall entstanden so aufsehenerregende und denkwürdige Opern wie La fidanzata corsa (1842), Medea (1843), Lorenzino de’Medici (1845), Bondelmonte (1845), Stella di Napoli (1845) (drei große Opern in einem Jahr), La regina di Cipro (1846), Merope (1847), Allan Cameron (1848) und Malvina di Scozia (1851) verdienen es, ernst genommen zu werden, ganz zu schweigen von dem außergewöhnlichen Il Cid (1853) und dem proto-veristischen Il saltimbanco von 1858 (begann der Verismo am Istituto Pacini in Lucca? ) zusammen mit den beiden Opern, mit denen er seine lange Parabel auf der Bühne abschloss: Don Diego de’Mendoza und Berta di Varnol (beide mit Libretti von Piave und beide von 1867), in dem Jahr, in dem er starb, immer noch an seinem Schreibtisch.

Der Autor: Aleander Weatherson, renommierter Fachmann für Opern des 18. und 19. Jahrhunderts, namentlich des Belcanto sowie Autor vieler Artikel und Bücher über eben dies Feld, zudem auch international gefragter „Lecturer“; er war der Begründer und langjähriger Chef der Londoner Donizetti Society/ AW

Und dann ist da noch der „posthume“ Niccolò dei Lapi, der zwischen 1852 und 1858 in mindestens drei Vorfassungen mit unterschiedlichen Titeln erprobt und nach seinem Tod 1873 als umfassender Abgesang inszeniert wurde, eine gewaltige Zusammenfassung seines gesamten Schaffens, die auf einen modernen Aufbruch wartet.

Alle diese Opern enthalten eine Musik, die nicht zu überhören ist, lebendig, erfinderisch und sich selbst erneuernd. Pacini – und kein anderer Komponist kann das von sich behaupten – war das lebendige Bindeglied zwischen Rossini und dem Realismus, der das 20. Jahrhundert einleitete. Mit seinen rationalen und irrationalen Veränderungen, mit seiner eifrigen Hingabe an die Launen der Interpreten, der Aufführung und des Publikums waren Gli arabi nelle Gallie das Kind einer populären Kultur, die hartnäckig daran festhielt, die Oper als einen lebendigen Organismus zu betrachten, als eine theatralische Erfahrung, die sich vor den Augen und Ohren der Zuschauer weiterentwickelte. Und noch nicht als das unveränderliche Monument, das sie werden sollte. Als solche war sie zweifellos das Sinnbild einer Kunstform, die im Sterben lag, aber dass es in der darauf folgenden Opern-Ära sowohl Verluste als auch Gewinne geben würde, ist ein Faktor, dem man sich stellen muss. In der Jetztzeit. Alexander Weatherso (Übersetzung/ Redaktion G. H.) Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Fabrice Bollons Freiburger Janáček-Projekt

.

Ist es ein Kinder- oder ein Covid-19 Projekt? Letztlich trug wohl mehreres zur Entstehung dieses Schlauen Füchsleins bei, das auch so etwas wie der Abschied von Fabrice Bollon als Generalmusikdirektor vom Freiburger Theater war. Letztlich verlängerte Bollon um ein Jahr und verabschiedete sich mit seiner Erasmus von Rotterdam-Oper The Folly von Freiburg, wo er seit 2008 amtierte. Wie er im Beiheft erzählt, fand es Bollon offenbar immer schon schade, dass Janáčeks Oper, die für große wie kleine Zuschauer gleichermaßen funktioniert, aufgrund ihres großen Orchesterapparates nur großen Kompagnien vorbehalten sei und deshalb viele Kinder nicht erreiche.

Dann kam die Pandemie. Da die Arbeit mit großen Orchestern unmöglich geworden war, erarbeitete der französische Dirigent eine Fassung für zwölf Musiker, die im April 2021 in Rostock unter Marcus Bosch erstmals aufgeführt wurde und im Herbst des gleichen Jahres in einer Inszenierung von Kateryna Sokolova an Bollons Stammhaus in Freiburg herauskam.

Diesmal dirigiert von Fabrice Bollon, der in seiner kammermusikalisch durchsichtigen Fassung mit Streichquartett, Kontrabass, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Fagott, Harfe, Klavier und Schlagwerk die spätimpressionistische Duftigkeit von Janáčeks Musik auskostet, die attraktiven instrumentalen Kombinationen ausspielt und dabei eine reizvolle Dezenz bewahrt, die den Singstimmen stets den Vortritt lässt, darunter Samantha Gaul und Irona Je-Eun Park als Füchslein und Fuchs, Michael Borth als Förster, Anja Jung als Försterin und Eule sowie Hans Gröning als Harašta. Diese orchestrale Zurückhaltung bei gleichwohl waldwebend lockender Farbigkeit kommt vor allem den Kinderstimmen zugute, denn nicht nur die Förster-Kinder Pepik und Frantik sind mit Mitgliedern des Cantus Juvenum Karlsruhe besetzt, sondern auch zahlreiche Waldtiere vom Frosch bis zu den Fuchskindern. Die Naxos- Aufnahme (2 CD 8.660526-27) entstand in Sankt Georgen. Man könnte bedauern, dass die offenbar reizvolle Freiburger Inszenierung nicht festgehalten wurde. Sokolova hatte die Bilderfolge von Stanislav Lolek, die Janáček zur siebten seiner zehn Opern inspirierte, die am Tag seines 70. Geburtstags 1924 in Brünn uraufgeführt wurde, ins Filmmilieu verlegt. Der Förster wirkt als Autor und Regisseur, die Welt des Films wird zum Ort der Träume und Sehnsüchte.

Ergänzt wird diese reduzierte Orchesterfassung des Schlauen Füchsleins, die durchaus Bestand haben könnte, durch Bollons Duo lyrique en trois acts für Violine und Cello, das Janáčeks erste Oper von 1887 über die Amazone Šárka in ein knapp 20minütiges Kammermusikstück fasst. Das spröde Stück wird von Muriel Cantoreggi und Dina Fortuna-Bollon gespielt. Bollons Janáček-Hommage setzt sich in Twelve Lilies for Leoš, einem fünfundzwanzigminütigen Stück in drei Sätzen für die Füchslein-Besetzung fort; unter Bezugnahme auf das zweite Streichquartett, das Bläsersextett, die Orchesterrhapsodie Taras Bulba und die erst posthum uraufgeführte Oper Osud schuf Bollon so etwas wie einen persönlichen Leitfaden durch Janáčeks Oeuvre. Rolf Fath

Tournee-Erfolg

.

Als Weltpremiere veröffentlicht das französische Label Château de VERSAILLES auf drei CDs das Drame en musique La Finta pazza von Francesco Sacrati, der von 1605 bis 1650 lebte (CV5070). 1641 wurde es in Venedig uraufgeführt und konzentriert sich im Libretto von Giulio Strozzi auf Deidemia, die nach der Abreise von Achille gen  Troja dem Wahnsinn verfällt. La Finta pazza wurde damit zur allerersten Oper, welche sich diesem Gemütszustand widmet. Zudem finden sich in dem Werk viele Zutaten des venezianischen Repertoires von Cavalli und Monteverdi – komische Episoden, eine Amme, ein Eunuch und ein Hauptmann der Wachen. Die Musik weist einen Mix aus lyrischen Arien, Ariosi und Passagen im Stil des recitar cantando auf. Deidamia bringt die seriösen Teile ein, vor allem Lamenti, was sie in die Nähe zu Penelope aus Monteverdis Ulisse bringt, der ein Jahr früher heraus kam.

Die vorliegende Einspielung erfolgte im Juni 2021 in der Opéra Royal du Château de Versailles. Es handelt sich um jene Version, welche auf Tourneen durch Italien genutzt wurde. Leonardo García Alarcón leitet die von ihm 2005 gegründete Cappella Mediterranea solide, doch gelegentlich recht zurückhaltend. Solche Nummern wie die gravitätische Sinfonia liegen ihm besonders.

Die ausgeglichene Besetzung wird von Mariana Flores als Deidamia gebührend dominiert. Ihr Sopran zeichnet sich durch seine lyrischen Qualitäten, aber auch die dramatische Intensität mit gelegentlich bohrendem Ton aus. Ihre große Szene im 2. Akt „Ardisci, animo“ ist erschütternd in ihrer Wahrhaftigkeit und Tiefe. Nicht weniger ergreifend ist die Wahnsinnsszene im letzten Akt, in der sie von Achille phantasiert. Die Kastratenrollen des Ulisse und Achille werden von den Countertenören Carlo Vistoli und Paul-Antoine Bénos-Dijan wahrgenommen. Letzterer berührt in seiner vermeintlich aufrichtigen Empfindung für Deidamia, während Vistoli wie stets durch seine klangvolle, sinnliche Stimme imponiert.

Komödiantische Beiträge kommen vom Tenor Marcel Beekman als Nodrice und dem polnischen Counter  Kacper Szelazek als Eunuco. Beider Duett zu Beginn des 3. Aktes, „Quand’ ebbi d’oro il crin“, ist ein Kabinettstück zweier Vollblutsänger, die sich gegenseitig zu überbieten suchen. Salvo Vitale als Capitano lässt profunde Basstöne in seiner Szene „Spalancatevi abissi“ im 2. Akt hören und man bedauert, dass die Partie nicht größer ist. Die Bekanntschaft mit diesem Werk, eine der populärsten Opern des 17. Jahrhunderts, ist lohnend in jedem Fall. Bernd Hoppe

Polnischer Verismo

.

Auf eine bewegte Geschichte blickt die polnische Stadt Lublin in Ostpolen zurück, die litauischen, russischen, österreichischen, deutschen und sowjetischen Einflüssen ausgesetzt war und die  nicht nur ein eigenes Opernhaus, sondern auch eine renommierte Musikakademie mit dem Namen Henryk Wieniawski besitzt. In deren Konzerthalle entstand im Oktober des Jahres 2021 die Aufnahme von Wladysław Želeńskis dritter von vier Opern mit dem Titel Janek, statt, die 1900 in Lemberg uraufgeführt worden war. Diese heute in der Ukraine liegende Stadt ist auch in anderer, sehr trauriger Weise mit der Familie  verbunden, denn ein Sohn des Komponisten war einer der von den Deutschen 1941 ermordeten polnischen Intellektuellen, die von ihren ukrainischen Studenten denunziert worden sein sollen. Die Untat ging als „Professorenmord“ in die Geschichte ein.

Želeńsky wurde in der Nähe von Krakau geboren, wo er auch studierte, ehe er nach Prag und danach nach Paris ging, um schließlich wieder nach Polen, nach Warschau und dann Krakau, wo er 1921 verstarb, zurückzukehren.

Die Musik zu Janek wird als eine Mischung von polnischen Volksweisen, vorzugsweise der Hohen Tatra, von italienischem Verismo und auch etwas Brahms beschrieben. Veristisch ist sicherlich die Handlung, ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang frei nach Cavalleria Rusticana, musikalisch überwiegen vor allem in den üppigen Chorszenen die folkloristischen Elemente.

Die schöne Bronka, verlobt mit dem Gebirgler Stach, hat den verwundeten Räuber Janek bei sich aufgenommen und gesund gepflegt. Beide haben sich ineinander verliebt, was der Geliebten  Janeks mit Namen Marynka nicht verborgen bleibt. Sie stachelt den eifersüchtigen Stach dazu auf, Janek zu erschießen, der tot vor den Augen der entsetzten Anwesenden zusammenbricht.

