Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Refices Kirchenoper „Cecilia“

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Laut Arturo Toscanini hätte Licinio Refice (1883-1954) der größte Opernkomponist seiner Zeit sein können, wenn er nicht den Talar gewählt hätte: «Refice sarebbe il più grande operista del nostro tempo se non fosse per quella tonaca», schreibt er, der sich sehr für die Komponisten seiner Zeit einsetzte. Der Priester Don Refice bewies seine musikalischen Fähigkeiten als Komponist von Kirchenmusik (darunter ca 40 Messen und mehrere Oratorien, darunter das bei Colosseum dokumentierte Lilium Crucis). Auch zwei Opern beendete er, die zu ihrer Zeit in Italien erfolgreich waren. Cecilia wurde 1934 an der Königlichen Oper in Rom auch dank der Sopranistin Claudia Muzio in der Hauptrolle ein Triumph, der weltweit zu über 1000 Vorstellungen führte, 1938 eröffnete dann Refices Margherita da Cortona die Saison an der Mailänder Scala (davon ein LP-Mitschnitt ehemals bei Voce mit Antonietta Cannarile Berdini bei der RAI 1975). Cecilia und Margherita di Cortona – beide wurden von der katholischen Kirche heiliggesprochen, Refice blieb auch bei seinen Opern Kirchenmusiker.

Licinio Refice/Autogrammblatt/Tamino

Die heilige Cäcilie, die Patronin der Kirchenmusik, starb als Märtyrerin ca 230 n.Chr. in Rom, da sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwören wollte. In Europa entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Tradition der Cäcilienverehrung, entsprechende Kompositionen gibt es bspw. von Purcell, Händel, Haydn, Gounod oder Britten. Das Frühchristentum in Rom ist ein Thema, das bereits Donizetti in seiner aktuell wieder Aufmerksamkeit bekommenden Oper Poliuto/Les Martyrs  verwendete. 1932 wurde in der New Yorker Carnegie Hall das Mysterienspiel Maria Egiziaca von Ottorino Respighi konzertant aufgeführt und in der der Folge in Italien szenisch auf die Bühne gebracht. Respighis religiöse Oper in drei Episoden (2013 von den Wuppertaler Bühnen für eine Kirchenaufführung inszeniert) ist das zeitgeschichtliche Ergänzungswerk zu Refices Cecilia. Beide Werke vereint eine klangsinnliche Herangehensweise in spätromantischer Klangwelt. Wenngleich sich auch das Wort Kirchenkitsch aufdrängt, ist doch der moderne Zuhörer weit entfernt von dieser italienischen Mystifizierung. Aber man muss das Werk – und ja eigentlich alle – aus der historischen Einbettung heraus betrachten und im ästhetischen Sinne nicht durch die Brille unseres rabiaten Kapitalismus mit seinen Folgen be- oder verurteilen.

Thematisch befindet man sich bei Cecilia also auf bekannten Pfaden, spannend wird es durch die katholische Färbung des Komponisten – Refice nannte seine Oper eine azione sacra in drei Episoden und vier Bildern -, die die Handlung musikalisch gekonnt dramatisiert und dabei geschickt Vorbilder wählt. Die erste Episode, bei der Cäcilie in das Haus ihres ihr anverheirateten heidnischen Gatten Valerianus gebracht wird und doch ihre Unberührtheit bewahren kann, erinnert vom Aufbau an den ersten Akt von Madama Butterfly. Herzstück ist die mit einem melodisch fast alle wichtigen Motive vereinenden Vorspiel beginnende zweite Episode, bei der Cäcilie Valerianus zu einem frühchristlichen Gottesdienst in die Katakomben mitnimmt, bei dem ein Wunder geschieht: Eine Blinde kann wieder sehen, die Gemeinde stimmt ein Halleluja an, Valerianus lässt sich taufen und ein Engel erscheint, der die geistige Beziehung der Ehegatten segnet und auf das kommende Leid verweist. Tribunal und Verurteilung (als Vorbild könnte man den dritte Akt von Andrea Chénier nennen) sowie die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen (ähnliche Beispiele finden sich in Norma, Anna Bolena und Maria Stuarda) führen in der dritten Episode zu Tod und Verklärung.

Eine Neueinspielung (Mitschnitt einer Aufführung bei Dynamic aus dem Theater in Cagliari) lässt uns zu  einen älteren Artikel über das Werk in operalounge zurückkehren. Erst einmal die Besprecdhung von Ingrid Wanja und dann ein Blick auf weiteres Verfügbares. G. H.

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Nicht laut genug erschallen kann das Lob für das Teatro Lirico di Cagliari auf Sardinien und ebenso kräftig sollte es ertönen für das Label Dynamic aus Genua, denn das eine bringt seit Jahrzehnten immer wieder unbekannte Opern auf seine Bühne, das andere gibt sie fast zeitgleich als CD oder Bluray heraus und lässt so ein großes Publikum am jeweiligen Ereignis teilnehmen. Da gab es unter anderem den Schiavo von Gomes, Webers Euryanthe, Tschaikowkys Pantöffelchen, eine sardische Oper aus der Zeit der Nuraghe und in den letzten Jahren Giorgio Marinuzzis Palla de’Mozzi und  im Winter 2022 Licinio Refices Cecilia. Letzterer ist eigentlich ein Don Licinio Refice, Priester und in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts  für die Musik in Santa Maria Maggiore in Rom verantwortlich, welches Amt er jedoch zum Ärger der Kurie zugunsten unter anderem mehrerer Südamerikareisen vernachlässigte, auf der letzten, während der Proben zu Cecilia 1954 in Rio de Janeiro mit Renata Tebaldi in der Titelpartie verstarb er. 1953 wagte sich das Teatro San Carlo in Neapel an das Werk, und auch damals sang Renata Tebaldi die Cecilia, es dirigierte der Komponist.

.Azione sacra in tre episodi nannte der Komponist sein Werk, das eigentlich eine Oper mit geistlichem Inhalt ist wie auch Margherita da Cortona, eine dritte Oper mit dem Titel Il Mago, brachte es nicht einmal zu einem vollendeten ersten Akt.

Für Cecilia hatte sich Refice eine Uraufführung zum Heiligen Jahr 1925 erhofft, die aber am Zwist zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat scheiterte und erst nach den Patti Lateranensi 1934 im römischen Teatro Reale dell‘ Opera, sprich Teatro Costanzi, 1934 möglich wurde. Für den beachtlichen Erfolg war nicht zuletzt die Sängerin der Cecilia, Claudia Muzio, verantwortlich.

Licinio Refice privat/ personaggi illustri

Refice verwendet als heißer Verehrer Richard Wagners zwar Leitmotive für seine Protagonisten, auch für den Chor, sei es der der Christen oder der der Heiden, aber ansonsten ist seine Musik durch und durch italienisch, üppig melodienselig, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme, Giuseppe Grazioli, nennt sie „un trait d’union“ zwischen Puccini und Respighi. Nachvollziehbar ist, dass Refice als Kirchenmusiker dem Chor eine bedeutende Rolle zuerkennt, sei es als entrückter Engelsgesang, als der der schüchternen Ancelle, der unversöhnlich auftrumpfenden Heiden oder der auf Überwältigung angelegte gemeinsame der irdischen wie himmlischen Heerscharen.

Erstaunlich kompetent sind, bedenkt man, dass es sich um ein selten aufgeführtes Werk in einem teatro di provincia handelt, die Sänger. Marta Mari hat einen in der Höhe aufblühenden Sopran mit viel corpo, dolcezza und splendore, rund und farbig auch im Piano. Emphatisch klingt das „Si, Valeriano“, ein feines akustisches Gespinst ist das „Io sorrido di pianto“. Die Stimme wird im Verlauf der Handlung immer entrückter wirkend, bis sie zu ersterben scheint. Frisch und schlank ist der Sopran, den Elena Schirru für den Engel einsetzt. Giuseppina Piunti gibt mit etwas schütterem Mezzosopran die Cieca, die natürlich von ihrem Gebrechen geheilt wird und dadurch auch an Stimmvermögen zunimmt.

Einen lyrischen Tenor setzt Mickael Spadaccini für den Gatten Valeriano ein, kann,  als bereits Hingerichteter, der der aus dem Jenseits klingenden Stimme ein schönes Schweben verleihen. Glück für das Personalbüro, dass sein Bruder Tiburzio bereits vor dem zweiten Akt das Zeitliche segnet, so dass Leon Kim nicht nur diese Partie, sondern auch die des Amachio singen kann und beides mit einem textverständlichem, viel vokale Autorität ausstrahlendem Bariton. Schnell hat Christian Collia als Un Liberto und Un Neolita sein vokales Pulver verschossen, einen hochpräsenten  Bariton setzt Patrizio La Placa als Schiavo ein, warm und dunkel klingt Alessandro Spina als Urbano.

Musikalisch hochinteressant, dürfte es das Werk wegen seines Themas weiterhin schwer haben. Die Begegnung mit ihm lohnt auf jeden Fall (Dynamic CDS 7967.2). Ingrid Wanja 

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Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italien, sang die Cecilia bei der RAI/Melodram

Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italiens, sang die Cecilia 1955 bei der RAI/Melodram

Refice bekehrt musikalisch und will das Herz seiner Zuhörer berühren. Sein Erfolgsrezept liegt in der Mischung: veristische Momente, gregorianischer Gesang und eine an Mascagni und Puccini (bspw. Suor Angelica) erinnernde Klangsprache. Wer diese musikalische Mischung aus Wehmut, Hingabe und Erhabenheit schätzt, wird bei Refice fündig: Es gibt melodische Einfälle, die haften bleiben. Arien aus Cecilia wurden später von bekannten Sängerinnen eingespielt, bspw. von Renata Tebaldi (1953 unter dem Komponisten selbst bei der italienischen RAI, ehemals als knisternde LP von UORC) und Renata Scotto (im New Yorker Konzert 1976 unter Campori). Refice starb 1954 in Rio de Janeiro, wo er mit Renata Tebaldi seine Oper probte.

In der Folge geriet Cecilia in Vergessenheit. Ber youtube gibt es zum Hören Aufnahmen mit der Muzio, Tebaldi und Scotto (als CD gekürzt auf VAI erhältlich, sehr empfehlenswert wegen der opernhaften Hinwendung) sowie Maria Pedrini (als LP, später CD ehemals bei Melodram im RAI-Mitschnitt von 1955 unter De Fabritiis, ungeschlagen wegen der wunderbaren pastosen Stimme voller Unschuld und Unverstelltheit – eine gläubige Italienerin singt aus ihrem erfüllten Herzen heraus), die eine der großen Vertreterinnen der Partie nach dem letzten Krieg und überhaupt eine der schönsten Spinto-Stimmen ihrer Zeit (und zudem in Italien eine bedeutende Norma neben der Cerquetti) war. In jüngster Zeit näherte sich Jonas Kaufmann dem Werk, dessen Tenorarie „Ombra di nube“ er auf seinem Decca-Recital singt.

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Die  Gesamteinspielung der tüchtigen Firma Bongiovanni ist ein Live-Mitschnitt eines Konzerts vom 22.11.2013 in der Kirche von Monte-Carlo. Es handelt sich um ein wichtiges Plädoyer für eine vergessene Oper – die  Aufnahme taugt allerdings kaum als Referenz, dafür fehlten einigen Sängern am Aufnahmetag die Unverwechselbarkeit und Überzeugungskraft und die Akustik ist nicht ideal. Als Cecilia hat man mit Denia Mazzola Gavazzeni einen (zu) reifen, gestisch fast zu dramatischen Sopran gewählt, der zwischen Gläubigkeit, spiritueller Anrufung und Todesbereitschaft Eindruck hinterlässt, deren scharfe Sopranstimme allerdings auch den Weg zum Werk verstellt. Als ihr Partner Valerianus hat man den nicht immer frei klingenden Tenor von Giuseppe Veneziano gewählt, der Engel Gottes ist mit Serena Pasquini stimmlich wohlklingend, aber unaufregend besetzt. Der Bassist Riccardo Ristori als Bischoff Urban könnte deutlicher würdevoller und standhafter klingen; die gut besetzten Corrado Cappitta (Tiburzio/Amacchio) und Kulli Tomingas (La vecchia cieca) ergänzen u.a. in den kleineren Rollen. Auf der Habenseite dieser Aufnahme befinden sich Dirigent Marco Fracassi und das Orchestra Filarmonica Italiana, die für positive Eindrücke sorgen. Der Chor der Camerata di Cremona wirkt nicht immer ganz sicher und passt sich der durchwachsenen Gesamtleistung an. Eine Oper, die – wenn sich die richtigen Stars ihrer annehmen würden – durchaus wieder eine Chance auf der Bühne bekommen könnte. Und die Aufnahmen mit Scotto (in gutem Stereo-Sound) oder Pedrini (sehr ordentliches Mono) zeigen, was große Gestalterinnen sind (2 CDs, Bongiovanni, GB 2472-2). G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Grauns „Iphigenia in Aulide“

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Das Ensemble barockwerk hamburg ist für seine außergewöhnlichen Projekte und eindrücklichen Programme bekannt. Insbesondere die Wieder-Aufführung von bisher unveröffentlichten Werken der hamburgischen Musikgeschichte erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Erstmals in Form eines Streaming-Konzerts stellte das Ensemble mit seiner Leiterin Ira Hochman nun die Oper Iphigenia in Aulis von Carl Heinrich Graun vor.

Die Geschichte der Königstochter Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert werden soll, gehört zu den klassischen Tragödien der griechischen Antike, die das Theater bis heute zu immer neuen Interpretationen inspirieren und die Zuschauer fesseln. Mit gerade einmal 24 Jahren begeisterte sich auch Carl Heinrich Graun an dem Stoff und komponierte vor 290 Jahren die Iphigenia in Aulis. Seine jugendlich frische und farbenfrohe Musik erklang zuletzt im Jahr 1731 auf der Bühne der hamburgischen Gänsemarkt-Oper. Im Zentrum des Werks steht die freiwillige und selbstlose Aufopferung der Iphigenie in den Zeiten der gesellschaftlichen Krise. Vaterliebe und Königspflicht, Treue und Verrat, Ironie und Intrigen und eine Hochzeit als Schlussakkord bieten alle Zutaten für eine opulente und abwechslungsreiche Barockoper. (Quelle Universität Hamburg)

Eine ausführliche Rezension von Bernd Hoppe folgt, danach  eine Einführung von der Dirigentin Ira Hochman zur neuen Einspielung bei cpo (2 CD 555 475-2).

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Mit ihrem Ensemble barockwerk hamburg hatte Ira Hochmann vor einigen Jahren schon Carl Heinrich Grauns Polydorus bei cpo auf CD veröffentlicht (s. Rezension in operalounge.de), nun legt sie des Komponisten Oper Iphigenia in Aulis nach (555 475-2, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Christuskirche von Hamburg-Othmarschen.

Das Ensemble barockwerk hamburg im Lichthof der Hamburger Staatsbibliothek/ ebh

Das Libretto stammt von Georg Caspar Schürmann, der einen Text von Christian Heinrich Postel für Reinhard Keisers Die wunderbar errettete Iphigenia als Vorlage nutzte. Postel hatte gemäß der italienischen Barockoper eine zweite Liebesgeschichte hinzugefügt – die zwischen Deidamia und Achilles. Letzterer ist eine Tenorpartie in extremer Notierung, die Graun, der eine sehr hohe Stimme besaß, für sich selbst schrieb. In der Aufnahme nimmt sie Mirko Ludwig wahr, der die erste Arie von stürmischem  Zuschnitt, „Mit seinem Feinde herzhaft kämpfen“, beherzt angeht, doch in der Höhe an Grenzen stößt und im Klang zu buffonesk bleibt. Dagegen findet er in „Geliebte Seele“ im 3. Akt auch zu innigen Tönen. Die Sopranistin Santa Karnite hat als Deidamia ebenso viele Arien zu absolvieren wie die Titelheldin, was für die Bedeutung der Partie spricht. Der Auftritt mit „Armes Herz“ lässt eine klare, reine Stimme von instrumentaler Führung hören. In „Sollte Treu im Lieben sein?“ gibt sie ihrer Enttäuschung über die unglückliche Liebe zu Achilles nachdrücklich Ausdruck.

