Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Grace Bumbry

.

Grace Ann Melzia Bumbry (* 4. Januar 1937 in St. Louis, Missouri) starb am 7. Mai 2023 in Wien. Sie studierte an der Boston University, an der Northwestern University in Evanston (Illinois) und von 1955 bis 1958 an der Music Academy of the West in Santa Barbara (Kalifornien). In der internationalen Musikwelt erlangte sie ihren Durchbruch 1961 bei den Bayreuther Festspielen in der Rolle der Venus in Richard Wagners Tannhäuser. Aufgrund ihrer Hautfarbe wurde sie als „Schwarze Venus“ tituliert. Neben vielen Wagner- und Verdi-Rollen sang sie auch sehr erfolgreich die Rolle der Bess in George Gershwins Porgy and Bess. Grace Bumbry war die Tochter eines Eisenbahnangestellten und einer Hausfrau. Aufgewachsen in St. Louis (Missouri), wurde Grace Bumbry von ihren Eltern auf die Charles Sumner High School geschickt (die erste afroamerikanische High School westlich des Mississippi River).

Während ihrer Jugend sang Grace Bumbry im Kirchenchor. Im Alter von 17 Jahren gewann sie zum ersten Mal bei einem Radiowettbewerb, nachdem sie die Arie der Eboli „O don fatale“ aus Verdis Don Carlos vorgetragen hatte. Sie gewann dabei auch ein Studium am St. Louis Institute of Music, das sich jedoch weigerte, Grace Bumbry aufzunehmen, da man wegen der Rassentrennung in den Südstaaten keine schwarzen Kursteilnehmer wollte.

Ein Auftritt beim Talent Scout Programm von Arthur Godfrey brachte ihr ein Stipendium für die Northwestern University in Evanston (Illinois) ein, das durch zwei Mäzenfamilien gefördert wurde. Danach besuchte sie die Boston University. Auf Einladung der in der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten deutschen Sopranistin Lotte Lehmann, deren bedeutendste Schülerin sie wurde, wechselte Bumbry zur Music Academy Santa Barbara.

1958 war sie zusammen mit der Sopranistin Martina Arroyo Siegerin der Hörproben in der Metropolitan Opera und gab in Basel ihr Bühnendebüt, ein Jahr später ihr Konzertdebüt in London. 1960 sang sie an der Pariser Oper die Amneris in Verdis Aida. Anschließend engagierte Wieland Wagner sie für die Bayreuther Festspiele. Mit der Rolle der Venus in Wagners Tannhäuser von 1961 hatte sich Grace Bumbry in Europa etabliert. Als erste „schwarze Venus“ bei den Bayreuther Festspielen (mit der Venusberg-Choreografie von Maurice Béjart) löste sie den von Wagner einkalkulierten Pressewirbel aus. Später wurde sie von Jacqueline Kennedy eingeladen, im Weißen Haus zu singen. Ihre wirklich zahllosen Auftritte im Mezzo- und Soppranfach (in Bellinis Norma zum Besispiel alternierend mit Shirley Verrrett als Norma und Adalgisa, In Paris zur Eröffnung der neuen Oper als Cassandre und Didon in der Troyens) verschafften ihr einen  breiten Ruhm und eine gewisse Notorität. Sie hatt zudem viele Plattenaufnahmen hinterlassen.

Bumbry trat 1997 vorläufig von der Opernbühne ab. 2007 sang sie Lieder- und Arienabende u. a. in Kiel, Hamburg, London, Paris, Moskau, Wien und Tokio. Im Frühjahr 2010 kehrte sie nach 13 Jahren auf die Opernbühne zurück. Grace Bumbry sang die Partie der Monisha in Scott Joplins einziger Oper Treemonisha an der Seite von Adina Aaron und Willard White im Théâtre du Châtelet in Paris. Hier trat sie im Frühjahr 2012 erneut mit einem Liederabend mit ausgewählten Titeln amerikanischer Komponisten auf. Kurz darauf, im März 2012, gab Grace Bumbry in der konzertanten Premiere der Oper Candide von Leonard Bernstein an der Deutschen Oper Berlin die Rolle der Old Lady an der Seite von Simone Kermes. Im Januar 2013 sang sie erstmals die Gräfin in Tschaikowskis Pique Dame an der Wiener Staatsoper.

Grace Bumbry gab weltweit Meisterkurse. Zudem hatte sie zahlreiche Verpflichtungen als Jurorin bei Gesangswettbewerben sowie als Gründerin der Vokal- und Opernakademie an der Berliner Universität der Künste. (Quelle & Fotoi Wikipedia)

Spontinis Oper „La Vestale“

.

Spontinis Oper La Vestale – muss ich gestehen – war für mich stets eine hoch respektable, aber zutiefst langweilige Angelegenheit, sowohl in der traditionellen italienischen wie originalen französischen Fassung. Oh diese unendlich scheinende Eröffnung, diese langen, quälend hohen Sopranpassagen im ersten Akt, bevor es endlich im zweiten – beim Verlöschen der ewigen Flamme im Vesta-Tempel – zur Sache geht. All das ließ mich ein wiederholtes Abspielen der verfügbaren Aufnahme fürchten.

Meine erste Begegnung mit dem Werk war die mit Maria Vitale in der alten Cetra-Aufnahme von 1951 in der Übersetzung von Giovanni Schmidt, die ich nur wegen der von mir so sehr geschätzten Vitale im Regal stehen hatte. Und selbst sie ging mir auf die Nerven. So wie spätere. Da war 1974 die Janowitz bei der RAI mit gleichem Effekt (sogar in Französisch, wenngleich um sie herum doch das Italo-Idiom durchschlug). Da war dann recht früh Riccardo Mutis dto. französische und schwerblütige Sony-Aufnahme mit der greinenden, weißstimmigen Karen Huffstodt (die Scala-Besucher 1993 waren nur von ihren flammend-roten Haaren verzaubert) nebst Kollegen aus dem internationalen Fach. Da war die muffige Kuhn-Aufnahme bei 1991 Orfeo mit der ungeeigneten und dto. im Internationalem verhafteten Rosalind Plowright und Münchner Crew (Gisella Pasino sang Mamma Lucia…), nicht wirklich belebend und schwerblütig, wenngleich ebenfalls in der Originalsprache und deshalb verdienstvoll.

Von Leyla Gencer, Renata Scotto und anderen nella versione italiana will ich absehen, das waren Irrtümer in langer Tradition, denn die Oper hielt sich wie andere Titel des napoleonischen Kanons am Buonaparte-Bruder-Hof in Neapel und dann in Italien sehr lange, eben in der italienischen Übersetzung von Giovanni Schmidt, dem darin Tüchtigen, der Libretti für Rossini & Co. verfasste. Und selbst die von mir stets geliebte Maria Callas 1954 an der Scala in nicht wirklich frischer Live-Akustik konnte mich, trotz Corelli und Stignani an ihrer Seite, nicht vom Werk überzeugen.

.

Gaspare Spontini: „La Vestale“/ Gallica BNF

Aber die neue Vestale beim Palazzetto, dem Konzert im Juni 2022 in Paris folgend, belehrte mich eines Besseren und macht aus mir einen lobpreisenden Paulus. Das rasante Orchester unter Christophe Rousset fetzt durch die Ouvertüre und die machtvollen Chöre, pulsiert in den Arien der Solisten und treibt die sonst so öden Rezitative in einem action-drama mit elektrisierender Spannung voran. Spannung ist überhaupt das Wort. Emphase, Inhalt, Drama – das hätte ich der Vestale bis dahin nicht unterstellt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich je eine Lobeshymne auf Marina Rebeka schreiben würde, deren Norma oder Imogene/Pirata mich nicht erwärmen konnten und deren Stimme ich bis jetzt als mir zu scharf auf der Höhe und viel zu hell für die dramatischen Partien empfunden hatte. Liegt es nun an Rousset oder dem eingehenden Studium der Partie: Frau Rebeka ist hier schlicht eine Wucht. Dunkel getönt mit bester, absolut bester französischer Diktion durchmisst sie die sonst so unendlich langen Passagen des ersten Aktes mit überspringendem Engagement, bleibt stets diszipliniert in der Stimmführung, zeigt Emphase und Empathie und gibt ein wirklich bemerkenswertes Rollenporträt einer jungen Frau in extremis. Und bis auf eine Mitwirkende sind die übrigen Solisten derselben Wirkung. Stanislas de Barbeyrac ist ein sexy-viriler Licinius mit schöner Tiefe und heldisch-hellen oberen Noten, eine Pracht an französischer Mittelklasse-Stimme, ganz wunderbar auch er in der Diktion. Ebenso Tassis Christoyannis, stets von mir geschätzt und – wie von Alexandre Dratwicki nachstehend ausgeführt – als dunkler Bariton für den Cinna eingesetzt, auch er eine Besetzung vom Feinsten. Nicolas Courjol, akklamierter Teufel jüngst im Meyerbeerschen Robert beim Palazzetto, macht einen bedrohlichen, unversöhnlichen Pontifex. Die Szene zwischen ihm und de Barbeyrac/ Luicinius im dritten Akt zeigt – wie manche andere Momente der neuen Einspielung – Vor-Echos eines späteren Verismo, action pur. Und David Witczak schließlich stützt mit Gewinn in den kleineren Partien.

Spontinis Oper „La Vestale: der Librettist Victor-Joseph Étienne de Jouy/ Wikipedia

Bleibt nur die Grande Vestal in akustischer Gestalt von Aude Extremo. Ihr brustiger Carmen-Dalila-Amneris-Mezzo franst für mich wie  elektrisches Flimmern an der Rändern aus und hat einen unangenehmen, faserigen Klang (und dabei bleibt sie auch noch recht wortunverständlich, eigentlich  überraschend für eine Französin; aber ihre Périchole, Grande Duchesse   oder auch Venus im französischen Tannhäuser 2017 in Monte-Carlo ließen bereits dieselben Defekte  hören).

Der Flämische Radio Chor (Flore Merlin, und Thomas Tacquet) ist eine absolute Wucht an Präzision und Artikulation. Dazu kommen Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset in atemberaubender Form und ebenso atemberaubender Dynamik, dass einem beim Hören auch mal fast schwindlig wird. So spannend und rasant kann Spontini sein (verfügbar ab dem 12. Mai 2023). G. H.

.

.

Ein Überblick vorab: Die in den 1760er Jahren von Gluck durchgeführte Opernreform, die auf ein Prinzip der dramatischen Einheit und Plausibilität abzielte, hatte entscheidende Auswirkungen auf die französische Opernszene. In den 1780er Jahren komponierten Lemoyne, Salieri und Vogel, obwohl sie aus dem Ausland stammten, lyrische Tragödien, die sich direkt daraus ableiteten. Bis etwa 1810 (also Auftritt Spontini) zeigten sich vor allem Cherubini und Méhul, aber auch Catel, Le Sueur und Berton als Gluck-Jünger in Werken, in denen der italienische Einfluss sehr begrenzt blieb. Mit La Vestale (1807) wurde Spontini zu einem der großen Vertreter der Tragédie lyrique. Mit Aubers La Muette de Portici (1828) wurde das Genre der „Grand opéra“ in diesem gluckistischen Erbe geboren. BerliozLes Troyens (1863) ist aufgrund seines mythologischen Themas und seiner dramatischen Konzeption ein Wiederaufleben des von Gluck propagierten Ideals. Erwähnenswert sind auch die Werke anderer Komponisten wie Joncières oder Reyer. Letzterer gipfelt in Salammbô (1890), einer der letzten Ausprägungen des Gluck’schen Erbes, diesmal verwässert durch die Wagner’sche Konzeption des Dramas im romantischen Jahrhundert. (Palazzetto Bru Zane)

.

Spontinis Oper „La Vestale“/ Tempel der Vesta/ Bühnenbild von Friedrich Schinkel für die Berliner Hofoper 1813/ Wikipedia

Zum Werk: Spontinis Oper La Vestale war ein großer Erfolg und erlebte bis 1830 allein in Paris mehr als 200 Aufführungen, die Spontini enormen finanziellen Gewinn brachten. La vestale (Die Vestalin) ist eine „tragédie lyrique“ in drei Akten von Gaspare Spontini mit einem Libretto von Victor-Joseph Étienne de Jouy. Spontini stellte die Partitur im Sommer 1805 fertig, musste zunächst aber gegen Intrigen rivalisierender Komponisten-Kollegen und führender Mitglieder der Opéra kämpfen. Die Premiere wurde durch Spontinis Gönnerin, die Kaiserin Joséphine, ermöglicht. Am 15. Dezember 1807 wurde La vestale an der Pariser Académie impériale de Musique uraufgeführt. Dabei sangen Étienne Lainez (Licinius), François Lays (Cinna), Henri Étienne Dérivis (Pontifex maximus), Duparc (Anführer der Wahrsager), Caroline Branchu (Julia) und Marie-Thérèse Maillard (Hohepriesterin). Spontini überreichte der Kaiserin als Dank für ihre Unterstützung eine Partitur.

.

Spontinis Oper „La Vestale“/Stich nach einem Entwurf von Bignami in der L’Illustrazione Italiana, Anno 3, No 6, Dic. 5, 1875/ ital. Wikipedia

Dazu Alexandre Dratwicki im Beiheft zur neuen Ausgabe beim Palazzetto Bru Zane: Dennoch muss man zugeben, dass das Libretto, die Musik und das Bühnenbild nicht ausgereicht hätten, um einen Triumph zu erzielen, wenn sie nicht von einer erstklassigen Sängerbesetzung getragen wurden. Manchmal wurden Marie-Thérèse Maillard, François Lays, Étienne Lainez, die manchmal für ihren rauen, erzwungenen Gesangsstil verspottet. François Lays, Étienne Lainez und Henri-Étienne Dérivis fanden in Cinna, Licinius und dem Pontifex Rollen, die ihren Fähigkeiten angemessen waren, in denen ihre Technik bei dieser Gelegenheit eine großartige Widerspiegelung fand. Wenn diese Künstler so hell leuchten, dann auch deshalb, weil Spontini viele Details seines seines ursprünglichen Konzepts für sie überarbeitet hatte. Es gibt zahlreiche Diskrepanzen zwischen dem autographen Manuskript und der von Érard gedruckten Endpartitur. Die Transpositionen und Varianten für Mlle. Maillard als Obervestalin lassen sich durch die Besonderheit einer Sopranstimme erklärt werden, die sich einst in einer hohen Tessitura wohlgefühlt hatte, sich aber im Laufe der Jahre ein extrem tiefes Register und hohe Töne von erschütternder Kraft dazugewann: War sie nicht als ‚Mlle Braillard‘ (Fräulein Schreihals) bekannt?

Der Musikwissenschaftler und Prinzipal des Palazetto, Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Der Fall von Cinna und Licinius ist wesentlich komplexer. Der römische Feldherr sollte ursprünglich von Lays gesungen werden, den Spontini – trotz der Unentschiedenheit seiner Stimme – als Bariton betrachtete, während die Rolle des Cinna von Lainez gesungen werden sollte (daher die heroische Tenor-Tessitura). Die Ankunft von Louis Nourrit in der Gesangsszene von Paris, dessen Status normalerweise dazu geführt hätte, dass er in naher Zukunft die Rolle des Licinius übernommen hätte, und – vor allem – die Proteste von Lainez, der die Rolle des premier ténor amoureux (romantische Tenorrolle) beanspruchte, die er in der Vergangenheit immer gesungen hatte, zwangen Spontini dazu, die Rollen teilweise umzuschreiben. Lainez sang nun Licinius, und Lays übernahm den Cinna. Doch die endgültige Druckfassung trägt noch immer die Narben der Umarbeitung, die auch heute noch den Intendanten bei der Besetzung der Rollen Kopfzerbrechen bereiten.

Spontinis Oper „La Vestale“/ Caroline_Branchu als Julia/Gallica BNF

Wenn es eine Sängerin gab, für die La Vestale einen glücklichen Wendepunkt in ihrer Karriere darstellte, dann war es zweifellos die Sopranistin Caroline Branchu, die 1798 an die Opéra gekommen war und die Berlioz noch in den 1820er Jahren mit Lorbeeren überhäufte (sie wurde im Juli 1825 pensioniert). Die Rolle der Julia war ihr auf den Leib geschrieben und ermöglichte ihr sowohl ihre Sensibilität in verinnerlichten Momenten als auch ihre Kraft in dramatischen Ausbrüchen. Ihre Stimme, „so rein und so melodiös“ (Le Publiciste), erblühte in Momenten zu einem stark kontrastierenden Charakter. Die große Szene „Toi que j’implore… / Impitoyables dieux…‘, im zweiten Akt, ist wahrscheinlich der längste – oder jedenfalls der anspruchsvollste – Monolog, der bis dahin für einen Sänger der Opéra komponiert wurde. Aber mit dem Rückblick auf zwei Jahrhunderte sind es vor allem die ariosi „Ô des infortunés“ und „Toi que je Toi que je laisse sur la terre“, die bemerkenswert innovativ erscheinen: Hier nimmt Spontini die romantische Morbidität der italienischen Oper vorweg und schafft einen orchestralen Stil, der die cantabili von Donizetti und Bellini beeinflussen sollte.