Bei You Tube findet sich die Aufnahme einer Arie des Janek aus dem Jahr 1929, auf der ein Tenor namens Salecki durchaus mit dem Timbre für einen Turiddu prunken kann. Auf der von Naxos zu verantwortenden Aufnahme wirken zumindest die Stimmen des unglücklichen Liebespaars ausgesprochen slawisch, so ist der Tenor, den Lukasz Gaj für die Titelpartie einsetzt, herb, metallisch, wirkt streckenweise etwas ungehobelt und überzeugt mehr durch prachtvolles Material als durch Gesangskultur. Die Mittellage ist angenehm farbig, insgesamt macht seine Leistung den Eindruck, als stehe sie unter dem Motto “Volle Kraft voraus“.  Malgorzata Grzegorzewicz-Rodek hat für die Bronka eine lieblich klingende mädchenhafte Sopranstimme, die wie eine voce dal cielo klingt. Viril, dunkel bis düster, dazu herb und kantig klingt der Bariton von Pawel Trojak, der den rachsüchtigen Stach gibt und durchaus an einen Alfio denken lässt. Einen fülligen, weichen Sopran, der fast Mezzoqualitäten aufweist, kann Agnieszka Kuk für die eifersüchtige Marynka einsetzen und ausgesprochen stählern im Forte klingen. Profund ist der Bass von Dariusz Gȯrski für den Marek.

Wunderschön hört sich der Women’s Choir oft the Henryk Wieniawski Philharmonic an, höchst markant I Signori Men’s Vocal Ensemble. Im Orchestergraben saust und braust es gewaltig, fegt Unheilschwangeres, auf pure Überwältigung Zielendes daher, zieht Dirigent Wojciech Rodek alle Register, um slawisch Volkstümliches und italienisch Veristisches miteinander zu vereinen und der ersten Einspielung des Werks zum Erfolg zu verhelfen (Naxos 8.660521-22). Ingrid Wanja   

Petre Munteanu

.

In unserer Serie Operngeschichte erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

Und das bringt uns zu Petre Munteanu, dem rumänischen Tenor mit einer bemerkenswerten Karriere in Deutschland und Italien.

Zwei meiner liebsten geistlichen Aufnahmen mit ihm sind die beiden Oratorien von Mozart und Vivaldi, La Betulia liberata und Juditha triumphans unter Carlo Felice Cillario bzw. Alberto Zedda am Pult des Mailänder Angelicum Orchesters und Chores, schwer aus den Sechzigern und im Klang zwar Stereo aber doch recht betagt. Neben solchen eher regionalen, aber im damaligen Italien Säulen des Konzert- und Opernlebens seienden, Sängern wie Emilia Cundari (immerhin Tochter Bruno Walters), Oralia Dominguez, Adriana Lazzarini, Laura Londi, Irene Companeez (die Cieca im Rai-Studio neben der Callas) tritt Petre Munteanu leuchtend und prophetisch hervor, sein stets etwas melancholisches Timbre unverkennbar und seine Interpretation engagiert und voller Aussage. Das ist für mich musikalisches Drama, Aussage in Musik, ähnlich wie Marga Höffgen mit Vivaldis Stabat Mater oder Margarete Klose mit dem Lamento der Arianna – über stilistische Fragen hinweg gültige und überzeitliche Aufnahmen. Petre Munteanu ist auf Dokumenten reichlich vertreten, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Hermann Scherchen, mit dem er viel von Bach aufgenommen hat (Matthäus-Passion, Kantaten, Weihnachtsoratorium, meist auf Vanguard und kleinen italienischern Firmen)., Ein Verdi-Requiem findet sich bei Decca-Eclipse Australien, Beethovens Neunte erneut unter Scherchen bei DG. Eine Schöpfung von Haydn hatte die Firma Andromeda, das Mozart-Rerquiem findet sich bei Archipel. Youtube und Spotify haben viel von Munteanu. G. H.

.

Es gibt Sänger, die bleiben ein Geheimtipp. Auch weit über ihren Tod hinaus. Petre Munteanu ist so einer. Für mich zumindest. Ob Lied, Oratorium oder Oper, er war – mit Ausnahme der Operette – in allen Genres unterwegs. Preiser Records, seit Jahrzehnten für Ausgrabungen und Erbepflege bekannt und geschätzt, hat sich den Liedinterpreten vorgenommen und in einem Album mit drei CDs Werke von Franz Schubert und Robert Schumann zusammengestellt (89306). In dieser Konzentration erhalten die Aufnahmen, die verstreut und auch in anderen Zusammenstellungen auf den Markt gelangten, eine neue Bedeutung. Munteanu war immer gegenwärtig. Nicht auf den ganz großen Labels. Er führte ein vergleichsweise bescheidenes, aber feines Plattendasein. Fällt sein Name, dann nicken sich bis heute Kenner und Sammler wissend zu. Munteanu scheidet keine Geister und polarisiert nicht wie manche Stars und Platzhirsche der Szene. Dafür ist er nicht glamourös genug. Er gehört zu den Stillen. Er braucht keinen Lärm um seine Person.

Petre Munteanu/ die Preiser-3 CD-Box mit den Liederzyklen

In seiner Kompaktheit erweist sich das Preiser-Album auch als aufregende Fundgrube. Wer es besitzt, stellt es nicht in die hinterste Reihe des Regals. Bei mir bleibt es immer griffbereit. Schubert ist mit der Schönen Müllerin und dem posthumen Zyklus Schwanengesang in der damals üblichen Zusammenstellung und Reihenfolge vertreten, Schumann mit Dichterliebe, dem Liederkreis op. 24 und der Liedersammlung Myrthen. Alle Aufnahmen kamen zuerst auf Schallplatten bei Westminster heraus. Mit Ausnahme des 1952 eingespielten Schwanengesang sind die anderen Titel 1954 in Wien eingespielt worden, am Flügel begleitet Franz Holetschek. Munteanu war damals noch keine vierzig. Das schlägt sich positiv nieder. Er singt jung und ist allein dadurch in meinen Ohren emotional auf eine direktere Weise beteiligt als jemand, der die Lieder aus der Perspektive des fortgeschrittenen Alters deutet und interpretiert. Bei Munteanu werden Liebe, Schmerz, Glück oder Sehnsucht nicht sublimiert. Als Vortragender ist er selbst Betroffener. Deshalb überzeugt er mich so stark. Wenn ich ihm zuhöre, kann ich mich mit meinen eigenen Gefühlen nicht auf Kunst hinausreden. Ich muss sie zulassen.

Dieser Sänger verlangt einem auf seine leise, einnehmende Weise einiges ab. Er unterhält nicht, er fordert strikte Aufmerksamkeit ein. Im Grunde ist er auch ein bisschen humorlos. Man wird ihn so schnell nicht wieder los. Mir kommt es so vor, als singe er mache Passagen etwas gestelzt. Als müsse er ja alles richtig machen. Ein leichter Akzent verweise auf einen, der „fremd eingezogen“ ist. Die Winterreise ist leider nicht dabei. Mir ist auch gar keine Aufnahme von Munteanu bekannt. Kein Zweifel, dass sie ihm sehr gelegen hätte. Mitunter verunglücken Wendungen in der Aussprache total. Wenn aus dem „rauschenden Bächlein“ in Schuberts „Liebesbotschaft“ auch in der Wiederholung ein „Bööchlein“ wird, klingt das zwar merkwürdig – aber gar nicht komisch. Warum nur? Der aus Rumänien stammende Munteanu entdeckt – gezielt oder zufällig? – die Fremden und die Außenseiter, die in diesem deutschen Liedgut allgegenwärtig sind. Deshalb wirkt er auf mich so aktuell und zeitgemäß. Trotz der sprachlichen Eigenarten ist er musikalisch bestens aufgestellt. Sein Stil ist schlicht und schnörkellos. Er lässt sich Zeit beim Singen. Rhythmische Akzente unterbrechen oder bremsen den Fluss der Melodie nur dann, wenn es inhaltlich geboten ist. Natürlich ist den Mono-Aufnahmen ihr Alter anzuhören. Munteanu hingegen wirkt auf mich gar nicht historisch. Allein technische Umstände verorten ihn in seiner Zeit. Das muss kein Widerspruch sein. Rüdiger Winter

Petre Munteanu/ die bemerkenswerte „Matthäus-Passion“ unter Hermann Scherchen bei Vanguard

.

Dazu ein Artikel von Kurt Malisch in der Beilage zur (inzwischen verrgriffenen) 3-CD-Preiser-Ausgabe: Ein tenore di grazia aus Rumänien – Petre Munteanu: Selbst versierte Stimmenkenner werden sich schwer tun, mehr als eine Handvoll Namen zusammenzubekommen, wenn sie nach Sängern gefragt werden, die aus Rumänien hervorge­gangen sind und die über die Grenzen ihres Landes hinaus Reputation erlangt haben. Die Sopranistinnen Stella Roman, Virginia Zeani und Ileana Cotrubas zählen dazu, die Baritone Nicolae Herlea und David Ohanesian – auch der Tenor Petre Munteanu. Gemeinsam mit seinen italienischen Kollegen Cesare Valletti, Giacinto Prandelli, Nicola Monti, Ferruccio Tagliavini setzte der Rumäne nach dem Zweiten Weltkrieg die große Tradition jener leichten, lyrischen, flexiblen Tenorstimmen fort, die vor allem in den Opern Mozarts und Rossinis, Bellinis und Donizettis zu Hause sind. Der Name, den man dieser „Tenor-Familie“ gegeben hat, ist zugleich Programm: „Tenore di grazia“. Das bedeutet: stimmliche Anmut und stilistische Eleganz haben Vorrang vor machtvoller Lautstärke und zwingender Durchschlagskraft, gesangstechnische Verfeinerung und Koloraturvirtuosität gelten mehr als plakatives Pathos und auftrumpfende Stentorwucht. Diese Tenöre sind Meister des musikalisch-gesanglichen Details, dem sie immer neu variierte Gestalt zu geben vermögen, dank nuancierter Phrasierungskunst, sublimer Ab­stufung der dynamischen Grade, vielfältiger Schattierung der Klangfarben, vollendeter Legato- beherrschung und feinster Pianissimokultur.

Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg galt vor allem der Süditaliener Tito Schipa als tenora- ler Inbegriff solcher Stimmperfektion. Es ist daher kein Zufall, dass gerade Schipa das tief ver­ehrte Vorbild Petre Munteanus war, ja mehr noch: die Schallplatten Tito Schipas waren es, die den rumänischen Künstler überhaupt dazu bewogen, dem Drängen seiner Musikerfreunde und Lehrer nachzugeben und selbst Sänger zu werden.

In dieser Rundfunkproduktion, die 1949 beim NWDR entstand, singt Petre Munteanu einen sehr sensiblen und in sich gekehrten Faust in der gleichnamigen Oper von Charles Gounod. Erschienen ist die Aufnahme beim schweizerischen Label Relief (CR 1923).