In der Titelrolle ist Hanna Zumsande zu hören, deren wenig individueller Sopran in der ersten Arie, „Treuer Liebe reine Flammen“, keinen rechten Kontrast zu Deidamias Stimme herstellt. In der Arie „Kann ich dir das Leben geben?“ zu Beginn des 2. Akt stört ein allzu jammernder Tonfall. Am besten gelingt ihr der Koloraturjubel in „Schönste Blumen“ im 2. Akt. Auch das getragene Arioso am Ende des 2. Aktes, „Wertste Seele“, ist geglückt. Iphigenias Mutter Clytemnestra gibt die Mezzosopranistin Geneviève Tschumi, ihren Vater Agamemnon der Bassist Dominik Wörner mit flexibler Stimmführung. Dessen vertrauter Freund Nestor ist doppelt besetzt – mit dem Tenor Ludwig und dem Bass Wörner, da seine Gesangsnummern vom Komponisten beiden Stimmfächern zugeteilt wurden. Clytemnestra hat mit „Stürmet noch einmal“ eine wirkungsvolle Auftrittsarie mit bewegten Koloraturläufen, die Tschumi überzeugend wiedergibt. König Thoas, unter dem Namen Anaximenes, ist eine besonders farbige Partie zugeordnet, welche der Altus Terry Wey solide ausfüllt. Gelegentlich, wie in der ersten Arie „Schönste Seele“, klingt sein Ton etwas larmoyant. Das getupfte „Augen, machet euch bereit“ im 2. Akt profitiert von delikaten Nuancen und das stürmische „Nach wilder Wellen Brausen“ am Ende vom forschen Zugriff. Die Besetzung komplettiert der Bariton Andreas Heinemeyer in der Rolle von Deidamias Diener Thersites, der in der Tradition der Hamburger Gänsemarkt-Oper als komische Figur fungiert. Er kommentiert und persifliert in hoher Tessitura, munter plappernd und mit lautmalerischen Effekten das Geschehen.

Der Schlusschor, „Es weiche, es fliehe der Kummer“, wurde Grauns Oper Caio fabricio entnommen, da er, ebenso wie alle Rezitative, in der Handschrift der Iphigenia fehlt.

Die Erfahrung der Dirigentin mit dem Werk Grauns spiegelt sich sogleich in der Ouvertüre wider. Das Orchester musiziert kultiviert und nobel, ist den Sängern ein verlässlicher Partner. Die Virtuosität in vielen Kompositionen Grauns findet man hier allerdings nur gelegentlich, insgesamt herrscht ein getragener, dem Oratorium naher Stil, dem auch Elemente des Singspiels eigen sind, vor. Bernd Hoppe

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Carl-Heinrich-Graun/ Wikipedia

Zu seinen Lebzeiten war Carl Heinrich Graun (1704–1759) als Komponist und erster Kapellmeister der Königlichen Oper in Berlin vor allem für seine italienischen Opern bekannt und umjubelt. Die Tatsache, dass er zuvor am Opernhaus am Braunschwei­ger Hagenmarkt und der Gänsemarkt-Oper in Hamburg mit deutschsprachigen Opern wichtige Grundsteine für die Entwicklung dieser Gattung gelegt hatte, wird bis heute kaum wahrgenommen. Dabei bemerkte schon im achtzehnten Jahrhundert der Hamburger Gelehrte und Musikschriftsteller Christoph Daniel Ebeling (1741–1817): „[Grauns deutsche Opern] haben so viel Melodie, Ausdruck und Neuheit, als man in manchen Arien seiner neuern [= italienischen Opern] nicht finden wird“.1 Eine Fest­stellung, die das Ensemble barockwerk hamburg nach seiner erfolgreichen Erstein­spie­lung der Oper Polydorus (cpo 555 266-2) nur unterstreichen kann, und die nun mit der Vorstellung eines weiteren frühen Werks des Komponisten, seiner Oper Iphigenia in Aulis (1728), erneute Unterstützung findet.

Geboren in Wahrenbrück, begann Carl Heinrich Graun seine Karriere schon als Sängerknabe an der Kreuzschule in Dresden. Als jüngster der drei Gebrüder Graun, die alle ausgezeichnete Musiker waren, genoss er die bestmögliche Musikausbildung seiner Zeit, erhielt Unterricht auf der Orgel, Cembalo, Cello, Laute und in Kompo­sition. Nach dem Stimmbruch wurde aus dem Knabensänger ein exzellenter hoher Tenor. Carl Heinrich komponierte zahlreiche Kantaten und Opernpartien für die eigene Stimme, darunter die extrem hohe Partie des Achilles in der Iphigenia in Aulis. Graun soll als Privatperson einen sehr angenehmen Charakter gehabt haben, so hatte er viele Freunde und Förderer, darunter den Dresdner Hofpoeten Johann Ulrich König. Dieser prominente Opernlibrettist vermittelte den jungen Sänger 1725 nicht nur an die Hagenmarkt-Oper in Braunschweig, sondern lieferte auch das Libretto zu seiner (vermutlich) ersten Oper Sancio, oder die in ihrer Unschuld siegende Sinilde. In Braunschweig debütierte Graun 1726 als Tenor in der Oper Heinrich der Vogler von Georg Caspar Schürmann. Er wurde bald auch kompositorisch tätig und bekam nach dem großen Erfolg seiner Oper Polydorus den Titel Vizekapellmeister. Zwischen dem deutlich älteren Hofkapellmeister Schürmann und Graun als Vertreter des moderneren Stils entstand ein kollegiales Verhältnis, eine damals typische Art von Teamwork. Graun schrieb Einlagearien für Schürmanns Opern, darunter Ludovicus Pius, Heinrich der Vogler und Clelia, Schürmann dichtete für ihn unter anderem den Text der Iphigenia in Aulis. Dieses Bühnenwerk soll die dritte von sechs in Braunschweig geschriebenen Opern Grauns sein.

Zu Grauns „Iphigenia“: das Hamburger Theater am Gänsemarkt/ Wikipedia

In seiner Studie zur Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper von 1863 dokumentiert der Musikwissenschaftler Friedrich Chrysander die etwas verwirrende Chronologie der Aufführungen von Grauns Iphigenia in Aulis folgender­maßen: „Um 1730. Iphigenia in Aulis. Eine ganz deutsche Oper, von welcher zwar nur ein Textbuch aus der Sommermesse 1734 vorliegt, die aber in diese Zeit gehören muss, weil sie mit Graun’s Musik schon 1731 in Hamburg war.“2 Tatsächlich wurde die dreiaktige Oper in Braunschweig bereits 1728 uraufgeführt, und die Gänsemarkt-Oper in Hamburg spielte das Werk dreimal im Winter 1731/32. Danach verschwand es für 293 Jahre aus dem Opernrepertoire.

Im Sprechtheater gehört Euripides‘ Iphigenie in Aulis zweifelsfrei zu den meist­gespiel­ten antiken Tragödien. Im Bereich des barocken Musiktheaters waren die mythologischen Opern zwar die beliebtesten Opernsujets, jedoch sind heute nur zwei Adap­tionen des Iphigenien-Mythos bekannt, Glucks Iphigénie en Aulide (Paris 1774) und Martín y Solers Ifigenia in Aulide (Neapel 1779). Dabei wurde auf der Bühne der Hamburger Gänsemarkt-Oper schon im Jahr 1699 die Oper Die wunderbar errettete Iphigenia von Reinhard Keiser gespielt. Dessen Librettist Christian Heinrich Postel schrieb in seinem Vorbericht, dass ihm Euripides‘ „vortreffliches Trauer-Spiel“ als Grundlage diente. Postel fügte der Handlung eine Liebesgeschichte zwischen Deidamia und Achilles hinzu, um der üblichen Dramaturgie einer Barockoper zu entsprechen. Das wiederum zog es nach sich, möglichst eine Intrige als Nebenstrang und eine komische Figur für die Unterhaltung des Publikums in die mythologische Handlung einzupflegen. Die Musik dieses „Singe-Spiels“ hat sich leider nicht erhalten. Der zeitgenössische Druck des Librettos hingegen ist heute digital zugänglich.3

Zu Grauns „Iphigenie“: Uraufführungs-Kostüm für Arcas/ BDO

Genau dieses Libretto diente 1728, also fast 30 Jahre später, Georg Caspar Schür­mann als Grundlage für den Text der Iphigenia in Aulis. Die Handlung wurde von ihm von fünf auf drei Akte gekürzt und die Rezitativtexte wurden gestrafft. Der Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson übte daran harsche Kritik und schrieb, es sei „die 32 Jahre alte, schöne Postelsche Poesie […] lästerlich verschnitten, weggewor­fen, zerstümmelt, vertauscht und geflickt“ worden.4 Bei einem weniger polemischen, sachlichen Vergleich der Textbücher wird offensichtlich, dass den Kürzungen insbesondere Ensembles und Interaktionen zwischen Charakte­ren zum Opfer fielen, die zuvor wahrscheinlich in kürzeren musikalischen Formen ver­tont worden waren. Schürmanns Bearbeitung des Librettos bewegt sich also in Rich­tung der klassischen Struktur einer Barockoper mit ihrer Abfolge von Da-Capo-Arien und Rezitativen.

Zwei unvollständige Handschriften der Iphigenia in Aulis aus den Hofkapellen in Braunschweig-Wolfenbüttel und Sondershausen werden heute im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel5 und in der Stadtbibliothek Sondershausen aufbewahrt.6 In ihnen fehlt leider die Musik zu sämtlichen Rezitativen, den drei Chören, dem abschließenden Auftritt der Diana mit allen Beteiligten sowie dem Schlusschor. Deren Texte sind aber in den zeitgenössischen Drucken des Hambur­ger und des Braunschweiger Librettos (beide 1731) enthalten, von denen Exemplare in den Beständen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und des Landes­archivs Wolfenbüttel aufbewahrt werden. Darüber hinaus ist die Quellenlage insofern unübersichtlich, als dass sich manche Arien ausschließlich in einer der beiden Musik­quellen befinden und manche, obwohl sie zur selben Rolle gehören, verschiedenen Stimmfächern zugeordnet sind. Das letztere Rätsel kann eigent­lich nur darauf zurück­­­geführt werden, dass die bei den verschiedenen Auf­führungen für die Besetzung die­ser Rollen engagierten Sänger nicht der ursprüng­lichen Stimm­zuweisung entsprachen und man entweder die Arien transponierte oder neu komponierte. Abgesehen von diesen offenen Fragen ist eine Fülle an höchst inspirierender Musik vorhanden, darunter die Ouverture, sowie 35 Arien, und es wäre mehr als schade, dieses umfangreiche Werk weiterhin ungespielt in den Archiven liegen zu lassen.

Zu Grauns „Iphigenia“: Der SchauspielerLavigne, in der Rolle des Achilles / BDO

Mit Blick auf heutige Aufführungen stellt sich somit die Frage: Wie unvollständig ist Iphigenia in Aulis tatsächlich? Stellen wir dazu einen Vergleich an. Sowohl eine der bekanntesten Opern von Georg Friedrich Händel, die dreiaktige Giulio Cesare in Egitto als auch Grauns fünfaktige Oper Polydorus weisen 37 Musiknummern auf. Wir können daraus schließen, dass wohl nur sehr wenige Stücke der Iphigenia in Aulis fehlen. Dennoch benötigte die Oper für unsere Erst-Wiederaufführung einen Schlussgesang. Wir haben uns erlaubt, diesen aus Carl Heinrich Grauns Oper Caio fabricio (GraunWV B:I:14) von 1746 zu entlehnen. Deren Schlusschor „La gloria è un gran bene“ ließ sich problemlos der Text des Schlusschors aus Schürmanns Iphigenia-Libretto unterlegen. Die letzte Arie des Anaximenes (Altus), „Nach wilder Wellen brausen“, die überraschenderweise im Bassschlüssel notiert ist, wurde eine Oktave nach oben versetzt und damit dem Rest der Partie angeglichen. Die Rolle des Nestor, ein Freund Agamemnons und der­jenige, der die Schlüsselbotschaft über die Opferung der Iphigenia überbringt, behielt die Diversität der Stimmfächer: Nestor singt das Eröffnungsduett mit Agamemnon als Tenor, während seine spätere Arie „Wo ungerechte Götter thronen“ dem Bass zugeteilt ist und auf unserer Aufnahme von dem Bassisten Dominik Wörner vorgetragen wird.

Zu Grauns „Iphigenia“: Titelseite des Hamburger Librettos (Staats- und Universitatsbibliothek Hamburg, Signatur: 281 in MS 639/3:20)

Es ist erstaunlich, wie feinsinnig der 24-jährige Komponist die Charaktere seiner zwei­ten beziehungsweise dritten Oper gestaltet hat. Iphigenia ist unschuldig und unerfahren, und dennoch mutig und entschieden. In der Arie „Schönste Blumen, meine Wonne“ begießt sie mit ihren Tränen die Blumen. Graun verzichtet hier auf die tiefen Bassinstrumente und bringt so die Musik zum Schweben. Todesmutige Opferbereitschaft hingegen zeigt Iphigenia in der großangelegten und dennoch schlichten Arie mit Hörnern und Oboen d’amore „Lebe wohl, ich muss dich lassen“. Für die Rolle der Deidamia schrieb Graun ebenso viele Arien wie für die eigentliche Hauptpartie der Iphigenia. Er muss diesen Charakter sehr gemocht haben. Ihre Musik besticht durch eine berührende Ehrlichkeit der Gefühle. Ihre Enttäuschung in der Liebe zu Achilles hört man insbesondere in der Arie mit Oboen d’amore und ostinaten Violinen „Sollte Treu im Lieben sein“, während die Arie „Treuloses Herz, verkehrter Sinn“ ihrer Verzweiflung Ausdruck verleiht. König Agamemnon, Iphigenias von Zweifeln geplagter Vater, wird musikalisch in einem archaischen, an oratorische Musik gemahnenden Stil gezeichnet.

Die facet­ten­reiche und sehr anspruchsvolle Tenorpartie des Achilles komponierte Graun für sich selbst. In der Arie „Geliebte Seele, weine nicht“ zeugt sein Gesang im Dialog mit dem obligaten Cello, einem Instrument, dass Graun selbst gut beherrschte, nicht nur von Achilles‘ kriegerischen Zügen, sondern auch von seinen liebevollen Eigenschaften und von Momenten voller Mitgefühl. Diese Arie, im Grunde ein Duett zwischen Stimme und Violoncello, ist eine herausragende Komposition im Hinblick auf den Anspruch an die beiden Partner und die musikalische Qualität. Der skyti­sche König Thoas unter dem falschen Namen Anaximenes ist vielleicht die kontrast­reichste Partie der Oper, die dementsprechend besonderes farbig vertont ist. Die Affekte reichen von sehr verliebt in der Arie „Schönste Seele, deine Lippen“ über todessüchtig in den Arien „Augen, machet euch bereit“ und „Ach, Iphigenia“ bis hin zu aufbrausend in den spektakulären Koloraturen der schon erwähnten Arie „Der wilden Wellen brausen“. Iphige­nias Mutter Clytemnestra zeigt sich einerseits in ihren Pflichten gefangen, andererseits rebellisch gegen das Schicksal und die Götter. Besondere Beachtung verdient die Rolle des Thersites, Deidamias Diener. Er stellt eine volkstümliche, komische Person dar, die vor allem für die Hamburger Gänsemarkt-Oper typisch ist. Kommentierend greift er in stimmlich extrem hoher Lage in die ernste Handlung ein. Er lacht aus, pointiert und provoziert. Seine geschwätzigen Kommentare bilden einen Kontrast zur Innigkeit und Ehrlichkeit von Deidamias Gefühlen. Die Männersitten werden verspottet, „denn bei Jungen und bei Alten hat noch keiner Wort gehalten.“

Die Dirigentin und Prinzipalin Ira Hochman/ barockwerk hamburg

Sollte Grauns Iphigenia in Aulis eines Tages zu einer theatralischen Wieder­aufführung kommen, kann man unsere Entscheidungen über den Schluss der Oper sowie eine Lösung für die verlorengegangene Rezitativ-Vertonungen neu über­denken. Für eine weitergehende Vervollständigung der Oper könnte man zudem auf eine zusätzliche Quelle zurückgreifen. Graun schrieb 1748 in Berlin Ifigenia in Aulide (GraunWV B:I:18), eine italienische Oper mit dem Libretto von Leopoldo di Villati nach Jean Racines Iphigénie en Aulide (Paris 1674). Sowohl die Sprache als auch der spätere Kompositionsstil Grauns eig­nen sich nicht direkt für eine Entlehnung von Musik, dennoch könnte man sich für die fehlende Opferungsszene der Iphigenia auf jeden Fall an der Instrumentalmusik bedie­nen und die Ansprache der Göttin Diana mit dieser Musik unterlegen. Man könnte das Stück als Singspiel mit gesprochenen Rezitativtexten spielen oder die Rezitative neu vertonen lassen.

Wir haben uns für eine konzertante Aufführung mit modernen Zwischentexten entschieden. Wir wagen die Voraussage, dass diese Oper mit einigen Hilfsgriffen hervorragende Chancen auf ein erfolgreiches Bühnenleben haben wird. Dafür spricht Grauns Musik, die von so herausragender Qualität und melodischer Schönheit ist. Ira Hochman 

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Quellen:  1) Charles Burney, Tagebuch seiner musikalischen Reisen, aus dem Englischen übersetzt von Christoph Daniel Ebeling, Bd. 3, Hamburg 1773, S. 175.  2) Friedrich Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für musikalische Wissen­schaft, Bd. 1, 1863, S. 147–286.  3) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: 81 in MS 639/3: 5   4) Zitiert nach Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper (siehe oben).  5) Zeitgenössisches Manuskript, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, Signa­tur: 6 Hs 17 (Nr.11)  6) Handschriftlicher Stimmensatz, Stadtbibliothek Sondershausen, Signatur: Mus. A 1: 3.