Die Tatsache, dass Caroline Branchu in der Lage war, ihre Technik und stimmlichen Gewohnheiten an diese Neuerung anzupassen, wurde als erwähnenswert erachtet. Diese „neue Art zu singen“ zeigte sich in einem zunehmend forcierten Stil einer zunehmend forcierten Stimmbildung, einer tiefen Lage, die wir heute als „veristisch“ bezeichnen würden, und eine Vereinfachung der angespanntesten Passagen, um sie so bequem wie möglich zu gestalten (Spuren davon finden sich in einigen der späteren Vokalpartituren des Werks).  Alexandre Dratwicki

.

.

Zu Spontinis „Vestale“/ „Bildnis einer Dame als Vestalin“ von Angelica Kaufmann, 1781-2/ Wikipedia

Bald verbreitete sich Spontinis Ansehen auch im Ausland. Noch 1810 wurde sie in Brüssel und (auf Deutsch) in Wien (EA am 7. November 1810 in der Übersetzung von Seyfried, Obervestalin: Katharina Buchwieser, Licinius: Giuseppe Siboni, Cinna: Johann Michael Vogl, Julia: Therese Fischer), 1811 in Berlin, 1812 in München und anschließend im ganzen europäischen Raum sehr erfolgreich gegeben. Zahlreiche Rezensionen schwärmten von der Beliebtheit der Oper. Ein Klavierauszug wurde im März 1811 in Dresden veröffentlicht, gefolgt von weiteren Fassungen (Ouvertüre, Duett etc.). In Italien erschien La vestale zunächst 1811 in Neapel (übersetzt von Giovanni Schmidt) und hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der neueren Opera seria. 1844 leitete Richard Wagner eine Einstudierung in Dresden mit Spontini als Dirigenten, dem vom begeisterten Publikum Kränze zugeworfen wurden (Übersetzung wie in Wien von Ignaz Seyfried/1776-1841). La vestale verschwand im Gegensatz zu den anderen Opern Spontinis nie völlig von den Bühnen, sondern wurde in regelmäßiger Folge in Europa und Amerika gespielt.

.

.

Spontinis Oper „La Vestale“/Étienne Lainez (der in der UA den Licinius sang) als Rameaus Dardanus/ Gallica BNF

Dokumente: 1926 nahm Rosa Ponselle die Arien „Tu che invoco“ und „O nume tutelar“ nach ihrem  europäischen Gastspiel als Giulia beim Maggio Musicala Florenz 1933 und vorher an der Met 1925/6 erstmals im Tonstudio auf (RCA). Die tapfere italienische Radioanstalt RAI spielte die Oper – erstmals in ihrer Gänze im Nachkriegs-Europa – bereits 1951 in der traditionellen italienischen Version als Live-Konzert mit Maria Vitale in der Titelrolle in Turin ein, Renato Gavarini und Elena Nicolai waren die Partner unter Ferdinando Previtali; das Ganze erschien wenig später als LP bei Cetra (nun auf CD immer noch eindrucksvoll in Italienisch/Warner). Maria Callas nahm die zwei Arien der Giulia 1955 bei EMI auf (Callas alla Scala), nachdem sie ein Jahr zuvor bereits die Titelpartie in der bekanntesten modernen Produktion übernommen hatte: Mit der Callas wurde La vestale an der Mailänder Scala im Dezember 1954 zur Saisoneröffnung unter der Regie von Luchino Visconti zum Jubiläum von Spontinis 180. Geburtsjahr herausgebracht. Diese Aufführung war zugleich das Scala-Debüt Franco Corellis. 1969 reanimierte der Dirigent Fernando Previtali dieselbe Produktion mit der Sopranistin Leyla Gencer und dem Bariton Renato Bruson (Myto u. a.). Sony brachte eine Live-Aufnahme in der Folge der Produktion an der Mailänder Scala (im Dezember 1993) unter Riccardo Muti heraus (Karen Huffstodt erwies sich als unzureichende Titelbesetzung, und auch die übrigen singen eher Verdi/Puccini – Spontini internation, möchte man sagen, das hat sich bis heute kaum geändert). Denn die „jüngste“ Einspielung von Orfeo/ 1991 weist ebenfalls ein wenig geeignetes Personal unter Gustav Kuhns ambitionierter Leitung auf (Rosalind Plowright, Francisco Araiza u. a.).

Dazu schreibt Alexandre Dratwicki: Erst etwa dreißig Jahre nach Callas begann das Werk gelegentlich in seiner ursprünglichen französischen Sprache zurückzukehren. Doch andere grundsätzliche Fragen sind bis heute nicht geklärt, angefangen bei der Unterscheidung zwischen den Stimmlagen von Licinius und Cinna, mal Tenor, manchmal Bariton. (..) Die französischsprachige Fassung, die das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Gustav Kuhn im Jahr 1991 (bei Orfeo) aufgenommen wurde, zwei italienisch anmutende Tenöre mit blechernem Timbre.  (…) Das Ergebnis unterscheidet sich nur wenig von der Aufführungspraxis, für die Riccardo Muti heute wahrscheinlich der bedeutendste noch lebende Vertreter ist (Scala/ Sony).

Zumal die veröffentlichte Partitur, selbst in der kritischen Ausgabe von Ricordi aus den 1990er Jahren, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Merkwürdigkeiten beibehält: Die Anordnung der Solostimmen ist irreführend, und die Besetzung der Chöre lässt die hautes-contre (ersten Tenöre) von 1807 außer Acht und contralti zu, die in eine fast unerreichbare untere Lage gedrängt werden. Selbst solche Details wie die ossias für die Obervestalin erwecken Skepsis hinsichtlich ihrer Herkunft und Legitimität. Die Verwendung von historischen Instrumenten war die naheliegende Wahl für die neue Aufnahme, um zu der prägnanten Energie und den halsbrecherischen Tempi zurückzukehren, die von den Kritikern der damaligen Zeit erwähnt werden. Christophe Rousset und Les Talens Lyriques haben diesen Stil dank ihrer langjährigen Vertrautheit mit anderen Werken aus der Zeit verinnerlicht, darunter Cherubinis Médée, Renaud von Sacchini, Uthal von Méhul und Les Danaïdes von Salieri. Der Flämische Radio-Chor glänzt einmal mehr mit seiner akribischen Herangehensweise an die der Partitur.  Es war auch – und vor allem – notwendig, eine Besetzung von Sängern zusammenzustellen die bereit waren, dieses Repertoire mit Eifer und Inbrunst zu interpretieren hinsichtlich der Intonation und der Präzision eines perfekt prononcierten Textes.

So verjüngt, zeigt La Vestale paradoxerweise einen weniger revolutionären, aber nicht weniger interessanten Aspekt als das Werk, das wir bisher kannten. Außerdem kann die Musik nun mit anderen Opern aus der gleichen Zeit verglichen werden: Opern aus derselben Zeit, die erst in den letzten Jahren auf Schallplatte Jahren erschienen sind: Sémiramis und Les Bayadères (Catel), Uthal und Adrien (Méhul), Phèdre (Lemoyne), La Mort d’Abel (Kreutzer), Les Abencérages (Cherubini, alle im Kanon des Palazzetto), und andere. Wenn man sie in diesen neuen Kontext stellt, werden die Momente offensichtlicher Modernität deutlich. Die Passagen, die beispielsweise Bellini vorwegnehmen, und die Verbindungen zwischen Glucks französischen Werken und La Vestale sind offensichtlich. Alexandre Dratwicki

.

.

Zu Spontinis „Vestale“/ Szene aus der Parodie „La Marchande des Mode“ aus der Feder von Librettist Victor-Joseph Étienne de Jouy zur Musik von Spontini, 1807/ Gallica BNF

Verbreitung: Bereits einen Monat nach der Uraufführung in Paris gelangte mit La marchande des modes (Die Modehändlerin) eine erste Parodie der Oper am Théâtre du Vaudeville auf die Bühne, gefolgt von einer weiteren, Cadet Buteux à l’opéra de la Vestale von Marc-Antoine Madeleine Désaugiers.

Der Erfolg der Oper inspirierte Carl Guhr zu einer eigenen Version (UA 1814) am Hoftheater Kassel. Saverio Mercadantes Oper La vestale wurde 1840 am Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt und im selben Jahr in Berlin unter Anwesenheit Spontinis, der dort einer von drei Generalmusikdirektoren war, als Gastspiel auf Italienisch gegeben. Weitere Aufführungen erfolgten in Rom unter geänderten Titeln: Emilia (1842) und San Camillo (1851).

Die Aktivitäten im 20. Jahrhundert wurden bereits erwähnt, und die jüngste – vor der des Palazzetto – war die von Jeremy Rhorer 2015 an der Pariser Oper, wie sie auf youtube nachzuerleben ist, ebenfalls – wie die nun von Christophe Rousset – auf Originalinstrumenten, aber nicht auf CD gebannt, was eigentlich unverständlich war. Aber seine Besetzung kann in der Titelrolle nicht mit Rousset mithalten, wenngleich die von mir nie sonderlich geschätzte Béatrice Uria-Monzon der neuen Oberrpiesterin Aude Extremo ungleich vorzuziehen ist. Die Männerpartien sind ebenfalls exzellent und sehr französisch in Farbe und Diktion.

Zu Spontinis „Vestale“/ Szene aus der Oper von Moritz von Schwind im Wiener Opernhaus/ Wikipedia

Frühere Bemühungen um die Oper in der Originalsprache sind eher wenig dokumentiert. Die inzwischen verblichene Firma Gala brachte eine Aufführung aus Paris von 1976 unter Roger Norrington heraus mit Michelle Le Bris und der wunderbaren Nadine Denize in den weiblichen Hauptrollen. Bereits 1964 gab es ein Konzert im französischen Rundfunk mit Renée Manzeller, Micheline Grancher und Jan Mollien unter Jean-Paul Kreder, festgehalten bei Chant du Monde. Gundula Janowitz war 1974 bei der RAI (BJR und andere) die freudlose Julia unter Jesus Lopez-Cobos neben Ruza Baldani und der stentoralen Gilbert Py. 2015 nahm sich Alessandro de Marchi der Oper in Brüssel an: Alexandra Deshorties, Yann Beuron und die imposante Sylvie Brunet (-Grupposo) bestritten das Werk am Monnaie, durchaus erfolgreich, wenngleich nicht mit dem Drive der neuen Aufnahme. Die Aufführung in Wien 2019 hatte zumindest alle Ballette. Und die Mitwirkung von Michael Spyres als Licinius setzte der müden Angelegenheit Glanzlichter auf, aber weder Elza van den Heever noch die stumpfe Claudia Mahnke noch der trockene Sébastien Guéze konnten über das Funktionale hinaus punkten. Ebenfalls 2015 dann – wie erwähnt – machte Jeremy Rhorer mit seiner Interpretation der Oper in Paris von sich reden, aber auch hier ist der Bessere der Feind des Guten, denn die unruhige Stimme von Emonela Jaho ist nicht in der Liga von Marina Rebeka als Julia, wenngleich Jean-Francois Borras als Cinna und Andrew Richards als Licinus durchaus ihre Momente haben. Dennoch – der Palazzetto hat mit dieser neuen und erstmals auf CD mit originalen Instrumenten eindeutig die Nase vorn. Geerd Heinsen

.

.

Wie schon oft hat ein Artikel bei uns auch diesmal verschiedene Väter, einer davon ist Alexandre Dratwicki, Musikwissenschaftler von Rang und Künstlerischer Direktor des Palazzetto Bru Zane, operalounge.de-Lesern nur zu bekannt. Aus dem Booklet zur Buch-CD-Ausgabe der Vestale (BZ BZ 1051) entnahmen wir mit Dank die gekennzeichneten Passagen in unserer eigenen deutschen Übersetzung. Einiges in dem übrigen Artikels beruht auf Angaben von Wikipedia, ebenfalls mit Dank. Und wir haben uns bewusst im Bericht über verfügbare Aufnahmen der Oper auf die originalsprachigen beschränkt, daher werden Sänger wie Caballé und Co. nicht berücksichtigt (nur um Reklamationen vorzubeugen)/ Abbildung oben Carl Friedrich Deckler: „Vestalin mit Efeugirlande“, 1856, Dorotheum/ Wikipedia/ 05 05 23. G. H.

.

.

Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Von Strauss zu Hollaender & Weill

.

So begeistert von der Zusammenarbeit mit der finnischen Sängerin Camilla Nylund bei den Proben zum Rosenkavalier an der Berliner Staatsoper war André Heller, dass er danach gleich noch ein neues Projekt mit ihr mit dem Great American Songbook startete, das bei Naxos als Blu-ray in Schwarz-Weiß erschienen ist. Wer nur das Audio-Erlebnis zu schätzen weiß, der ist mit der ebenfalls vorhandenen CD gut bedient. In Wahrheit handelt es sich um eine Auswahl von „masterpieces“, und so sehr American sind diese nicht, denn es handelt sich zum Teil um Werke von Friedrich Hollaender aus seiner deutschen Zeit wie „Ich bin von Kopf bis Fuß“ oder um Kurt Weill, allerdings aus dessen amerikanischer Zeit. Die extra für die Sängerin geschaffenen Arrangements stammen von Florian Sitzmann, Christoph Unterberger und Leonard Eröd.

Als erstes konstatiert der Hörer, dass der Sopran seine Opernstimme verleugnet, bereits in Cole Porters Ev’ry Time we say Goodbye nur das obere Register zu bemühen scheint, die Stimme kleiner und mädchenhafter erscheinen lässt, als man von ihren Bühnenauftritten gewohnt ist. Dadurch gewinnt der Vortrag auch eine besondere Intimität, zudem erfreut ein langes Nachspiel den Hörer. In Michel Legrands What are you doing the rest of your life geht das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra unter Marin Alsop in die Vollen, steuert auch die Harfe Poetisches zum Klangbild bei und La Nylund lässt ihren Sopran in For all we know strahlen, ein schönes Vibrato für „Can’t help lovin‘“, danach exakte Synkopen vernehmen und auf „Love“ viel Süße in die Stimme einfließen , ehe ein lange gehaltenes „You“ den Vortrag beendet. Bewusst nicht einer der vielen Interpretinnen, darunter Ella Fitzgerald nacheifernd, weiß die Nylund ihren eigenen Zugang zu diesem Musikstück zu finden, reizvoll unterstützt vom sie begleitenden Saxophon. Angemessen verhangen klingt „ If I loved you“, und in Falling in love again vermeidet der Sopran jede Art der Nachahmung, bleibt immer nett und unschuldig bei viel Sinnlichkeit im Orchester und kann es doch nicht vermeiden, dass man Marlenes Ich bin von  Kopf bis Fuß nicht aus dem Sinn bekommt. Einen großen Teil des Reizes von I’ll be seeing you macht die begleitende Mundharmonika aus, für When I fall in love wird eine Gitarre bemüht, während die Stimme in schöner Nachdenklichkeit verharrt, „with you“ wie einen unendlichen Laut verhauchen lassend.

Das Fagott und die ausladende Gestik unterstreichen in They cant take von George Gershwin den vokalen Übermut und ein entschlossenes „No“ lässt keinen Zweifel an der Charakterstärke der Singenden aufkommen. Wenn es um die Liebe zu einem Taugenichts wie in Can’t help loving geht, kann auch einmal Rauch vorbeiziehen, eher kitschig als stimmungsfördernd wirkt das Eingreifen der Wiener Sängerknaben in The book of love. Wild bewegt geht es schließlich im Orchester zu bei Kurt Weills September Song, und wie ein Schluchzer klingt „tonight“ in Coots‘ For all we know, nachdem Ziehharmonika, Klavier und Saxophon für viel Stimmung in Hollaenders Illusions gesorgt haben.

Optisch wirkt, nicht zuletzt weil durchgehend schwarzweiß gehalten, alles wie ein Film aus den Zwanzigern, in denen auch viele Texte geschrieben wurden und viel von der Musik entstand. Akustisch findet die Sängerin ihren ganz eigenen Zugang zu den Songs, und die Aufnahme wird zusätzlich interessant durch die sehr abwechslungsreiche Instrumentierung (Naxos NBDO162V). Ingrid Wanja

Soňa Červená

.

Die tschechische Opernsängerin und Mezzosopranistin Soňa Červená (* 9. September 1925 in Prag; † 7. Mai 2023 ebenda) ist tot. Die Kammersängerin starb im Alter von 97 Jahren in ihrer Geburtsstadt Prag, wie das Prager Nationaltheater mitteilte. Nach ersten Erfolgen in ihrer Heimat ging Cervena 1958 in die DDR an die Berliner Staatsoper Unter den Linden.

Nach dem Mauerbau floh sie in den Westen und fand neue Engagements an der Deutschen Oper Berlin, der Oper Frankfurt und dem Opernhaus in San Francisco. Sie bestritt zahlreiche Gastauftritte in Westeuropa.