Geboren am 26. November 1916 in Campina nahe bei Bukarest, erhielt Petre Munteanu schon als Kind Klavier- und Geigenunterricht. Er war siebzehn, als er in das Konservatorium der rumä­nischen Hauptstadt eintrat, mit dem Ziel, Violinvirtuose zu werden. Seinem unverkennbaren Gesangstalent schenkte er lange keine Bedeutung, bis es zu jener schicksalhaften Begegnung mit den Tondokumenten Tito Schipas kam.Was den jungen Sänger vor allem faszinierte, war der mühelose instrumentale Umgang mit der Stimme, den Schipas Vokalkunst auszeichnete. Nun ent- schloss sich Munteanu zum Gesangsstudium, war aber mit seinen Fortschritten viel weniger zufrieden als seine Lehrer. Als er 1940 an der Bukarester Oper mit dem Conte Almaviva in Rossinis „II barbiere di Siviglia“ sein Bühnendebüt geben sollte, meinte er, dafür noch nicht reif genug zu sein und wählte für seinen Einstand die, wie er glaubte, weniger problematische Rolle des Cavaradossi in Puccinis „Tosca“.

Munteanus Absicht war es, bei Tito Schipa selbst zu studieren. Als dies nicht zu verwirklichen war, folgte er dem Rat seines Bukarester Lehrers und ging zur weiteren Ausbildung an die Berliner Musikhochschule zu Günter Weissenborn. Im Gepäck hatte er eine Schallplatte Tito Schipas mit der Arie des Conte Almaviva „Ecco ridente il cielo“. Er war fest entschlossen, die Bühne nicht mehr zu betreten, bevor er dieses Stück nicht im Stile und mit der stimmlichen Vollendung Schipas würde singen können. Und tatsächlich war er zum Neubeginn seiner Karriere an der Berliner Volksoper erst zu bewegen, als er im Berliner Rundfunk die bewusste Arie des Almaviva aufnehmen durfte. Anschließend bat er seinen Lehrer in das Berliner Funkhaus und spielte ihm beide Aufnahmen unmittelbar hintereinander vor. Erst als Weißenborn auf Ehrenwort versichert hatte, der ehrgeizige junge Sänger habe sein erstes Ziel erreicht und sei seinem großen Vorbild zumindest nahe gekommen, akzeptierte Munteanu das Angebot der Volksoper. 1943 begann der Tenor im Berliner Theater des Westens seine zweite Karriere. Seinen Einstand gab er in der Rolle des Filipeto in Ermanno Wolf-Ferraris musikalischem Lustspiel „Die vier Grobiane“. Sehr bald folgte der Ernesto in Donizettis „Don Pasquale“, der Pedrillo in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ und der Chäteauneuf in Lortzings „Zar und Zimmermann“. Und gegen Ende seiner ersten Spielzeit durfte Munteanu in seinem neuen Engagement auch den Cavaradossi singen, jene Partie, mit der er vier Jahre zuvor in Bukarest debütiert hatte. „Wer hätte gedacht, dass die Volksoper mit dem jungen Rumänen Petre Munteanu einen solchen Treffer landen würde“, schrieb eine Berliner Zeitung. Weiter hieß es: „Eine derart schnelle Entwicklung dieses viel versprechenden lyrischen Tenors hat gewiss niemand erwarten können. Hier scheint ein Gesangskünstler heranzuwachsen, der einmal die Nachfolge eines Tito Schipa antreten kann.“

Petre Munteanu/Donizettis „Don Pasquale“ bei Philips

Auch die Leitung der Volksoper war sich bewusst, welch kostbares Talent sie für ihr Ensemble gewonnen hatte und gönnte ihm das Wichtigste, was eine solche Begabung benötigt: Zeit zu reifen. Man setzte Munteanu zunächst überwiegend in leichten Spielpartien ein, mutete ihm nur ganz allmählich gewichtigere Aufgaben zu wie die Partie des Alfredo in Verdis „La traviata“. Dies war zugleich die letzte Berliner Rolle des Siebenundzwanzigjährigen. Am 1. September 1944 wurden alle deutschen Bühnen geschlossen um ihr Personal für den Einsatz im „totalen Krieg“ freizustellen. Damit war für lange Zeit das deutsche Theaterleben erloschen. Munteanu wurde noch für einige Opern- und Liedaufnahmen im Rundfunk verpflichtet, dann war auch das nicht mehr möglich. Er verließ Deutschland, kehrte aber nicht in seine rumänische Heimat zurück, sondern fand sein neues Zuhause in Italien. 1947 in Rom begann Petre Munteanu zum drittenmal seine Laufbahn, als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“. Am 17. April desselben

Jahres gab er seinen Einstand an der Mailänder Scala, als Ferrando in „Cosi fan tutte“, neben Suzanne Danco als Fiordiligi und Giulietta Simionato als Dorabella, unter der musikalischen Leitung seines rumänischen Landsmannes Jonel Perlea. Damals erschien auch Munteanus Idol Tito Schipa noch auf der Bühne der Scala, im Dezember 1947 als Nemorino in Donizettis „L’elisir d’amore“, im stattlichen Alter von immerhin 58 Jahren. Während Schipa den Opern Mozarts eher aus dem Weg gegangen ist, machte sich Munteanu gerade in Partien dieses Komponisten einen Namen. Im Lauf der nächsten Jahre eignete er sich ein sehr umfangreiches Repertoire an, das von altitalienischen Arien bis zu moderner Musik reichte, von Domenico Cimarosas „Credulo“ bis zu Alban Bergs „Wozzeck“ und Igor Strawinskys „Persephone“. Ein denkwürdiges Datum war der 2. April 1952, als Petre Munteanu als Belmonte neben der jungen Maria Callas als Konstanze in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf der Bühne der Mailänder Scala stand. Im Jahr darauf kehrte der Rumäne dann wieder nach Berlin zurück, für ein Konzert mit Liedern und Arien von Gluck, Händel, Scarlatti, Pergolesi und Caccini. Auch von verschiedenen Rundfunkanstalten wurde der Tenor nun wieder verpflichtet. So entstand unter anderem beim Norddeutschen Rundfunk Anfang der fünfziger Jahre eine Gesamtaufnahme von Gounods „Faust“ mit Munteanu in der Titelpartie.

Petre Munteanu – stets ein Eleganter/ OBA

Das künstlerische Zentrum des Sängers blieb jedoch Italien, wo er an zahlreichen großen Bühnen auftrat, in Rollen wie Almaviva, Fenton („Falstaff‘), Belmonte und Pedrillo, Pylades („Iphigenie en Tauride“). 1954 wirkte er in Rom in der italienischen Erstaufführung von Rimsky-Korsakovs Oper „Snegurotschka“ mit. 1961 hob er in Venedig Luigi Ninos „Intolleranza“ mit aus der Taufe. Häufig führten ihn Gastspiele an andere bedeutende europäische Opernhäuser: an den Londoner Covent Garden, an die Münchner und Wiener Staatsoper, das Teatro Real in Madrid. Auf überaus erfolgreichen Tourneen bereiste er Australien, Indien, Pakistan und Japan. Noch während seiner aktiven Sängerlaufbahn begann Munteanu seinen musikalischen Wirkungskreis zunehmend zu erweitern: 1969 erlebte ihn Turin erstmals am Dirigentenpult, er veröffentlichte musikwissenschaftliche Aufsätze, promovierte mit einer Dissertation über Hugo Wolf und versuchte sich auch als Komponist. Nach seinem Abschied von der Bühne wirkte er in Mailand als begehrter Gesangspädagoge am Conservatorio Giuseppe Verdi, zuletzt war er Direktor der Accademia di Canti di Milano. In Mailand ist Petre Munteanu am 18. Juli 1988 gestorben (Foto oben: Munteanu als Faust). Kurt Malisch (in der Preiser Box 89306)

Einer für alle

.

Warum wohl änderte Christof Loy die von Pucccini für sein Trittico vorgesehene Reihenfolge von Il Tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi in Gianni Schicchi, Il Tabarro und Suor Angelica? Wollte er 2022 in Salzburg dem Publikum das befreiende Gelächter nach dem veristischen Reißer und dem frommen Rührstück versagen? Oder hatte er ganz einfach erkannt, dass seine Protagonistin für alle drei Einakter, die Sopranistin Asmik Grigorian,  sich nur so vom Einsingen als Lauretta über Giorgetta als ein Glied des Trio infernal zur Primadonna assoluta einer Angelica steigern konnte? Entsprechend jedenfalls fiel der Beifall für sie aus, der sich von freundlich über herzlich bis zu frenetisch steigern konnte. Bedenklich stimmt die Besetzung der drei Partien trotzdem, denn die Lauretta der Grigorian erreichte nicht die sich einschmeichelnde Dolcezza der Besten in dieser Partie, ihre Giorgetta musste sich davor schützen, sich ganz zu verausgaben, denn für die Suor Angelica brauchte sie noch lyrische Leuchtkraft sowie für das „Senza Mamma“ gebändigte Expressivität und ein wunderschönes Diminuendo zum Schluss.

Bei Christof Loy kann der geplagte Opernfreund davor sicher sein, Geschmacklosigkeiten und Entstellungen ertragen zu müssen, auch wenn seine Inszenierungen immer ein wenig kalt wirken. Kahl und riesig ist das Gemach (Bühne Ètienne Pluss), in dem Buoso Donati sein Leben ausgehaucht hat. Die Verwandtschaft in Fünfzigerjahreskostümen (Barbara Drosihn) sitzt (wie in unendlich vielen anderen Produktionen bisher) aufgereiht an einer Wand, ist bereits beim Leichenschmaus, der natürlich aus Spaghetti Bolognese besteht, während die Besetzung alles andere als italienisch ist. Viele lustige Details unterhalten das Publikum bestens, so wenn einige Familienmitglieder sich bereits am Tafelsilber und anderem bereichern oder die Kerzen auslöschen, da das Geld dafür vom Erbe abgehen könnte.

Ein mächtiges Trumm von einem Kerl ist der Gianni Schicchi von Misha Kiria, einem georgischen Sänger mit einem vollmundigen Bariton voller Farbe, Saft und Kraft. Ihm nimmt man eher machtvollen körperlichen Einsatz als hinterlistigen Witz ab. Alexey Nekklyudov ist Rinuccio, optisch attraktiv,  mit einem durchdringenden „Firenze“ ohne Tenorschmelz und Poesie, dazu enger Höhe. Optisch wie akustisch ragt aus der Schar der Verwandtschaft Scott Wilde als Simone heraus. Auch Enkelejda Shkosa, die noch in zwei weiteren Partien zu erleben ist, kann als Zita mit üppigem Mezzosopran reüssieren. Insgesamt ist leider viel von dem, was der Italiener „a squarcia gola“ nennt, zu vernehmen. Feiner und italienischer hören sich die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst an.

Viel zusätzliches Personal, so Midinetten und Tänzer gibt es für Il Tabarro, ohne dass das Stück dadurch bereichert erscheint, auch Un amante wie Un‘ amante dürfen sich länger auf der Szene tummeln als vorgesehen. Ein riesiger Schleppkahn, vor dem man ein Wohnzimmer samt Stehlampe aufgebaut hat, beherrscht die Szene. Asmik Grigorian ist eine Jean-Harlow-Kopie, für die sich die Regie viele schlüssige Details ausgedacht hat, so wenn sie erst das Antlitz des Gatten zärtlich berührt, sich dann aber verstohlen die Hand abwischt. Eine ausgefeilte Personenregie kann auch hier überzeugen. Scott Wilde und Enkelejda Shkosa , später noch Suora Zelatrice, sind auch als Il Talpa und La Frugola darstellerisch wie vokal ein Gewinn, zu ihnen gesellt sich als ebensolcher Andrea Giovannini als Il Tinca. Hell und strahlend, aber doch recht kühl bleibend, füllt Asmik Grigorian die Partie der Giorgetta aus. Schon einmal optisch ideal rollendeckend sind Roman Burdenko als Michele und Joshua Guerrero als Luigi. Vokal hat Ersterer Wärme wie Autorität in seinem Bariton, während der Tenor mit einheitlich dunklem Timbre, weniger mit erotischem Flair punkten kann.