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus Tiepolos Monumentralgemälde der „Ifigenia in Aulide“ in der Villa Valmerana bei Vicenza/ Wikipedia. Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Gelungene Inszenierung

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.Na, bitte, man kann als Regisseur eigene Ideen in eine Produktion einbringen, ohne ein Werk zu entstellen, eine Bühne kreieren, ohne in einem Waschsalon oder einer Autowerkstatt zu landen, Kostüme entwerfen, die nicht einer Kleiderkammer der Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts zu entstammen scheinen und sogar auf Fluchtkoffer gänzlich verzichten, und man hat etwas geschaffen, das gleichermaßen Libretto und Musik wie dem Streben nach etwas noch nie Dagewesenem entspricht. Das alles gelungen ist Regisseurin Monique Wagemakers, deren liebevolle Aufmerksamkeit einfühlsamer Personenregie am Gran Teatre del Liceu von Barcelona sichtbar den drei Hauptpersonen von Verdis Rigoletto galt, denen sie eine amorphe Masse von Höflingen gegenüber stellt, aus der sich weder ein Marullo noch ein Borsa herausheben kann. Sehr einfühlsam herausgearbeitet ist von der Regie das Verhältnis Rigoletto-Gilda als ein nicht nur fürsorgliches, sondern auch einengendes und bedrückendes. Das Schaffen einer atmosphärisch dichten Optik gelingt auch Bühnenbildner Michael Levine mit einer denkbar kargen, aber ihre Funktionen erfüllenden Bühne, mal ein Rechteck, in dem die Höflinge kaserniert sind oder das sie umringen, mal eine steile Treppe, auf der Gilda ihr Caro nome jubiliert, die aber auch Spelunke, Mincio-Ufer und Gewitterchor miteinander verbinden kann. Die Kostüme von Sandy Powell schließlich belassen das Stück in der Renaissance und ermöglichen so das Eintauchen in eine weitere, die historische Dimension. Dem Regieteam, das sich mit ebenso viel Respekt für die Tradition wie Aufgeschlossenheit für neue Ideen dem Stück genähert hat, steht mit Riccardo Frizza ein Dirigent gegenüber, der bestens vertraut ist mit dem Werk Verdis und der gemeinsam mit dem Orchester des Liceu großzügige Phrasierung und mitreißendes Brio miteinander vereinen kann. Das trifft auch auf den Herrenchor unter Conxita Garcia zu.

Hervorragend ist der Rigoletto von Carlos Alvarez, und es liegt sicherlich nicht nur daran, dass er Spanier ist, wenn ihm der meiste Beifall des Hauses zu Teil wird. Kraftvolles Aufbegehren, genüssliches Ausholen zu einem „Cortigiani, vil razza dannata“, natürlich eine mitreißende Vendetta in generöser Phrasierung und Fermatenseligkeit sind ihm eine unangestrengte Selbstverständlichkeit, dazu kommt ein so ausdrucksstarkes wie differenzierendes Spiel. Die der Partie des Duca angemessene voce brillante hat der Tenor Javier Camarena, ideal für „Quest‘ o quella“ und „La donna è mobile“, federnd für Rezitativ und Cabaletta seiner großen Arie, am ehesten in „Parmi veder le lacrime“ lyrisches Potential vemissen lassend. Seit vielen Jahren ist Désirée Rancatore eine geschätzte   Gilda, die optisch inzwischen etwas matronenhaft wirkt, deren Sopran aber höhensicher  geblieben ist und „Caro nome“ mit zusätzlichen Verzierungen singen kann, dessen Mittellage jedoch eher gewelkt als gereift ist. Mit schlankem, dunklem und durchschlagskräftigem Bass singt Ante Jerkunica einen vorzüglichen Sparafucile, Ketevan Kemoklidze  ist eine optisch wie akustisch verführerische Maddalena. Noch eindrucksvoller könnte man sich das Maledetto des Monterone von Gianfranco Montresor wünschen. Insgesamt ist dieser Rigoletto ein Gewinn auch für denjenigen, der bereits viele Aufnahmen des Werks besitzt (C-Major 763804). Ingrid Wanja 

Geschichtsstunde mit Raritäten

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Anders als in der Oper greifen Schauspielmusiken in aller Regel nicht in die Handlung und deren Entwicklung ein; sie bilden üblicherweise nur illustrierenden Hintergrund. Die Musik, die Gioachino Rossini 1817 zu der Tragödie Edipo a Colono (Ödipus auf Kolonos) von Sophokles komponierte, ist ein Unikat im gesamten Repertoire der italienischen Musik jener Zeit. Dort hielt man wenig von der Gattung der Schauspielmusik und zog die Verbindung von Musik und Drama, also die Oper vor. Rossini erhielt den Auftrag zur Komposition der Musik zur Sophokles-Tragödie nicht – wie man annehmen sollte – von einem Theater, sondern vom italienischen Dichter Giambattista Giusti (1758-1829), der das Drama ins Italienische übertragen hatte. In einem vorausgehenden Diskurs erläuterte Gusti sein Ziel, die schlichte Schönheit der Originalsprache Sophokles‘ wieder aufleben zu lassen, mit besonderem Augenmerk auf die in den griechischen Tragödien so wichtigen Chöre. Bei der Entstehung der Komposition für Solo-Bass und Männerchor, jeweils mit Orchester-Begleitung, gab es erhebliche Verzögerungen, weil Rossini hauptsächlich mit „Barbiere“ und „Cenerentola“ beschäftigt war. Ob und wann Rossinis Musiche di scena erstmals aufgeführt wurde, ist bis heute unklar geblieben. Die erste moderne Aufführung von seiner Musik zu Edipo a Colono fand 1982 beim Rossini Opera Festival in Pesaro statt. Da sie zusammen mit der gesamten Tragödie von Sophokles als Begleitmusik gespielt wurde, darf man annehmen, dass die damalige Aufführung nicht allzu weit von der Art und Weise entfernt war, wie es sich Giusti in den 1810er-Jahren vorgestellt hatte. (Vorstehende Informationen sind dem Beiheft entnommen, das einen ausführlichen, sehr informativen Aufsatz von Francesco Milella enthält.)

Die vorliegende CD ist ein Live-Mitschnitt der konzertanten Aufführung der mit knapp 45 Minuten  relativ kurzen Schauspielmusik beim Rossini Opera Festival 2022 in Pesaro. Der argentinische Opernsänger Nahuel Di Pierro deutet acht Rezitative und zwei Arien ausdrucksstark aus, indem er seinen markanten Bass abgerundet und sicher durch alle Lagen führt.  Mit ausgesprochen ausgewogenem Klang gefällt der von Mirca Rosciani einstudierte Herrenchor des Coro del Teatro della fortuna. Bass und Chor werden von der ausgezeichneten Filarmonica Gioachino Rossini begleitet; die souveräne Gesamtleitung hat Fabrizio Ruggero. Die Einspielung dieser Rarität ist eine gelungene Sammlungsergänzung für Rossinini-Freund (Audax ADX 11207).

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Unter dem Titel  Splendours of the Gonzaga hat Arcana jeweils kürzere geistliche Chorwerke herausgebracht, die führende Musiker am Hof der bis 1630 in Mantua herrschenden Gonzaga-Familie komponiert haben. Es sind dreizehn  Stücke von den Komponisten Amante Franzoni, Giovanni Giacomo Gastoldi, Claudio Monteverdi, Benedetto Pallavicino, Salomone Rossi und Giaches de Wert. Das 2014 im lombardischen Vimercate gegründete Ensemble Biscantores, hier bestehend aus zwanzig Sängerinnen und Sängern sowie drei Instrumentalisten (Viola da Gamba, Erzlute und Orgel) entwickelt unter der umsichtigen Leitung seines fachkundigen Gründers Luca Colombo typische Renaissance-Klänge. Dabei gefällt besonders, wie schlank und bestechend intonationsrein allen die Stimmführung gelingt, ohne wunderbar ausgewogene Klangentfaltung zu vernachlässigen (Arcana A545).

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Nicola Matteis der Jüngere – wer ist das? Nur ausgewiesenen Spezialisten dürfte dieser Violinist und Komponist aus dem frühen 18. Jahrhundert bekannt sein. Um ihn dreht sich die bei Signum aus Anlass der Krönung von George III. herausgekommene Doppel-CD unter dem Titel An Englisman abroad. Matteis wurde in London als Sohn eines italienischen Vaters (Nicola Matteis der Ältere) und einer englischen Mutter um 1677 geboren. Er erhielt Violin-Unterricht durch seinen Vater, ebenfalls Violinist und Komponist, und wurde im Stil Henry Purcells ausgebildet. 1700 verließ er England, um an den kaiserlichen Hof in Wien zu gehen. Dort wirkte er unter Johann Joseph Fux in der Wiener Hofmusikkapelle; ab 1712 war er Direttore della musica instrumentale und von 1714 bis zu seinem Tod 1737 Komponist der höfischen Ballettmusiken, die zumeist am Ende eines Aktes, in Opern von Conti, Ziani, Caldara, Bononcini, Fux und anderen eingesetzt wurden. Die Zusammenstellung der Stücke auf den CDs kann man als karolingisch bezeichnen, denn sie wurden für Charles II. von England oder für Kaiser Karl VI. geschrieben. Das bereits seit 1994 bestehende britische Barock-Ensemble Serenissima wird von seinem Gründer und Konzertmeister Adrian Chandler geleitet, der auch in den beiden Violinkonzerten, die die Doppel-CD enthält, die Sologeige übernommen hat. Zu hören sind von Nicola Matteis zwei Werke, das Violinkonzert B-Dur und die abschließende Ballettmusik zu der Oper La Verità nell’Ingano von Antonio Caldara, dessen Ouvertüre ebenfalls gespielt wird. Der gradlinige, sehr transparente Klang des renommierten Streichensembles mit seinen historischen und entsprechend nachgebauten Instrumenten gefällt gerade auch in diesen Stücken des Spätbarocks, wozu die blitzsaubere Strichführung des Sologeigers bestens passt. Mit derselben Intensität und stilgerechten Interpretation werden die übrigen Werke der Doppel-CD musiziert, das Violinkonzert  Il Favorito von Antonio Vivaldi, die Ouvertüren-Suiten von Georg Philipp Telemann und Giuseppe Antonio Brescianello, dessen Chaconne A-Dur die CD abschließt, während entsprechend der Ausbildung von Matteis eine Chaconne in g-Moll von Henry Purcell die Reihe der barocken Stücke eröffnet (signum CLASSICS SIGCD751).

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Das kanadische Label ANALEKTA hat unter dem Titel Clara, Robert, Johannes einen Zyklus von vier Doppel-CDs herausgebracht, die je zwei Sinfonien von Robert Schumann und Johannes Brahms mit Liedern und anderen Werken meist aus dem Bereich der Kammermusik von Clara Schumann verbinden. Die Doppel-CD mit beiden dritten  Sinfonien mit dem Untertitel Atmosphère e Maestra enthält von Clara drei aus ihren etwa 30 Liedern, Quatre pièces fugitives op.15, die g-Moll-Klaviersonate und das Klaviertrio op.17. Durch das in allen Gruppen gut disponierte Orchestre du Centre National des Arts du Canada (NCA) erfahren beide Sinfonien eine gediegene, klangschöne Wiedergabe, bei der jeweils die Neigung des souveränen Dirigenten Alexander Shelley zu eher getragenen Tempi deutlich wird.  Die kanadische Sängerin Adrianne Pieczonka interpretiert gemeinsam mit der unaufdringlichen Pianistin Liz Upchurch Am Strande, An einem lichten Morgen und Heinrich Heines Lorelei mit farbenreichem Sopran. Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero kostet die Melodiebögen und aufrauschenden Arpeggien in Clara Schumanns Klaviersonate g-Moll genüsslich aus, so dass ihr eine insgesamt überzeugende Ausdeutung gelingt. Die jeweils kurzen Quatre pièces fugitives op.15 interpretiert der aus Kanada stammende Pianist Stewart Goodyear entsprechend ihrem Titel mit der nötigen Leichtigkeit. Gemeinsam mit dem Konzertmeister des NCA Yosuke Kawasaki und der Solo-Cellistin des Orchesters Rachel Mercer musiziert er das mit seinen vier Sätzen vielseitige Klaviertrio op.17, das durch die schwungvolle Interpretation aller Sätze, besonders des schwelgerischen Andante und des spritzigen Scherzo durchweg positiven Eindruck hinterlässt  (Analekta AN 2 8882-3). Gerhard Eckels

Dicke Sauce Bourgignon

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Hulda, komponiert zwischen 1879 und 1885, wurde zu Lebzeiten von César Franck nie aufgeführt und wartete mehr als ein Jahrhundert, bevor es erstmals vollständig aufgeführt wurde. Inspiriert von einem norwegischen Theaterstück von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910), erzählt diese blutige mittelalterliche Legende von der mehrfachen Rache der Titelheldin gegen den Aslak-Clan, die Peiniger ihrer Familie, und dann gegen Eiolf, einen Abgesandten des norwegischen Königs, der sich als untreuer Liebhaber entpuppt. Obwohl die nordischen Bilder an die Wagnerschen Inszenierungen erinnern, bleibt der Komponist in der Tradition der französischen Grand Opéra und übernimmt die Sprache, die Verdi zu dieser Zeit verwendete. In Paris von der Opéra und der Opéra-Comique und in Brüssel vom Théâtre de la Monnaie abgelehnt, wurde diese ehrgeizige Oper zu einer großen Enttäuschung für einen Komponisten, der dazu verdammt war, nur im instrumentalen Bereich bewundert zu werden. Der Tod Francks weckte jedoch ein neues Interesse an seinen unveröffentlichten Werken, und das Theater von Monte Carlo plante die Premiere von Hulda im März 1894 mit Blanche Deschamps-Jéhin in der Titelrolle. Das Werk, das in einer gekürzten Fassung und in einer minimalistischen Inszenierung aufgeführt wurde, löste keine leidenschaftlichen Reaktionen aus. Die Franck-Schüler haben es daraufhin geschickt zu den Akten gelegt: Sie zogen es vor, ihn als Komponisten absoluter Musik in Erinnerung zu behalten, und machten sich den Ruhm zu eigen, die Wiederbelebung der französischen Oper zu verkörpern. Diese Fragen sind heute überholt, und uns bleibt Hulda: „eine hochfliegende Partitur, die vor Erfindungsreichtum nur so strotzt, mit einer ergreifenden suggestiven Kraft und einer lyrischen Qualität von höchstem Niveau“ (Joël-Marie Fauquet). Quelle Palazzetto Bruzane 

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Francks „Holda“: Jennifer Holloway (Hulda), Gergely Madaras (Dirigent) und das Orchestre Philharmonique Royal de Liège (in der Salle Philharmonique)/ Foto Anthony Dehez

Francks Hulda gibt es natürlich neben der alten korrupten italienischen Version der RAI bei einst Melodram – bereits als Mitschnitt vom Theater Freiburg bei Naxos (s. Rezension der Aufführung und der CD und sowie die Vergessene Oper in operalounge.de).

Die neue Aufnahme beim Palazzetto Bru Zan ist ab dem 22. Juni 2023 verfügbar und wird von Gergely Madaras mit dem  Orchestre Philharmonique Royal de Liège Chœur de Chambre de Namur dirigiert. Es singen  Jennifer Holloway, Véronique Gens, Judith van Wanroij Marie Gautrot, Ludivine Gombert, Edgaras Montvidas, Matthieu Lécroart, Christian Helmer, Artavazd Sargsyan, François Rougier, Sébastien Droy, Guilhem Worms und Matthieu Toulouse. Das CD-Buch enthält neben den 2 CDs und der Trackliste Aufsätze von Alexandre Dratwicki, Through the trapdoor of history; Gérard Condé, Modulez, modulez !; Alfred Bruneau, Hulda at the Théâtre de Monte-Carlo; Vincent Giroud, Nordic and Merovingian inspiration in late nineteenth-century French opera; Synopsis sowie das zweisprachige Libretto.

Die Musik zum Leuchten bringen

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In wenigen Jahren hat sich der Italiener Vincenzo Milletarì als einer der gefragtesten Dirigenten der jüngeren Generation etabliert. Erst etwas über 30 dirigiert er seit einigen Jahren besonders viel in Skandinavien, hat aber auch schon international große Erfolge feiern können. Etwa im Jahr 2020 bei seinem Debüt beim Macerata Opera Festival mit Il trovatore, damals als jüngster Dirigent in der Geschichte des Festivals. Oder letztes Jahr mit einer vielbeachteten Produktion von Donizettis Frühwerk L’aio nell’imbarazzo beim Festival Donizetti Opera und dieses Jahr bei seinem Frankreich-Debüt in Tours mit Donizettis Deux hommes et une femme. Nun gibt er in einer Operngala mit Carmela Remigio und Freddie De Tommaso sein Debüt beim Kissinger Sommer. Mit Beat Schmid hat er unter anderem über eben jenes Konzert gesprochen, über seine Zeit als Schüler Riccardo Mutis, seinen Werdegang.