Ihr Rollenspektrum reichte von der Carmen in der gleichnamigen Oper über die Ulrica in Verdis „Ein Maskenball“ bis hin zur Brangäne in Wagners „Tristan und Isolde“. Auch als Schauspielerin war Cervena aktiv. Zuletzt war sie 2017 in der ZDF-Serie „München Mord“ zu sehen. Cervena erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die tschechische Verdienstmedaille und den Ehrentitel „Dame der tschechischen Kultur“. Noch im vorigen September trat sie – kurz nach ihrem 97. Geburtstag – in der Lateranbasilika in Rom bei einem Konzert aus Anlass der damaligen EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens auf.

Ihre Lebenserinnerungen erschienen 1999 unter dem Titel „Heimweh verboten – mein Stück Theater- und Weltgeschichte“. Sie verfasste zudem eine Biografie ihres Großvaters, des im 19. Jahrhundert bekannten Instrumentenbauers Vaclav Frantisek Cerveny. Geboren wurde Sona Cervena am 9. September 1925 in Prag, am Sonntag verstarb sie ebenda (Foto Wikipedia). (Quelle und nachzuhören: Sendung rbb24 Inforadio)

Feuilletonistisches

.

Nicht in die falsche Richtung führen lassen solle sich der Leser vom zweideutigen Titel Das Vorspiel, und der Untertitel Begegnungen mit Musik in 15 Variationen klärt auch sofort darüber auf, dass es sich bei Carolin Pirichs Buch nicht um Handreichungen für ein glückliches Liebesleben handelt, sondern um klassische Musik. Nicht ganz nachvollziehbar ist die Gliederung des Buches in fünf Teile, von denen die drei mittleren umrahmt werden von Das Konzert I und Das Konzert II und aus vier oder sechs Kapiteln bestehen, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, außer dass ihnen jeweils ein Zitat eines Musikers vorangestellt ist. Die Rahmenhandlung schildert Vorbereitung und Durchführung eines Konzerts zu Corona-Zeiten auf einer Insel im Berliner Wannsee, wobei die Verschiffung des Flügels und dessen Transport auf einem Boot eine besondere Herausforderung darstellen und anschaulich geschildert werden. Diese wie auch die anderen Texte scheinen weniger die einer Journalistin als die einer Schriftstellerin zu sein, ganz besonders diejenigen mit dem titelgebenden Das Vorspiel oder mit Klassischer Krimi. In ihnen wird Spannung erzeugend mit Zeitsprüngen zwischen aktueller Handlung und Rückschau gespielt, auch in Konzert I wechseln Handlung und Reflexion einander ab und machen den jeweiligen Text zu einer so spannenden wie aufschlussreichen Lektüre.

Zweideutig ist er Titel Gegen den Strich, wird die Neugier des Lesers geweckt, auch indem mit einem „sie“ begonnen wird, erst später der Name Franziska Pietsch fällt. Da wird mit ebenso viel Sachlichkeit wie Empathie das Schicksal des musikalischen Wunderkinds geschildert, dessen Solistenkarriere wegen der Republikflucht des Vaters ein jähes Ende nahm. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt spielt die titelgebende Geschichte, die zugleich einfühlsam die seelische Gemengelage eines von 25 zum Vorspiel geladenen Kontrabassisten schildert, wie sie kundig Deutschland als Sehnsuchtsland von klassischen Musikern aus der ganzen Welt mit den verheerenden Folgen für deutsche Künstler beschreibt. Um die Mutter, die Autorin und ein in Hamburg 1940 gebautes Klavier geht es im Kapitel Vom Mut, zu viel zu sein, um einen Programmheftverkäufer in der Deutschen Oper Berlin in Vor dem Vorhang und der bis dahin so gutwillige wie gutgläubige Leser stutzt, denn aus erster Quelle, von der um den sterbenden Giuseppe Sinopoli  gemeinsam mit ihrem Arztkollegen bemühten Krankenschwester der Herzklinik weiß er, dass alles etwas anders war als geschildert, und auch  sonst tauchen Unstimmigkeiten auf wie eine Deutsche Oper, die angeblich keine Logen, dafür aber ein Restaurant oberhalb des Ersten Rangs haben soll. Hätte der befragte Logenschließer noch einige Jahre früher seinen Dienst angetreten, hätte er vom Schicksal seines Kollegen berichten können, der dem Tenor William Pell den Zutritt zum 1. Rang verwehrte, weil die Premiere der Walküre bereits begonnen hatte, und der sich so sehr aufregte, dass er an Ort und Stelle an einem Herzinfarkt verstarb.

Igor Levit steht im Mittelpunkt von Ich will nicht nur der Mann sein, der die Tasten drückt, und die Verfasserin sieht in ihm eine Art Grönemeyer der Hochkultur  und lobt seine Twitter-Tätigkeit wie seine politischen Aktionen. Stillstand stellt die Dirigentin Joana Mallwitz in den Mittelpunkt, handelt vom Wandel der Dirigentenrolle, der mit dem des weiblichen Taktgebers auf die Bühne oder vielmehr in den Orchestergraben einsetzt. Der schwärmerische Text lässt vermuten, dass die Autorin dem Gegenstand ihrer Betrachtungen sehr nahe steht und dieser wiederum Gustav Mahler, so dass die einzelnen Kapitelüberschriften den Tempoanweisungen einer Sinfonie des Komponisten gleichen. Anschließend wird über die Tätigkeit der Verfasserin für das Ensemble für zeitgenössische Musik berichtet, in Auf beiden Saiten anspielungsreich, vorsichtig und taktvoll das Abgleiten des Geigers David Garrett in das Showgeschäft, ins Cross over beklagt. Kulturmanager Peter Schwenkow dürfte sich mit seinem „sex sells“ nicht gern zitiert sehen.

Ein Zitat des Geigers Christian Tetzlaff wird dem dritten Block vorangestellt, in dem über den im Garten vergrabenen Koffer des polnischen Komponisten Ludomir Rózycki berichtet wird, von der Handschrift seines Konzerts in der Uni-Bibliothek, wo die Verfasserin auch mit der Urenkelin des Musikers zusammentraf, eine Begegnung, die sie nicht in journalistischer Kühle, sondern mit poetischer Wärme beschreibt. Vom Lärm der Zeitenwende handelt von der Änderung eines Konzertprogramms in der Berliner Philharmonie nach dem Angriff Putins auf die Ukraine, Zum Leben erweckt wird Mozarts Geige von Christoph Koncz, und Die dunkle Seite der Sonate beschreibt John Cages‘ vier Minuten und 33 Sekunden dauerndes Opus absoluter Stille.

Das vielseitige und mit viel Liebe für die klassische Musik und ihre Interpreten geschriebene Buch ist eine anregende und bereichernde Lektüre (Berenberg Verlag 216 S.; ISBN 9783949203527) . Ingrid Wanja 

Fundstück

.

Nanu, eine Aufnahme von 1976 aus der nicht prominenten Abteikirche Marienfeld mit dem nicht prominenten Bachchor Gütersloh unter der Stabführung des ebenfalls nicht allzu prominenten, inzwischen verstorbenen Dirigenten Herman Kreutz auf einer nagelneuen CD?! Wie kann es dazu kommen? Die Deutsche Grammophon hat es sich mit dem neuen Label MDG Preziosa zur Aufgabe gemacht, bisher  nicht auf CD veröffentlichte Aufnahmen zugänglich zu machen, ohne klangverändernde Manipulationen. „Das Ziel ist die unverfälschte Wiedergabe mit genauer Tiefenstaffelung, originaler Dynamik und natürlichen Klangfarben.“ „Größte Natürlichkeit und Lebendigkeit“ soll damit erreicht werden und werden so auch Rossinis Petite Messe solennelle in beeindruckender Weise zuteil. Eigentlich hatte man im fernen Jahr 1976   nur an einen Testfall gedacht, war dann aber von dem Ergebnis so überzeugt und außerdem glücklich darüber, dass die Messe auf zwei Seiten einer Langspielplatte passte, die in der Presse auf große Zustimmung stieß. Auf eine CD allerdings passt das Werk mit 96 Minuten Länge nicht, und deswegen wurden auch alle diesbezüglichen Pläne zu den Akten gelegt.

Wie Verdis Requiem war auch Rossinis Stabat Mater dem Vorwurfe ausgesetzt gewesen, es klinge zu opernhaft, sei eigentlich keine geistliche Musik, umso weniger, wenn noch bereits aus Opern bekannte Melodien dafür recycelt wurden wie Almavivas „Ecco ridente il cielo“. Erst dreißig Jahre nach seiner letzten Oper, Guglielmo Tell, setzte sich Rossini noch einmal an das Klavier, um seine „leider letzte Todsünde seines Alters“ zu komponieren. Dies geschah 1863 innerhalb von nur zwei Monaten und war eigentlich nur für die Aufführung in einer Privatkapelle gedacht, in der nicht ein ganzes Orchester, sondern stattdessen nur zwei Klaviere und ein Harmonium sowie vier Solisten und acht Chormitglieder Platz hatten. Obwohl Rossini später noch eine Orchestrierung vornahm, schätzte er wohl weiterhin die erste Fassung seiner Messe mehr als die erweiterte, von der man annimmt, er habe sich die Mühe damit nur gemacht, um zu verhindern, dass sie durch andere Komponisten entstellt werden würde.

Die Pianisten Marie-Theres Englisch und Christian de Bruyn fangen etwas zögerlich an, werden aber zunehmend zupackender, ja erscheinen stellenweise etwas vorlaut, als wollten sie ein ganzes Orchester ersetzen, aber das ist nur der erste, schnell revidierte Eindruck. Der Chor klingt bereits im Kyrie sanfter und frommer als ein italienischer, zeichnet sich durch ein schönes Anschwellen des Klangs aus und klingt im Gloria einfach engelsgleich. Geläufig, mit instrumentalem Klang wird das Sanctus absolviert, machtvoll das Credo, und ein Amen, das akustisch die ganze Welt zu umarmen scheint, beschließt die Messe.

Bemerkenswert ist das Solistenquartett. Sanft und hell leuchtet der Sopran von Gerda Hagner, keusch und innig im Crucifixus und von schöner Reinheit. Ehe sie einer der führenden Wagnersoprane wurde, hatte Gabriele Schnaut bereits eine Mezzokarriere hinter sich. Warm, vollmundig und wie aus einem Guss und mit viel Entschlossenheit in der Stimme führt sie die Messe mit dem Agnus Dei zum Schluss- und Höhepunkt. Sehr jung starb der in Brasilien als Sohn italienischer Eltern geborene Tenor Aldo Baldin, der mit bemerkenswert schönem Timbre und viel Sinn für Dramatik das Domine Deus singt. Ebenfalls bereits verstorben ist inzwischen der Bass Karl Fäth, der mit kraftvoller Höhe, in der Tiefe etwas grummelig, ein nachdrückliches Sanctus zu Gehör bringt. Auf weitere Ausgrabungen von MDG Preziosa kann man gespannt sein (MDG 102 0003-2). Ingrid Wanja  

Flaka Goranci

.

Die Mezzosopranistin Flaka Goranci versteht sich als universelle Künstlerin und widmet ihr aktuelles CD-Projekt „La Femme“ der gesellschaftliche Wirklichkeit von Komponistinnen, Künstlerinnen und sonstigen weiblichen Menschen, die vor allem aufgrund ihres Geschlechts repressiven Bedingungen ausgesetzt sind. Sie beauftragte Komponistinnen vor allem aus dem südosteuropäischen und vorderasiatischen Raum, erforschte Leben und Werk bedeutsamer historischer Persönlichkeiten und hat mit dem „World Chamber Orchestra“ für dieses Projekt ein eigenes neues Ensemble auf die Beine gestellt. Im Interview mit Stefan Pieper spricht die in Wien lebende, kosovo-österreichische Sängerin und Komponistin über ihren eigenen Werdegang, über gesellschaftliche Lebensumstände und die Vision, die sie zu ihrem aufwändigen Projekt antrieb.

.

Erzählen Sie mir etwas über die Vorgeschichte dieses Projektes. Ich habe mir schon sehr früh Gedanken über den Komponisten-Beruf aus weiblicher Sicht gemacht. Zugleich wollte ich vieles ausprobieren und mich nie zu stark auf eine Sache festlegen. Aber ich möchte hier etwas weiter ausholen, denn in das Projekt „La Femme“ fließt sehr viel persönliches von mir ein: Als Kind habe ich mit dem Klavierspiel begonnen. Ebenso habe ich gerne gesungen. Anscheinend gut genug, dass sich einige sehr gut vorstellen konnten, dass ich eine gute Opernsängerin abgeben würde.

Dann kam der Krieg im Kosovo und das war eine gewaltige Umbruchzeit für mich. Ich war nicht mehr Kind, sondern musste jetzt schnell erwachsen werden. Ich flüchtete nach Albanien und begann mit der Malerei, was ich heute als eine Art Heilungsprozess sehe, um viele Erlebnisse aus dem Krieg verarbeiten zu können.

Haben Sie sich auch mit Komposition beschäftigt? Ich war 16, als ich zum ersten Mal auf die Idee kam, einen Song zu schreiben. Daraus wurden schließlich Klavierstücke und dann dachte ich, dass ich Komponistin werden wollte. Bald lernte ich einen angesehenen Komponisten kennen. Mit ihm ergab sich ein aufschlussreiches Gespräch über die Lebensumstände als Frau in diesem Beruf. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört, dass ich mich mit solchen Fragen beschäftige. Wie ist es, als Frau Komponistin zu sein? Wie funktioniert so etwas, wenn du verheiratet bist, Familie hast und Kinder groß ziehst? Wo bleibt dann der kreative Freiraum, den es zum Komponieren braucht? Auch heute in der modernen Welt mit ihrer ganzen Dynamik bleibt so etwas schwierig. Alma Mahler und Clara Schumann sind leuchtende Beispiele aus der Geschichte, dass es dennoch geht. Ich habe mich dann weiter im Gesang ausprobiert, was mir sehr lag. Schon nach den ersten Stunden hatte ich ein schönes Gefühl und sah mich schon sehr bald als Opernsängerin. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade 18 Jahre alt. Ich habe dann vier Jahre lang in Tirana studiert. Mit 22 hatte ich mein Debüt auf der Opernbühne als Rosina. Das war mit seinen vielen Koloraturen eine riesige Herausforderung. Zunächst mal wollte ich aus Kosovo- Albanien heraus kommen, weil es anderswo viel mehr Karrieremöglichkeiten gibt.

Danach sind Sie ja nach Israel gegangen. War diese Zeit schon prägend für das aktuelle Projekt? Ich hatte das Glück, ein Scholarship in Tel Aviv zu bekommen und habe dann zwei Jahre bis zum Master-Degree dort studiert. Das war eine wichtige Station für mich. „La Femme“ wäre ohne diesen Aufenthalt in Tel Aviv nicht denkbar. Als ich nach Israel ging, hatte ich noch gar keine Ahnung von diesem Land. Bereichernd war für mich, auf was für ein riesiges Repertoire man in diesem Umfeld stößt. Die Vielfalt ist wirklich immens. Besonders faszinierte mich der Umstand, dass es hier genre-übergreifend so viele überlieferte Volkslieder mit sehr spannenden Einflüssen und Stilmischungen zu entdecken gibt. Dieses Erbe wird in Israel sehr gut gepflegt. Viele Komponisten arrangieren überlieferte Lieder neu. Auch im Schulunterricht werden viele israelische Lieder gelernt. Ebenso erstaunlich fand ich, dass viele Musikstile jener Musik, die ich vom Balkan her kenne, ähnlich sind.

Flaka Goranci als Carmen/ Theater Magdeburg/ Foto Andreas_Lander

Haben Sie sich in diesem Kontext über die Lebensumstände von Komponistinnen Gedanken gemacht?  Ich habe mich unter diesem Aspekt sogar musikologisch beraten lassen. Dabei rückten immer mehr Komponistinnen aus Arabien, dem mittleren Osten und vom Balkan in den Fokus. Mittlerweile war eine Projektidee geboren und erreichte einen immer größeren Level. Ich recherchierte einige Jahre weiter, lernte immer mehr Komponistinnen kennen, die sich zum Teil auch unter schwierigen Bedingungen trotzdem Gehör verschaffen. Da eröffnen sich viele Themenfelder, oft voller Dramatik. Ich denke hier an die Situation der Menschen im Kosovo, im Iran, in den besetzten palästinensischen Gebieten oder in Syrien, welche zum Beispiel das Lied „Those forgotten on the Banks of the Euphrats“ der syrischen Komponistin Dima Orsho abbildet. Dima Orsho singt dieses Lied mit mir zusammen auf dieser Aufnahme. Ebenso bin ich auf viele interessante Biografien aus der Musikgeschichte gestoßen. Es gibt hier einige beeindruckende Erfolgsgeschichten. Man denke zum Beispiel an Francesca Caccini, die im frühen 17. Jahrhundert ein sehr hohes Ansehen genoss und auch zu großem Wohlstand kam. Eine ebenso beeindruckende Figur ist die älteste, hier präsentierte Komponistin, die Byzantinerin Kassia, welche im 9. Jahrhundert lebte.
Fast 40 Menschen aus 11 Nationen waren an dieser Aufnahme beteiligt. Ebenso gibt es 21 Auftragskompositionen. War diese Größenordnung von Anfang an geplant? Ich wurde oft gefragt, wie ich den ganzen Aufwand stemmen wollte – mit so vielen verschiedenen Musikerinnen und Musikern und den ganzen Instrumenten. Aber ich war fest entschlossen, dass ich es mache. Ich brauchte einige Zeit, Menschen, auf die ich angewiesen war, zu überzeugen. Für die Finanzierung habe ich ein Crowdfunding gemacht und bin dankbar für den Vertrauensbeweis von so vielen Menschen. Ebenso glücklich bin ich, dass unter anderem auch der österreichische Musikfonds das Projekt unterstützt hat. Mir war daran gelegen, dass sämtliche Musikerinnen und Musiker angemessen bezahlt werden. Insgesamt hat sich eine sehr freundliche und warme Community gebildet.