Die Nonnentracht ist kaum modischen Zwängen unterworfen, und so kann man lediglich am Kostüm der Zia Principessa, ein strenger Hosenanzug zu ebensolchem Herrenhaarschnitt, festmachen, dass auch hier die Handlung in moderne Zeiten verlegt wurde. Recht idyllisch und in freundlicher Atmosphäre spielt sich das Leben im Kloster ab, am Schluss gibt es keine Marienerscheinung und keinen tödlichen Trank, sondern Angelica sticht sich mit einer Schere beide Augen aus, ihr Kind läuft auf sie zu und umarmt sie. Davor allerdings zeigte die Nonne durchaus weltliche Gelüste, wenn sie sich aus einem Koffer mit Kleinem Schwarzen und Lippenstift fein machte und genussvoll eine Zigarette rauchte. Viel Wärme in ihrem Mezzosopran hat Hanna Schwarz als Badessa, während Karita Mattila trotz einschüchternder Optik weder darstellerisch noch vokal die Eiseskälte der Zia Principessa vermitteln konnte. Asmik Grigorian hingegen bewältigte zwar alle drei Partien, doch ist ihre achtenswerte Leistung durchaus kein Plädoyer für die Besetzung mit nur einer Sängerin (Major 809004). Ingrid Wanja

Wien liegt im Erzgebirge

.

In der Geschichte der deutschsprachigen Operette bedeutet die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten Anfang 1933 einen radikalen Einschnitt: Die bis dahin erfolgreichsten Komponisten und Librettisten waren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) jüdisch, Aufführungen ihrer Werke im Deutschen Reich wurden umgehend verboten. Sie setzten ihre Karrieren in Wien (bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938), Budapest, Paris (bis zum Ausbruch des II. Weltkriegs) oder Zürich fort und waren dort mit neuen Stücken sehr wohl erfolgreich, aber diese Exil-Operetten wurden gewöhnlich nicht nachgespielt (schon gar nicht im Ausland!) und gerieten spätestens nach 1945 ganz und gar in Vergessenheit.

Ralph Benatzky/ Foto Discogs

Ein neues Interesse an diesen Werken, mit denen die Gattungsgeschichte der Operette an ihr Ende gelangt, ist erst in den letzten Jahren zu registrieren: Von Paul Abraham wurde Roxy und ihr Wunderteam(ungarisch Budapest 1936, deutsch Wien 1937) 2014 in Dortmund erstmals wieder gespielt und war zuletzt in der Volksoper Wien (Herbst 2021) zu sehen; im Sommer 2021 kam in Nürnberg Abrahams Märchen im Grand Hotel (Wien 1934) auf die Bühne. Die Volksoper Wien spielte 2016 Ralph Benatzkys „musikalisches Lustspiel“ Axel an der Himmelstür (Wien 1936). Benatzky ist auch der Komponist der „Kammeroperette“ Zur gold’nen Liebe (Berlin 1931), die im Juni 2021 mit großem Erfolg von der Bühne Burgäschi, einer Schweizer Truppe operettenbegeisterter Amateure, aufgeführt wurde.

Benatzky war nicht jüdisch, er verließ Deutschland, weil ihm das Regime des „Führers“ (den er gern den „Baedeker“ nannte) zuwider war. Am Deutschen Volkstheater in Wien kam im April 1936 seine Operette Der reichste Mann der Welt heraus. Die erfolgreiche Inszenierung sollte die einzige bleiben, erst 2021 stellte das Theater in Annaberg-Buchholz das Werk wieder auf den Prüfstand (dazu den Rezension von Rolf Fath in unserer Rubrik Die besondere Oper; nun als DVD in einer Aufzeichnung von 2022  bei der Firma Rondeau ROP9018 zum Nacherleben erschienen; die nachstehende Rezension von Albert Gier vermittelt seinen Eindruck vom Besuch des Eduard-von-Winterstein-Theaters in Annaberg am 16. Juli 2023. G. H.)

.

Da die Orchesterpartitur verlorenging, hat Wolfgang Böhmer das Stück auf der Grundlage von Benatzkys Klavierauszug neu orchestriert. Böhmer und GMDJens Georg Bachmann, der Dirigent der Aufführung, betonen übereinstimmend, dass die Musik das Idiom der Wiener Operette mit Elementen der amerikanischen Musical Comedy verbindet. Das kleine Orchester in Annaberg-Buchholz besteht aus neunzehn Instrumenten, darunter Orchesterklavier und natürlich Schlagwerk.

Das Libretto von Hans Müller ist gut konstruiert, wenn auch nicht ganz so inspiriert wie die Bücher, die z.B. Curt Goetz (Zirkus Aimé) oder Willi Wolff und Martin Zickler (Zur gold’en Liebe; der Komponist wird als Mitautor genannt) für Benatzky schrieben. Regisseur Christian von Götzrückt das Stück in die Nähe der Boulevardkomödie, die sich durch hohes Tempo auszeichnet. Von Götz beschreibt sie als „Theater, wo die Türen klappern“, als sein eigener Bühnenbildner entwarf er einen abstrakten Raum, dessen Hintergrund eine gewölbte, aus verschiedenfarbigen Segmenten bestehende Wand bildet, in jedem zweiten Segment gibt es eine Tür. Im Verlauf des Abends wird bald die eine, bald eine andere Tür (von außen oder innen) aufgerissen, dahinter wird jeweils eine der Figuren sichtbar, die wieder verschwindet, wenn die Tür (meist recht schnell) wieder geschlossen wird.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Die Türen klappern also tatsächlich, allerdings nicht wie im französischen Bühnenschwank: Dort führt das Öffnen einer Tür meist zur unverhofften Begegnung von Figuren, die einander unbedingt aus dem Weg gehen wollen, vor allem an kompromittierenden Orten (z.B. in einem Stundenhotel). In der deutschsprachigen Operette ist der zweite Akt von Heubergers Opernball ein Musterbeispiel für diese Dramaturgie. Solche peinlichen Begegnungen gibt es in Der reichste Mann der Welt nicht, das Öffnen und Schließen der Türen steigert vor allem das Tempo des Bühnengeschehens, ist also letztlich funktionsloser Aktionismus, den sich der Zuschauer allerdings gern gefallen läßt.

Bevor das Spiel (ohne Ouvertüre!) beginnt, verbirgt ein pinkfarbener Vorhang die untere Hälfte des Bühnenbilds, der später als Gliederungssignal dient, zwischen den einzelnen Szenen wird er jeweils kurz zugezogen. Die Aufschrift („Einen Hut will ich tragen im ersten Akt (…) Und im vierten Akt… da komme ich nackt“) verheißt Frivolität, die Inszenierung löst dieses Versprechen allerdings nur zum Teil ein.

Die Geschichte, die laut Textbuch 1893 spielt, erhebt keinen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit: Die Ziegelei, die die aristokratische Familie der blonden Ilka betreibt, ist in Schieflage geraten, man schuldet Ludwig Reingruber in Wien, dem „reichsten Mann der Welt“, viel Geld. Würde Ilka Reingrubers Sohn Schorsch („Schorsch“ ist eine Dialektform des Vornamens Georg, aber auch ein verbreiteter jüdischer Nachname, verweist also indirekt auf die Herkunft des jungen Mannes und seines Vaters) heiraten, wären die Probleme gelöst, aber Ilka denkt nicht daran, sich ohne weiteres „verloben“ zu lassen. Schorsch leistet ebenfalls Widerstand, denn er will nicht ins Bankhaus seines Vaters eintreten, sondern als Opernsänger Karriere machen und hat offensichtlich auch das Zeug dazu.

Erwartungsgemäß kommen sich die beiden (wie zahllose andere Operetten-Paare) schnell näher, wenn sie einander kennenlernen, ohne zu wissen, wer der jeweils andere ist: Im Schnellzug, der Ilka nach Wien, Schorsch nach Venedig bringen soll, liegen ihre beiden Abteile nebeneinander – in Annaberg sind die „Abteile“ zwei Kommoden, aus deren Tiefen die Fahrgäste auftauchen, wenn der Schaffner – eine groteske Figur mit grünem Turban – nach den Billetten fragt. Die Szene zitiert den Donauwalzer, umtextiert und musikalisch verfremdet – der Tradition entsprechend sind die Walzer Ausdruck zärtlicher Gefühle.

Der energische, etwas hyperaktive Milliardär Reingruber schwingt sich an einem Seil auf die Bühne. Die Eingangspost – einen ganzen Sack voll! – verstreut er in der Gegend, der leere Sack leitet über zu dem szenischen Gag, dass alle Darsteller beim Sackhüpfen mitmachen – ähnlich wie das Rollschuhlaufen in einer der folgenden Szenen verstärkt das Sackhüpfen vor allem den Eindruck atemlos hohen Tempos.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Ilka und Schorsch bezeugen einander ihre Liebe wortlos in einer Tanzszene zu spanischen Rhythmen (Benatzky stellt einmal mehr unter Beweis, dass er ein Meister der Stilkopie ist). Dennoch gibt der junge Mann schließlich auf und tritt doch ins Bankhaus seines Vaters ein; der schickt ihn zur Börse, um die Neuemissionen aufzukaufen. Dass Schorsch das nicht tut, erweist sich im Nachhinein als Glücksfall, er bewahrt seinen Vater dadurch vor großen Verlusten. Für die Zukunft der beiden jungen Leute wagt ein Mitglied von Ilkas Familie die Prognose: „Entweder er heiratet sie – oder er bringt sie um!“, was den Einwand provoziert: „Aber das ist doch ein und dasselbe!“

Intimität wird sichtbar, wenn die beiden sich eng umschlungen in den Vorhang wickeln; für die Zuschauer unsichtbar tauschen sie die Kleider, Ilka trägt dann sein Jackett über ihren Strumpfhosenbeinen, Glöckner macht als auch als Damenimitator im Kleid gute Figur. Zum guten Schluß zieht das Ensemble das Fazit: „Wer ist der reichste Mann der Welt? / Der seinen Schatz im Arme hält!“

.

Unter der ebenso engagierten wie souveränen Leitung von Jens Georg Bachmann leistet das kleine Orchester Beachtliches, Benatzkys schwungvolle Melodien werden mit viel Verve und dennoch präzise dargeboten, es macht Spaß zuzuhören. Aus einem sehr homogenen Ensemble (an dem kleinen Theater sind der Spielzeit-Broschüre zufolge weniger als zehn Sänger fest engagiert, nur fünf Rollen konnten mit hauseigenen Kräften besetzt werden, die übrigen sind Gäste) ragen Richard Glöcknerin der großen, anspruchsvollen Rolle des Schorsch und die attraktive Madeleine Vogt als Ilka heraus: Glöckner vermag den Eindruck zu vermitteln, dass Schorschs Hoffnungen auf eine Opernkarriere nicht unbegründet sind, er überzeugt mit der Strahlkraft seines lyrischen Tenors. Madeleine Vogt zeichnet das nuancierte Portrait einer kapriziösen, energischen und zugleich zu tieferen Gefühlen fähigen jungen Frau. Auch alle anderen füllen ihre Rollen musikalisch überzeugend und mit viel Spielfreude aus, was beachtlich ist, da alle fast ständig in Bewegung sind (Choreographie: Leszek Kuligowski): als Ilkas Eltern László Varga(Thassilo) und Bettina Grothkopf (Marie), als ihre Großeltern Leander de Marel (Anselm Hugelmann; er schwäbelt, weil er ein „Banater Schwabe“ ist) undJudith Christ-Küchenmeister(Philippine), als Schorschs Faktotum und alter ego Bandi Christian Wincierz(der auch den „Schlafwagenkondukteur“ spielt), als „reichster Mann“ Ludwig ReingruberJason-Nandor Tomory; außerdem Marvin George(Graf Bronsky), Nadine Dobbriner (Juliska) und Stefanie Ritter(Zenzi).