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Ich bin in Süditalien geboren und aufgewachsen. Dort habe ich begonnen, Klarinette und Komposition zu studieren. Mit 18 Jahren zog ich zunächst nach Mailand und dann nach Deutschland, wo ich Dirigieren studierte. Abgeschlossen habe ich mein Studium dann in Kopenhagen an der Royal Academy of Music.

Vincenzo Milletarì/ Foto Marco Borelli

Wie ist es, bei einer lebenden Legende wie Riccardo Muti zu studieren? Ich war noch recht jung und ich wünschte, ich könnte jetzt, mit mehr Erfahrung nochmals sein Schüler sein. Natürlich war es atemberaubend. Sein Genie, seine handwerklichen Fähigkeiten als Musiker, sein Wissen als Interpret sind etwas Einzigartiges. Was er mir gelehrt hat, wird mir immer fest in Erinnerung bleiben. Ich schätze mich wirklich glücklich, diese Gelegenheit gehabt zu haben.

Haben Sie eine größere Affinität zur Instrumentalmusik oder zur Oper? Ich wuchs mit einer seltsamen Mischung aus Jazz und zeitgenössischer Musik post Darmstädter Schule auf und verliebte mich dann in die großen Meister des symphonischen Repertoires. Jetzt fühle ich mich im Orchestergraben eines Opernhauses sehr wohl, aber eine gute Woche mit Symphonien ist immer etwas Tolles.

Was sind die größten Herausforderungen beim Dirigieren von Symphonie- und Opernmusik? Auch wenn das eigenwillig klingen mag, besteht die größte Herausforderung darin, hinter der Musik zu verschwinden, die Musik und den Komponisten zum Leuchten zu bringen. Und wenn das passiert, man während des Konzerts spürt, wie das Orchester regelrecht fliegt ist das für mich das größte Glück.

Sie eröffnen den Kissinger Sommer mit einer italienischen Operngala. Wie wird das Programm aufgebaut sein? Das Programm wird eine Reise durch Werke der größten Komponisten des italienischen Repertoires sein, natürlich mit einer kleinen Ausnahme (Tschaikowski). Die erste Hälfte des Programms ist dem Belcanto und dem Verismo-Repertoire gewidmet und die zweite Hälfte Shakespeare und Italien. Deshalb werden wir Macbeth und Otello von Verdi spielen und die Stücke mit einer großartigen Ouvertüre von Tschaikowski über Romeo und Julia einleiten.

Haben Sie auch Oper in Deutschland dirigiert? Bisher nicht. Ich wurde in den letzten Jahren einige Male eingeladen, konnte aber aufgrund anderer Engagements nicht. Ich habe allerdings bereits ein Konzert in Nürnberg dirigiert, und nun bin ich in Bad Kissingen und freue mich auf das Konzert hier. Und ich denke, dass in Zukunft mehr in Deutschland kommen wird.

Vincenzo Milletarì/ Foto Marco Borelli

Sagen sie doch mal Sie Ihren(n) Lieblingsopernkomponist(en) und warum. Natürlich Verdi, der menschlichste aller italienischer Komponisten. Mit seiner Musik erzählte er ein ganzes Jahrhundert, von seinen sozialen, politischen und persönlichen Kämpfen. Wir verdanken Verdi die Vereinigung Italiens und einen großen Teil der Identität unseres Landes.

Sie haben sowohl Opera seria, als auch Opera buffa dirigiert: Was sind die Herausforderungen beider Genres und haben Sie eine Vorliebe? Die opera buffa ist meiner Meinung nach viel schwieriger als die opera seria. Die buffa erfordert viel Arbeit und Vorbereitungen während der szenischen Proben mit dem Regisseur, um das richtige Timing zwischen Schauspiel und Musik zu finden, ganz zu schweigen davon, wie heikel die Arbeit an den Rezitativen ist. Opera seria, insbesondere im romantischen Repertoire, ist näher an der symphonischen Musik. Das Orchester erzählt gemeinsam mit der Bühne eine Geschichte, die Farben sind reicher und kräftiger

Und zum Schluss Ihre anstehenden Engagements? Abgesehen von der Operngala in Bad Kissingen dirigiere ich im Sommer meine erste Tosca in Aarhus. Nächste Spielzeit kommt dann La Cenerentola in Oslo, Suor Angelica in Mailand, Rigoletto in Prag, eine Neuproduktion des Barbiere di Siviglia in Stockholm und Konzerte mit dem Bergen Philharmonic Orchestra.  Das Interview führte Beat Schmid (Foto oben: Marco Borelli)

Und noch eine …

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Noch einmal, ehe Corona über das Kulturleben auch Italiens hereinbrach, hatte zu Sant‘ Ambrogio 2019 die traditionelle Inaugurazione der Opernsaison halb Milano auf die Beine gebracht, die einen, um Juwelen und Pelze auszuführen, die anderen, um gegen Tierquälerei zu demonstrieren. Der Staatspräsident hatte in der Mittelloge Platz genommen, die Nationalhymne wurde beklatscht, aber nicht gesungen, und zum allerersten Mal, man glaubt es kaum, war Puccinis Tosca an einem 8. Dezember in der Scala zu erleben. Wie inszeniert man eine Tosca zu einem so besonderen Ereignis an diesem besonderen Ort? German Trash will man sich nicht vorwerfen lassen, aber auch nicht als verstaubt und altmodisch gelten. So entschieden sich David Livermore (Regie) und Giò Forma (Bühne) für auf und niederfahrende Säulen, Statuen und Gemälde für den ersten Akt, zu einer Art tanzender Architektur, durch die nicht nur das bekannte Personal sich seinen Weg suchen musste, sondern auch viele Nonnen, die dann im zweiten Akt auch Scarpias Gemach bevölkerten, dazu noch das Personal riesiger Gemälde mit Szenen aus Heiligenlegenden, deren Figuren ab und zu zum Leben zu erwachen schienen, ohne aber in das Geschehen einzugreifen. Für den dritten Akt dann hatte das Regieteam sich etwas ganz Besonderes neben einem sich drehenden Engelsflügel ausgedacht: Tosca springt, und ein Double sinkt und schreit (stumm) und steigt schließlich, umgeben von einer Gloriole, empor in den Himmel, wo hoffentlich nicht Scarpia bereits auf seine Aburteilung wartet. Für Mitteleuropäer mag das schrecklicher Kitsch sein, für das Publikum in der Scala, dem Applaus nach zu urteilen: Bellissimo.

In diesem Ambiente tummelt sich das Personal in Kostümen der Entstehungszeit des Werkes, symbolträchtig könnte es sein, dass Toscas Gewand (Kostüme Gianluca Falaschi) im zweiten und dritten Akt bis zu den Knien blutrot ist, als wate sie durch dasselbe, während Scarpias und  seiner Schergen Kostüme mit roten Flecken übersät sind. Viel wird auch mit Farbwechseln gearbeitet, so überzieht Schwarz das Gemälde der Attavanti, werden die Heiligen blass, wenn es unter ihnen zu heftig , der Folterkeller für kurze Zeit sichtbar wird. Trotz des eine ganz andere Stimmung vermittelnden Vorspiels zum dritten Akt ziehen pausenlos schwarze Gewitterwolken dräuend über die Engelsburg hinweg. Es gibt also sehr viel zu sehen, von Personenregie ist weniger zu bemerken.

Sind die Augen ob all der Pracht, der aufdringlichen Symbolik, der Massen von Personal oft irritiert, so genießen die Ohren ein wahres Fest, angefangen vom Orchester unter Riccardo Chailly, das ein wunderbares Vorspiel zum dritten Akt zaubert, auch im Fortissimo stets klar konturiert bleibt, die Musik blühen und leuchten lässt. Machtvoll und doch gebändigt singt der Chor das Te Deum.

An einigen Stellen horcht man auf, weil Ungewohnte erklingt, so nach „Ma fa gli occhi neri“, nach dem „Vissi d’arte“ und ganz zum Schluss. Chailly hatte die Urfassung, so wie Tosca 1900 in Rom uraufgeführt wurde, gewählt, und wieder einmal wurde der Beweis erbracht, dass Komponisten nicht ohne Bedacht Änderungen an ihren Partituren vorgenommen haben.

Fast ohne Fehl und Tadel sind die Sänger. Alfonso Antoniozzi ist ein eher würdiger als lächerlicher Sagrestano, Carlo Bosi ein besonders fieser Spoletta mit krähendem Charaktertenor, Carlo Cigni ein sonorer Angelotti.

Einen prachtvollen, urgesunden Bariton setzt Luca Salsi für den sardonisch grinsenden Scarpia ein, wie alle anderen ist er beispielhaft textverständlich. Genau auf der für die Partie angemessenen Grenze zwischen lyrischem und Spintotenor ist Francesco Meli als Cavaradossi mit strahlenden Acuti, triumphalem „Vittoria“ und hochkultiviertem „E lucevan le stelle“. Dazu sieht er noch gut aus wie der junge Puccini. Ein Jahr nach ihrem Rollendebüt an der MET ist Anna Netrebko in der Partie der Tosca wahrlich angekommen mit dunkel getöntem, in allen Lagen gleich gut ansprechendem, ebenmäßig gefärbtem Sopran der leuchtenden Höhen und präsenten tiefen Lage. Da gibt es nichts auszusetzen, wenn man in Tosca mehr die leidenschaftliche Frau aus dem Volk als die raffinierte Sängerin sieht, der man es abnimmt, dass sie sich nicht mit Messerstichen begnügt, sondern Scarpia mit gekonntem Würgegriff den Rest gibt (C-Major 76340). Ingrid Wanja           

Ungetrübtes Vergnügen

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Wer denkt nicht sofort an das Ältere-Damen-Ballett, dem es wegen des Tragens von Sombreros verwehrt wurde, auf einer Gartenschau aufzutreten, weil es sich damit des Delikts „kulturelle Aneignung“ schuldig gemacht hatte, wenn er das Cover zu Jacques Offenbachs La Périchole sieht?  Da prangt mitten in Peru auf dem Haupt einer Spanierin ein üppiger Kopfschmuck, der zweifellos dem der indianischen Ureinwohner zuzuordnen ist. Auch sonst geht es munter durcheinander mit indianischem und spanischem Brauchtum, und wenn am Schluss, bei einem Offenbach-Werk fast unverzichtbar, alle Cancan tanzen, dann wirbeln alle vergnügt durcheinander, als wenn es weder Standes-, Ethnien- oder sonst welche Grenzen zwischen den Menschen gebe.

Nun ja, wir sind nicht im ideologieverbiesterten Deutschland, sondern in Paris, wo man an der Opéra Comique in schöner Unbefangenheit einfach nur gut unterhalten will, was auch gelingt, schon allein, weil alle Mitwirkenden sicht- und hörbar mit Freude und Engagement bei der Sache sind. Audrey Vuong hat naiv-sparsame Kulissen in hellen, bunten Farben auf die Bühne stellen lassen, Vanessa Sannino mild bis drastische karikierende Kostüme entworfen, je nach Stand und Vermögen, so den Vizekönig Andrés de Ribeira recht albern erscheinen lassend, den armen alten Gefangenen in der Nachfolge des Grafen von Monte Christo trotz ellenlangen Weihnachtsmannsbartes doch noch ziemlich würdig. Es geht um das Straßensängerpaar Périchole und Piquillo, natürlich arm, aber schön, in dessen weiblichen Teil sich der Vizekönig von Peru verliebt, was gewinnbringend, aber nicht ungefährlich ist. Am Ende und nachdem sich die Granden des Hofes lächerlich gemacht haben, siegt beim König die Großmut, ganz allgemein und in verschiedenen Formen die Liebe, nur der arme Alte muss wieder ins Gefängnis, weil er sich an seine Straftat nicht mehr erinnern, er  deswegen auch nicht begnadigt werden kann.

Das alles läuft ungeheuer zügig, aber nicht überhastet, urkomisch, aber nicht diffamierend, freizügig, aber nicht obszön ab, und der Zuschauer wird in eine fast so gute Laune versetzt, wie sie auf der Bühne zu herrschen scheint. Tiere auf derselben sind immer ein Risiko, die aus Stoff, so von freundlichen Lamas, französischen Bulldoggen oder die Hinterteile von Pferden, aus denen deren Äpfel fallen, ganz und gar nicht, sondern eine fröhliche Bereicherung des Geschehens. Und „gespielt“ wird auch noch nach dem Verklingen der letzten Note, wenn er Solobeifall sehr individuell entgegen genommen wird.

Stéphanie D’Oustrac spiet die Titelfigur mit viel Charme und einer farbig-weichen Mezzostimme, akustisch wie optisch elegant, köstlich in der Arie einer Beschwipsten und von schöner Melancholie, wenn es einmal schief geht mit den intriganten Plänen. Ihr Partner ist Philippe Talbot mit strapazierfähigem Tenor, optisch ein Sancho-Pansa-Typ, vokal weit edler. Mit schütterer Stimme gibt Tassis Christoyannis den Vizekönig sympathisch vertrottelt, Éric Huchet und Lionel Peintre als Kanzler und Gouverneur stehen ihm in nichts nach. Von tragischer Komik ist Thomas Morris als alter Gefangener, schöne Stimmen haben die drei Kusinen Julie Goussot, Marie Lenormand und Julia Wischnewski als Cousinen bzw. Hofdamen. Der Choir Les eléments unter Martin Surot ist so spritzig-witzig wie das Orchester unter Julien Leroy. Wer unbeschwert genießen will, ziehe sich diese sehr französische, aber weder spanische noch peruanische, Aufnahme zu Gemüte (Naxos NBDo168V). Ingrid Wanja

Verzauberung auf Französisch

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Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.

Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

Max von Schillings  „Pfeifertag“

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Und noch eine Oper aus der Schatzkiste Ingolf Huhns, bis 2021 Intendant am Ernst-von Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz und nun neuer Künstlerischer Leiter des Festivals Greizer Theaterherbst, ehemaliger Theaterleiter in Döbeln, Plauen Freiberg und anderen Häusern Mitteldeutschlands. Wir haben ja Ingolf Huhn genügend dicke Kränze bei operalounge.de gewunden um ihn noch näher vorzustellen zu müssen. In den Achtzigern bin ich ihm buchstäblich nachgereist, um diese vergessenen Trouvallien aus der Opernliteratur der Jahrhundertwende kennenzurlernen. Klar, es waren nicht Gala-Aufführungen in Paris oder London, aber es waren eben solche, in denen ein hochengagiertes Ensemble diese Werke mit Gewinn zum Leben erweckte. Und Huhns konservative Optik half diesen sehr zeitverhafteten Opern mehr als die meisten heutigen Vergewaltigungen, die die Handlung bis zur Unkenntlichkeit zurücktreten lassen. Mit Ingolf Huhn stieg – angesichts der oft langweiligen und vorhersehbaren Spielpläne der großen Bühnen – meine Hochachtung vor der „Provinz“ wieder einmal.

Zu Max von Schillings „Pfeifertag“/ Porträt des Komponisten/ Wikipedia

In Plauen also gab es 2006 den Pfeifertag von Max von Schillings, und auch da lohnte sich die Reise in die ehemalige Stadt der Spitzenindustrie mit ihren eindrucksvollen wilhelminischen Bürgerhäusern und dem hübschen kleinem Stadtkern. Nachstehendes nun zum Komponisten und zum Werk, leider gibt’s – außer bei Sammlern – kein Ton-Dokument dazu… 1907 nahm Schillings das Hexenlied und das Vorspiel zum III. Akt auf Rollen für das Reproduktionsklavier Welte-Mignon auf, inzwischen auf CD zum Leben erweckt. Das Vorspiel wurde sogar 1903 bei der BBC aufgenommen. Auch der „Trauermarsch“ aus dem 3. Akt erfreute sich vor dem Krieg längerer Zeit als Konzertstück Beliebtheit. G. H.

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Annelen Hasselwarder schreibt im Programmheft zur Aufführung in Plauen: Max Schillings wurde am 19. April 1868 in Düren in der Eifel geboren. Er stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus und wuchs auf einem hochherrschaftlichen Gutshof auf. Sein Vater Carl Schillings, Landwirt und Jager, war ein eher pragmatisch veranlagter, unmusikalischer Mensch; seine Mutter Johanna dagegen, stolz darauf, eine geborene Brentano zu sein, war feinsinnig und sehr gebildet. Sie erkannte die hohe musikalische Begabung ihres zweiten Sohnes und förderte sie. So erhielt Max Schillings sehr früh Violinunterricht. Das Klavierspielen brachte er sich selbst bei.