Welche Herausforderungen gab es bei der musikalischen Realisation?  Es war nicht einfach Musiker zu finden, die vielseitig genug aufgestellt sind. Sie sollten schon alle klassisch ausgebildet sein, aber auch in der Improvisation zu Hause sein, ebenso die arabischen und anderen Stilrichtungen authentisch verkörpern und solche Spielweisen auf ihren Instrumenten beherrschen. Klassische Musiker können oft nicht improvisieren und Sängerinnen und Sänger sind auch oft aufs klassische Gesangsfach limitiert.

Sie nennen Ihr Ensemble „World Chamber Orchestra“ – ist das ein weiteres Zeichen dafür, dass Sie gerne groß denken?  Vor allem will ich hier nicht auf die Weltmusik-Schublade abheben. Ich würde schon eher von einem Classic-Crossover sprechen, wenn wir nach einer Kategorie suchen. Ich will einfach klarstellen, dass die Welt in diesem Orchester zusammenkommt und so etwas möglich ist. Ebenso ist es mein Traum, dass mehr Menschen in ein Opernhaus gehen – und eben nicht nur das Expertenpublikum, um die Superstars in ihren Paraderollen zu erleben. Mir geht es hier nicht darum, die Virtuosität meiner Stimme heraus zu kehren, sondern die Menschen auf einer anderen, tieferen Ebene zu berühren.

Den Worldmusic-Hit „Pata Pata“ mit der Stimme einer ausgebildeten Opernsängerin zu hören, ist am Ende der CD eine echte Überraschung. Wie kam es dazu?  Ich will konventionelle Vorstellungen aufbrechen und neue Kontexte erschließen. Die Verbindung meines Gesangs mit elektronischer Musik ist ein weiterer Vorstoß in diese Richtung. Genauso, wie Kulturen, Länder und Nationen voneinander getrennt sind, verhält es sich mit musikalischen Disziplinen. Ich finde, wir sollten mutiger werden, über Grenzen hinweg gehen und mehr Diversität zulassen.

Flaka Goranci als Carmen, hier mit Iago Ramos (Don José)/ Theater Magdeburg/ Foto Andreas Lander

Können Sie Ihre persönliche Vision, die hinter diesem Projekt steht, beschreiben? Ich komme aus einem Land, in dem Konflikte an der Tagesordnung sind, vor allem mit Serbien. Es gibt viele politische und wirtschaftliche Krisen. Junge Menschen können kaum ausreisen wegen restriktiver Visabestimmungen und es gibt Arbeitslosigkeit. Die Folgen des Krieges sind noch sehr präsent. Auch in Tel Aviv habe ich viele Spannungen, Unruhen und schlimme Dingen mitbekommen. Ich fühle mich sehr glücklich und dankbar, dass ich hier in Wien lebe, wo es so friedlich zugeht. Deswegen sehe ich es als eine Mission an, davon etwas weiter zu geben. Dafür können die musikalischen Grenzüberschreitungen, die hier möglich wurden, vielleicht etwas beitragen. Wenn hier Komponistinnen und Komponisten aus Israel, aus arabischen Ländern, dem Iran, aus Serbien und aus dem Kosovo vereint sind, sehe ich ein Symbol darin.

Mein Wunsch ist es, Grenzen zwischen scheinbar konträren Welten aufzubrechen. Die sind alle nur politisch, während sie durch Musik überwunden werden können. Immer wieder hat mich die Neugier angetrieben. Vor allem auf erfolgreiche, glückliche und manchmal auch heitere Stories, die auch unter feindlichen Lebensumständen möglich sind. Ich habe durch die Arbeit an „La Femme“ nicht nur neue musikalische, sondern auch gesellschaftliche Erkenntnisse gewonnen. Es ist mehr als nur Musik draus geworden, nämlich eine Form von politischem Protest und eine Botschaft für den Frieden (Foto oben Flaca Goranci). Stefan Pieper

Für Wien aus Wien

.

Eingerahmt von zwei Adelaiden, der von Beethoven und der von Schubert, präsentiert sich die CD des Tenors Daniel Johannsen unter dem Titel Wiener Lieder, bei dem man erst einmal an Heurigen und Schrammelmusik denkt. Mit Wien haben die auf der CD vertretenen Komponisten aber nur insofern zu tun, als die ihr ganzes Leben oder einen bedeutenden Teil davon in der Stadt der Habsburger verbrachten. Zu den beiden Komponisten-Genies gesellen sich noch Conradin Kreutzer und Nicolaus von Krufft, beide zu Lebzeiten ähnlich bekannt und beliebt wie Beethoven und Schubert. Kreutzer ist der Schöpfer einer Unzahl von Opern, von denen nur Das Nachlager von Granada Opernfreunden noch ein Begriff ist, von Kruffts Schaffen ist mit 24 Liedern und einigen Sonaten sehr viel übersichtlicher. Ihm blieb als Sekretär Metternichs, den er 1815 nach Paris und später auf anderen Reisen begleitete, nicht viel Zeit für kompositorische Arbeiten.
Es beginnt also mit Beethovens Adelaide, die der Tenor mit ausgeprägter, nicht durchweg nachvollziehbarer Agogik angeht, mit einem frischen, jung klingenden, aber manchmal auch herb und spröde erscheinenden Timbre und sehr viel Aufmerksamkeit für den Text. Das führt manchmal dazu, dass der Fluss der Melodie unterbrochen zu werden scheint. Gut nachvollziehbar sind die Steigerungen bei der mehrmaligen Wiederholung des Namens Adelaide.
Eine leichte stimmliche Hand hat der Sänger für das tändelnde Mit einem gemalten Band, der säuselnde Zephir charakterisiert das Singen, am Schluss gibt es eine schön heraus gearbeitete Verzierung.
Es folgt der Zyklus An die ferne Geliebte mit einem rasanten Schluss für das erste, ein wenig hervorgehobenes „ewiglich“ für das zweite, munteres Plaudern für das dritte und viel Heftigkeit für den Schluss des vierten Lieds. Untertreibend und recht trocken nimmt sich der Tenor des Frühlingsüberschwangs im fünften Lied an, während er sich beim letzten Stück zwischen beschaulich reflektierend und martialisch bewegt, wobei er an seine Grenzen gerät, was das Volumen der Stimme betrifft.
Angemessen theatralisch und kontrastreich beginnt Johannsen mit von Kruffts Der Abend, der aus dem Zyklus mit sechs Gedichten von Schiller stammt. Von fast lautlos bis hochdramatisch reicht das Spektrum, es geht mehr um die Herausarbeitung von kontrastreichen Einzelheiten als das Schaffen einer Gesamtstimmung. In Des Sägers Lohn auf den Text von Motte-Fouqué werden die Kontraste auch in der Begleitung von Matthias Krampe besonders effektreich ausgestellt. Recht gefällig erscheinende Rokokomusik scheint der Komponist für das Sturm-und-Drang-Lied Rastlose Liebe geschrieben zu haben, die Interpreten werden auch dem Text angenehm gerecht. Auch für Schillers Sehnsucht versuchen Sänger und Pianist mehr aus der Musik herauszuholen, als in ihr zu stecken scheint. In Des Mädchens Klage wird schön differenziert zwischen wörtlicher Rede und Erzähltext.
Es geht weiter mit Kreutzers Frühlings-Glaube, dem Beschwingtheit verliehen wird, in dem die Stimme aber auch scharf werden kann. Ein schönes Piano zelebriert sie in Ruhethal, wie alle Kreutzer-Lieder auf einen Text von Ludwig Uhland.
Wohl zu Recht wenig bekannt ist Schuberts Viola, in dem nicht enden wollend, genau eine Viertelstunde lang, das Sterben eines Schneeglöckchens betrauert wird. Dafür fasst sich Schubert mit seiner Adelaide zwei Minuten kürzer als Beethoven und Daniel Johannsen beweist noch einmal, dass er wohl vor allem für Lied und Konzert, weniger für die Oper bestimmt ist (Spektral SRL4-21791). Ingrid Wanja

Andreas K. W. Meyer

.

Der Schock könnte nicht größer sein – Operndirektor Andreas Meyer starb an den Folgen eines Herzversagens. Ein Freund, ein wunderbarer, humorvoller Mensch und ein kenntnisreicher Musikmann ist tot. Rund 20 Jahre kannte ich ihn, zuletzt in Bonn, davor in Berlin und Kiel. Was für eine Lücke hinterlässt dieser Champion für die Oper, namentlich für die unbekannte. Deren Titel sich immer wieder auf seinen Spielplänen fanden. Eigentlich fehlen da die Worte. Deshalb nachstehend die Pressemitteilung des Theater Bonn. Die eigenen bleiben im Halse stecken. G. H.

.

Mit großer Bestürzung teilt das Theater Bonn den Tod seines Operndirektors Andreas K. W. Meyer mit. Andreas Meyer verstarb mit 64 Jahren infolge von Herzversagen am Karsamstag, 8. April 2023. Als Dramaturg prägte Andreas Meyer seit der Spielzeit 2013/14 das Gesicht und die Geschicke des Bonner Opernhauses entscheidend mit. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Wiederbelebung zu Unrecht in Vergessenheit geratener Werke der Opernliteratur, vorrangig des frühen 20. Jahrhunderts. Zu Beginn seiner Bonner Zeit brachte das Haus Opern wie DER TRAUM EIN LEBEN von Walter Braunfels, Emil Nikolaus von Rezniceks HOLOFERNES oder Hermann Wolfgang von Waltershausens OBERST CHABERT zur Aufführung. Diese Arbeit verdichtete sich in den vergangenen Jahren in der vielbeachteten Reihe FOKUS ´33 – Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben. Große Beachtung erfuhren zuletzt unter anderem Inszenierungen von Rolf Liebermanns LEONORE 40/45, Giacomo Meyerbeers EIN FELDLAGER IN SCHLESIEN und Alberto Franchettis ASRAEL. Besonders am Herzen lag Meyer die Wiederaufführung von Clemens von Franckensteins LI-TAI-PE. Zuletzt arbeitete er mit Hochdruck an der ersten ungestrichenen Wiederaufführung von Franz Schrekers DER SINGENDE TEUFEL. Das Haus wurde für diese Arbeiten mehrfach ausgezeichnet.

Andreas K. W. Meyer, 1958 in Bielefeld geboren, war Musikdramaturg und -publizist. Nach einem privaten Kompositionsstudium bei Rudolf Mors studierte er ab 1981 Musikwissenschaft, unter anderem bei Klaus Hortschansky sowie Kunstgeschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 1987 begann er eine Tätigkeit als freier Kritiker, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und verschiedene Rundfunkanstalten, vornehmlich für den WDR und den BR.

Von 1993 bis 2003 arbeitete er als Musikdramaturg an der Oper Kiel: zunächst unter Generalintendant Peter Dannenberg, ab 1995 als leitender Musikdramaturg sowie ab 2002 als Chefdramaturg Musik und stellvertretender Opernintendant unter der Intendantin Kirsten Harms. 2004 wechselte er zusammen mit ihr an die Deutsche Oper Berlin, deren Chefdramaturg er bis 2012 war. Zur Spielzeit 2013/14 bat ihn Bernhard Helmich als Operndirektor und stellvertretender Generalintendant ans Theater Bonn.

Vor allem die Wiederentdeckung von Franco Alfanos CYRANO DE BERGERAC sowie ein Zyklus mit weniger bekannten Werken von Franz Schreker und die Neubefragung von Gian Francesco Malipieros I CAPRICCI DI CALLOT oder Richard Strauss’ DIE LIEBE DER DANAE verhalfen der Oper Kiel zu erheblichem überregionalem Interesse. An der Deutschen Oper Berlin kamen Alberto Franchettis GERMANIA und Alexander von Zemlinskys DER TRAUMGÖRGE hinzu. Die SZENEN AUS DEM LEBEN DER HEILIGEN JOHANNA von Braunfels wurden bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahre 2008 zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt.

Zu den Veröffentlichungen von Andreas K.W. Meyer gehören unter anderem Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Herausgeber, zusammen mit Christoph Munk), Kiel 2001; Wie man die Geschichte erzählt, Kiel 2003; Aufsätze in verschiedenen Publikationen, darunter: Frederick Delius: Music, Art and Literature, Aldershot 1998; Musik des Aufbruchs. Franz Schreker. Grenzgänge – Grenzklänge, Wien 2004./ Theater Bonn

Saverio Mercadantes „Proscritto“

.

„Verdienstvoll“ ist das Wort, dass dem Opernfan bei dem hochspannenden Programm von Opera Rara einfällt. Immer wieder hat sich die englische Firma um die Lücken (weitgehend) im Kanon des Belcanto gekümmert und seit rund 30 Jahren viele, viele Opern aus dieser Epoche zum Leben erweckt, deren Titel nur die erbitterten Sammler kannten, oft nicht einmal diese. Deshalb muss man die Firma immer wieder hervorheben und loben ob ihrer vielfältigen Initiativen.

So auch nun, wenn nach dem erfolgreichen Konzert von Saverio Mercadantes Oper Il proscritto 2022 in London diese Oper mit schönem Booklet und einem wie stets hochinformativen Aufsatz des eminenten Musikwissenschaftler Roger Parker auf 2 CDs herausgekommen ist. Nachstehend erst einmal ein Auszug aus der Einleitung zur Oper von Roger Parker aus dem umfangreichen Booklet zur CD-Ausgabe, dann der dertailfreudige Konzerteindruck von Alan Jackson, Schatzmeister der ehrwürdigen Londoner Donizetti-Gesellschaft und danach eine kurze Einschätzung der Aufnahme selbst. G. H.

.

.

Roger Parker: Saverio Mercadante (1795-1870), der erfolgreichste italienische Opernkomponist des 19. Jahrhunderts außerhalb der „großen Vier“ (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi) (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi), hatte eine wechselvolle Karriere. Unehelich geboren (sein adeliger Vater und seine Hausangestellte als Mutter hätten selbst eine Opernhandlung bevölkern können), gelang es ihm, eine Ausbildung am Konservatorium von Neapel zu erhalten und um 1820 schlug er eine Opernkarriere ein, zwangsläufig als Nachfolger und Nachahmer Rossinis. Sein größter früher Erfolg war die komische Oper Elisa e Claudio, deren Triumph an der Mailänder Scala 1821 zu zahlreichen neuen Aufträgen führte. Der internationale Erfolg schien schien gesichert, als der neapolitanische Impresario Domenico Barbaja ihn für eine Saison am Wiener Kärtnerthortheater engagierte 1824. Aber das ging schief (die von Rossini besessenen Wiener waren noch nicht bereit, einen italienischen Nachfolger in Erwägung zu ziehen), und als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, war er bereits wieder auf dem Weg nach Italien.

Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, hatte sich dort ein rivalisierender Komponist, Giovanni Pacini, etabliert. Und so ging die Achterbahn weiter. Erfolgreiche Aufenthalte auf der iberischen Halbinsel erhöhten seinen Einsatz erneut, und 1833 wurde er zum Maestro di cappella am Dom von Novara ernannt, eine Position, die zwar eindeutig die Produktion von religiöser Musik erforderte, die ihm aber auch die Möglichkeit gab, regelmäßig zu verreisen, um seine seine Opernkarriere fortzusetzen. Ein weiterer Wendepunkt war das Jahr 1836: Rossini, inzwischen im Ruhestand und die „éminence grise“ am
Théâtre Italien in Paris, arrangierte für ihn eine Uraufführung in diesem prestigeträchtigen Theater (wie schon Bellini und Donizetti im Jahr zuvor). Aber die Wirkung der von ihm produzierten Oper I briganti war nur bescheiden.
1840, an einem anderen Wendepunkt, wurde Mercadante zum Direktor des Konservatoriums von Neapel ernannt (eine Position, für die sich Donizetti lange eingesetzt hatte). für die sich Donizetti seit langem eingesetzt hatte) und begann, sich verstärkt pädagogischen Aufgaben und der Komposition von Instrumentalmusik zu widmen. Er spielte mit dem Gedanken, die Opernkomposition ganz aufzugeben, kehrte aber schließlich zum Komponieren für die Bühne zurück, wenn auch in einem viel langsameren Tempo. Il proscritto, das am 4. Januar 1842 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt wurde, war die erste Oper, die in dieser neuen Phase des von Mercadantes Leben und wurde deshalb mit Spannung erwartet. Sie war vielversprechend, nicht zuletzt wegen des schönen Libretto von Salvadore Cammarano, das (wie im vorangegangenen Aufsatz besprochen) auf einem neueren französischen Melodram mit dem Titel Le Proscrit basiert, das von Soulié und Dehay geschrieben und 1839 in Paris uraufgeführt wurde.