Der Autor: Albert Gier/Foto BR

Der reichste Mann der Welt ist eine rundum gelungene, musikalisch attraktive und amüsante Operette; dass sich das Theater in Annaberg-Buchholz des vergessenen Werkes annahm, ist sehr verdienstlich, das Ergebnis geriet überzeugend. Einmal mehr wünscht man sich, die Produktion möge den Anstoß geben zu weiteren Inszenierungen, die die im Werk angelegten Möglichkeiten durch andere szenische (und musikalische) Lesarten ausloten könnten. Albert Gier/ 16. Juli 2023 (mit Dank an das ORCA/ Operetta Centre Amsterdam, bei dem dieser Artikel von 2023 erstmals erschien, Dank an den Autor und den Chefredakteur Kevin Clarke für die Erlaubnis zur Übernahme).

Potsdamer Festspiel Dokument

.

Inseln lautete das Motto der Festspiele 2022. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde 1768 im Schlosstheater des Neuen Palais aufgeführt, wohin es nun zurückkehrte. dhm hat die Aufführungen vom 12. und 14. Juni mitgeschnitten und auf zwei CDs veröffentlicht (19658794542).

Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni: Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. Der Tenor Rupert Charlesworth, seltsamerweise im Booklet als Sopranist ausgewiesen, gibt ihn mit lebhafter  Stimme, die gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) mit kraftvollen Spitzentönen imponiert.

Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll gerundetem Mezzo) und Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch Cetronella zur Gattin wählt. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „Oh gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.

Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet („Se d’un tenero Cupido“). Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt im 3. Akt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Giovanni Benvenuti hat diese fulminante Arie rekonstruiert. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta MameliIhr Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in Lisauras Arien sind  delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit soliden Stimmen die kontrastierend tiefen Töne ein.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Ihr gebührt Dank für diese Insel musikalischer Glückseligkeit. Man hofft nun auch auf Festspieldokumente von diesem Jahr, welches das schöne Motto „In Freundschaft“ trug. Bernd Hoppe

Glyndebourne Klassiker

.

Sperrmüll oder Flohmarkt. Als Vintage deklariert bekommt das alte Zeugs einen eindeutig feineren Anstrich. So ist die Begeisterung zu verstehen, die der annähernd 40 Jahre alten, gefühlt aber noch viel älteren, mehrfach auf Video und DVD erschienen Aufführung von Albert Herring in der Inszenierung von Peter Hall Inszenierung entgegenschlägt. It’s „British opera at it’s best“, so der Daily Express oder wie die auf der Vorderseite der Opus Arte DVD zitierte Sunday Times schwärmte „a vintage production with a vintage cast“ (OA 1375D). Die Aufführung versammelt alles, was das zum exklusiven Festspielort avancierte Landhaus in Sussex in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte, als Bernard Haitink von 1978-88 die musikalische Leitung innehatte. Herrlich altmodisch. Absolut passend für ein Stück, das hier 1947 zum naserümpfenden Missfallen des Festspielgründers uraufgeführt und knapp 40 Jahre später, genau im Juli 1985, zu einem der größten Erfolge der Festspiele wurde und provinzielle Engstirnigkeit und moralischen Dünkel anprangert. Peter Hall und sein nicht minder berühmter Ausstatter John Gunter haben den englischen Kleinstadtmief um 1900 samt den schweren Renaissancestühlen, Decken, Vorhängen und dem finsteren Mobiliar in Lady Billows dunklen Salon gerettet, wo die Honoratioren des Ortes mit finsteren Äußerungen und dunkler Gesinnung die jungen Damen des Ortes behängen und deshalb bei der Wahl der Maienkönigin auf den tugendhaft einfältigen Albert Herring ausweichen müssen. Die Satire auf die Doppelmoral verlogener Kleinbürger wird bei Hall zu einer Komödie über die Unzulänglichkeiten der kleinstädtisch viktorianischen Gesellschaft, die er in einer Ansammlung skurriler Charakterköpfe präzise entwirft:

Eine Garde verdienter britischer Sänger halten die Glyndebourne-Ensemblekultur hoch. Sie sind, angeführt von der herrlich aufgeplusterten und matronenhaft vibratostarken Patricia Johnson als Lady Billows, durchweg überzeugend, exzentrisch, skurril, knapp vorbei an einer Karikatur, lächerlich und ernst zugleich. Auf der DVD sowie im Beiheft lassen sich die gestochen weiß gesetzten Namen gut lesen, kaum jedoch die matt rot auf braun schwarz gesetzten Rollen dazu. Eine Unart.  Mehr erahnen als tatsächlich lesen kann man, dass Felicity Palmer als Florence Pike eines ihrer frühen eigenwilligen Porträts liefert, Alexander Oliver den Bürgermeister gibt, Derek Hammond-Stroud den Vikar und Richard Van Allan den Superintendenten. Großartig, wie sie unter Führung der Lady im Laden der Mrs. Herring (mit deftigen Akzenten: Patricia Kern) einziehen, um ihre Wahl des Maikönigs zu verkünden. Der passend farblose John Graham-Hall war, grell und greinend singend, etwas glubschäugig und linkisch, der Albert einer Generation, dem man damals noch nicht seine lange Karriere in zahlreichen zeitgenössischen Stücken und Werken der klassischen Moderne vorhergesagt hätte. Ähnliches gilt für den Bariton Alan Opie als Sid, der eine feste Größe in Glyndebourne wurde und 2008 als Vikar zurückkehrte, und Jean Rigby als frühreife Nancy. Unaufdringlich und in mit vielen liebevollen Details – man schaue sich nur die köstlichen Exzesse bei der Kuchentafel am Ende des zweiten Aktes an – führt Peter Hall vom Salon der Lady Billows durch den Gemüseladen auf die Festwiese, ebenso feinsinnig, elegant und selbstverständlich steuert Haitink durch die Partitur, deren steifleinener Humor sich im Retro-Chic bestens ertragen lässt.     Rolf Fath

Dürftige Ausstattung

.

Hätte Richard Jones Mussorgskys Oper Boris Godunov an Londons Opernhaus Covent Garden anders inszeniert, wenn es nicht bereits 2016, sondern erst 2022 geschehen wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine? Vielleicht hätte er nicht auf die Urfassung von1869 ohne Polenakt und ohne die Szene mit der Klage des Gottesnarren um das Schicksal Russlands zurückgegriffen, die dem abschließenden Tod des Boris vorausgeht und so aktuell erscheint, dass es einen fast gruselt. Auch dem Berliner Publikum ist die Inszenierung aus London bekannt, denn es handelt sich um eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, die hier 2019 gezeigt wurde, nicht mit Bryn Terfel wie in London in der Titelpartie, sondern mit Ain Anger, der wiederum in London der Pimen war, während Terfel nur zu einem Gastspiel in Berlin erschien.

Die Bühne von Miriam Buethe ist in ein Oben und ein Unten unterteilt, der Hintergrund des oberen Teil gülden wie der russischer Ikonen, und in ihm spielt sich immer wieder und fast zum Überdruss oft die Ermordung des mit einer bunten Kugel spielenden Zarewitsch ab, das letzte Mal als die des jungen Fjodor, Boris‘ Sohn. Die Kostüme von Nicky Gillibrand sind für die Oberen bunt wie russischer Lackmalerei abgeschaut, für die Unteren von hässlicher Eintönigkeit, Folkloristisches wird nicht verschmäht, aber nicht überbetont, wie die Gewandung der Wirtin beweist. Eindrucksvoll mit Zarenporträts ausgestattet ist die Zelle von Pimen, nur das letzte davon blieb unvollendet. Zeit und Ort des Geschehens, Russland um 1600, bleiben erhalten, ohne in Opernkitsch abzugleiten.

Obwohl mit keinem einzigen muttersprachlichen oder auch nur slawischen Sänger besetzt, wirkt die Aufführung äußerst authentisch, und obwohl nicht mit einem Bass des Kalibers Boris Christoff oder Nikolai Ghiaurov besetzt, wird die Titelpartie vom Bassbarion Bryn Terfel fesselnd und ergreifend gestaltet, nicht mit einer Überwältigungsstimme, aber mit warmen, auch oft weichen Tönen die Stimmungsschwankungen, denen die Figur unterworfen ist, eindrucksvoll vermittelnd. Viel Bassautorität, Sanftheit und Fülle strahlt die Stimme von Ain Anger als Pimen aus. Ein Kabinettstück, eine perfekte Mischung von Würde und Komik, bietet John Tomlinson als Varlaam mit immer noch hochpräsenter Stimme. Kostas Smoriginas hat einen ebenmäßig gefärbten, autoritätvermittelnden Bariton für den Anführer der Bojaren. David Butt Philip stattet den falschen Dmitri mit feiner Schauspielkunst und einem angemessenen Charaktertenor aus. Als blasser, lauernder Bürokrat  ist John Graham-Hall als Shuisky eher optisch als akustisch eindrucksvoll. Eine ausgesprochen farbig und geschmeidig klingende Stimme setzt Jeremy White für den Polizeioffizier ein. Die klare Diktion und eine angemessene plärrende Stimme beweisen die Eignung Andrew Tortises für den Gottesnarren. Zarewitsch Fjodor findet in dem Jungen Ben Knight einen auch akustisch erstaunlich präsenten Vertreter.

Ohne die Polin Marina haben die Frauen in dieser Fassung nicht viel zu sagen bzw. zu singen. Aber Rebecca De Pont Davies macht optisch wie akustisch sehr viel aus der deftigen Wirtin, Vlada Borovno ist eine anrührende Xenia und Sarah Pring eine mit weichem Alt tröstende Amme.

Der Chor von Covent Garden, einstudiert von Renato Balsadonna, singt höchst kultiviert, aber auch, wenn angebracht, mit dem notwendigen Aplomb, das Orchester unter Antonio Pappano sorgt für eine schöne Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben, ist eher in begleitender denn dominierender Funktion zu vernehmen. Das Booklet ist so dürftig, dass es nicht einmal eine Trackliste besitzt (Opus Arte BD7314D). Ingrid Wanja                    

Strauss light

.