Zu Schillings „Pfeifertag“: Hermann Zumpe war der Dirigent in der Schweriner Uraufführung/ Wikipedia

Mit zwölf Jahren absolvierte Max Schillings seinen ersten Konzertauftritt, mit dreizehn vollendete er eine erste Komposition für Violine und Klavier. Der Besuch einer Parsifal-Vorstellung in Bayreuth ließ den Vierzehnjährigen zu einem glühenden Verehrer Richard Wagners werden. 1889 ging Max Schillings nach München, um auf den dringenden Wunsch seines Vaters Jura zu studieren. Doch bereits ein Jahr später gab er dieses Studium auf und versuchte, sich in München als Komponist zu etablieren. Er gehörte zum Kreis der jungen Münchner Modernen um den Doyen des Münchner Musiklebens, Alexander Ritter, in dem er außer Ludwig Thuille und Richard Strauss auch Ferdinand Graf Sporck kennenlernen sollte, den Librettisten sei­ner beiden ersten Opern Ingwelde und Der Pfeifertag.

Zu Max von Schilligs „Pfeifertag“/ Ferdinand Graf von Sporck, der Librettist/ Walchensee Museum

Sporck stammte aus Böhmen, war Schriftsteller und Librettist und war wie Schillings Wagnerianer. Schon als Schüler hatte er den Fliegenden Holländer ins Tschechische übersetzt. Mit Richard Strauss verband Max Schillings bald eine lebenslange Freundschaft. 1891 wurde der junge aufstrebende Musiker Assistent in Bayreuth. Wahrend dieser acht Monate lernte er zum Beispiel den Dirigenten und Komponisten Felix Mottl kennen, traf Engelbert Humperdinck wieder, den er schon aus der Gymnasialzeit kannte, spielte abends mit Cosima Wagner vierhändig Klavier, dirigierte die Waldhörner im Tannhäuser und durfte zusammen mit Humperdinck die Parsifal-Glocken schlagen. Im selben Jahr heiratete Schillings seine Cousine Caroline Peill und siedelte mit ihr zusammen endgültig nach München über. 1894 wurde Schillings‘ erste Oper Ingwelde in Karlsruhe uraufgeführt. Der Erfolg war derart groß, dass Max Schil­lings praktisch über Nacht mit 26 Jahren ein bekannter Komponist war.

Fünf Jahre danach folgte mit den Pfeifertag die zweite aufsehenerregende Uraufführung. Das Melodram Das Hexenlied aus dem Jahr 1902 steigerte Schillings‘ Bekanntheitsgrad noch weiter. 1906 wurde die Oper Moloch nach einem Dramenfragment von Christian Friedrich Hebbel in Dresden uraufgeführt.

1907 war ein Eintrag über Schillings in Meyers Konversationslexikon zu finden. Dort stand zu lesen, dass er „zu den besten Vertretern der Wagnerschen Schule“ gehöre. Im selben Jahr ging er als Kapellmeister an die Hofoper in Stuttgart. Ein Jahr später wurde er dort Generalmusikdirektor. Er blieb bis zum Ende des 1. Weltkrieges. 1912 wurde er in den Adelsstand erhoben.

Im Jahr 1915 wurde in Stuttgart von Schillings‘ viertes Opernwerk Mona Lisa uraufgeführt. Die Titelpartie sang die Sopranistin Bar­bara Kemp, die sieben Jahre später Max von Schillings‘ zweite Ehefrau wurde.

Zu Max von Schilligs „Pfeifertag“/ Szene Aufführung Plauen/ Huhn

Den Hohepunkt seiner Karriere bedeutete fur Max von Schillings die Intendanz der Preussischen Staatsoper Unter den Linden, die im Jahr 1919 begann. Seine an sich sehr erfolgreiche Direktion wurde jäh beendet, als er 1925 nach heftigen Querelen mit dem Kultusministerium iiber Etat- und Gagenfragen fristlos entlassen wurde. Der Skandal war so heftig, daft „der Fall Schillings“ sogar im Preussischen Landtag verhandelt wurde. Resigniert zog sich von Schillings zurück und horte auf zu komponieren. Erst 1932 kehrte er ins öffentliche Leben zuriick, als er zum Prasidenten der Preussischen Akademie der Künste gewählt wurde. Nach der “Machtergreifung” Hitlers im Jahr 1933 versuchten die Nationalsozialisten, Max von Schillings fur sich zu vereinnahmen. Im selben Jahr berief ihn die Stadt Berlin zum Intendanten der Städtischen Oper Charlottenburg. Wenige Monate danach, am 24. Juli 1933, starb Max von Schillings unerwartet an einer Lungenembolie nach einer Operation. Sein Tod löste Bestürzung in der deutschen Musikwelt aus.  

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Zu Schillings „Pfeifertag“: Marie Gutheil-Schoder sang die Alheit in der Uraufführung/ Wikipedia

Bereits während der Arbeit an Ingwelde, Schillings‘ erstem grossem Opernerfolg, machte ihn sein Librettist Ferdinand Graf Sporck im Mai 1893 auf den Stoff des „Pfeifertages“ aufmerksam. Sporck hatte die Legende vom Pfeiferkönig von Rappoltstein, die ihm für eine heitere Oper brauchbar erschien, in den elsässischen Sagenbüchern von Wilhelm Hertz entdeckt. Schillings war zunächst begeistert: „Ich darf aufrichtig sagen, dass ich fast eine schlaflose Nacht hatte vor Riesenfreude über den einzig herrlichen Pfeiferkonig.“ So schrieb er in einem Brief an Sporck. Zwei Jahre später begann Schillings im Mai 1895, sich genauer mit Sporcks Libretto zu befassen. Dabei verflog seine anfängliche Begeisterung offenbar schnell: „Ich muss mir nun das ganze Werk bis ins einzelne auf die musikalische Oekonomie hin zerlegen und zergliedern, und dann wird ein ausführlicher und offenherziger Wunschzettel an Dich abgehen für den ich täglich Notizen sammle.” schrieb er an Sporck im Juni 1899. über drei Jahre, bis zum Sommer 1899, dauerte die Arbeit an der Komposition. Dabei musste das Libretto auf Schillings‘ Wunsch immer wieder verändert werden. “Am 22. August habe ich den letzten Doppelstrich in der Partitur gemacht und dreimal laut Amen gerufen.“, meldete der Komponist seinem Librettisten in einem Brief.

Der Pfeifertag war die letzte Arbeit von Schil­lings und Sporck. Die Uraufführung fand am 26. November 1899, also wenige Monate nach der Fertigstellung, am Hoftheater Schwerin statt. Es dirigierte Hermann Zumpe, dem das Werk auch gewidmet ist. Regie fuhrte der mit Schillings befreundete Sanger und Regisseur Hermann Gura. Schillings‘ Musik wurde begeistert aufgenommen. Das Libretto allerdings wurde oft kritisiert. Richard Strauss zum Beispiel schrieb an Schillings: „Deine Musik ist famos: wollte Gott, ich konnte von Herzen dasselbe von den Sporckschen Versen sagen.“ 1930 erarbeitete Max von Schillings für eine Inszenierung an der Ber­liner Staatsoper unter dem Dirigat von Erich Kleiber eine Neufassung des Pfeifertages, in der er kleinere Veränderungen vor allem im 3. Aufzug vornahm. Annelen Hasselwander

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Zu Schillings „Pfeifertag“:Karl Zeller (hier als Tannhäuser) sang den Velten 1899 in Weimar/ Wikipedia

Dazu auch Christian Detig ebenfalls im Programmheft: Musikalisch erschienen die Anklänge an das Vorbild Richard Wagners nicht ganz so offenkundig. Durch den Rückgriff auf mittelalterliche Melodien zum Beispiel versuchte Schillings eine eigene Farbe für das Stuck zu finden. Die zeitgenössischen Kritiker machten denn auch zum erstenmal einen spezifischen Schillings-Ton aus. In der „Berliner Börsen-Zeitung“ heißt es: „Diese Musik hat, wenn nicht ihren eigenen Stil, so doch ihre besondere Physiognomie. Der Wagnersche Stil ist darin nicht einfach kopiert, sondern in eigener origineller Weise fortgebildet, in einer Weise, die überall eine ausgesprochene Individua­list erkennen lässt.“ Zum erstenmal begegnet uns anlässlich der Berliner Erstaufführung auch jenes Etikett, das in Urteilen über Schillings‘ Kompositionen zur feststehenden Redewendung werden wird: Die „Vossische Zeitung“ spricht von einem überaus „vornehmen Werk“. Die Vorschusslorbeeren anlässlich der Ingwelde hatten sich bestätigt. Mit dem Pfeifertag gehörte Schillings nun endgültig in die erste Reihe der fortschrittlichen Komponisten. Mit nur zwei Opern und zwei größeren symphonischen Werken hatte Schillings in wenigen Jahren eine rasante Karriere gemacht. In einem Atemzug wurde er nun mit Strauss und Pfitzner genannt, der den Pfeifertag überschwenglich begrüßte als „eines der seltenen Werke, die in ihrer zeitlichen Folge jenes Ewige darstellen, was man schlecht und ungenau etwa den deutschen Geist nennen konnte.“ Und Engelbert Humperdinck flachste ironisch, dass ihn nach dem Pfeifertag nun der Ehrgeiz plage, ein zweiter Schillings zu werden.“

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Zu Schillings „Pfeifertag“: Karl Erb (hier als Don Manuel de Guzman von Walter Braunfels, 1907 in Ravensburg) sang den Velten in Stuttgart/ Historicaltenors

Zum Inhalt – Wilhelm Hertz im Spielmannsbuch: Es war eine eigenthümliche Einrichtung des Mittelalters, dass einzelne vornehme Herren mit der Schutz- und Gerichtsherrschaft über gewisse Gewerbe belehnt waren. So standen die elsässischen Spielleute nach altem Rechte unter dem Herrn von Rappoltstein. Dieser als der oberste Pfeiferkönig (auch die Vorstände der Spielmannsinnungen freuten sich des stolzen Konigstitels) wählte einen Stellvertreter aus der Zahl der Spielleute, dem er zugleich den Königstitel übertrug. Alle Jahre, am Dienstag nach Maria Geburt, fand zu Rappoltsweiler der Pfeifertag statt. Da zogen der Pfeiferkönig und hinter ihm her in langer Reihe die Mitglieder der Bruderschaft zur Kirche unserer lieben Frau von Dusenbach, wo das wunderthatige Gnadenbild der vielgepriesenen Schutzpatronin der fahrenden Leute sich befand. Nach der Messe wandte sich der Zug zum herrschaftlichen Schlosse, wo dem Schutzherrn mit einem Konzert gehuldigt wurde, wofür die Schlossbeamten trefflichen Wein spendeten. Dann ging es ins Gasthaus zur Sonne. Hier wurde das Gericht gehalten, Streitigkeiten geschlichtet und die Angelegenheiten der Bruderschaft besprochen. Der letzte Pfeifertag wurde gefeiert im Jahre 1789. In den Stürmen der Revolution ging auch dieser Rest fröhlichen Mittelalters in Trümmer. Der letzte, oberste Pfeiferkönig war Maximilian Joseph von Pfalz-Zweibrücken, der spätere König von Bayern.

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Vorgeschichte:   Rappoltsweiler im 15. Jahrhundert. Die Grafen von Rappoltstein sind als Obrigkeit und Schutzherren für alle fahrenden Spielleute im Elsass eingesetzt, und Schmasmann von Rappoltstein nimmt sich dieser Aufgabe auch gem und engagiert an. Was ihm Kummer bereitet, ist, daft sein Sohn Ruhmland so sehr von der Kraft der Musik ergriffen worden ist, dass er nicht nur der Beschützer der Musiker, sondern selber fahrender Spielmann sein wollte. Im Zorn hat er ihn deshalb vor Jahren verbannt; seine Tochter Herzland hingegen liebt heimlich Velten Stacher, einen jungen, aufrührerischen Spielmann, der aus der Fremde ins Elsass gekommen ist und hier gegen die hergebrachten Regeln im Pfeiferwesen kämpft. Jedes Jahr Anfang September versammeln sich die fahrenden Musiker in Rappoltsweiler zum Pfeifertag, wo die Verbandsgeschäfte besprochen werden, eine gemeinsame Prozession zur Marienkapelle im nahegelegenen Dusenbachtal unternommen wird und wo der Lehnsherr Gericht hält.

Grabplatte für Max von Schillings in der 1828 erbauten klassizistischen Gruftenhalle in Form einer Galerie auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main /Foto Georg Hart

Erster Aufzug: Der Pfeifertag beginnt wie jedes Jahr vor Sonnenaufgang mit dem Vortrag der Einsetzungslegende. Wahrend die Pfeifer dann zur Kapelle Unserer Lieben Frau von Dusenbach ziehen, bleibt der Pfeiferrat – vier gewählte Vorstände mit dem Unterpfeiferkönig Jockel an der Spitze – zurück und bespricht die Chancen, auch in diesem Jahr wiedergewählt zu werden. Sie befürchten Konkurrenz von den jungen Pfeifern, die hier jetzt offenbar nach der Macht streben: Velten Stacher mit seiner Agitation gegen den Pfeiferzoll, eine kleine Abgabe, die jeder Musiker einmal im Jahr zu entrichten hat, und ein allen bisher unbekannter junger Spielmann mit Namen Rasbert.

Der Pfeiferrat läuft der Prozession nach und der Lehnsherr, Graf Rappolt­stein, inspiziert mit seiner Tochter die Vorbereitungen zum Festtag. Sein Behagen über das schon Geglückte seiner Bemühungen der letzten Jahre für die Stellung und Lebensumstände der Musiker währt nicht lange; Herzland erklart ihm, daft sie Velten heiraten wolle oder in den Tod gehen. Nachdem der Vater wütend gegangen ist, zaubert Herzlands Freundin Alheit Velten und den Bruder Ruhmland aus einem Versteck im Graben hervor, und die Paare liegen sich in den Armen, denn auch Ruhmland und Alheit gehören zusammen. Gemeinsam entsteht der Plan, die Einwilligung des Vaters zur Verbindung von Herzland und Velten dadurch zu erreichen, dass Veltens Tod vorgetäuscht werden und in der Trauer und den lobenden Nachreden der Vater für ihn eingenommen werden solle. Rappoltstein, der jetzt auf die jungen Leute trifft, befragt Velten, ob er endlich seine Meinung zum Pfeiferzoll geändert habe, aber Velten versucht ihm in einem Liede klarzumachen, daft von alters her die Sänger immer ganz nah bei den Fürsten gewesen und eigentlich ihnen ebenbürtig seien.

Zu Schillings „Pfeifertag“/ Programmzettel Weimar 1900/ Wikipedia

Die Pfeifer kehren von der Prozession zuriick und die große Versammlung beginnt mit einer Huldigung. Rasbert, der unbekannte junge Mann, in dem Rappoltstein den eigenen Sohn noch nicht erkennt, singt ein Lied von der Macht der Musik, ein Lied von der Rabenschlacht mit Dietrich von Bern, bei der Rappoltsteins Vorfahr nur durch seine Pfeifer gewonnen habe. Er endet aber seinen Gesang mit einer Klage, dass der Stamm dieses Geschlechts nun aussterben werde, da der einzige männliche Erbe ja verbannt und in der Fremde sei.

Um Rappoltsteins nahenden Unmut zu vertreiben, wird Velten aufgefordert, rasch weiterzusingen, und er singt nun ein Paradieslied, ein Lied von Adam und Eva als Musikanten, die aus dem Garten Eden vertrieben worden seien, weil sie zu klein musiziert hatten. Und in einer ebenso kühnen Wendung schließt er, dass dadurch der Spielmann dem Edelmann, dem Fürsten, jedem Edelmann verwandt sei. Das verärgert Rappoltstein nun vollends; er geht wütend fort, und der Beginn des Pfeifertages endet im Eklat.

Zweiter Aufzug: Velten sinniert in einem großen Monolog über das unstete, dornenreiche Schicksal der fahrenden Spielleute und schläft dabei ein. Die anderen drei jungen Leute finden ihn; unter den Planungen für den vorzutäuschenden Tod werden sie vom Vater überrascht, der seine Tochter zur Rede stellen will und sich im Zorn zu der Versicherung hinreißen lafk, notfalls würde er Herzland mit Velten auch im Tode verheiraten. Das lässt sich Alheit schnell durch einen Handschlag bestätigen.

Die Gerichtsversammlung beginnt und der Unterpfeiferkönig Jockel berichtet über die Lage der Musiker im Land, auch über das Eindringen neuer, fremder Weisen, an denen alle viel Freude hatten. Das provoziert Ruhmland, der noch immer unerkannt ist und für alle Rasbert heißt, zu einer scharfen Erwiderung, in der er auf sehr abweisende Art vor fremden Schmarotzern und Kletten im heimischen Pfeiferwald warnt und beklagt, daft man der eigenen Spielleute Scherz und Schmerz am liebsten das Herz versage und statt dessen den Fremden sich zum Wirte wähle. Und mit den Worten „0 raubt uns nicht die starke Macht, den Glauben an das, was wir selbst erdacht!“ und „Verstoßt nicht länger Eure Söhne, lasst künden Euch in reiner Schöne aus ihres Herzens Überschwang, was tief in ihrer Seele klang!“ singt er ein Triumphlied auf „Spielmannswonne, Spielmannsnot, zeugungsgewaltiges, wundergestaltiges Machtgebot“. Damit sind die Kampfpositionen klar. Velten aber greift jetzt zu unredlichen Mitteln und denunziert Jockel, er habe Geld aus der Kasse der Pfeifer unterschlagen. In den wütenden Protest Jockels und die beginnende Prügelei hinein bricht ein gewaltiges Unwetter, das das ganze Wirtshaus anzuzünden und fortzuschwemmen droht. Als es kaum noch keinen Ausweg zu geben scheint, beschwören alle Velten, ihnen einen Weg aus dem Haus heraus zu bahnen; Velten steigt aus dem Fenster und ein direkt dabei einschlagender Blitz scheint ihn erschlagen zu haben.