Mercadante: „Il proscritto“: Elisabetta Buccini und Antonietta Ranieri Marini, Malvina und Odoardo der Uraufführung 1842/ Opera Rara

Im Mittelpunkt des Dramas steht eine klassische Dreiecksbeziehung, die sich – bei Soulié und Dehay – in die napoleonische Zeit verlegt, spielt es im „exotischen“ Schottland zur Zeit von Oliver Cromwell. Herrschaft von Oliver Cromwell. Die gequälte Heldin Malvina ist zwischen zwei politischen Gegnern hin- und hergerissen: Giorgio, ihr erster Ehemann und leidenschaftlicher Royalist, wird auf See totgeglaubt; Arturo, ihr Verlobter, ist – natürlich – ein überzeugter Cromwellianer. Der vierte Hauptdarsteller ist eine sogenannte „Hosenrolle“, Malvinas jüngerer Bruder Odoardo. Die für die Verkörperung dieser gegensätzlichen Charaktere ausgewählten Darsteller war in der Tat erstklassig. Die Malvina wurde von der Mezzosopranistin Antonietta Ranieri Marini gesungen, die in den Jahren zuvor die weibliche Hauptrolle in Verdis ersten beiden Opern, Oberto, conte di San Bonifacio und Un giorno di regno. Giorgio wurde von dem baritonalen Tenor Giovanni Basadonna gesungen, der einige Jahre zuvor die Titelrolle in Donizettis Roberto Devereux verkörpert hatte; Arturo war ein weiterer Tenor, Gaetano Fraschini, der damals am Anfang einer bedeutenden Karriere stand, die ihn zu einem imposanten tenore di forza werden ließ (er sang die Titelrolle in Verdis Stiffelio und war der erste Riccardo in Un ballo in maschera). Die vierte Hauptrolle sang Eloisa Buccini, eine Altistin der ersten Stunde, die in dieser Zeit an vielen bedeutenden Opernhäusern auftrat. (…)
Was ist von Il proscritto zu halten, wie es jetzt, nach fast 200 Jahren völliger Vergessenheit, auftaucht? Ein Punkt muss hervorgehoben werden. Die Tatsache, dass die Oper nach ihrer Uraufführung nicht wieder aufgenommen wurde, ist keineswegs ungewöhnlich und sollte nicht überbewertet werden. Dieses Schicksal ereilte schließlich die meisten dramatischen Werke im Italien des frühen 19. In einer Kulturwirtschaft in der (ähnlich wie heute im Kino) das größte Interesse stets neuen Schöpfungen galt, den eigens für den Anlass geschriebenen Werken, mussten viele mussten viele Opern verdrängt werden, um Platz für den ständigen Zustrom von Neuem zu schaffen. Auf der anderen Seite geht aus den Rezensionen und Berichten über die Reaktion des Publikums geht hervor, dass Mercadantes Idiom ungewöhnlich war und als etwas schwierig galt.

Mercadanrtes Oper „Il proscritto“: Giovanni Basadonna und Gaetano Fraschini, Giorgio und Arturo 1842/ Opera Rara

Das Schlimmste von allem, zu einer Zeit, als die große neapolitanische Opernschule offensichtlich im Niedergang begriffen war, wurde dem Komponisten vorgeworfen, mit dieser Oper seine Heimat zu verraten und zu versuchen, „nördlichen“ Einflüssen nachzueifern. Warum dieser Vorwurf gerade an Il proscritto angehängt wurde, bleibt ein Rätsel, aber wie dem auch sei, wir haben es hier mit eindeutig lokalen Belangen zu tun; die neapolitanischen Urteile von 1842 dürften uns 180 Jahre später kaum noch berühren, da uns die Geschichte all dessen, was sich seither auf dem Gebiet der Oper ereignet hat, noch in den Ohren klingt. Wir müssen versuchen, neu zu denken.
In diesem Zusammenhang ist es auffällig und paradox, dass Mercadante mit seiner neuen Oper zumindest in gewisser Hinsicht seine „Reform“-Agenda des vorangegangenen Jahrzehnts zurück. So sind zum Beispiel die Solonummern (vor allem die von Arturo und Giorgio im ersten Akt) sind voller lyrischer Inspiration, und obwohl sie in der Tat einige auffällige harmonische und orchestrale Ablenkungen aufweisen, dienen diese dazu die melodischen Ergüsse eher zu unterstützen als zu untergraben. Darüber hinaus hat die Oper, entgegen dem oben zitierten Manifest von Mercadante Oper ihren Anteil an überschwänglichen Cabalettas, beginnt mit einem markanten Krach der Banda und ist (wenn es die Stimmung erfordert) großzügig mit der großen Trommel und den Becken. Es stimmt aber auch, dass eine der größten Stärken der Partitur die Abfolge der Duette ist, und hier wird die „Reform“-Agenda deutlicher sichtbar.

Mercadante Oper „Il Proscritto“: Seite aus der ersten gedruckten Klavierfassung bei Ricordi/ Opera Rara

Es gäbe noch so viel mehr über diese bemerkenswerte Oper zu sagen. Darüber, wie die ungewöhnliche Mischung der führenden Sänger, die beiden sich bekriegenden Tenöre und die Konzentration auf die tieferen Lagen der Frauenstimme mit einer konsequenten Vorliebe für „dunkle“ Tonarten einhergeht (bis hin zu d-Moll im Finale des zweiten Akts). Was die schiere Kühnheit einiger harmonischer Exkursionen angeht: Achten Sie auf dezente harmonische Akzente in vielen Orchesterpassagen, in einem Fall sogar ein Verweilen auf dem Tristan-Akkord; oder die außerordentlich stimmungsvolle orchestrale Eröffnung des Duetts zwischen Malvina und Giorgio im zweiten Akt, die Giorgios unruhigen Schlaf illustriert. Über den den ständigen Erfindungsreichtum von Mercadantes „Brücken“-Passagen zwischen den lyrischen Abschnitten, die nie in Routine verfallen und oft ein unter solchen Umständen völlig ungewöhnliches Maß an musikalischer Originalität. Vielleicht vor allem die Art und Weise, wie die Musik auf die ungewöhnliche psychologische Komplexität der Hauptfiguren eingeht. Malvina, Giorgio und Arturo beginnen die Oper in einem Situationen, die man als klassisch melodramatisch bezeichnen könnte; aber in jedem Fall werden ihre Überzeugungen in Frage gestellt, was zu seltsamen Umkehrungen und schaffen Situationen, in denen sie eine psychologische Tiefe zeigen, die in dieser Opernperiode wirklich selten ist. Mercadante reagiert auf die Herausforderung dieser Komplexität, insbesondere durch seine Fähigkeit, lange Momente der freien Deklamation aufrechtzuerhalten Deklamation aufrechtzuerhalten, in denen die emotionalen Haltungen der Figuren im Fluss sind. Das Ergebnis ist eine Oper, die, obwohl sie fast unmittelbar nach ihrer Entstehung von der Bildfläche verschwunden ist, dennoch eine starke Wirkung auf das Publikum des 21. Jahrhunderts zu vermitteln und vielleicht sogar ein Umdenken in der historischen Landschaft zu bewirken, die so viel von unserem Standard-Opernrepertoire hervorgebracht hat. © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

.

.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Das Konzert 2022/ Foto Russell Duncan/ OR

Alan Jackson zum Konzert 2022: Als  Opera Rara ihre konzertante Aufführung von Donizettis Les Martyrs kurz nach den Aufnahmesitzungen im Jahr 2014 vorstellte, gab es einen Moment, in dem das die konzertante Aufführung Feuer fing. Die erste Hälfte war schon beeindruckend, die Größe, Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit von Donizettis Partitur wurde gut eingefangen. Dann, kurz nach der Pause, begann Michael Spyres seine Cabaletta „Oui, j’irai dans leurs temple“, und irgendwie wurde das Publikum stärker einbezogen als vorher. Als er die Cabaletta mit einem hohen E beendete, war die Atmosphäre elektrisierend, und wir Zuhörer brachen in frenetischen Beifall aus.

Etwas Ähnliches geschah 2023 im (Konzertsaal des) Barbican. Der erste Akt von Il proscritto enthält eine wunderschöne Kavatine für den zweiten Tenor, ein reizendes Duett für Mezzosopran und Alt und ein imposantes concertato, die alle großartig vorgetragen wurden. Gleich nach der Pause folgt ein Duett für die beiden Tenöre, und die Funken sprühen nur so. Nicht, dass es irgendwelche stratosphärischen Höhen gäbe (in der Tat liegt keiner der beiden Tenöre besonders hoch), aber ihre Konfrontation ergriff uns zutiefst, das Publikum explodierte und der Beifall nahm kein Ende. Und genau wie bei Les Martyrs wurde diese neue Intensität bis zum Ende des Abends beibehalten. Sie steigerte sich sogar noch, als die Altistin uns in ihrer Arie mit ihren weit ausholenden und extrem schnellen Koloraturen verblüffte.

Die Handlung von Il proscritto, die im Schottland des 17. Jahrhunderts mit seinen Spannungen zwischen Royalisten und Cromwells spielt, dreht sich um die Heldin Malvina. Ihr erster Ehemann Giorgio, ein Royalist, wird seit langem bei einem Schiffsunglück für tot gehalten. Ihre Familie will, dass sie Arturo, einen Cromwellianer, heiratet, und Malvina hat sich in Arturo verliebt, obwohl sie sich schuldig fühlt, wenn sie an ihren ersten Mann denkt. Da es sich um ein romantisches Melodrama handelt, ist Giorgio natürlich noch am Leben und taucht am Hochzeitstag von Malvina und Arturo auf. Die beiden Tenöre schwanken zwischen antagonistischer Rivalität und Verständnis für Malvinas Notlage; sie löst das Dilemma der Wahl, indem sie am Ende der Oper Gift nimmt. Der vierte Hauptdarsteller ist Odoardo, Malvinas Bruder, dessen dramatische Funktion darin besteht, Malvina zu trösten und zu beschützen. Das Libretto von Salvadore Cammarano setzt gekonnt eine Reihe von Duetten und großen Ensembles ein. Ungewöhnlich ist die Verteilung der Stimmlagen. Giorgio und Arturo sind beide Tenöre, Malvina ist ein Mezzosopran und Odoardo ist ein Alt, eine späte Blüte der Musico-Tradition. Die Duette von Malvina mit Giorgio und Arturo sind dramatisch und konfrontativ, ebenso wie das von Giorgio und Arturo. Malvinas Duett mit Odoardo steht in der Tradition des Ottocento mit Duetten für zwei Frauenstimmen – man denke an Anna Bolena, Norma, Il giuramento, Pia De’Tolomei.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Gruppenbild/ Foto Russell Duncan/ OR

Die Sänger, alle wirklich ausgezeichnet, waren Irene Roberts (berührend als Malvina), Elizabeth DeShong (sensationell in Odoardos großer Arie), Ramón Vargas und Iván Ayón-Rivas (ebenfalls sensationell in ihrem großen Duett als Giorgio bzw. Arturo). Kleinere Rollen, die sehr stark besetzt waren, wurden von Sally Matthews, Goderdzi Janelidze, Susanna Gaspar, Alessandro Fisher und Niall Anderson übernommen. Der Opera Rara Chor und die Britten Sinfonia waren beide großartig, und der wunderbare Dirigent war der künstlerische Leiter von Opera Rara, Carlo Rizzi. All dies zusammen machte den Abend zu einem großartigen Erlebnis. Dieser Aufführung gingen einwöchige Aufnahmesitzungen voraus, und ich freue mich schon auf die Veröffentlichung der CDs.

.

.

Und was ist mit der Oper selbst? Carlo Rizzi und Roger Parker (Repertoireberater von Opera Rara und Autor des Programmheftes des Abends) haben über die Freude geschrieben, die sie bei der Arbeit an der Partitur empfanden, nachdem sie das autographe Manuskript im Archiv des Konservatoriums von Neapel gefunden hatten. Sie verweisen auf den melodischen Erfindungsreichtum, die harmonischen Feinheiten und die reiche Instrumentation sowie auf Mercadantes Fähigkeit, große konzertante Sätze und Duette zu konstruieren, die die übliche Aufteilung in einzelne Sätze zugunsten psychologischer Einsichten und Wahrheiten verwischen. Einiges davon folgt den Reformen, die er fünf Jahre vor Il proscritto in seinem Manifest niederschrieb. Hier sagte er: Mit Il giuramento [habe ich] die Formen variiert, triviale Cabaletten abgeschafft, die crescendi verbannt; Prägnanz, weniger Wiederholungen, etwas Neues in den Kadenzen; die dramatische Seite gebührend berücksichtigt; die Orchestrierung reicher, ohne die Stimmen zu überschwemmen; lange Soli in den Ensemblenummern vermieden, da sie die anderen Stimmen zwangen, kalt daneben zu stehen, zum Nachteil der dramatischen Handlung; nicht viel große Trommel und Becken, und sehr wenig Banda [Bühnenbanda].

Man kann darüber diskutieren, wie sehr Mercadante sich in Il proscritto an dieses Credo hält. Ich werde darauf vertrauen, dass die Formen in den Duetten variiert werden – ich war zu sehr mit dem Fortgang des Dramas beschäftigt, um es an diesem Abend zu bemerken. Sicherlich gibt es noch viele cabalettas, aber ich gebe zu, dass ich cabalettas selten trivial finde! Prägnanz? Nicht in den großen Ensembles; darauf werde ich weiter unten zurückkommen. Es gibt reichlich große Trommeln und Becken. Was die Banda anbelangt, so wird die Oper mit einem Chor eröffnet, der mit riesigen und unerwarteten Banda-Unterbrechungen versehen ist, die noch deutlicher hervortreten, da die Musiker im Kreis und nicht außerhalb der Bühne positioniert sind: wenn schon nicht „Reform“, so doch auffallend und neuartig. Mercadantes Orchestrierung ist dichter und reichhaltiger als in mehr oder weniger zeitgenössischen Opern von Donizetti (was sie nicht per se besser macht) und viel dichter als in Bellinis Opern ein paar Jahre zuvor. Abgesehen von Odoardos Arie gibt es wenig oder gar keine fioritura in den Gesangslinien. Aber vielleicht spielt das alles keine Rolle. Ich habe die Musik geliebt und fand sie bei einmaligem Hören sehr beeindruckend; ich verließ den Saal mit einem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Team der Opera Rara und allen Musikern, die diese Wiederbelebung einer 180 Jahre lang ungehörten Oper möglich gemacht haben. Die nächste Etappe sollte eine Theateraufführung sein.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Ramon Vargas und Dirigent Carlo Rizzi/ Foto Russell Duncan/ OR

Aber hier habe ich zwei Vorbehalte. Der erste ist, dass ich trotz des melodischen Reichtums nicht finde, dass sie in meinem Gedächtnis haften bleibt, und ich verlasse den Saal (entweder in der Pause oder am Ende des Abends) gerne mit einer Melodie, die in meinem Kopf schwirrt, etwas, das immer beim ersten Hören einer Verdi-Oper passiert ist und fast immer bei Donizetti. Bei Mercadante war das nur bei Il giuramento (das Duett für Bianca und Elaisa gegen Ende der Oper – 2002 live in Wexford gehört) und Orazi e Curiazi (eine Phrase im concertato des 1. Aktes, wie sie auf der Opera Rara-Aufnahme zu hören ist – und letzteres ist ein (vielleicht unbeabsichtigter) Kopie von Rossinis La donna del lago! (Siehe meinen Artikel im Newsletter 140).

Mein zweiter Vorbehalt betrifft den schieren Umfang dieser wunderbaren konzertanten Sätze. Ich habe sie im Konzert nicht gemessen, aber sie schienen ähnlich lang zu sein wie der im Finale des 1. In der Opera Rara-Aufnahme dauert es über 8 Minuten. Vergleichen Sie dies mit dem concertato in Donizettis Lucia, dem berühmten Sextett, das weniger als 4 Minuten dauert. Ich fürchte, dass 8+ Minuten einfach zu lang sind, um die Bühnenhandlung aufrechtzuerhalten, während Donizetti die Balance zwischen Aktion und Reflexion genau richtig hinbekommt. Übrigens ist die Struktur beider Sätze im Grunde die gleiche: A1A2B1B2C1C2, gefolgt von einer Kadenz und einer coda (obwohl die coda vielleicht eine etwas zu große Bezeichnung für die beiden Akkorde ist, die das Lucia-Sextett beenden). Jeder Teil des Orazi-Stücks ist doppelt so lang wie sein Gegenstück in Lucia. Das macht es zu einem wunderbaren Hörerlebnis, ob im Konzertsaal oder zu Hause auf CD, aber ich habe meine Zweifel, ob es auf der Bühne dramaturgisch sinnvoll ist.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein wunderbarer Abend war. Il proscritto reiht sich in eine lange Liste von Opera Rara-Wiederentdeckungen ein und schien mir schon beim ersten Hören ein vollwertiges Beispiel dafür zu sein, was Opera Rara ausmacht. Ich freue mich sehr auf die CD-Veröffentlichung und darauf, die Oper besser kennen zu lernen. Und ich freue mich darauf, den Tristan-Akkord zu entdecken, den Roger Parker uns verspricht, auch wenn ich ihn an diesem Abend verpasst habe. Alan Jackson/ Übersetzung G. H.