Misstraute Regisseur Krzysztof Warlikowski der Eleganz des hofmannsthalschen Wortes und der Überwältigungsfähigkeit der strausschen Musik so sehr,  dass er beiden ein optisches Aufpeppen durch seine Gattin, die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak, verordnete? Die kleidet das weibliche Personal von Elektra 2022 in der Salzburger Felsenreitschule bis hin zur Vertrauten und zur Schleppträgerin in elegante Kostüme der Fünfziger, macht Chrysothemis zum Girlie in Lackleder, Elektra zur Trägerin eines blütenweißen, weit ausgestellten Rocks, der aber auch gar nichts vom Elend ihrer Existenz verrät, dafür soll wohl das häufige Greifen zu Zigarette und Feuerzeug stehen. Ehe man in dieser Produktion zur mörderischen oder einer sonstigen Aktion schreitet, verordnet man sich eine Kneippkur, denn ein kristallklares Gewässer durchzieht die Bühne, lädt zum Bade, so auch eine Nackte, die offensichtlich zu den erfundenen Sechs Dienerinnen, denn Fünf Mägde gaben das nicht her, gehört. Videos blinken aus allen Ecken und Enden, Kinderpuppen erinnern an bessere Tage und ein blutverschmierter Agamemnon beobachtet hin und wieder das Geschehen. Soll eine Reihe von Deckenduschen an Auschwitz erinnern, die endlos händewaschende Klytämnestra an Lady Macbeth? Letztere darf sich vor Beginn der Oper mit ihrem Monolog aus Aischylos`Orestie noch für den Gattenmord rechtfertigen und bleibt in der Verkörperung durch den Mezzosopran Tanja Ariane Baumgartner neben dem Orest von Derek Welton die einzige textverständliche Figur auf der Bühne. Auf der tanzt zum Schluss nicht Elektra in den Tod, sondern auf der Rückwand tummeln sich Massen von Fliegen in munterem Reigen im aufspritzenden Blut und entziehen der Protagonistin jede Aufmerksamkeit.

Zu einer beinahe kammermusikalischen Deutung, deren Anliegen eher Durchsichtigkeit als Überwältigung scheint, ist Franz Welser-Möst mit den Wiener Philharmonikern verurteilt, denn außer dem Mezzosopran erscheint das weibliche Personal jeweils eine Nummer zu klein für seine jeweilige Partie zu sein, ist Orgiastisches nur zu hören, wenn die Sänger pausieren. Rücksichtnahme auf Sänger ist eine lobenswerte Sache, das Engagement zu leichter Stimmen  weit weniger.

Das trifft in keiner Weise auf Tanja Ariane Baumgartner zu, die nicht nur vorbildlich textverständlich auch im Gesang bleibt, sondern mit einer Stimme wie aus einem Guss und einem besonders vollmundigen mitreißenden Abgang imponiert. Eine frische, helle, klare Sopranstimme setzt Asmik Grigorian für die Chrysothemis ein, in der Extremhöhe allerdings recht spitzig mit nicht ideal angebundenen Spitzentönen und insgesamt lyrisches Leuchten vermissen lassend. Aušriné Stundyté, die im Jahr zuvor eine gefeierte Salome war, ist hörbar in einem Jahr nicht zu einer Elektra herangereift, sondern kann bei allem Bemühen um eine Verbindung von Eindringlichkeit und Schönheit des Klangs nur mit letzterem überzeugen, bleibt stets weich in der Tongebung, aber auch verwaschen und zu wenig nachdrücklich. So trägt sie wesentlich dazu bei, dass man das Gefühl hatte, einer Elektra light beizuwohnen.

Einen vokal markanten und doch sensibel erscheinenden Orest gibt Derek Welton, optisch unangemessen attraktiv als Ägisth und vokal blass ist Michael Laurenz, da ist nichts von der morbiden Attraktivität, die alternde Heldentenöre ausstrahlen können. Die Komische Oper Berlin ist mit Jens Larsen als Altem Diener vertreten, und Natalia Tanasii bleibt es nicht zuletzt wegen der Regie verwehrt, aus ihrer schönen Partie etwas zu machen (C-Major 804308). Ingrid Wanja

Nur bedingt gelungenes Konzept

.

Na’ama Goldman war zunächst Pianistin, sie entdeckte den Gesang erst später, vor allem in Verbindung mit dem Schauspielen. So lag es nahe, dass sie vor allem Opernsängerin wurde. Diese Prägung spiegelt sich auch in der Auswahl der Lieder der vorliegenden CD wieder: „Es ist wunderbar, dass man dabei eine Geschichte erzählen und mit dem Publikum kommunizieren kann und zwar nicht nur durch die Musik“, betont die Sängerin. Die gebürtige Israelin ist inzwischen Berlinerin und damit Bewohnerin jener Stadt, aus der ihre Familie in der Nazizeit vertrieben wurde. So schließt sich ein Kreis.

Die Sängerin suchte vor einigen Jahren zusammen mit dem Pianisten Giulio Zappa Musik für ein Programm anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags in Mailand. Die Musik sollte mit dem Judentum verbunden, aber nicht „jüdisch“ sein: „Wir recherchierten in Bibliotheken, und wir schauten nach jüdischen Komponisten wie Mahler, Korngold, Kurt Weill. Sie waren Juden, haben aber keine ‚jüdische Musik‘ komponiert. Ihre Musik repräsentierte, wer und was sie waren – Deutsche, Österreicher. Sie komponierten, was ihre Inspiration und Kreativität ihnen eingab. Aber natürlich hatten ihre jüdische Tradition und ihre Familien auch einen Einfluss auf ihre Musik.“ Ravel gehört dazu, weil er sich von der jüdischen Tradition angezogen fühlte. Schließlich wandten sich Goldman und Zappa der jüdischen Folklore zu und auch zeitgenössischen israelischen Komponisten. „Die Auswahl der Lieder ist auf der einen Seite eine intellektuelle, aber im Endeffekt sind es doch die Lieder, die mich direkt persönlich ansprechen: als Frau mit einem jüdischen Hintergrund, als Israeli, die nach Deutschland gekommen ist.“ Na’ama Goldman sieht das Programm, ihre Zusammenstellung als „eine Art musikalischer Biografie zwischen Berlin und Tel Aviv“.

Die Umsetzung des einleuchtenden, anspruchsvollen, auch mutigen Programms ist nur bedingt gelungen. Die Sängerin wollte zwar explizit keinen „Liederabend“ auf CD veröffentlichen, doch dieser Anspruch wurde nicht wirklich eingelöst. Na‘àma Goldman verfügt über eine große, nuancenreiche und variable Stimme, setzt sie aber so ein, als ob sie auf einer Bühne stehe. Ihr Vibrato ist stark, manchmal zu stark, in der Höhe klingt der Gesang zu laut. Man vermisst die leisen Töne und in einigen Liedern auch den tiefschürfenden und „schlichten“ Ausdruck.

Das jüdische Trauergebet Kaddisch, das Maurice Ravel bewusst für eine Frauenstimme schrieb, singt sie mit großem Ausdruck und vibrierend. Ravels enigme éternelle bleibt rätselhaft, musikalisch und textlich (zumal eine deutsche Übersetzung fehlt). Aus den Sechs einfachen Lieder von Korngold hat Goldman zwei ganz unterschiedliche ausgewählt: Eichendorffs Schneeglöckchen ist eigentlich schlicht im Ton, kommt hier aber sehr expressiv. Das Gedicht Sommer des österreichischen Dichters Siegfried Trebitsch verrät den Dramatiker. Mahlers „Wunderhorn-Lieder“ Wo die schönen Trompeten blasen und Rheinlegendchen sind leider ohne Charme und Geheimnis. Das Rückert-Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen bleibt mangels Suggestivität doch eher diesseitig. Nannas Lied von Kurt Weill würde sicher stärker wirken, wenn es chansonhafter interpretiert würde.

Die Interpretationen der Lieder der jüdischen und israelischen Komponisten ist durchweg gelungener. Der Komponist, Musikwissenschaftler und Kritiker Joel Engel (1868-1927) begann um 1900 jüdische Volkslieder in Russland zu sammeln und zu arrangieren. Nur noch Dir brachte der Sängerin nach eigenen Worten „die Klänge ferner Erinnerungen mit sich“, sie nimmt es sehnsüchtig, melancholisch und auch temperamentvoll. Eyal Bat (Jahrgang 1966), einer der bekanntesten israelischen Vokalkomponisten, ist mit zwei neu komponierten Liedern vertreten. Az haya la ist ein weniger bekanntes Stück von Alexander „Sascha“ Argov (1914 in Moskau geboren, 1995 in Jaffa gestorben) – ein Liebeslied an Tel Aviv, das Na’ama Goldman auf ihrer Karriere immer wieder begleitet hat. Das Ende ist sehr gelungen – mit Elei tashuv, einem Lied des Komponisten, Dirigenten und Musikpädagogen David Sonnenschein. Na’ama Goldman singt es sicher auch deshalb so eindrucksvoll, weil es mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden ist und persönliche Erinnerungen und Gefühle aufkommen. Sonnenschein schrieb das (Liebes)Lied für ihre Großmutter, eine bekannte Sängerin, die in jungen Jahren ihre Stimme verlor. Die Noten fanden sich im Nachlass.

Sicher ließe sich die Wirkung, sprich die Verbreitung dieser CD durch eine einfache Maßnahme vergrößern. Programm und Interpreten „verkörpern“ Internationalität, Multikulturalität und Weltoffenheit. Wieso hielt man es da nicht für nötig, die fremdsprachigen Texte nicht nur in englischer, sondern auch in deutscher Übersetzung zu präsentieren. So bleiben die Lieder uns im wahren Sinne exotisch und zum Teil fremd (Solo Musica SM 421). Peter Heissler

Balletteinlagen von Rossini & Donizetti

.

Die wichtigsten Opernballette wurden für Paris geschrieben (wenngleich auch anderssprechige Häuser diese kannten oder übernahmen), und zu den wichtigsten Komponisten zählen u. a.  Rossini, Donizetti und Verdi – alle drei Ausländer (und Italiener wie einst Lully) – sowie Meyerbeer, der aus seinen Balletten ungeahnte Spektakel machte und sogar die Bühnen dafür umbauen ließ (man denke an die Rollschuh-/Eisbahn der Patineurs).

Uns interessierte der musik-wissenschaftliche Ansatz zu einer gewissen Ehrenrettung des Genres, und wir haben dafür den klugen Text von Michael Kaye ausgegraben. Er hat sich mit den Ballett-Musiken von Rossini und Donizetti, eben mit der Ballett-Tradition am französischen Musiktheater Theater (nämlich auch an der Opéra-Comique), beschäftigt, den wir nachstehend mit Dank wiedergeben, weil wir denken, dass eine Opernöffentlichkeit viel zu wenig zu eben diesen Traditionen der Ballette in Opern weiss, da diese ja fast immer gestrichen werden. Wobei Aufnahmen in jüngerer Zeit dieses Manko gelegentlich korrigieren (so der Hamlet mit Hampson bei EMI/Warner)  und zumindest im Studio oder bei Festival-Mitschnitten (zum Beispiel der Fernand Cortez aus Florenz bei Dynamic mit ausgiebigstem Getrappel) dem Ungekürzten den Vorzug geben.

Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Lasterna Magica/ Sammlung Bernoit

Aber im Opernalltag sieht es nach wie vor düster aus. Denn da regiert das opportunistisch-tagespolitisch-belehrende Regietheater, das selten etwas mit Entertainment, mit Unterhaltung und Lust zu tun hat und haben will. Was für ein Irrtum! Da gab es nun, wie erwähnt,  Verdis Vepres siciliennes, ab und zu seinen Don Carlos oder gelegentlich auch die Muette de Portici (zuletzt in Cottbus) oder Rossinis und Donizettis Opern für Paris – fast alle ohne die obligatorischen Ballette. Wie kürzlich in Berlin bei den Vepres sind die Vier Jahreszeiten auf den gekürzten Winter zusammengestrichen, die Pellegrina Verdis wird nie aufgeführt (und es war ein großes Verdienst Herbert von Karajans, bei seinem alten Salzburger Don Carlo zumindest die einleitenden Mandolinen in der Gartenszene zu spielen), Guillaume Tell, Moise oder Jérusalem meist ganz ihrer Ballette beraubt, weil sie den zu oft ignoranten Regisseuren nicht in den Kram passen.  Namentlich Verdis Ballette waren kluge Teile der Handlung – man denke an die lyrische Peregrina als Gegenstück zum grausamen Autodafé.