Intendant und Musikarchäologe Ingolf Huhn/Foto Hihn/EVWT

Dritter Aufzug: In die Trauerzeremonie für Velten hinein tritt Herzland als Braut. Sie zwingt den Vater, sein Wort zu halten und sie mit dem Toten zu vermählen. Tatsächlich werden nun ruhmvolle Nachreden auf Velten gehalten, und selbst Jockel kann nur Gutes von ihm berichten. Als Rappoltstein, ratlos, den toten Bräutigam fragen muss, ob er Herzland zur Frau wolle, springt Velten quicklebendig auf und sagt Ja. Zwischen Entsetzen, Staunen und Freude muss Rappoltstein erkennen, daft er besiegt worden ist und er nun nur noch den Wunsch hat, den verlorenen Sohn wiederzufinden. Diesen Wunsch kann ihm Rasbert erfüllen: Er geht Verzeihung erbittend auf die Knie; und mit den Worten „ Vater, hier bin ich“ nimmt er seinen falschen Bart ab und ist wieder zu Hause. Rappoltstein, am Ende, befreit die fahrenden Musiker vom Pfeiferzoll, aber das ist schon nicht mehr so wichtig. Annelen Hasselwander

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Theater Plauen-Zwickau (2. 6. 2006) Der Pfeifertag; Ein Spielmannsscherz in drei Aufzügen; Dichtung von Ferdinand Graf Sporck Musik von Max von Schillings; Opernchor des Theaters Plauen-Zwickau; Es spielt das Philharmonische Orchester Plauen-Zwickau; Robert-Schumann-Preisträger; Musikalische Leitung-Georg Christoph Sandmann ; Inszenierung-Ingolf Huhn; mit Hagen Erkrath; Gessler; Guido Hackhausen; Katrin Kapplusch/Uta Simone u. a./ Abbildung oben: Èdouard Manet: Pfeiferjunge/ Musée d´Orsay/Wikipedia/ Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Und wieder einer …

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Jahrelang ein Blickfang für die Touristen war in Verona zwischen der Arena und der Fontana der Piazza Bra ein Haufen erzenen (so schien es, war aber Plastik) Kriegsgeräts, mit einem riesigen darnieder gestreckten Rittersmann, Wehrtürmen und im Geschützfeuer versengten Fahnen. Es handelte sich um Requisiten der Trovatore-Produktion von Franco Zeffirelli, dem Spezialisten für großartige Opernaufführungen in nicht nur großräumigem Ambiente, sondern auch einer eindrucksvollen Aida im klitzekleinen Opernhaus von Busseto neben der monumentalen im Veroneser Amphitheater. Die Arena hatte sich außerhalb der Magazine noch einen Aufbewahrungsplatz für die umfangreichen Bühnenbilder geschaffen, vertrauend auf das meistens zuverlässige Wetter. Das ganz große Wunder allerdings, das dem Publikum jeden Abend beschert wurde, konnte man beim Anblick der im Tageslicht doch recht nüchtern wirkenden Teile nicht erahnen. Eine Woge bewundernder Ahs und Ohs zog jedes Mal durch das Arenarund, wenn sich die Wehrtürme öffneten und den Blick auf einen hellleuchtenden gotischen Altar freigaben. Nun gibt es eine DVD aus dem Jahre 2019, kurz nach Zeffirellis Ableben entstanden und das Arena-Debüt von Anna Netrebko bedeutend und auch am Fernseher Eindruck machend. Da nimmt man auch vom Sofa aus in Kauf, dass sehr viel, ja zusätzliches Ballett einer fahrenden Volksgruppe dem Geschmack opernungewohnter Publikumsschichten entgegen kommt, umso mehr, als man feststellen kann, dass bei der Lenkung der umfangreichen Komparserie durchaus auf Individualisierung geachtet wurde. Geschick bewies Zeffirelli auch bei der Einbeziehung der hoch hinter der Bühne aufragenden Gradinate in das Bühnengeschehen, und sicherlich hat ein Teil des Publikums auch goutiert, dass Schimmel Leonora und Manrico aus der Kirche, Braune die Mannen Lunas in die Schlacht führten. Vorenthalten wird dem DVD-Betrachter das Kerzenmeer zu Beginn des Abends, die dreimalige Ankündigung des baldigen Beginns durch Gongschläger in zum Werk passendem Kostüm, das Geleiten des Dirigenten zu seinem Arbeitsplatz und der Ruf „Bravo, Maestro“ durch den Claqueur vom Dienst.

Kommt man mit alle diesem dem Geschmack eines nicht operngewöhnten Publikums entgegen, so ist die Besetzung, zumindest für die jeweilig ersten Aufführungen (Im August hat oft der Nachwuchs eine Chance.), eine hochklassige.

In jeder Hinsicht strahlender Mittelpunkt der Vorstellungen des Trovatore im Juli 2019 war also Anna Netrebko, hoch attraktiv in den mittelalterlichen Gewändern, unangestrengt den Sopran in dunklem Reichtum fließen lassend, schlank und rein in der „casto amor“ und alle Finessen samt Cabaletta der  „D’amor sull‘ ali rosee“ auskostend. Den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten hatte damals Dolora Zajick, die zwar optisch eine anrührende Azucena war, vokal jedoch in der Tiefe nicht farbig, in der Höhe nicht präsent genug , woran auch ein schneidendes „Mi vendica“ nichts ändern konnte. Fermatenverliebt gab sich Yusif Eyvazov als Manrico, „edel „bleich geschminkt, mit robuster Arenastimme  auch in der sicher gesungenen Stretta. Hohl und röhrend und allzu sehr auf Überpräsenz bedacht, war Luca Salsi ein die Akustik der Arena wohl unterschätzender vokaler Schlagetot, der auch „Il balen del suo sorriso“ keine Poesie entlocken konnte. Auf die Frage, auf welche Leistung er besonders stolz sei, hatte der Veroneser Ivo Vinco, immerhin auch ein Filippo-Sänger, den Ferrando genannt. Hörte man nun Riccardo Fassi mit der langen Erzählung der Vorgeschichte des angeblich unverständlichen Plots, dann wusste man warum, denn die fordert vom Bass alle Finessen eines authentischen Verdigesangs. Und Fassi lieferte. Eindrucksvoll erfüllt der Chor seine Aufgaben, sicher leitet Pier Giorgio Morandi das Orchester- einem erfüllten Opernabend vom Sofa aus steht nichts im Wege.   (C-Major 754608). Ingrid Wanja    

Wolf-Dieter Hauschild

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Der Dirigent Wolf-Dieter Hauschild (* 6. September 1937 in Greiz) starb am 18. Mai 2023 in Leipzig. Er studierte ab 1954 in Weimar an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Klavier, Komposition bei Ottmar Gerster und Dirigieren bei Hermann Abendroth und Gerhard Pflüger. Außerdem besuchte er Meisterkurse bei Hermann Scherchen und Sergiu Celibidache. Nach Abschluss des Studiums ging er 1959 als Korrepetitor ans Nationaltheater Weimar. 1963 war er dann Chefdirigent am Kleist-Theater Frankfurt (Oder). Danach war er von 1973 bis 1978 Leiter des Rundfunkchors Berlin. Während seiner Berliner Zeit war er als Gastdirigent der Deutschen Staatsoper und der Komischen Oper tätig.
Ab 1978 ging er nach Leipzig als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters und des Rundfunkchors Leipzig. Dort hatte er auch eine Professur an der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ inne. International bekannt wurde Hauschild durch die Fernsehübertragung von Webers „Freischütz“, den er am 40. Jahrestag der Zerstörung Dresdens (13. Februar 1985) zur Wiedereröffnung der Semperoper dirigierte. Im selben Jahr verließ er die DDR und leitete als Generalmusikdirektor der Stadt Stuttgart die Stuttgarter Philharmoniker. Ab 1991 war er Chefdirigent der Essener Philharmoniker und leitete als Opernintendant von 1992 bis 1997 das Aalto-Theater in Essen. An der Hochschule für Musik Karlsruhe lehrte Hauschild von 1998 bis 2003 als Professor für Dirigieren.
Seit 2001 war Hauschild Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Halle (Saale). Jedoch löste er seinen bis Juli 2004 laufenden Vertrags vorzeitig auf, weil die „Voraussetzungen für eine künstlerisch fruchtbare Zusammenarbeit“ wegen der aus Kostengründen geplanten und 2006 auch erfolgten Fusion des Philharmonischen Staatsorchesters Halle mit dem Orchester des Opernhauses Halle zur Staatskapelle Halle „nicht länger gewährleistet“ gewesen seien. Daneben war er seit August 2002 als Generalmusikdirektor des Volkstheaters Rostock Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie, des größten Klangkörper des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Dieses Amt übte er bis 2004 aus. Er hält regelmäßig Meisterkurse beim Dirigentenforum des Deutschen Musikrats.
Hauschild hat das gesamte Chorwerk von Johannes Brahms sowie mehrere Händel-Oratorien, Schumanns Das Paradies und die Peri sowie Sinfonien von Anton Bruckner und Werke Max Regers für Schallplatte und CD eingespielt. Zudem brachte er Werke von Edison Denissow, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Milko Kelemen, Luca Lombardi, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, Josef Tal und Yun I-sang zur Ur- bzw. Erstaufführung. Er dirigierte u. a. das NHK-Sinfonieorchester und das Orchestra della Svizzera italiana in Lugano.

Wolf-Dieter Hauschild war Dirigent, Chorleiter, Intendant, Komponist, Cembalist und Hochschullehrer.
Nachdem er ab 1971 beim Berliner Rundfunk tätig gewesen war, wirkte er von 1978 bis 1985 als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters und des Rundfunkchors Leipzig. Noch 1984 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet, überwarf er sich 1985 mit den DDR-Behörden und siedelte in die BRD über.
In Stuttgart wurde er zum Generalmusikdirektor ernannt und verhalf den dortigen Philharmonikern zu überregionaler Anerkennung. 1991 ging er nach Essen, wo er von 1992 bis 1997 auch Opernintendant des Aalto-Theaters war. In den 2000er Jahren kehrte er zurück in die neuen Bundesländer und leitete das Philharmonische Staatsorchester Halle und die Norddeutsche Philharmonie Rostock. Letztere ernannte ihn 2004 zu ihrem Ehrendirigenten.
Insbesondere mit den Berliner und Leipziger Rundfunkklangkörpern brachte er zahlreiche zeitgenössische Werke zur Uraufführung. Außerdem spielte er das gesamte Chorwerk von Johannes Brahms ein. In Essen konnte er den kompletten Ring von Richard Wagner realisieren.
Wolf-Dieter Hauschild wurde 1937 als Sohn des Journalisten und Theaterdramaturgen Franz Hauschild (1907–1996) im thüringischen Greiz geboren. Sein Vater war Mitbegründer der „Greizer Musikwochen“ und des „Stavenhagen-Wettbewerbes“. Im Alter von fünf Jahren erhielt Wolf-Dieter Hauschild seinen ersten Klavierunterricht, später machte er Theater. Rückblickend erinnerte er sich an Käthe Reichel, Reimar Johannes Baur und Dieter Franke, mit denen er in Greiz gespielt hatte.[5] Früh begann er mit dem Komponieren u. a. schrieb er eine Kinderoper. Ab dem fünfzehnten Lebensjahr komponierte er Schauspielmusiken für das Theater seiner Heimatstadt. Als Oberschüler erhielt er ferner Kompositionsunterricht bei Ottmar Gerster in Leipzig.
Mit siebzehn Jahren nahm er an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar ein Musikstudium auf, das er 1959 mit drei Staatsexamen beendete: Komposition (Ottmar Gerster), Dirigieren (zunächst bei Hermann Abendroth, dann Gerhard Pflüger) und Klavier.[6] Für seine Abschlussarbeit gestaltete er eine Bühnenfassung zu Mozarts Singspiel Bastien und Bastienne, die an der Deutschen Staatsoper Berlin aufgeführt wurde.[5] Seine Ausbildung vervollständigte er in Meisterkursen bei Hermann Scherchen und Sergiu Celibidache.[7] Bis 1956 wurde er vor allem durch seinen Lehrer Hermann Abendroth geprägt, dessen „Gesamtpersönlichkeit und Autorität“ er sehr schätzte.[5] Dieser ließ ihn in selbständig in Weimar mit dem Hochschulorchester und Laienchören arbeiten.[5] Ferner war für Hauschild der Musiker und Kulturpolitiker Helmut Koch „eine künstlerische und menschliche Vaterfigur“.
Nach seinem Studium begann er seine künstlerische Karriere als Solorepetitor am Deutschen Nationaltheater Weimar.[8] Auch hier komponierte er Schauspielmusiken. Schon bald durfte er zeitgenössische Werke nachdirigieren und einstudieren. Nach zwei Jahren wurde er Kapellmeister. In Weimar brachte er 1963 die Nasreddin-Oper Der fröhliche Sünder seines Lehrers, Ottmar Gerster, zur Uraufführung.
Von 1963 bis 1970 war er Musikalischer Oberleiter am Kleist-Theater und ständiger Dirigent der Philharmonie in Frankfurt (Oder). Seine dortigen Aufgaben erstreckten sich entsprechend sowohl auf das Musiktheater als auf die Konzertreihen. Zu seinem Repertoire gehörten u. a. Verdi, Mozart und Bizet. 1966 dirigierte er die Kurt-Hübenthal-Inszenierung von Händels Oper Serse. Ferner verantwortete er hier die Uraufführung des sinfonischen Werks Schwedter Impulse von Nikolai Badinski sowie die DDR-Erstaufführungen der Opern Der zerbrochene Krug von Zbyněk Vostřák und The Rake’s Progress von Igor Strawinsky. Durch die Nähe zu Berlin, wie Hauschild ausführte, konnten namhafte Sänger wie beispielsweise Reiner Süß für Partien gewonnen werden. Mit dem Politiker Erich Mückenberger setzte sich Hauschild seinerzeit für einen neuen Veranstaltungsort, die nachmalige Konzerthalle Carl Philipp Emanuel Bach, ein.
Im Jahr 1971 wurde Hauschild am Berliner Rundfunk verpflichtet, wo er zunächst den Berliner Rundfunkchor leitete. Von 1973 bis 1976 war er Stellvertreter Heinz Rögners beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Beim Rundfunk traf er erneut auf Helmut Koch, eine „schicksalhafte Bekanntschaft“, wie er sich später erinnern sollte. So vertrat er ihn auch bei der Uraufführung von Fritz Geißlers Oratorium Schöpfer Mensch. Weitere Uraufführungen bei der Musik-Biennale Berlin sollten folgen u. a. 1975 Wilbrandts Mein Haus hat Erde und Meer (Sprecher: Horst Westphal) und Zechlins Klavierkonzert (mit Eva Ander), 1976 Strauß’ 4. Sinfonie mit Sopran-Solo (mit Renate Frank-Reinecke) und Matthus’ Laudate pacem (mit Renate Krahmer, Elisabeth Breul, Annelies Burmeister, Armin Ude und Hermann Christian Polster) und 1977 Köhlers Der gefesselte Orpheus und Voigtländers Canto General (mit Brigita Šulcová).
Im Jahr 1976 wurde er in der Nachfolge von Herbert Kegel Leiter des Rundfunk-Musikschulorchester der DDR. Auch nach seinem Wechsel nach Leipzig pflegte er die Verbindung in die Hauptstadt und wirkte als Gastdirigent an der Deutschen Staatsoper und der Komischen Oper. So übernahm er an letzterer die musikalische Leitung bei der Götz-Friedrich-Inszenierung von Verdis Il trovatore.
Chefdirigat beim RSO und Rundfunkchor Leipzig. Nachdem er Ende 1977 in Leipzig Werke Luciano Berios dirigiert hatte, wurde er ab der Spielzeit 1978/79 Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters und parallel Leiter des Rundfunkchors Leipzig. Er konnte sich gegen den Leipziger Generalmusikdirektor Rolf Reuter und den Halleschen Musikdirektor Thomas Sanderling durchsetzten, die allesamt noch vom legendären Vorgänger Herbert Kegel als Gastdirigenten verpflichtet worden waren. In Leipzig pflegte Hauschild zum einen die Wiener Klassik,[22] so führte er die von Kegel begonnenen „Mozartiana“-Reihe fort. Auch setzte er weiterhin konzertante Opernaufführungen auf den Spielplan (Janáček, Wagner u. a.). Zum anderen brachte er mit dem Sinfonieorchester und dem Kammerorchester diverse zeitgenössische Werke zur Uraufführung u. a. 1978 Denissows Konzert für Klavier und Orchester (mit Günter Philipp), 1979 Lombardis Sinfonie, Neuberts Notturno, Lohses Konzert für Klavier und Orchester (mit Gerhard Erber) und Dessaus Vierzehn Stücke aus „Internationale Kriegsfibel“ (mit Helga Termer, Elisabeth Wilke, Horst Gebhardt und Bernd Elze), 1980 Katzers Konzert für Klavier und Orchester (mit Rolf-Dieter Arens) und Wallmanns Stadien für Orchester und Klavier (mit Bettina Otto), 1981 Schenkers „Fanal Spanien 1936“, 1983 Lombardis Zweite Sinfonie und Krätzschmars „Heine-Szenen“ (mit Wolfgang Hellmich). Außerdem verantwortete er hier mehrere DDR-Erstaufführungen u. a. 1979 Ives’ Holiday Symphony[26] und 1984 Zimmermanns Pax Questuosa[27] und Dittrichs „Etym“. Wie auch Kegel zuvor, stellte er am Saisonende der 9. Sinfonie Beethovens stets zeitgenössische Musik voran. Überdies lud er wieder Komponisten-Dirigenten nach Leipzig ein, etwa Milko Kelemen, Ernst Krenek und Witold Lutosławski. Mit der Saison 1979/80 führte er in der Kongreßhalle Leipzig allwöchentliche Vormittagskonzerte ein. Nach der Eröffnung des Neuen Gewandhauses 1981 spielte das Rundfunkorchester dann regelmäßig im neuen Konzertgebäude.[30] Es folgte die Erhöhung der Anrechtskonzerte. Mit dem Klangkörper legte Hauschild mehrere Schallplattenaufnahmen vor, die von der Musik Telemanns über die Schumanns zu der Ives’ sowie Denissows, Thieles und Krätzschmars reichen, darunter auch das gesamte Chorwerk von Johannes Brahms und mehrere Händel-Oratorien. Ausgedehntes Gastspiele führten ihn mit dem Orchester u. a. in die Sowjetunion und nach Japan. Nach seinem Weggang aus Leipzig dauerte es zwei Spielzeiten bis die Leitungsposten mit Max Pommer (Orchester) und Jörg-Peter Weigle (Chor) wiederbesetzt werden konnte.