.

.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: der französische Dramatiker Fréderic Soulier (1800 – 1847)/ Opera Rara

Alas, nun ist hinterlässt ja ein Konzert als einmaliges und emotional befeuertes Hör-Erlebnis einen ganz anderen Eindruck als das wiederholte Abhören einer Studio-CD im eigenen Wohnzimmer mit Lautsprechern, Gardienen und Topfblumen. Es gibt einen akustisch exzellenten privaten Mitschnitt der oben erwähnten Aufführung aus dem Londoner Barbican von 2022, der Alan Jacksons Begeisterung nachvollziehen lässt, weil ganz offensichtlich der Abend alle Beteiligten zu großem, absolut nachvollziebarem Engagement geführt hat. Ich hab ihn oft und mit viel Vergnügen  abgehört. Sowohl Carlo Rizzi mit superben, flotten Tempi und einer gut aufgefächerten Dynamik wie auch die Sänger zeigen sich in Bestform. Die Saal-Akustik tut neben der ganz offensichtlichen Begeisterung der Zuhörer das Ihre zu einem rasanten Erlebnis, das auch den Hörer enthusiasmiert mit dem Fuß wippen lässt.

Alas, würde der Engländer sagen, live ist eben nicht Studio. Nun – kalt aufgenommen und sicher auch dem Regiment des Tonmeisters/ Produzenten unterworfen – wirkt die neue Aufnahme auf mich eher unbelebt, weniger spontan, vielleicht in einzelnen takes zu oft zur gewünschten Perfektion wiederholt, wie das bei Studioaufnahmen leider üblich ist, wo der letzte Ton bis zur Erschöpfung wiederholt wird, bis er „sitzt“ – auf Kosten von Spontanität und Ausdruck. Wie bei jpc (die auch keine Live-Mitschnitte präferieren) ist dies eine No-public-Studioeinspielung der getragenen, etwas rumsigen Tempi, die die Defizite der Sänger greller beleuchtet als sie in einem schmissigen Konzert auffallen, wo das mitreißende Engagement des Moments über weniger Perfektes hinwegträgt (Nicolais Rückkehr des Verdammten aus Chemnitz oder Meyerbeers Vasco da Gama bei jpc sind hier die besten Beispiele, wo die Live-Konzerte viel überzeugender waren als die „kalten“ Aufnahmen zwischen den Aufführungen im leeren Saal).

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Der Librettist Salvatore Cammarano (1801 – 1852/ Opera Rara

Das betrifft vor allen den Tenor, dessen Mittel doch viel fortgeschrittener sind als erinnert, und die Mikros im Studio tun ihm (bei recht steifer Höhe) absolut keinen Gefallen. Auch Irene Roberts „(berührend als Malvina)“ und  Elizabeth DeShong „(sensationell in Odoardos großer Arie)“ unterscheiden sich im dunklen Timbre für mich zu wenig, um sie ohne Libretto in der Hand auseinander zu halten (zumal die Handlung auch gelinde gesagt etwas verwirrend ist). Irene Robert ist mir viel zu unitalienisch-gauming, zu unruhig im Ton und beide zu wenig dem Wort verpflichtet. Für Miss DeShong gilt nämliches. Auch wurden meine alten Vorurteilen gegen Sally Mathews auf dieser Einspielung nicht widerlegt: gaumig-quallig. Allerdings schlägt sich Iván Ayón-Rivas als Giorgio recht tapfer und bringt eine solide dunkle Note ins Geschehen bringt. Aber die Besetzung bis auf Vargas und Ayón-Rivas ist mir zu cis-alpin, zu insular, zu blutarm, zu wenig Neapel oder Palermo. Das ist natürlich Geschmackssache und für mich oft bei den Besetzungen von Opera Rara zu bemängeln. Bei allem Maulen ist dies dennoch eine außerordentlich lobenswerte Ergänzung zum immer umfangreicher werdenden Katalog der Mercadante-Opern. Und man muss schon deshalb wieder einmal Opera Rara für die Initiative selbst und die wie stets tolle Ausstattung des CD-Klappmanns (ganz ökologisch keine dicke Box mehr) loben. Ecco. G. H.

.

.

Die Handlung: Die Oper spielt in der Mitte des 17. Jahrhunderts, während der Herrschaft Oliver Cromwells, in einem Schloss in der Nähe von Edinburgh sowie dessen Umgebung. Einige Zeit vor Beginn der Handlung hatte Malvina Douglas den für die Sache der Royalisten einstehenden Giorgio Argyll geheiratet, der jedoch in einen Schiffbruch geriet und totgeglaubt ist. Malvinas Mutter Anna sowie deren
Sohn aus einer früheren Ehe, Guglielmo Ruthven (ein Unterstützer Cromwells), drängen sie nun, Arturo Murray zu ehelichen (der ebenfalls auf der Seite Cromwells steht). Die Handlung beginnt am Tag von Malvinas und Arturos geplanter Hochzeit.

Zu Mercadantes „Proscritto“: Oliver Cromwell, Gemälde von Samuel Cooper 1656/ Wikipedia

1. Akt Festlich erleuchtete Gärten. Auf einer Seite führt eine prächtige Treppe zum Schloss hinauf, vor dem eine Bühne aufgebaut ist; darauf hat ein Orchester Platz genommen. Im Hintergrund liegt ein See, man sieht zahlreiche Boote, aus denen Damen, Ritter und Verwandte der Familie Murray steigen. Die Familie Ruthven begibt sich vom Schloss herab, um die Gäste feierlich willkommen zu heißen. Osvaldo gehört zu den Wachposten, die die Szene umgeben. Die versammelte Menge feiert die Hochzeit, die Malvina und Arturo gleich begehen werden (Chor: „D’amistàle soavi catene“). Guglielmo drängt Osvaldo jedoch zu Wachsamkeit, da in der Umgebung royalistische Rebellen entdeckt wurden. Arturo tritt auf und besingt seine Liebe zu Malvina (Cavatine: „Son del tuo volto immagine“). Ein großer Raum in den Gemächern Malvinas. Rechterhand eine Tür, die zu den inneren Räumen führt, auf der anderen Seite ein Eingang, der auf einen Korridor hinausgeht.
Die Szene beginnt mit einem Gespräch zwischen Clara, einer einstigen Bediensteten Giorgios und jetzigen Zofe Malvinas, und Odoardo, Malvinas jüngerem Bruder, der zu ihrer bevorstehenden Hochzeit aus London herbeigeeilt ist. Malvina tritt ein und schildert Odoardo den Schiffbruch, bei dem Giorgio ums Leben gekommen ist. Dann berichtet sie ihm von den Plänen ihrer Mutter und Guglielmos, sie mit dem
Cromwell-Unterstützer Arturo zu verheiraten. Zunächst habe sie ob dieses Ansinnens Gift nehmen wollen, doch im Laufe mehrerer Begegnungen mit Arturo sei zwischen ihnen ein Gefühl von Liebe entstanden. Allerdings wird Malvina beim Gedanken an ihren früheren Mann von Schuldgefühlen gequält. Odoardo versucht, sie zu trösten (Duett: „Il mar che freme“). Frauen kommen hinzu und führen Malvina zu ihrer Hochzeit. Giorgio trifft ein, Osvaldo begrüßt ihn. Giorgio bittet, mit Clara sprechen zu dürfen, weigert sich aber, seinen Namen zunennen. Osvaldos Verdacht ist geweckt, er geht davon. Giorgio ist voll Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner geliebten Malvina (Romanze: „L’aura ch’io spiro“), er ist überzeugt, dass ihn nach allem, was er durchgemacht hat, keiner der Gäste erkennen wird. Malvina kommt nach der Hochzeitszeremonie hinzu. Vor Entsetzen, so unvermittelt Giorgio gegenüberzustehen, schreit sie auf,
doch dann hört sie sich nähernde Schritte und bringt ihn, um seine Sicherheit fürchtend, in ihre Gemächer. Die Hochzeitsgesellschaft kommt, Osvaldo erzählt Guglielmo im Flüsterton, dass sich der unbekannte Gast wohl in Malvinas Räumen aufhalten müsse. Malvina will ihre offensichtliche Erregung leugnen, sinkt aber halb ohnmächtig in die Arme der sie umgebenden Frauen. Alle auf der Bühne Versammelten schildern ihre widerstreitenden Gefühle – Verzweiflung (Malvina), Bestürzung (Odoardo, Arturo), Verdacht (Guglielmo, Osvaldo) und Sorge (Anna, Clara) (Concertato: „Omai l’arcan terribile“). Guglielmo und Osvaldo beauftragen Bewaffnete, Malvinas Räume zu durchsuchen, doch Odoardo stellt sich schützend vor die Tür. Schwerter werden gezogen, da erscheint unvermittelt Giorgio. Er gibt seine Identität nicht preis, sagt aber, die Witwe Giorgio Argylls könne die Wahrheit über ihn offenbaren. Guglielmo befiehlt, den Fremden festzunehmen, wogegen Giorgio sich zunächst wehrt, doch dann händigt er Odoardo sein Schwert aus und fordert seine Widersacher auf, ihn zu töten und seinen Kopf vor das Brautpaar zu legen. Der Akt endet in allgemeinem Durcheinander („Il cor ne avvampa“).

Zu Mercadantes Oper „Il proscritto“: Titelblat zum Drama in 5 Akten, „Le proscrit“ von Fréderic Soulié und Thimothée Dehay/ Opera Rara

2. Akt Später am selben Tag. Ein Raum in den Gemächern, die Arturo überlassen wurden; er sitzt an einem Tisch, auf dem ein Schriftstück liegt. Osvaldo sagt Arturo, dass Guglielmo nach Edinburgh aufgebrochen sei, er wolle eine Truppe zusammenstellen, die den Fremden dorthin bringen solle. Als Osvaldo gegangen ist, liest Arturo einen Brief, den er von Malvina erhalten hat. Sie bittet ihn, dem Fremden zu helfen, der ein Freund ihres verstorbenen Ehemannes sei. Giorgio wird hereingebracht, und als sie allein sind, bietet Arturo ihm an, ihn freizulassen. Das aber weist Giorgio wütend von sich und offenbart zugleich, dass Malvina ihn früher geliebt habe. Damit bricht ein offener Konflikt zwischen den beiden Männern auf (Duett: „Ah! perché rovente acciaro“). Arturo verspricht Giorgio, ihm ein Schwert zu geben, damit sie bei Tagesanbruch ein Duell auf den Tod führen können. Mächtige Klippen, die zum Teil über das Meer hinausragen. Es ist Nacht, der Mond ist von Wolken bedeckt. Aus einer Höhle, deren Eingang hinter Dickicht verborgen liegt, treten Männer ins Freie, sie sind in Umhänge gehüllt: Dies sind die Verbannten, Giorgios Gefährten.Die Männer beschwören die dunkle Nacht und ihr Wanderdasein (Chor: „Ha steso la notte“). In der Ferne hören sie Dudelsäcke spielen, die stetig näherkommen. Odoardo trifft ein und sagt, dass er ihnen helfen könne, Giorgio zu retten. Zum Beweis seiner Vertrauenswürdigkeit berichtet er ihnen, dass Giorgio seinem und Malvinas Vater zu Hilfe gekommen sei, ihn vor den Henkern des Königs gerettet und um dessen Leben gefleht habe (Arie: „Ahi! del giorno sanguinoso“). Die Verbannten billigen Odoardos Rettungsplan und brechen zum Schloss auf. Im Inneren eines Turms. Rückwärts ein Balkon, seitlich eine Tür. Giorgio schläft, er träumt unruhig von Malvina, als sie und Odoardo hinzukommen. Odoardo wirft eine Strickleiter vom Balkon hinunter, sagt Malvina warnend, dass bald der Morgen graut, und geht davon. Giorgio erwacht, und Malvina teilt ihm mit, dass seine Gefährten auf ihn warten. In einem leidenschaftlichen Duett („Stretto agli avanzi fragili“) schildert Giorgio seine Verzweiflung nach dem Schiffbruch und seinen Schmerz, sie jetzt zu sehen. Als sie ihm jedoch sagt, dass sie mit ihm fliehen werde, bittet er sie, bei ihrem jetzigen Gemahl zu bleiben, anstatt mit ihm das Leben eines Vagabunden zu führen. Sie weigert sich und tritt auf den Balkon, und in dem Moment treffen Arturo und Guglielmo mit ihrem Gefolge ein. Arturo wirft seiner Braut Verrat vor, doch Giorgio verteidigt ihre Ehre und sagt, sie habe mit ihrem Gemahl fliehen wollen. Diese Offenbarung seiner Identität führt zu einem weiteren großartigen Ensemble (Concertato: „Tutta in lui piombò del fato“). Dann händigt ein Offizier Arturo einen Brief von Cromwell aus, der ihm das Verhör des Gefangenen überträgt und, sofern dieser schuldig sei, auch dessen Hinrichtung. Malvina, Odoardo und der Chor flehen Arturo an, Gnade walten zu lassen, doch sowohl er als auch Giorgio stehen sich unverändert feindlich gegenüber.

Zu Mercadantes „Proscritto“: The Battle of Naseby 1645, die entscheidende Schlacht zwischen Royalisten und Cromwellianern, Gemälde von Charles Landseer (1799 – 1879)/ Wikipedia

3. Akt Früh am nächsten Tag. Ein großer Raum neben dem Turm, hinten eine Tür. Giorgio sitzt, Malvina steht in großer Erregung in der Nähe der Türschwelle. Jenseits davon patrouillieren zwei Wachposten. Giorgio und Malvina warten auf Arturos Entscheidung. Giorgio wünscht sich den Tod, doch Malvina nimmt ihm das Versprechen ab, dass er sich zu leben entscheidet, wenn sie ihm zeigen kann, dass seine Befürchtungen wegen ihrer Zukunft mit Arturo unbegründet sind. Odoardo tritt ein und sagt, dass Arturo nach Giorgio geschickt habe. Giorgio geht mit Odoardo ab. Allein zurückgelassen, beschließt Malvina, dass sie sich töten muss, wird aber von Arturo unterbrochen, der ihr sagt, es stünde ihr frei, mit Giorgio fortzugehen. Malvina lehnt das Angebot ab und gesteht schließlich, dass sie Arturo trotz Giorgios Rückkehr nach wie vor liebe. Arturo ist überglücklich, doch Malvina sagt ihm ernst, nur im Himmel könnten sie vereint sein (Duett: „Vanne dunque“).Malvina tritt ab, und Giorgio stürmt herein, er hat den letzten Teil von Malvinas Gespräch mit Arturo gehört. Wieder fordert er seinen Rivalen heraus, der ihn zu beschwichtigen versucht, sich aber schließlich doch zu einem Duell bis auf den Tod aufstacheln lässt. Gerade wollen sie aufbrechen, als Malvina leichenblass hereintaumelt. Sie sagt, sie habe Gift genommen, und fleht beide an, ihre Versprechen ihr, Malvina, gegenüber zu erfüllen. Als sie zu Boden sinkt, eilt Giorgio zu ihr und bedeutet Arturo zu gehen. Seine letzten Worte lauten: „Spenta o viva è mia tuttor!“ (Ob tot oder lebendig, sie ist auf ewig mein!). © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

.

.

Saverio Merrcadante: Il proscritto; Melodramma tragico in three acts, Libretto by Salvadore Cammarano, Premiered on 4 January 1842, Teatro San Carlo, Naples; Carlo Rizzi dirigiert die Britten Sinfonia und den Opera Rara Chorus; Ramón Vargas Giorgio Argyll, Iván Ayón-Rivas Arturo Murray, Irene Roberts Malvina Douglas, Elizabeth DeShong Odoardo Douglas Sally Matthews Anna Ruthven, Goderdzi Janelidze Guglielmo Ruthven, Susana Gaspar Clara, Alessandro Fisher Osvaldo, Niall Anderson An official of Cromwell; Recorded in studio conditions at Henry Wood Hall, June 2022, Opera Rara, 2 CD ORC62; 

Dank vor allem an Roger Parker für seine großzügige Genehmigung, Teile seines Artikels und die Inhaltsangabe aus dem Booklet der neuen Aufnahme in unserer Übersetzung zu übernehmen; Dank auch an Alan Jackson, seine auf der website der Londoner Donizetti Gesellschaft veröffentlichte Kritik des Konzertes 2022 in ebenfalls unserer Übersetzung übernehmen zu dürfen. Foto oben: Tyrone Power und Maureen O´Hara in „The black swan“/ Henry King 1957/ Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.

Solo Strauss

.