Das Ballett in der Favorite braucht man für die Bestätigung der Beschreibung der vom Tenor besungenen Gärten der Alhambra, Guillaume Tells beide Balette sind wichtig um zum einen die bukolische, unschuldige Stimmung im Kontrast der Schweizer Dörfler gegenüber der Sodateska Österreichs hervorzuheben und andererseits um den Widerstand gegenüber eben dieser zu zeigen. Natürlich sind Ballette auch schowpieces für Startänzer, unjd die Choreographien von Petipa et al. sind bis heute bekannt, Maria Taglioni und ihre Kollegen hatten wie ihre heutigen ihre Fanclubs. Ballett war eine wichtige Kunst- und Unterhaltungsform an den Opernhäusern, abendfüllende Handlungsballette zumal, nicht nur Einlagen. Topoi wie Waldseen, Feen und Willis, stumme Handlungen boten reiche Vorlagen, auch literarische. Heute dümpeln Ballette so vor sich hin, sind auf wenige Titel beschränkt. Wie schade.   G. H.

.

Und nun Michael Kaye: Obwohl sich der Name der Pariser Oper unter verschiedenen französischen Regimen geändert und sie seit ihrer Gründung durch Ludwig XIV. am 28. Juni 1669 zahlreiche Gebäude besetzt hat, lautet der offizielle Name der Institution Academie Royale de Musique et de Danse.
Seit Lully und während des gesamten 19. Jahrhunderts war die Leidenschaft für den Tanz unter den Franzosen so stark, dass sich das Corps de Ballet der Pariser Oper keine Sorgen um sein Erfolgspotenzial machen musste. Dieses Corps de Ballet bestand aus mehr als 150 Tänzern mit zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten, dank eines kaiserlichen Gesetzes, das vorschrieb, dass jede Oper, die an der Academie de Musique et de Danse aufgeführt wird, mindestens ein Divertissement oder eine Tanzsequenz enthalten musste. Diese Regelung blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts in Kraft – oft zum Entsetzen großer Komponisten und zur Freude dessen, was das Publikum des 19. Jahrhunderts als künstlerisch betrachtete.

Ballett zu Rossinis „Semiramide“ in Paris, Stich von Bertrand/ BNF Gallica

Opern in Frankreich und Italien wurden oft am selben Abend mit einem und manchmal sogar zwei abendfüllenden Balletten aufgeführt. „Noch nie ist ein Franzose zu Tode getanzt worden noch wird es jemals geschehen“, schrieb Richard Wagner in seinem Bericht an die Dresdner Abendzeitung mit dem Titel „Wunder aus der Ferne“ vom 6. Juli 1841, als beschlossen wurde, Webers Freischütz an der Pariser Oper mit von Hector Berlioz komponierten Rezitativen aufzuführen, die den ursprünglich gesprochenen Dialog ersetzten. Wagner berichtete seiner deutschen Leserschaft: „Zerbrechen Sie sich den Kopf, niemand konnte in dieser unmöglichen Musik eine Passage aufzeigen, zu der der Herr in goldenen Satinstrumpfhosen und die beiden langbeinigen Damen in kurzen Röcken zum Tanzen aufgefordert werden könnten. Nein, es war ganz aussichtslos. Doch irgendwo müssen sie tanzen! In den Freischütz musste ein Ballett hineingeschrieben werden, obwohl er ansonsten genau so aufgeführt wurde, wie er war. Was auch immer für Gewissensbisse gewesen sein mögen, sie wurden bald überwunden, als sich jemand daran erinnerte, dass Weber selbst eine Imitation zum Tanz geschrieben hatte. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der Tanz auf eigene Einladung des Komponisten stattfand? Herzlichen Glückwunsch rundum; alles war geregelt.“

.

Es ist wichtig anzumerken, dass das Wort „Ballett“ die Assimilation französischer und italienischer Tanz-, Musik- und Schauspielelemente zu einem zusammenhängenden dramatischen Ganzen bezeichnet. In Frankreich hingegen wird Tanz, der in den Kontext einer Oper eingefügt wird, als Divertissement definiert und ist nur als Verschönerung gedacht. Tanzen hat die Fähigkeit, Lokalkolorit zu vermitteln und Rituale zu zelebrieren, wie es Musik nicht kann, aber Tanzmusik in der Oper leidet oft unter einer Pseudoexotik, wenn Komponisten durch mangelndes Interesse an oder Wissen über ethnische musikalische Merkmale oder antike musikalische Vertonungen behindert wurden.

Pière Charles Ciceris Dekoration für das dramaturgisch so wichtige Nonnenballett im „Robert le Diable“ Meyerbeers an der Pariser Oper/ Wikipedia

Ein hervorragendes Beispiel für die Meinung eines Komponisten über die Einbeziehung von Tanz in die Oper ist gut dokumentiert in den folgenden Auszügen aus der Korrespondenz von Giuseppe Verdi, der Otello 1894 widerstrebend für eine Produktion an der Pariser Oper überarbeitete. In einem Schreiben an seinen Librettisten Arrigo Boito vom 29. Oktober 1886 warnte Verdi: „Eine gute Idee, das Ballett im zweiten Akt zu haben, und es wird sie glücklich machen. Aber natürlich darf das Ballett nur der Oper dienen: überall sonst muss Otello so bleiben, wie er jetzt ist.“ Sechs Monate später meinte er zu Giulio Ricordi: „Was das Ballett oder besser gesagt das Divertissement betrifft, warum sollte man es überhaupt drucken? Es ist ein schwaches Zugeständnis, das Autoren der Oper machen, und zwar zu Unrecht“ (25. März 1887).

In den 1830er Jahren und in den Jahrzehnten danach war es der Ehrgeiz eines jeden Opernkomponisten, in Paris erfolgreich zu sein. Bellini wagte sich 1833 dorthin, wo er zwei Jahre später starb, wenige Monate nach der Uraufführung von I puritani. Donizetti ließ sich 1838 in Paris nieder, Wagner kam 1839 an und Verdi begann seine lange Beziehung zu den Franzosen im Jahre 1847.

Ballett zu „Guillaume Tell“ Rossinis in Pesaro 2019/ ROF

Gioachino Rossini war längst an den Pariser Theatern etabliert. Während der Pariser Opernsaison 1822 wurden im Théâtre-Italien von insgesamt 154 möglichen Abenden 119 Aufführungen von Rossini-Opern aufgeführt. Viele Jahre war er Musik- und Bühnendirektor dieses Theaters. In den sechs Jahren vor der Komposition seines letzten Opernmeisterwerks, Guillaume Tell, schrieb Rossini neben Il viaggio a Reims, einer szenischen Kantate für die Krönung Karls X., und Le Comte Ory auch
zwei erfolgreiche Überarbeitungen von Partituren, die er ursprünglich für Neapel komponiert hatte: Mosè in Egitto und Maometto II, die in Paris zu Moïse et Pharaon und Le Siège de Corinthe wurden. Diese Überarbeitungen wurden unter Berücksichtigung des vorherrschenden französischen Opernstils und -geschmacks durchgeführt.
Le Siège de Corinthe (uraufgeführt an der Oper am 9. Oktober 1826) ist eine überarbeitete Fassung von Rossinis Opera seria in zwei Akten mit dem Titel Maometto II (uraufgeführt in Neapel am Teatro San Carlo am 3. Dezember 1820) mit einem Libretto von Rossini Cesare della Valle, Duca di Ventignano, nach Voltaires Mahomet, ou Le fanatisme. Auf Italienisch ist diese überarbeitete Version als L’Assedio di Corinto in bekannt.

Bei der Premiere von Le Siège de Corinthe an der Pariser Oper wurde die Choreographie für das Divertissement von M. Gardel entworfen. Es wurde von 126 Tänzern aufgeführt, die als sechs türkische adelige Männer, sechs türkische adelige Frauen, acht Pagen, vierzehn Odalisken, sechs afrikanische Männer, sechs afrikanische Frauen, zwölf Derwische, sechs türkische einfache Frauen, sechs Jugendliche und 51 verschiedene griechische Damen, alte Männer und Kinder kostümiert waren.
Die beiden Airs de danse werden in der dritten Szene des zweiten Akts aufgeführt. Pamira, die Tochter des Gouverneurs von Korinth, ist hin- und hergerissen zwischen griechischem Patriotismus und romantischer Liebe zu Mahomet II., der ihr mitteilt, ihre Ängste zu überwinden und den Feierlichkeiten zu Ehren ihrer bevorstehenden Hochzeit vorzustehen.

Ballett zu „Ricciardo e Zoraide“ Rossinis 2020 in Pesaro/ ROF

Im Nachtrag zu seinen Memoiren behauptete Hector Berlioz am 25. Mai 1858: „Es war wirklich Rossini in Die Belagerung von Korinth, der als erster eine laute Orchestrierung in Frankreich einführte. Doch französische Kritiker erwähnen ihn in diesem Zusammenhang nie, noch beschuldigen sie Auber, Halévy, Adam und eine Reihe anderer für ihre abscheulichen Übertreibungen von Rossinis Stil.“
Moïse et Pharaon, ou Le passage de la mer Rouge wurde am 26. März 1827 an der Oper uraufgeführt. Der Kritiker der Gazette de France verkündete diese umgestaltete Fassung von Rossinis dreiaktiger Azione tragico-sacra mit dem Titel Mosè in Egitto (am 5. März 1818 in Neapel am Teatro San Carlo uraufgeführt) als „nicht weniger als eine lyrische Revolution“. Im dritten Akt werden drei Tänze zum Lob der Isis dargeboten. Der Hohepriester der Ägypter verlangt, dass die Israeliten Isis huldigen, aber Moses lehnt ab. Teile der drei Airs de danse wurden Rossinis Oper Armida entlehnt, die zehn Jahre zuvor für Neapel komponiert worden war.
Guillaume Tell war das erste Werk, das Rossini ausdrücklich für die Pariser Oper komponierte, wo es am 3. August 1829 uraufgeführt wurde. Darin manifestiert er seine Beherrschung des zeitgenössischen französischen Opernstils. Sie diente Generationen von Opernkomponisten als Vorbild, insbesondere in Bezug auf die erweiterte Bedeutung und Personifizierung des Chors, die freie Komposition und die Techniken der Orchestrierung. Es war Rossinis letztes Bühnenwerk. Bis zum 10. Februar 1868 hatte die Pariser Oper es 500  Mal aufgeführt.