Im Zuge seiner Opernaufführungen in Leipzig, Berlin und Dresden avancierte Hauschild bis Mitte der 1980er Jahre zum „Wagner-Dirigent der Stunde“, wie Robert Schuppert formulierte. Zum Jahreswechsel 1984/85 dirigierte er die im Palast der Republik in Berlin unter Beteiligung der Leipziger Rundfunkklangkörper und den Solisten Reiner Goldberg, Magdalena Falewicz, Uta Priew und Hermann Christian Polster Beethovens 9. Sinfonie, die im ersten Programm des Fernsehens der DDR live übertragen wurde.[35] International bekannt wurde Hauschild im Februar 1985 durch die Fernsehübertragung der Joachim-Herz-Inszenierung von Webers Freischütz, den er anlässlich des 40. Jahrestags der Zerstörung Dresdens zur Wiedereröffnung der Semperoper dirigierte. So wurde sein Dirigat von John Rockwell in der New York Times außerordentlich gelobt. Der Dresdner Musikwissenschaftler Dieter Härtwig rechnete Hauschild „zu den führenden Dirigenten in der DDR“.[38]
Übersiedlung in die BRD und Stuttgarter Jahre.. Nachdem ein ursprünglich zugesagtes Doppelengagement Leipzig-Stuttgart wegen „der starren Haltung der DDR-Behörden“, wie Jörg Clemen ausführte, nicht zustande kam, siedelte er im Frühjahr 1985 anlässlich eines Stuttgarter Gastspiels in die BRD über. Dort wurde er mit Beginn der Spielzeit 1985/86 Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker. In einer Erklärung führte er aus, dass im Sommer 1984 die Stadt Stuttgart mit der Bitte um ein ständiges Gastdirigat an ihn herangetreten sei, wodurch er teilweise Aufgaben Hans Zanotellis übernehmen sollte. Nachdem die DDR-Behörden dem zustimmten, willigte er in Stuttgart ein. Im April 1985 aber wurde ihm klar, dass die DDR-Behörden „nicht mehr voll zu ihrer Zusage standen“. Er sah sich bei den Orchestermitgliedern und bei der Stadtverwaltung Stuttgart nun in der Pflicht und entschied sich „schweren Herzens“ zur Übersiedlung in die BRD. In der DDR wurde er demgegenüber zur „persona non grata“ erklärt und war fortan auch unter Musikerkollegen als „Klassenfeind“ verschrien; seine Familie erhielt erst zwei Jahre darauf die Ausreisegenehmigung. 1985 brachte er in der Stuttgarter Liederhalle Kelemens Phantasmen (mit Eckart Schloifer) und 1987 Yuns 2. Violinkonzert (mit Akiko Tatsumi)[42] zur Uraufführung. Konzertreisen führten ihn mit den Philharmonikern durch Europa, Japan und die USA.[38] Nach dem Kulturjournalisten Frank Armbruster führte er die Philharmoniker „zu einem Höhepunkt ihrer Geschichte“. Letztlich verließ Hauschild aber Stuttgart, weil es „ihm nicht gelungen war, die Stadt von der Notwendigkeit weiterer Orchesterstellen für die Philharmoniker zu überzeugen“, wie Armbruster bemerkte.
Neben seiner Verpflichtung in Stuttgart war er ab der Saison 1985/86 Gastdirigent beim Niedersächsischen Staatsorchester Hannover, mit dem er 1986 Kelemens Archetypon zur Uraufführung brachte. 1986 dirigiere er das Staatsorchester Stuttgart bei der Loriot-Inszenierung von Flotows Martha am Württembergischen Staatstheater. Mit dem Rundfunkorchester des NDR Hannover oblag ihm 1992 die Uraufführung von Tals 6. Sinfonie.
Intendanz am Aalto-Theater in Essen. Im Jahr 1991 wurde Hauschild Dirigent der Essener Philharmoniker und 1992 zusätzlich Intendant und Generalmusikdirektor am dortigen Aalto-Theater, eine Doppelfunktion, die eigens für ihn geschaffen worden war. Während seiner Amtszeit wurde der Klangkörper vom Deutschen Musikverleger-Verband mit dem Preis „Bestes Konzertprogramm der Spielzeit“ 1991/92 ausgezeichnet.[50] In seiner Ära wurden u. a. die Ballette Giselle von Adolphe Adam und Der grüne Tisch von Frederic Cohen sowie die Opern Lady Macbeth von Mzensk von Dmitri Schostakowitsch und Tosca von Giacomo Puccini inszeniert. Am Aalto-Theater widmete er sich aber vor allem der Werke Richard Wagners, so ließ er hier den Parsifal (1991/92) und Tristan und Isolde (1992/93) aufführen. Nach siebzig Jahren brachte er von 1994 bis 1997 zusammen mit dem Regisseur Klaus Dieter Kirst, den er aus Dresden kannte, die Tetralogie Der Ring des Nibelungen auf die Bühne. Bereits zu DDR-Zeiten hatte er über die sinfonischen Werke Bruckners und Mahlers eine „Liebe zu Wagner“ entwickelt, die aber lange „platonisch bleiben“ musste, wie er in einem früheren Interview erklärte. Außerdem wandte sich Hauschild der zeitgenössischen osteuropäischen Musik zu, so führte er mit der Philharmonischen Orchester 1993 Suslins Leb’ wohl und 1996 Denissows Konzert für Flöte, Klarinette und Orchester (mit Dagmar Becker und Wolfgang Meyer) urauf. 1997 endete sein Engagement in Essen.
Von 1998 bis 2001 war er als freier Dirigent tätig u. a. beim Orchestra della Svizzera italiana in Lugano.
Von 2001 bis 2004 war er als Nachfolger des festen Gastdirigenten Bernhard Klee[54] Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Halle. Im Jahr 2003 brachte er im Neuen Theater Halle Martis H aspiré zur Uraufführung.[56] Mit Verweis auf die geplante Orchesterfusion, die er ablehnte, beendete er sein Engagement beim Philharmonischen Staatsorchester frühzeitig.
Neben seinem Hallenser Engagement er war von August[14] 2002 bis 2004 Generalmusikdirektor des Volkstheaters Rostock und Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie,[58] wo er bereits im Jahr 2000 ein ständiges Gastdirigat übernahm. Weil er, wie er später erklärte, „keinen künstlerischen und menschlichen Konsens“ mit dem Intendanten Steffen Piontek finden konnte, verließ er das Orchester.
Gastdirigate absolvierte er u. a. in der Schweiz, in Österreich, Italien, Spanien, Finnland und Taiwan.
Lehrverpflichtungen.
Nachdem er in Berlin (Ost) und Leipzig zunächst Lehraufträge innehatte,[3] erhielt er 1981 an beiden Musikhochschulen eine Professur für Orchesterleitung. 1988 wurde er Professor für Orchesterleitung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. An der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe lehrte Hauschild von 1989 bis 2003 ebenfalls als Professor für Dirigieren.
Im Jahr 1983 gründete er in Altenburg das „Seminar für Junge Operndirigenten“. Wiederholt war er dann auch Künstlerischer Leiter für Orchesterdirigieren beim Forum Dirigieren des Deutschen Musikrats (Essen 1994, Koblenz 1998 und 2005, Halle (Saale) 2001, Rostock 2002 und 2004 und Bremen 2006). Außerdem war er im Wintersemester 2005/06 und im Sommersemester 2007 Dozent für Probespielstellen im Orchesterverbund / Sinfoniekonzert am Orchesterzentrum NRW. Zu seinen Schülern gehören u. a. Michael Gläser, Constantin Trinks und Hendrik Vestmann. Quelle Wikipedia

Venezianische Stimmungsbilder

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Teatro Sant’Angelo nennt sich eine neue Platte bei ALPHA mit der französischen Mezzosopranistin Adèle Charvet (938). Der Titel bezieht sich auf das legendäre Opernhaus in Venedig, welches sich nach seiner Gründung 1677 zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus einer Vielzahl von Theatern in der Lagunenstadt zu profilieren vermochte als preiswertes, alternatives Haus für Jedermann und damit einen deutlichen Kontrast herstellte zum aristokratischen Teatro San Giovanni Grisostomo, wo sich der venezianische Adel versammelte.
Die Sänger waren weitgehend jung und unbekannt. Kastraten fehlten fast völlig wegen ihrer hohen Gagen. Es wurden auch Tänzer, Schauspieler, Artisten und Zauberer engagiert, die in den Pausen und bei Szenenwechseln auftraten. Als Impresario fungierte Antonio Vivaldi, dessen Opern ab 1705 regelmäßig aufgeführt wurden und den Aufschwung des Unternehmens bewirkten. Im Programm der CD mit 17 Titeln sind dem prete rosso nicht weniger als sechs gewidmet, darunter finden sich sogar zwei Weltersteinspielungen. Erstere, die Arie „Ah non so“, stammt aus Arsilda, regina di Ponto, die 1716 im Sant’Angelo uraufgeführt wurde. In diesem Stück von schmerzlichem Zuschnitt kann Adèle Charvet vor allem ihr Ausdruckspotential einbringen, wenn sie auch larmoyante Momente nicht vermeiden kann. Zweite Neuheit ist die Arie „Quella bianca“ aus L’Incoronazione di Dario, die 1717 im Sant’Angelo ihre Premiere erlebte – ein munteres, übermütiges Stück, in welchem die Sängerin keck und ausgelassen auftrumpft.
Die weiteren Zeugnisse aus der Feder Vivaldis sind die Arien „Siam Navi“ aus L’Olimpiade (bekannt und von virtuosem Anspruch) und „Sovvente il sole“ aus Andromeda liberata (in wiegendem Duktus und von sanftem Ausdruck). Danach gibt es noch zwei Arien aus La verità in cimento. „Con più diletto“ ist mit seinen Koloraturgirlanden eine Herausforderung an das virtuose Vermögen der Interpretin und „Tu m’offendi“ im Kontrast dazu getragen und von empfindsamem Melos.
Vivaldi lud auch Komponisten seiner Zeit ein, ihre Werke am Sant’Angelo zu präsentieren. Dazu zählten Fortunato Chelleri und Giovanni Alberto Ristori. Von ersterem erklingen zwei Titel als Weltpremieren – die Arien „Astri aversi“ (stürmisch und bravourös) und „La navicella“ (lyrisch-emphatisch) aus Amalasunta. Ristori ist sogar mit sechs Arien aus insgesamt vier verschiedenen Werken vertreten. Drei stammen als Erstaufnahmen aus seiner Cleonice und sind in ihrer Anlage höchst unterschiedlich. „Con favella de’ pianti“ ist von getragenem Duktus und klagendem Ausdruck, „Quel pianto che vedi“ bewegt und virtuos, „Qual crudo vivere“ wiegend und sanft. Aus Un pazzo ne fa cento erklingt die Arie „Su robusti“ als Ersteinspielung, welche die Solistin beherzt und pointiert bietet. Aus Temistocle ist ebenfalls als Premiere die Arie „Astri rimorsi“ zu hören, in welcher der Mezzo besonders apart und volltönend klingt. Auch die lieblich-sanfte Arie „Nell’onda chiara“ aus Arianna ist erstmals auf CD eingespielt.
Einige Werke von Verwandten Vivaldis waren ebenfalls im Spielplan anzutreffen, wie Michelangelo Gasparini, dessen Arie „Il mio crudele amor“ aus Rodomonte sdegnato das Programm eröffnet und der Solistin einen klangvollen Einstieg ermöglicht, oder Giovanni Porta, dessen „Patrona reverita“ aus Arie Nove da Batello als sanfter Ausklang am Ende steht.
Die Solistin wird begleitet vom Ensemble Le Consort, das der Geiger Théotime Langlois de Swarte leitet. Neben der inspirierenden Begleitung der Sängerin kann es im Adagio aus Chelleris Trio-Sonate g-Moll auch solistisch wirken (08. 06. 23). Bernd Hoppe

Barries schlechter Geschmack

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Warum geht der gemeine Opernbesucher selbst nach dem Ableben, gewaltsam, freiwillig oder zufällig, eines Großteils des Personals der gerade gesehenen Oper mit einem erhebenden, ja erhabenen Gefühl nach Hause? Natürlich weil das Dahinsterben von wunderschöner Musik begleitet wurde, aber auch, weil Leonora im Trovatore sich für den Geliebten opfern wollte, weil Violetta versöhnt mit den Menschen, die ihr etwas bedeuteten, mit einem „Oh Gioia“ von hinnen geht, Brünnhilde sich wieder mit Siegfried vereint und den Rheintöchtern den Ring zurückgibt. In Tosca sterben gleich alle vier Protagonisten, die Hälfte davon durch Freitod. Trotzdem stellt sich auch hier die Gewissheit ein, ein schönes Erlebnis genossen zu haben, es sei denn, man geht in die Amsterdamer Oper und erlebt die von Barrie Kosky inszenierte Puccini-Oper. Es ist als schwebe der Geist Gerald Mortiers noch über dem Haus, der bekanntlich Puccini verabscheute und in Salzburg partout keine seiner Opern aufführen wollte.

Tosca ist ein wahrlich blutrünstiges Stück mit Folterung, Erschießung, Vergewaltigungsversuchen. In der Kosky-Inszenierung wird all dem Schrecklichen noch eins draufgesetzt, indem bereits dem Mesner im ersten Akt übel zugesetzt wird, Cavaradossi nicht nur die spitzige Folterkrone aufgesetzt, sondern das Gesicht zerfleischt, ein Finger abgeschnitten, die rechte Malerhand verstümmelt und kurz vor Beginn des dritten Akts noch ein Liter Blut über den Kopf gegossen wird, damit das ansonsten wohl längst getrocknete so recht schön dramatisch an ihm herunterläuft und an Tosca wie auch am Gemäuer seine Spuren hinterlassen kann. Das gesamte Personal ist brutalisiert, die Schergen Scarpias üben Selbstjustiz, der Schließer auf der Engelsburg, der einst an der DDR-Staatsoper den Ring edel zurückwies, ist nun selbst ein Schläger, der gierig nach dem Ring greift, den eigentlich bereits Scarpia, da am abgeschlagenen Finger befindlich, an sich gerafft hatte. Wird das alles genüsslich vor den Augen des Zuschauers ausgebreitet, so werden die Passagen, die beweisen, dass Tosca und Cavaradossi ihre Würde behalten, selbstbestimmt handeln, eher beiläufig dargeboten, so das „La vita mi costasse, ti salverò“, das „Vittoria“, das „Trionfans“, das sich Hineinversetzen in eine bessere Welt im „Parla mi ancor“ eher beiläufig zu Gehör gebracht, wozu auch die seltsamen Tempi, die Marcello Viotti mit dem Orchester wählt, ihren Teil beitragen. Ähnlich geht es Tosca, die ihr „Vissi d’arte“ nicht als Gebet, sondern zu Scarpia singt, deren Glaubensgewissheit lächerlich gemacht wird, indem sie zwar ihr „Oh, Scarpia, davanti a Dio“ singen darf, dem Zuschauer aber danach gezeigt wird, dass sie als erbärmliches Bündel am Fuße der Mauer liegt. Scarpia selbst wird alles eindimensionales fieses Untier gezeichnet, umso attraktiver sind seine Schergen, wohl einem Dressmen-Katalog entsprungen.