Ihre erste CD bei Sony war noch ein wildes Mit- und Durcheinander von italienischer, deutscher, slawischer Musik, und sogar ein bisschen Operette war auch dabei nebst einem Puccini-Duett mit Jonas Kaufmann. Auf der zweiten CD nun gibt es keinen Star-Kollegen als schmückendes Beiwerk dafür aber ein so nachvollziehbares wie sinnvolles Programm mit Richard Strauss‘ Vier letzten Liedern und der Mondscheinmusik plus anschließendem Monolog der Gräfin aus Capriccio. Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen der CD sollte eigentlich an der Deutschen Oper Berlin Arabella mit dem Sopran in der Titelpartie Premiere feiern. Diese aber sagte Rachel Willis-Sørensen ab, und peu à peu trat sie auch von allen weiteren Vorstellungen zurück.

Dabei beweist ihre Strauss-CD, dass die amerikanische Sängerin das Rüstzeug für den bajuwarischen Komponisten hat, sie sang bereits mehrfach die Marschallin und  2021 in Paris die Vier letzten Lieder, die sie zudem zur Geburtstagsfeier von damals noch Prince Charles im Buckingham Palace zu Gehör brachte.

Nicht nur die Lieder sind die letzten die Strauss komponierte, auch die Oper Capriccio ist sein letztes Bühnenwerk, 1942, ein Jahr vor  der Bombardierung der Münchner Staatsoper, entstanden, während die Lieder nach Kriegsende in den Jahren 1946 bis 1948 komponiert  und erst posthum von Kirsten Flagstad im Jahre 1950 uraufgeführt wurden. Fassungslos hatte der Komponist vor den Trümmern des Opernhauses gestanden, dessen Verlust er als den erschütterndsten seines Lebens empfand, das Schicksal Dresdens und Weimars beklagte er später, und man kann darüber spekulieren, wie viel von diesen Empfindungen in sein letztes Werk eingeflossen ist.

Es beginnt mit dem fast zwei Oktaven umfassenden Frühling, in dem der Sopran beweisen kann, dass er über die notwendigen Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit Strauss verfügt, über eine sichere Höhe, die ein A im Pianissimo nicht scheuen muss, ein reiches Farbspektrum, eine Reife und Fülle, die es mit einem robusten Orchesterklang aufnahmen können, das feine Umspielen von „selige“. Unüberhörbar ist aber leider auch die verwaschene Diktion, die man einem Strauss-Sopran notgedrungen in einer der berüchtigten Opernpartien noch verzeihen muss, nicht aber im Liedgesang, vor allem wenn der Dirigent Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig keinerlei Anlass dafür geben. In September erfreuen die weitgespannten Bögen und Klanggirlanden, das verhangene „trauert“ und das matte „leise“. Eine gute Mittellage und eine aufblühende Höhe werden für Beim Schlafengehen eingesetzt, während das Orchester zwischen der zweiten und dritten Strophe seine hervorragenden Qualitäten unter Beweis stellt. Das getragene Im Abendrot schließlich beeindruckt besonders durch das schöne Legato, den Schwellton auf „Freude“.

Wunderbar wie in Capriccio der Mondschein den Raum zu überfluten scheint, ehe der Haushofmeister mit der schlanken Stimme von Sebastian Pilgrim das Wort ergreift. Willis-Sorensen unterscheidet fein zwischen Sonettvortrag und Reflektion, hat im Konversationston auch immer eine leichte Melancholie und lässt die Stimme in der Höhe aufblühen. Vom beiläufig Plaudernden bis hin zur Emphase werden viele Möglichkeiten der Darstellung klug ausgeschöpft bis hin zum Fahlwerden des Soprans auf „Tod“. Alles in allem lässt die CD bedauern, dass man die Arabella von Rachel Willis-Sørensen (noch) nicht in Berlin erleben durfte (Sony 19439921722). Ingrid Wanja

Auf barocken Abwegen

.

Verwundert nimmt man den Titel der neuen CD von Michael Spyres bei seiner Stammfirma ERATO zur Kenntnis: Contra-Tenor? Schon bei seiner letzten Platte Baritenor hatte der amerikanische Tenor zwei Stimmfächer bedient, sollte er sich nun noch in einem dritten versuchen? Wörtlich übersetzt, bedeutet Contra-Tenor allerdings die Gegenstimme zum Tenor, wie sie in der Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Einsatz kam. In seinem Einführungstext im Booklet spricht der Sänger über die Kategorisierungen der männlichen Stimmen im Barock: Tenor, Contre-Tenor, HauteContre, Baritenor… Sänger dieser Gattung wurden bald als tenori assoluti zu den Konkurrenten der gefeierten Kastraten. Komponisten schrieben für sie Partien von Königen und Göttern, welche diese Sänger mit Schönheit, Technik, Virtuosität und Kraft interpretierten. Legendäre Vertreter dieses Stimmtyps waren beispielsweise Francesco Borosini, Annibale Pio Fabri, Angelo Maria Amorevoli und der Deutsche Anton Raaff, der im höheren Alter von 65 Jahren noch die Titelrolle in Mozarts Idomeneo kreierte. Die Kunst dieser divi wollte Spyres mit seinem Album (5054197293467) wieder zum Leben erwecken. Zweifellos ist das ein verdienstvolles Unterfangen, doch erklärt das nicht die Wahl der Stimmgattung im Titel der CD. Denn Spyres singt fasst nur Tenorpartien und keine von Kastraten, welche in unserer Zeit von Sopranisten,  Countertenören oder Altisten wahrgenommen werden.

Das Programm umfasst 15 Titel von 15 verschiedenen Komponisten, darunter drei Weltersteinspielungen, beginnend mit zwei kurzen Ausschnitten aus Jean-Baptiste Lullys Persée. Im zweiten, einer Passacaille, hat das begleitende Ensemble Il Pomo d’Oro unter Francesco Corti Gelegenheit für ein animiertes Musizieren. Auch vom anderen großen Vertreter des französischen Barock, Jean-Philippe Rameau, findet sich ein Tonbeispiel mit dem sanften Air des Neptune, „Cessez de ravager la terre“, aus Naïs, in welchem Spyres die Stimme schweben lassen kann und sie raffiniert moduliert.

Aus dem Schaffen von George Frideric Handel wurde die Szene des Bajazet, „Empio, per farti guerra“, aus Tamerlano ausgewählt.

Hier klingt die Stimme des Interpreten heroisch und mächtig, wird mit vehementem Einsatz geführt – der Ausschnitt wirkt besonders gelungen. Es folgt aus Antonio Vivaldis Artabano, re de´ parti die Arie des Titelhelden „Cada pur sol capo audace“, in der Spyres seine resonante Mittellage wirkungsvoll einsetzen kann. Besonders virtuose Musik komponierte Leonardo Vinci, wovon die Arie des Titelhelden aus Catone in Utica, „Si sgomenti alle sue pene“, zeugt, welche dem Sänger bravouröse Koloraturgirlanden abverlangt. Spyres absolviert sie mit Glanz. Ähnlich anspruchsvoll für den Sänger sind die Opern von Nicola Porpora, von denen Segestos „Nocchier, che mai non vide“ aus Germanico in Germania ausgewählt wurde. Es ist eine Gleichnis-Arie vom Steuermann in hüpfendem Melos, mit virtuosen staccati und extrem hohen Noten, die Spyres lustvoll vorträgt. Einen schönen Kontrast bringt das wiegende „Fra l’ombre“ des Ulisse aus Domenico Sarros Achille in Sciro, dessen Melismen der Tenor genüsslich auskostet, in der exponierten Höhe allerdings einige forcierte Töne nicht vermeiden kann.  Solche finden sich auch in der schwärmerischen Arie des Titelhelden „Vil trofeo d´un´alma imbelle“ aus Baldassare Galuppis Alessandro nell´Indie.

Weniger bekannt ist der Komponist Gaetano Latilla, doch stammt das Libretto zu seiner Oper Siroe, re di Persia immerhin von Pietro Metastasio. Daraus erklingt als eine der Weltpremieren die stürmische Arie des Cosroe „Se il mio paterno amore“, die das Orchester mit Vehemenz einleitet. Spyres singt sie mit höchster Bravour und totalem gestalterischem  Engagement. Von Johann Adolf Hasse ist die Arie des Segesto „Solcar pensar un mar sicuro“ aus Arminio zu hören – auch diese ein Gleichnis von Himmel und Meer, nur weniger dramatisch, doch dafür mit höchster Tessitura. Auch Antonio Maria Mazzoni zählt zu den weniger populären Barockmeistern. Aus seiner Oper Antigono ist die Arie des Titelhelden „Tu m´involasti un regno“ zu hören, der darin energisch auftrumpft, allerdings auch einen schmerzenden Extremton absolvieren muss (die frühere Gesamtaufnahme aus Martina Franca mit Spyres ist bei Dynamic noch im Programm).

Bekanntester Titel der Anthologie ist Orphées „J’ai perdu mon Euridice“ aus Christoph Willibald Glucks Oper. Die empfindsame Gestaltung des Sängers reiht sich würdig ein in die zahllosen Modell-Interpretationen dieser Nummer. Mozarts Frühwerk Mitridate, re di Ponto erlebte in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Wiederbelebung. Spyres selbst hat die Titelrolle Ende 2020 in einer Gesamtaufnahme von ERATO interpretiert und stellt auf diesem Recital noch einmal Mitridate Arie „Se di lauri“ vor. Sie spiegelt im Vortrag des Sängers Größe und Würde des Herrschers wider. Das Programm endet mit Médors „En butte aux fureurs de l’orage“ aus Niccolò Piccinnis Roland. Es ist eine Partie, welche bei der  Uraufführung tatsächlich von einem Haute-Contre, dem bekannten Joseph Legros, verkörpert wurde. Dieses Gleichnis vom tobenden Sturm ist ein effektvoller Abschluss, in welchem auch das begleitende Ensemble mit Bravour aufspielt. Und der Solist kann noch einmal mit virtuosen Koloraturläufen und gestalterischer Verve glänzen. Bernd Hoppe

Bis zum Frühstück ist alles erledigt

.

Im Gegensatz zu der wegen ihrer politischen Sprengkraft ursprünglich wenig genehmen Halka, die heute als polnische Nationaloper gilt, war Stanislaw Moniuszkos Idyllen, die das Polen des 18. Jahrhunderts auf die Opernbühne zauberten, von Anfang ein großer Erfolg beschieden. Dazu gehört auch der 1861 an dem von ihm seit 1858 geleiteten Teatr Wielki in Warschau uraufgeführte Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort). Bereits die leichtfüßige Allegro vivo-Ouvertüre illustriert auf charmierende Weise den anbrechenden Morgen auf dem Landgut des Pan Serwacy, wo der Diener Bartholomiej die jungen Leute zu Ehren von Serwacys Tochter Zuzia zu einem Huldigungschor aufstellt. Wie ein Sonnenstrahl über einer altpolnischen Ideallandschaft verströmt diese Genreszene eine wohlige Gemütlichkeit, so dass sich die kleinen Turbulenzen während Zuzias Namenstag im Lauf des gut einstündigen Einakters bis zum Frühstück bequem klären lassen und im Polka-Quintett der fünf Protagonisten mit Chor die zunächst aussichtslos scheinende Heirat des jungen Paares gefeiert werden kann. Zuzia hat sich in Stanislaw verliebt, den sie durch einen Kutschunfall kennenlernte. Beide gestehen sich walzerselig ihre Liebe, werden aber vom Serwacy daran erinnert, dass er einst seinem Freund Pan Marcin sein Ehrenwort gegeben habe, dass Zuzia dereinst dessen Sohn heiraten werde. Das Ehrenwort ist heilig. Da hilft keinen Weinen. Stanislaw versteht das. Zuzia jammert. Nun erscheint Pan Marcin und preist in höchsten Tönen die Verzüge seines Sohns Michal, der in einer Woche ankommen werde, worauf sofort die Hochzeit stattfinden könne. Kurz zerstreiten sich Serwacy und Martin, als Serwacy erzählt, seine Tochter habe Gefühle für einen Fremden entwickelt, der ihr bei einem Unfall zu Seite gestanden habe. Rechtzeitig klärt Stanislaw alles auf. Er ist Martins Sohn Michal, der sich nach dem Unfall im Hause des Nachbar Serwacy mit anderem Namen einführte, damit sein Vater nichts von dem Unfall erfahre. Das Libretto stammt von Jan Checinski, der darin eine Rückbesinnung auf nationale Tugenden und Identität beschwört, wie sie später auch im Gespensterschloss eine Rolle spielt, und Landadel und Bauern als große Familie zeigt. Zum Motor werden polnische Traditionen, wie Mazurka und Polonaise, die Moniuszko gekonnt mit westlichen Einflüssen mischte, man denke an Auber, ein wenig auch an südliche Buffolaune, die ihm als versiertem Kapellmeister natürlich vertraut waren.

Alles ist passgenau, keine Nummer zu lang, dazu gehören das nette Terzett der jungen Liebenden mit dem Brautvater, der aufschneiderische Vortrag des Marcin oder das Duett der Väter. Das Werk ist hübsch und würde, wie manche Einakter von Lortzing, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy oder Weber, auf Minibühnen Beachtung verdienen.

Es ist ja nicht so, dass dieses hübsche Opernchen unbekannt ist, das sich in einigen nationalen LP-CD-Ausgaben bei Muza und anderen polnischen Labels findet (vergl. ein Blick zu Discogs), das uns zuletzt auf der DUX-Aufnahme aus Szczecin von 2010 begegnete; bereits 1969 spielte Robert Satanowski den Einakter in Posen ein. Kurze internationale Aufmerksamkeit auf CD sichert nun dem Ehrenwort der geradezu bravourös auffahrende Fabio Biondi, dessen Herz seit Jahren für Moniuszko schlägt – zuletzt bei der 2020 im Teatr Wielki entstandenen Hrabina. Im Rahmen des Chopin and his Europe-Festivals setzte Biondi sich im August 2021 für Verbum nobile ein, Mit dabei im Teatr Wielki waren, wie stets, Biondis Orchester Europa Galante und der Podlasie Opera and Philharmonic Choir. Adam Palka, vor allem durch seine Auftritte in Stuttgart (u.a. Leporello, Boris, Mefistofele), bekannt, ist als Bartolomiej das rund plappernde Bass-Faktotum, das seine Buffoarie elegant ausformt. Jan Martiník und Stanislav Kuflyuk sind als Serwacy und Marcin die gemütlich tiefstimmigen Gutsherren Serwacy und Marcin. Mit dunklem Sopran und elegischem Ton verleiht Olga Pasiecznik der Zuzia ein Gesicht, die bei Biondi erstmals ihre Dumka (Track 15) in der Version singen kann, die Moniuszko am Neujahrstag 1861 dirigierte. Mariusz Godlewski, wie Martiník bereits auf der Hrabina zu hören, klingt als Liebhaber Stanislaw/ Michal in seinem Couplet fast italienisch schwungvoll, allerdings nicht mehr so jugendlich, wie man ihn Zuzia wünschen würde. Die Ausstattung ist, wie immer in dieser Reihe, prachtvoll (1 CD NIFCCD09). Ich frage mich nur, wer sich noch so großzügig dimensionierte CD-Ausgaben ins Regal stellen will (07.04.23).  Rolf Fath

 

Flotte Nummer

.

Eine Rarität legt OPUS ARTE auf Blu-ray Disc vor (OABD7309D). Damit ist natürlich nicht Handels Oratorio Semele gemeint, welches auf dem Musikmarkt vielfach vertreten ist, sondern dessen Aufführungsort – die New Zealand Opera. In der Holy Trinity Cathedral von Auckland haben Thomas de Mallet Burgess und Jacqueline Coats das Werk als Musical Drama inszeniert. Die Aufführung fand am 29. September 2021 statt. Die Ouverture wird mit Filmaufnahmen bebildert, welche Angehörige der britischen High Society bei den Vorbereitungen zur Hochzeit von Semele und Athamas zeigen. Das bietet dem Ausstatter Tracy Grant Lord Gelegenheit für eine opulente Kostümierung mit upper class-Roben samt extravaganten Hüten. Der New Zealand Opera Chorus und der Holy Trinity Cathedral Choir können gleich im feierlichen „Lucky omens bless our rites“ mit machtvollem Gesang aufwarten. „Hail Cadmus“ am Ende des 1. Aktes ist dagegen klanglich unausgewogen. Aber am Schluss können beide Ensembles mit dem jauchzenden „Happy, happy shall we be“ wieder punkten.

Prominent besetzt ist die Titelrolle mit Emma Pearson, die gleich zu Beginn im weißen Brautkleid ihr Los beklagt, soll sie doch Athamas heiraten und ist noch ganz erfüllt von ihrer vorherigen Begegnung mit Zeus. Dieser kommt in Ledermontur auf einem Motorrad herbei geprescht und stört nicht nur die Hochzeit empfindlich, sondern entführt gar die Braut. Am Ende des 1. Aktes fällt ihr der Hit „Endless pleasure“ zu, den sie wie eine Schlagersängerin ins Mikrofon singt und dabei auch strenge Töne hören lässt. Im 2. Akt hat sie mit „O sleep, why dost thou leave me?“ gleichfalls eine berühmte Nummer, die sie, auf einer großen Liege gebettet, mit recht larmoyantem Klang  absolviert. Ihr Glanzstück im 3. Akt ist „Myself I shall adore“, das ihr – wieder mit dem Handmikrofon – beachtlich gelingt. Sehr expressiv gezeichnet ist das Accompagnato „Ah me! too late“ bei ihrem Tod.