Ballett zur „Armida“ Rossinis an der Met/ Foto Ken Howard/Met Opera Archives

Die zweite Szene des zweiten Akts spielt in Altdorf. Gesslers Soldaten feiern das 100-jährige Jubiläum der Eroberung der Schweiz und ihrer Angliederung an das (anachronistische) Kaisertum Österreich. 1834 kommentierte Berlioz in der Gazette musicale de Paris, dass der Pas de trois und der Tiroler Chor, „durchdrungen von rustikalen Schweizer Melodien, sorgfältig geschrieben und von außergewöhnlicher Eleganz sind“.
Am 5. Juni 1821 wurde Rossinis Otello (der am 4. Dezember 1816 in Neapel uraufgeführt worden war) zum ersten Mal in Paris im Théâtre Lyrique aufgeführt, aber das Divertissement wurde für eine Produktion an der Pariser Oper am 2. September 1844 hinzugefügt, wo es in einer französischen Übersetzung von Gustave Vaez und Alphonse Roger gesungen wurde. Die Choreographie wurde von Mazilier entwickelt. Obwohl er als Choreograph nicht sehr angesehen war, profitierten viele Tänzer (darunter Carlotta Grisi und Fanny Elssler) von ihren Auftritten in seinen Balletten, darunter Adams Le Corsaire und Aubers Marco Spada.

Maziliers Tänze für Otello wurden vor dem Finale des ersten Akts eingefügt, das in einem prächtigen Saal im Haus des venezianischen Senators Elmiro spielt, dessen Tochter Desdemone Otello heimlich liebt, einen Mohren, den ihr Vater verabscheut. Um ihr Glück zu sichern, beabsichtigt Elmiro, Rodrigue, dem Sohn des Dogen, zu erlauben, Desdemone zu heiraten, und hat seine Freunde versammelt, um die Hochzeit zu feiern. Die Tänzer führen zwei Pas de deux auf.

.

Ballett zur „Favorite“ Donizettis an der Opéra de la Wallonie Liège/ OWL

Ballette in voller Länge waren manchmal die Quelle für Opern. Cammaranos Libretto für Donizettis L’Assedio di Calais wurde teilweise von einem gleichnamigen Ballett inspiriert, das von Louis Henri geschaffen wurde (mit Musik von Cesare Pugni, uraufgeführt 1828), abgeleitet von Luigi Marchionnis Stück, das ebenfalls L’Assedio di Calais hieß. Das Thema stammt wahrscheinlich aus einem historischen Melodram von M. Hubert (Pseudonym von Philippe-Jacques Roche) mit dem Titel Eustache de St Pierre, ou Le Siege de Calais. Donizetti komponierte diese Oper für Neapel, wo sie am 19. November 1836 uraufgeführt wurde, in der Hoffnung, sie auf die Bühne der Pariser Oper exportieren zu können.
In einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi vom 22. November 1836 beschrieb Donizetti diese ein Jahr nach Lucia di Lammermoor komponierte Oper als seine „am sorgfältigsten ausgearbeitete Partitur“. In einem Schreiben vom 21. Mai 1837 an seinen Freund, den berühmten Tenor Louis-Gilbert Duprez (der am 17. April 1837 ein sensationelles Debüt an der Pariser Oper als Arnold in Guillaume Tell gab und anschließend dabei half, für Donizetti eine Arbeit in Paris zu arrangieren) flehte Donizetti Duprez an, ihn dem Direktor der Oper, Charles Duponchel, zu empfehlen: „Ich würde ihnen so viele Tänze (ballabili) schreiben, wie sie wollen. Ich würde ändern oder verlängern, [welche Musik] auch immer Sie möchten … Das Werk, das ich gerne in der Grand Opéra präsentieren würde, wäre L’Assedio di Calais, die
gelehrteste meiner Opern, die am besten zum französischen Geschmack passt und
daher von allen als für Paris komponiert angesehen wird.“ L’Assedio di Calais wurde zu Donizettis Lebzeiten in Paris nicht gegeben. Obwohl es als eines der interessantesten Werke Donizettis gilt, wurde es selten irgendwo aufgeführt.

Szene aus Aubers Oper „Le lac des Fées“/ BNF Gallica

Les Martyrs wurde am 10. April 1840 an der Oper uraufgeführt. Der enorme Erfolg von Donizettis Lucia di Lammermoor am 12. Dezember 1837 im Théâtre-Italien ebnete schließlich den Weg für seine lang ersehnte Einladung nach Paris und seinen dortigen Arbeitsvertrag. Für sein Debüt an der Oper entschied sich das Management für eine Neufassung von Donizettis Opera seria Poliuto, die 1838 für Neapel komponiert, aber vom König verboten wurde, weil sie (in Donizettis Worten) „zu heilig“ war.
Die Pariser Oper wollte den Umfang von Donizettis Originalwerk, das auf Corneilles Polyeucte basiert, von drei auf vier Akte erweitern, daher war es am bequemsten, den letzten Teil des ersten Akts und die Eröffnung des zweiten Akts zu ändern, anstatt andere Abschnitte der Handlung anzutasten. Die in die sechste Szene des zweiten Akts eingefügte Tanzmusik besteht aus einem Divertissement mit drei Nummern, placiert zwischen der Arie und der Cabaletta, die vom Proconsul Severe während der Triumphszene auf dem öffentlichen Platz gesungen wird.

Scribes Libretto legt fest, dass „zwei gegnerische Gladiatorentruppen einander angreifen und sich im Laufe ihres Kampfes neu formieren. Letztendlich treten zwei einzelne Gladiatoren in einen Nahkampf, und nach einem anstrengenden Duell wird einer von ihnen besiegt. Als der Sieger im Begriff ist, seinen Gegner zu töten, erhebt sich Severe und winkt dem Gladiator zu, seinem zu Boden gegangenen Kontrahenten zu verzeihen. Auf den Gladiatorenwettbewerb folgen griechische und römische Tänze, die von jungen Frauen aufgeführt werden. Sie enden mit einem goldenen Kranz zu Severes Füßen.“

Donizettis La Favorite wurde am 2. Dezember 1840 an der Oper uraufgeführt. Das Divertissement spielt im spanischen Königreich Kastilien und findet im zweiten Akt im maurischen Palast von Alcazar statt. Alphonse XI., König von Kastilien, hat seiner Geliebten Léonor de Gusman versprochen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, um Léonor zu heiraten und sie zur Königin zu machen.Der König befiehlt Léonor, ihre Traurigkeit zu vergessen und die Feierlichkeiten zu genießen, die er für sie geplant hat.

Das Programm der Tänze, aufgeführt von spanischen Mädchen und Sklavinnen, von denen einige maurisch waren, wurde im offiziellen Produktionsbuch (mise en scene) der Uraufführung veröffentlicht, das als Beilage zur Revue et Gazette des Théâtres vom 17. Januar 1841 veröffentlicht wurde. Beim „Pas de mauresque“ gesellten sich zu den Damen und Herren des Corps de Ballet vier kleine maurische Musikanten, die kleine Trommeln spielten. Zu den Solotänzern gehörten Louise Fitzjames, Adele Dumilätre, Mesdames Maria, Noblet, Alexis, Blangy und Mr. Auguste Mabille. Am 12. Februar 1841 gab die berühmte Ballerina Carlotta Grisi zur Freude des Pariser Publikums ihr Debüt an der Pariser Oper in La Favorite.
Dom Sebastien ist Donizettis längste Oper. Es war auch die letzte vollständige Oper, die er komponierte, und seine einzige Oper, die ausdrücklich für die Pariser Oper geschrieben wurde, wo am 13. November 1843 ihre Uraufführung erfolgte. Die erste Szene des zweiten Akts spielt in Marokko, in Ben-Selims Wohnung in der Nähe von Fez, wo er der Gouverneur ist. Seine Tochter Zayda, die von portugiesischen Feinden gefangen genommen und christlich getauft wurde, ist von Dom Sebastien, dem König von Portugal, befreit worden, den sie heimlich verehrt. Ben-Selim befiehlt, zur Feier der Rückkehr seiner Tochter zu tanzen. Donizetti war ziemlich stolz auf die Tanzmusik, die er für den zweiten Akt komponierte, und sie wurde häufig von Ballettkompanien außerhalb des Kontexts der Oper aufgeführt. In den italienischen Ausgaben der Oper (bekannt als Don Sebastianò) trägt das Finale des Divertissements den Titel „Ballabile di Schiavi“ (Tanz der Sklaven) . Michael Kaye/Übersetzung Daniel Hauser

.

Michael Kayes Artikel erschien in Englisch in einer inzwischen vergriffenen LP-Sammlung von Ballettmusiken von Rossini und Donizetti bei Philips/ Abbildung oben: Szene aus Meyerbeers „Crociato in Egitto“ von Bagnara/ Opera Rara

Würdiges Memento für Stefan Soltész

.

Ein Libretto, das die titelgebende Figur der Vorlage außen vor lässt, eine Oper, deren erste Fassung später vom Komponisten zugunsten der zweiten Version verboten wurde und deren erste nun fast ausnahmslos aufgeführt wird, das ist Paul Hindemiths Cardillac, von dem es jetzt eine CD mit dem Münchner Rundfunkorchester unter dem zu früh verstorbenen Stefan Soltész gibt. E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi ist eine Kriminalgeschichte, die im Paris Ludwigs XIV. spielt und über die die Figur des Fräuleins ein mildes Licht gießt. Das Libretto von Ferdinand Lion, das der Komponist für die zweite Fassung des Werks wesentlich erweiterte und veränderte, so mit der Einführung einer Opernsängerin und eines festlichen Balls, ist eher ein Psychogramm einer gestörten und verstörten Persönlichkeit. Die erste Fassung wurde 1926 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt, die zweite 1952 in Zürich. 1960 erreichte man die gerichtliche Freigabe der ersten Version in Wuppertal, die nun fast ausschließlich auf die Bühnen gebracht wird und die durch den Kontrast zwischen den schon fast altertümelnden Nummern-Bezeichnungen, die seine Form ausmachen, und der Modernität der gestörten Künstlerpersönlichkeit eine Ausnahmestellung einnimmt.

Das Münchner Rundfunkorchester beweist unter Stefan Soltész  seine Qualitäten bereits im Vorspiel, wenn es durchsichtig filigran, aber gleichzeitig rasant beginnt, allmählich die Bedrohung, die von dem in seine Schöpfungen krankhaft verliebten Goldschmied ausgeht, hörbar werden lässt. Die Aufnahme besticht durch das Miteinander von dramatischer Expressivität und schlanker Eleganz. Eine höchst bedeutende Aufgabe hat der Chor, der Prager Philharmonische Chor unter Lukás Vasilek, der höchst idiomatisch und rhythmische wie Anforderungen an die Textverständlichkeit im Rahmen des Möglichen großartig meisternd zu einem der Protagonisten der Aufnahme wird.

Hoch zufrieden sein kann man auch mit den Gesangssolisten. Markus Eiche hat das angemessen virile, farbige Timbre für die Titelpartie, dazu eine gute Diktion und das, was man als eine darstellende Stimme bezeichnet, die sich zum Bekenntnis der furchtbaren Taten emphatisch steigern kann. Weich, sanft und feine Melodienbogen virtuos ausmalend, ist Juliane Banse eine sich auch im Quartett gut behauptende Tochter. Zwei Tenöre, Oliver Ringelmann  als früh gemeuchelter Kavalier und Torsten Kerl als Offizier und glücklicher Bräutigam der Tochter, stehen einander an strahlender vokaler Präsenz nicht nach. Mit koloraturgeläufigem Bass, der zudem viel Autorität vermittelt, glänzt Kay Stiefermann als Führer der Prévôté, viel aus der kleinen Partie des Goldhändlers macht Jan-Hendrik Rootering. Einen verführerisch klingenden Sopran kann Michaela Selinger für die Dame einsetzen. Vor allem aber ist diese Aufnahme als Vermächtnis von Stefan Soltész zu würdigen, von dem es leider eine allzu kleine Hinterlassenschaft gibt (BR Klassik 900345). Ingrid Wanja