Die Bühne von Rufus Didwiszus ist denkbar kahl, im ersten Akt eine Malerstaffelei und eine Blumenvase, die auch als Weihwasserbecken dient, im Nichts, im zweiten  einen riesigen Küchentisch, im dritten eine Wellblechwand zeigend. Das Te Deum allerdings wird mit einem Gemälde des Jüngsten Gerichts geschmückt, mit den Chorknaben als lebende Höllenbewohner. Von Klaus Bruns sind die Kostüme, für Tosca elegant, so ein schwarzer Glitzerhosenanzug mit Perlengeschmeide über dem nackten Rücken für die Flucht über Civitavecchia.  

Einem solchen Ambiente als Kontrast entgegengesetzt, wirkt die Musik fast obszön.  Sie hat es schwer, wenn zum Beispiel das Vorspiel zum dritten Akt in Bruchstücke zerfällt, der Orchesterpart durchweg schwerfällig wirkt.

Malin Byström ist eine moderne Tosca mit hellem, kühlem, höhensicherem Sopran, singt ein schönes „Vissi d’arte“ ohne besondere Raffinesse, aber weich und geschmeidig klingend. Im dritten Akt gibt es kaum einen Kontakt zwischen ihr und dem unseligen Cavaradossi. Dieser findet in Joshua Guerrero einen engagierten Darsteller mit solidem Tenor, dessen Stärke ein kraftvolles Forte für den zweiten Akt ist, der jedoch „E lucevan le stelle“ keinerlei Poesie oder agogikreiche Raffinesse abgewinnen kann.  Dunkel-süffig-dräuend ist der Bariton, den Gevorg Hakobyan für den Scarpia einsetzt, damit rollendeckend, wenn auch nicht für jede Partie empfehlenswert. Martijn Sanders macht den Fehler vieler Angelottis, nämlich zur Fallsucht zu neigen, sein Bassbariton ist, wenn er nicht nur flüstern,  sondern auch singen darf, angenehm. Das trifft auch auf den Sagrestano von Federico De Michelis zu, während der Spoletta von Lucas van Lierop zwar schön, aber nur mit einem sehr kleinen Tenor begabt ist. Nach dem Genuss dieser Tosca heißt es erst einmal, Stress und daraus erwachsende Aggressionen abzubauen (Naxos NBD0166V). Ingrid Wanja

Obsessive Fluchten

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Was fängt ein Rezensent, der hoffnungslos heterosexuell ist und dessen Musicalerfahrungen sich auf My Fair Lady im Theater des Westens, La Cage aux Folles ebenda und auf The Rocky HorrorPicture Show in den Berliner Kammerspielen beschränken, mit einem Buch über Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals, so der Untertitel, an? Breaking Free nach dem Song in einem Hochschulmusical heißt das Buch, als dessen Herausgeber auf dem Cover Kevin Clarke genannt wird, was mehr als bescheiden ist, denn auch die Mehrheit der Beiträge stammt von ihm, der sich trotz üppiger mehr als 300 Seiten, die er vorlegt, wünscht, dass sie nicht einen „Abschluss“, sondern einen „Anfang“ einer Diskussion in einem Land wie dem unseren, dass in Sachen Musical viel Nachholbedarf hat, werden. Toleranz herrscht glücklicherweise nicht nur in puncto Sexualität, sondern auch, was das Gendern betrifft. So kann sich der konservative Leser auch schnell von einem Satz wie: “Jeder*jedem Autor*in wurde freigestellt, ob und wie sie*er ihre*seine Texte gendern will“, erholen.

„Breaking free“: Harvey Fierstein in „Torchsong Trilogie“, Film von Paul Bogart 2009/ crtikat.com

Das Vorwort schrieb Barrie Kosky und betitelt es als Zeichen seiner Unkonventionalität mit einem „What the f***?!?“, was immer das heißen mag. Ansonsten geht er über das, was gerade mit seiner Biographie erschien, hinaus, wenn er  u.a. ausführlicher über seine Arbeit mit Kiss me, Kate berichtet, in der er in jeder Zeile Queeres entdeckte, über seine Gewissheit, die lautet:“ Man braucht eine Schwuchtel an der Spitze des Theaterbetriebs, um alle Besucher anzusprechen. Erstaunen erregt nicht nur hier die Ansicht, dass sich Schwule auch in der West Side Story als Ausgegrenzte erkennen, obwohl das deutsche Theater als „heteronormativ“ durchschaut wird, woraus folgt, dass man „Deutschland aus der Provinzialität herausholen muss“.

Weniger offenherzig, er ist schließlich Politiker, wenn als Kultur-Senator auch nur Ex, ist im Nachwort Klaus Lederer, der seiner Freude darüber, dass man sich an der Humboldt-Universität nun auch mit Musical und LGBTQ befasst, Ausdruck verleiht.

„Breaking free“: Der Frauendarsteller Iwai Shijaku in der Rolle der Ohatsu (Aus dem Kabuki-Schauspiel Altertümliche B – Utagawa Kuniyoshi) Wikipedia

Zahlreich und durchweg interessant sind die vielen Interviews, die mit queeren Künstlern, die mit der Kunstform Musical zu tun haben, gehalten wurden. Die Interviewer sind Kevin Clarke und Nick-Martin Sternitzke. Es beginnt mit Helmut Baumann, einst umjubelte Zaza nicht nur im Theater des Westens 1984 und vor kurzem in einer kleineren Partie in La Cage aux Folles in der Komischen Oper. Ihm wird wie fast allen Interviewten zunächst die Frage gestellt, welches sein allererstes Musical gewesen sei. Da werden köstliche Erinnerungen wach an Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller, Boy Gobert und Hildegard Knef, an Operntenor Donald Grobe, und hier wie bei fast allen Interviews wird deutlich, dass das Musical die Kunstform war und ist, mit der sich die Schwulen, die als erste vor allen anderen innerhalb des LGBTQ aus dem von der Gesellschaft verordneten Schatten heraustreten, identifizieren konnten und dass sie bei der Arbeit an demselben auch am häufigsten auf Gleichgesinnte trafen und treffen. Angenehm berührt die sachlich- nüchterne Art der Antworten, die auch Selbstkritik nicht ausschließen: “In Deutschland wollen alle nur sehen, was sie schon kennen. Das gilt auch für die Schwulen“.

Es folgen Interviews mit Stephanie Kuhnen, die dem nicht eingeweihten Leser Rätsel aufgibt mit einem „gendertypisch bibliophil, butchesk, und katzoman“, zu dem sie sich bekennt, die mehr Klarheit herrschen lässt, wenn sie meint, Musicals könnten sich als Coming-Out-Hilfe erweisen.

Nicht der Interviewte, sondern Interviewer ist Rosa von Praunheim, der Dagmar Manzel, „Star“ vieler Produktionen der Komischen Oper, befragte und ihr die Absage an ein „aufgewärmtes spießiges Leben, das man sowieso schon immer um sich hat“, entlockt, die meint, Frauenbewegung und Schwulenbewegung würden einander bedingen.

„Breaking free“: „Le Cage aux Folles“/ Michel Galabrou und Ugo Tognazzi/ Film von Edouard Molinaro 1979/ Cinema.de

Richard McCowen, ein schwarzer Musicaldarsteller, äußert sich im Interview angenehm nüchtern, berichtet einerseits davon, dass in den USA früher als in Deutschland das Schwarzschminken verpönt war, findet andererseits Schwarze mit blonder Perücke „toll“. Wie viele andere Befragte bedauert er die scharfe Grenze, die in Deutschland zwischen U- Und E-Musik gezogen wird.

Interessant auch für Historiker sind die Aussagen von Pierre Sanoussi-Bliss zum Leben eines schwulen Schwarzen in der DDR, die zwar auf dem Gesetzes-Papier fortschrittlicher war als der Westen, die aber praktisch Intoleranz übte und oft versuchte, Schwule zu erpressen, sie mit Drohgebärde zum Spitzeln zu bringen. Schockierend mag nicht nur für Heteros, sondern auch für Schwule das Bekenntnis sein, der Sänger habe für Schallplatten aus dem Westen Liebesdienste angeboten.

Wenn sogar Oma und Opa zufrieden waren, kann es ganz so schlimm, wie es der Befragte escheinen lässt, mit dem ersten Schwulen-Porno-Musical nicht gewesen sein. Der sich Hans Berlin nennende (und als „Pornohengst“ bei Männer.de bezeichnete) Interviewpartner Kevin Clarkes war HIV positiv, als er über sein Bemühen (und seinen Erfolg), diese Gattung auf der Bühne zu etablieren, berichtet.

Aufgeklärt über Sex-Praktiken im Orient wird der Leser durch das Interview mit Yousef Iskander, der aus dem Libanon floh und mit der Verbindung verschiedenster europäischer und arabischer Elemente eine neue Kunstform schuf. In Deutschland sieht er inzwischen das Schreckgespenst der Zensur am Horizont, hofft aber, einmal die Sally Bowles spielen zu dürfen.

„Breaking free“: Harvey Fierstein in „Birdcage“/ Cinema.de

Wer kennt nicht die Geschwister Pfister, deren einer Teil Christoph Marti ist, besser bekannt als Ursli Pfister. Schon im Schillertheater spielte er Frauenrollen, empfindet sich als Schauspielerin in einem Männerkörper und bekennt: “Man darf vorm Trivialen keine Angst haben, wenn man Musicals macht.“ Nicht nur er singt das Lob des deutschen Stadttheaters, das oft mutiger ist als die großen Bühnen, die Angst vor dem Experiment haben.

Es folgen noch Interviews mit Rory Six, der noch immer eine Transfrau für sein Musical sucht, mit Brix Schaumburg, der bedauert, dass queere Menschen nicht im Grundgesetzt berücksichtigt werden und Transmenschen unterrepräsentiert im Musical sind. Auch Lyon Roque, der den Modeladen Trüffelschwein in Berlin hat, hat ein besonderes Thema mit der angeblichen sexuellen Unattraktivität von Asiaten, was das Thema des Colour-Blind-Casting aufs Tapet bringt.

Nicht immer einfach ist es, als Hetero die sonstigen Artikel des Buches zu verstehen, hat die Gemeinde von LGBTQ doch längst auch eine eigene Fachsprache entwickelt. Da Deutschland zudem in Sachen LGBTQ-Musicals ein hoffnungslos hinterherhinkendes Entwicklungsland ist, das weder mit Broadway, Off-Broadway, Off-Off-Broadway oder dem Londoner Westend mithalten kann, befassen sich die meisten Artikel mit diesen Paradiesen des wie immer gearteten Musicals. Diskussionswürdig ist die Behauptung, die in mehreren Artikeln auftaucht und die Nazizeit verantwortlich macht, für die Beendigung einer Tradition- und das kann man nachvollziehen- aber auch dafür, dass eine Entwicklung wie in den englischsprachigen Ländern nach dem Krieg ausblieb. Da kann man schon eher den Ausführungen von Wollmann/Clarke folgen, die die Frankfurter Schule mit ihrer Verdammnis von allem Populären als eine m wesentliche Ursache für die Musical-Abstinenz ansehen.

„Breaking free“: Ensemble des Kleinen Theaters im Kaiserlichen Militär-Genesungsheim Spa (Belgien), 1. Weltkrieg/ Schwules Museum (dazu auch unser Artikel über die Ausstellung/ Katalog im Berliner Schwules Museum)

Von der Musical Conference der Long Island University über die ab 2007 erscheinende Zeitschrift Studies in Musical Theatre bis hin zum Oxford Handbook of the American Musical wird eine Entwicklung verfolgt, während in Deutschland Volker Klotz noch eisern an der Vorstellung festhielt, Musicals seien minderwertig. Im Beitrag Musicals als Maske bezeichnet Clarke die Musicals als Zufluchtsort für Schwule, ehe sie ein breites Publikum fanden, in den USA wurden früh auch andere „Außenseiter“ einbezogen, und die Maske wurde zur Manier.

Nach Olivia Maria Schaaf spielten Peter Lund und die Neuköllner Oper lange Zeit eine wichtige Rolle für Lesben und Schwule, waren ein „offenes Versteck“, was nichts daran änderte, dass lange Zeit Schwule in der darstellenden Kunst entweder böse oder komisch waren, das Schwein, das ein Hahn werden will, erste queere Wunschträume auf die Bühne brachte. Lesben tauchen relativ spät auf, so die Frozen-Elsa im Disney-Film. Meine drei Enkeltöchter allerdings haben sie nicht als solche identifiziert und hoffen im dritten Teil auf einen Gatten für die Königin.

Ulrich Linke gibt eine Übersicht über die Gay Musicals der Siebziger, die erst möglich waren nach der Überwindung von Puritanertum und McCarthy, der nicht nur Kommunisten nachjagte. Durch Übersichtlichkeit und Faktenreichtum, den Abdruck von Dialogen und den umfangreichen wissenschaftlichen Anhang überzeugt dieser Aufsatz ganz besonders.

Brigitte Elisabeth Tautscher äußert sich in ihrer kommentierenden Inhaltsangabe über Falsetto, dem sie vorwirft, dass die weibliche Hauptrolle nach dem Outing des Gatten in einer neuen Ehe ihr Glück finden muss. Da wäre Toleranz in die andere Richtung auch angebracht.

Kay Link entdeckt Prince Charming in Cinderella als Fortschritt in der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebesverhältnisse, setzt sich aber auch kritisch auseinander mit scheinbaren oder tatsächlichen Diskriminierungen in Musicals.

Einen höhnischen Kommentar gibt Manuel Brug zum deutschen Musical-Geschehen ab, das die Massen in Bussen zu den Großereignissen chauffiert, wo aber nichts Queeres auszumachen ist . Gleichzeitig macht er sich zum Anwalt für Ute Lemper, deren Genie in Deutschland nicht wahrgenommen wurde. In keinem Verhältnis zueinander stehen seiner Meinung nach die zahlreichen Outings von Künstlern und die wenigen queeren Stücke.

Olaf Jubin wirft den Übersetzern von Songs ins Deutsche vor, dass sie vor der Unübersetzbarkeit der „signifikanten Symbole“ kapitulieren, dass Übersetzungen einen Text oft entsexualisieren.

Kevin Clarke steuert nicht nur einen Beitrag über das amerikanische Hochschul-Musical bei. Wie weit gespannt seine Interessen sind, zeigt er, indem  er sich mit den Problemen schwuler Muslime, ausgehend von den Erlebnissen Lord Byrons im Orient, auseinandersetzt. „Cyanide wrapped in Chocolade“ könnte man auch die Frage nennen, ob Homosexualität und Christentum oder Islam miteinander vereinbar sind, und dieser widmet sich Clarke kenntnisreich, einfühlsam und engagiert.

„Breaking free“: Frauendarsteller in amerikanischer Burleske um 1880 / Wikipedia

Über den Beruf des Musicaldarstellers in Zeiten von Identitätspolitik äußert sich Till Randolf Amelung, mutig über die White-Washing-Hysterie (siehe Absage in der Arena di Verona 2022 ), die Inflation von Vorwürfen, man habe jemanden verletzt, über den „virtuellen Mob“. Da hilft wohl nur eine gemeinsame Abwehrfront von Hetereos und LGBTQ.

Noch einmal historisch wird es mit Clarkes Beitrag über Trans und Travestie im Musical, deren Anfänge der Verfasser bereits in Gefangenenlagern sieht, für die er viele Beispiele aufzuführen versteht, aber auch hier den tiefen Einschnitt, den AIDS bedeutete, anerkennen muss. Auch die Präsidentschaft Trumps diente nicht dem Fortschritt auf diesem Gebiet, aber man kann beruhigt sein, denn der Verfasser sieht die „Forschung auf dem Vormarsch“.

Disney kommt beim Thema Diversity im Beitrag von Ralf Rühmeier nicht gut weg, muss sich einem Plädoyer für einen Cinderello oder einer Prinzessin, die statt des Prinzen den Schuh bringt, stellen. David Savran aber stellt betrübt fest: „(In Deutschland) bleiben doch Gender und Sexualität so etwas wie ein blinder Fleck“.

Zumindest dürfte das fakten- und informationsreiche Buch, das sich außerdem durch sein Engagement für das LGBTQ-Musical und seine Anhänger auszeichnet, für etwas Glanz sorgen (315 Seiten, Querverlag GmbH 2022 Berlin; ISBN 978 3 89656 322 4). Ingrid Wanja