Die weiteren Interpreten sind hierzulande weniger bekannt, bieten aber ein solides Niveau. Amitai Pati ist der Jupiter und Apollo in bester britischer Oratorientenor-Tradition, was sein „Where’er you walk“ zum stimmlichen Fest werden lässt, Sarah Castle mit resolutem Mezzo die Göttergattin Juno und gefühlvollem Semeles Schwester Ino. Letztere liebt den Prinzen Athamas, den Stephen Diaz mit klangvollem Alt und starker Empfindung singt. Nach dem Willen des Königs Cadmus (Paul Whelan, der mit sonorem Bass auch den Somnus gibt) soll er Semele heiraten. Chelsea Dolman singt bemerkenswert die Iris mit substanzreichem. leuchtendem Sopran.

Mit Peter Walls steht ein kompetenter Dirigent am Pult des New Zealand Opera Baroque Orchestra, der die Dynamik der Musik, ihre Farben und Tempi zu optimaler Wirkung bringt. Der Titel des Klangkörpers sagt schon viel aus über seine Affinität zu diesem besonderen Musikstil und das authentische Klangbild hält dem  Vergleich mit renommierten Ensembles der Alten Musik durchaus stand. Bernd Hoppe

Goldmarks „Götz von Berlichingen“

.

Mehr als die in jüngster Zeit gelegentlich in Freiburg und Budapest aufgeführte Oper Die Königin von Saba (und vielleicht noch daraus die früher in Radio-Wunschkonzerten gern gespielte Tenor-Arie„Magische Töne“ und gelegentlich die Tondichtung „Ländliche Hochzeit“) ist von Carl Goldmark nicht übrig geblieben. Dabei war gerade die Saba im frühen 20. Jahrhundert ungemein erfolgreich. Immerhin sorgen heute Sänger wie Roberto Alagna (naja), Peter Seiffert, Siegfried Jerusalem (mit Gesamtaufnahme), Jonas Kaufmann und manche andere für den Fortbestand zumindest dieses Stückes aus der Oper, von den Großen der Schellackzeit ganz zu schweigen.

Aber wie der jüngere Kollege Lortzing, oder Brüll, Flotow, Nessler und andere mehr werden deren Opern-Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet (oder werden ignorant dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese zerbrechlichen und außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden (und da machte die indiskutable Freiburger Inszenierung der Saba keine Ausnahme, die Budapester zumindest blieb angenehm konventionell, wie sich das gehört).

Johann Hofer: „Carl Goldmark, Komponist der Ringstraßenzeit“/ Edition Steinbauer

Aber schade ist´s, die schöne Musik und diese eben typischen  Melodien des deutschsprachigen Raums nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es mir ein Anliegen, dieses Fehlen zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Götz von Berlichingen Carl Goldmarks  etwas zu korrigieren,. Denn der hat nicht nur die Saba geschrieben.

.

Wir haben dem Theatermann Ingolf Huhn ja schon viele dicke Kränze geflochten. Als Fan des nun heutigen Operndirektors im erzgebirgischen  Annaberg-Buchholz  reiste ich zu dessen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist der Champion für die Deutsche Romantische Oper(wobei schon das Wort deutsch Stirnrunzeln der jungen Grünen hervorrufen wird, man ist heute nicht gerne deutsch …). Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen  und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Venedig (folgt demnächste bei operalounge.de), jüngst Hahns Hochzeit des Job und viele andere vergessene Opern kamen durch Ingolf Huhn erneut zum Leben, immer im Rahmen der Möglichkeiten der kleinen Theater in Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben nun Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Goldmarks vergessene Oper, Szenen aus dem Leben Götz von Berlichingen, auf den Vorstellungen am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg 2012 und auf dem Programmheft der Dramaturgin Annalen Hasselwarder.

.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Jason-Nandor Tomory sang die Titelrolle am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz; in weiteren Partien hörte man Tatjana Conrad / Nadine Dobbriner, Juliane Roscher-Zücker, Madelaine Vogt, László Varga, Michael Junge, Frank Unger, Bettina Grothkopf, Bettina Corthy-Hildebrandt u. a.; Extrachor unter 
Naoshi Takahashi am Pult der Erzgebirgische Philharmonie Aue und des Chores des Eduard-von-Winterstein-Theaters/ Eduard-von-Winterstein-Theater

Der Theaterbesuch: Nur mit Mühen erreicht der interessierte Hauptstadt-Besucher das Berlin-ferne Annaberg (eigentlich Annaberg-Buchholz) im Erzgebirge, unweit der tschechischen Grenze. Im bezaubernden kleinen Eduard-von-Winterstein-Theater aus der Mitte des letzten Jahrhunderts residiert Ingolf Huhn als Intendant und gräbt, wie bereits auf seinen Stationen in Döbeln, Freiberg, Zwickau und Plauen, Ungehörtes aus der Wende des vor-vergangenen Jahrhunderts aus. Nach solchen Trouvaillen wie den Nibelungen von Dorn, Einaktern von Lortzing, Nesslers Rattenfänger, Schillings Pfeifertag und ähnlichem reizte diesmal der Götz von Berlichingen Goldmarks von 1902, den wirklich niemand nach 1930 mehr gehört hat, schon weil Goldmark Sohn eines jüdischen Kantors in Budapest war.

.Der Besuch in Annaberg war in vielerlei Hinsicht eine Reise in die nahe und ferne Vergangenheit. Schon die Anfahrt mit ihren Teilstrecken via Chemnitz – zweimal umsteigen und dann mit dem Bus – abenteuerlich! Die schmucke Erzgebirgsbahn für die letzte Etappe versetzte mich in Rübezahl-Stimmung angesichts der dicht bewaldeten Täler und naherückenden Berge mit ihren steilen Hängen, mit Wasserfällen und Schluchten.

Der Ort selbst wie geleckt und am Sonntag menschenleer, der hübsche Marktplatz und die trutzige St. Annenkirche eindrucksvoll-verlassen. Mengenweise Handarbeits- und Andenkenläden, die vom Tourismus sprechen, der wohl überwiegend im Winter bei Schifahrern anläuft. “Der Wilde Mann”, das Hotel am Platze, altmodisch-würdig-dunkel – all dies versetzt den Westbesucher in die sechziger Jahre eines DDR-Ferienortes der Nachsaison. Grimms-Märchen-Atmosphäre mit schwieriger Versorgungslage – natürlich sonntags nix zu essen, da blieben nur die Nüsse auf dem Zimmer

Goldmarks „Götz von Berlichingen“ am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz/ Foto Eduard-von-Winterstein-Theater

Und in diese rückwärtsgewandte Stimmung passt auch der Götz von Berlichingen (eigentlich “Szenen aus…”) im Theater (reizende Eisensäulen stützen den Balkon), wo eine solide Rechts-Links-Mitte-Regie des Hausherrn mit realistischen Anklängen in Stil-Kostümen und Dreh-Kulisse (Annabel von Berlichingen, Chemnitzer Event-Künstlerin aus einer Nebenlinie) das Geschehen wie ein Schwindtsches Mammutgemälde ausbreitet: Szenen nach Goethes Dichtung mit abenteuerlichem Stabreim, aber auch mit dem berühmten Originalzitat („Leckt mich am A…“), mehr als ansprechend, zum Teil überraschend toll gesungen, nur die Geigen/Hörner der Erzgebirgischen Philharmonie Aue wiesen auf die begrenzten Mittel des Institutes hin. Aber wir waren ja auch in Annaberg und nicht an der Met (und was man da manchmal hört…). Und alles buchstäblich mit Hauskräften besetzt – eine große Tat!

Vielleicht hatte sich der Ausflug (für mich) eher wegen der musikhistorischen Informationen gelohnt als wegen eines lukullischen Erlebnisses, denn Goldmarks Musik ist eine späte, sehr und zu späte. Sie bot dem Premieren-Publikum der Opernhäuser Budapests und Frankfurts, danach Wiens und anderer Metropolen (wo das Werk einen Siegeszug antrat, den wir uns heute kaum vorstellen können), wie in einem Digest die Highlights aus dem bis dahin beliebten Repertoire. Meterweise, absolut unverstellt, wird aus der Königin von Saba, Goldmarks internationalem und einzig nachgekommenem Erfolgswerk von 1875, zitiert, die Anlagen ganzer Szenen (etwa Adelheids großes Solo im 4.Akt) beruhen darauf in orientalisierter Melodik wie auch in der Figurenzeichnung. Leider sind (nicht nur mir) die übrigen Werke Goldmarks zu wenig im Ohr (es gibt Dokumente, s. nachstehend!), sonst hörte man sicher Ähnlichkeiten/ Zitate zu/aus Merlin, Briseis oder dem Heimchen am Herd. Unüberhörbar ist die Musiksprache Humperdincks und des Wagnernachfolgers Cornelius, aber auch Wagner selbst kommt mit Siegfried und Walküre zu Worte, vom Tannhäuser ganz zu schweigen.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Hilde Greiff-Andriesen (hier als Königin von Saba) sang Adelheid in Frankfurt/ Foto Luther

Das erinnert an Leoncavallos Roland mit seinen opportunistischen Wagner-Einstreuungen, um Wilhelm I. zu gefallen.  Goldmark, dessen Götz ein Riesenerfolg vor allem in Deutschland, war und der  allein bei der Frankfurter Premiere 40 Vorhänge erhielt, bediente eben die Erwartungen eines konservativen Deutschlands in der ersten Kaiserzeit, und die Oper wirkt so restaurativ wie die Fassaden vieler Gründerzeit-Häuser in Annaberg, eine merkwürdige Parallele.

.

.

In der Folge finden sich zeitgenössische Kritiken, die sich überraschend klar zu Aufbau und musikalischen Meriten/Defekten äußern, namentlich der Vater des Komponisten Korngold, Julius Korngold, macht da besonders gute Figur.

Im Bühnentelegraf schreibt der Kritiker zur Uraufführung in Budapest 1902: „In der Wahl seiner Stoffe liebte Goldmark von jeher Überraschungen. Aus der schwülen Farbenpracht des Orients zog er plötzlich nach den nordischen Gestaden zu König Artus und von hier nach der schlichten Dorfhütte, in der das Heimchen zirpte, um dann mit einem Male auf hohem Kothurn in den strengen Säulenbau Trojas einzutreten (Briseis). Immer aber ruhte sein Auge auf der freundlichen Bergschroffe, von welcher Burg Jaxthausen (sic !!) in deutsche Gaue blickte. Der durch langer Jahre Flucht gehegte Herzenswunsch des alten, doch nicht greisen Tondichters, den knorrigen, doch edlen Ritter Götz auf die Opernbühne zu stellen, all das markig schreitende Heldentum, das glühende Minnespiel, das Toben entzügelter Volksmassen, das Grauen des geheimen Femegerichts im Goetheschen Jugendwerk in Noten zu bannen, ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun freilich der also vertonte Götz noch weit weniger als Goethes Stück (…). Und Herr Willner, der, dem Drängen des Komponisten gehorchend, die leidige Aufnahme übernahm, das Werk zum Libretto zurechtzustutzen, erinnert lebhaft an den Mann, der einen Goldklumpen gefunden und ihn nicht heben kann, ohne ihn in Stücke zu schlagen. Auch er schlägt Goetz in Stücke, die er, ungleich im Werte wie sie sind, mit all ihren Sprüngen und Rissen dem Komponisten überlässt – diesen hierdurch zu einer musikalischen Kurzatmigkeit zwingend, die mit dem natürlichen Bedürfnis jeder Musik, sich auszu- breiten, stellenweise bald zu retardieren, bald zu ruhen, im peinlichsten Widerspruch steht. In neun Bilder gezwängt, drängt die Handlung mit Eilzugstempo nach vorn, und Goldmark musste sich, auf Stileinheit ebenso Verzicht leistend wie auf jeglichen psychologischen Zusammenhang, darauf beschränken, jede einzelne der Scenen aus Götz von Berlichingen (…) für sich zu vertonen. Und was das fahrige Hin und Her, den kaleidoskopartigen Wechsel der zahlreichen Scenen noch erhöht, ist das fortwährende Ineinandergreifen der gewisser- massen rivalisierenden zwei Handlungen, die auch im Schauspiel Goethes parallel nebenein- anderlaufen und deren erste und für die Oper zumindest wichtigere Adelheid und Franz zum Mittelpunkt hat. Götz selbst ist nur scheinbar der ‚Held des Stückes’ und steht an der Spitze von Ereignissen, die nicht er herbeigeführt hat. Im Vordergrund bleibt einzig Adelheids und Franz’ sündige und gesühnte Liebe, und erst dort, wo diese zu Worte kommt, weicht auch die fast teilnahmslose Kühle, mit der das Orchester anfangs die Bühnenvorgänge beglei- tet, voller reich strömender Herzenswärme.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Heinrich Hensel (1894 – 1935 hier als Lohengrin), sang den Franz in Frankfurt/Foto Luther

Fordert das Textbuch mehr als einmal unsere Spottlust heraus, so muss man mit umso ehrlicher Achtung und Bewunderung vom musikalischen Theil jugendliche Frische des Goldmark der Saba, vielleicht auch die klassische Formenreinheit des Briseis-Komponisten mangeln. In der malenden Pracht seiner Farben, in der Schärfe seiner Charakteristik und der staunenden Man- nigfaltigkeit der wiederholt auch aus dem Born des deutschen Volkslieds geschöpften Stimmungen ist auch diese Partitur ein echter, voller Goldmark. (…) In der orchestralen Untermalung der Bühnenvorgänge zieht Goldmark diesmal eine ganze Reihe neuer, bunter Register auf, er- geht sich in einer Unzahl reizend illustrierender Wendungen, fügt Triolen für die lockende Adel- heid hinzu, untermalt Treuebruch und Klage mit entsprechenden Klangfolgen…”

Und Vater Julius Korngold schreibt in der Neuen Freien Presse Wien über Budapest 1902: „… Einfaches Rezitieren über durchsichtigster Orchesterbegleitung scheidet sich bewusst von der merklich gekürzten, dramatischen Melodie, und die Charakteristik hat etwas Schrittweises. Wo die Situation Lyrik zulässt, knospt ein Arioso auf; neben diesen Blumenbeetlein des Gesangs schaffen sich Sträuchergrüppchen orchestraler Vor- und Zwischenspiele Raum. (…) Im Götz scheint oft der schichte volkstümliche Ton des Schauspiels ein Spiegelbild finden zu wollen in einer schlichten, volkstümlichen Musik. Und die Königin von Saba scheint auch das mittelalterliche Deutschland im Inkognito einer Adelheid von Walldorf aufzusuchen…“

Und im Pester Lloyd, 1902 schreibt August Beer (immerhin!): „Als interessantes Gegenstück zu dem knorrigen Titelhelden erscheint die andere Hauptfigur, die schöne gleisnerische Verführerin Adelheid. Die Liebesszenen ins- besondere mit ihrem großen Crescendo von zarter Schwärmerei bis zu lodernder Gluth sind geradehin Prachtstücke erotischer Lyrik. Geschickt wird das heitere, volkstümliche Element eingeflochten. Die grotesk-zierliche Musik in der Pagenszene, melodiöse Strophengesänge von populärer Fassung blitzen wie helle Glanzlichter in die immer tragischer sich zuspitzende Handlung. Farbiges Leben bringen dazwischen auch Ensembles und Chöre, letztere zumeist im Dienste dramatischer Steigerungen. (Das Orchester dient) dem unablässigen Untermalen der Szene in zahllosen, gleichsam nur der Momentaufnahme dienenden Details…”

 .

.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: zeitgenössische Illustration zu Goethes Dichtung/ DW-Sonstiges-Frankfurt-Archiv

Jetzt ganz schnell nocdh die nötigen Angaben zu Goldmark nach Seegers Opernlexikon/Berlin 1978: Goldmark, Karl, geb. 18.5.1830 Keszthely/ Ungarn, gest. 2.1.1915 Wien; ung.-österr. Kom- ponist. Stud. Wien/privat bei L. Jansa und Kons.; wurde Geiger und Kl-Lehrer in Ödenburg, Budapest und Wien; schrieb neben Instrumentalmusik die Opern Die Königin von Saba/1875; Merlin/1886; Das Heimchen am Herd/1896, Die Kriegsgefangene/ i. e. Briseis, 1899; Götz von Berlichingen/1902; Ein Wintermärchen/1907.

.

.

An Operndokumenten gibt´s – außer der Königin von Saba in manchen Mitschnitten und drei Gesamtaufnahmen (Ponto/ Hungaroton/ zuletzt die sehr ordentliche aus Freiburg 2016 bei Naxos) – wenig. Von Briseis keine Spur. Ein Wintermärchen wurde in Wexford 2021 gegeben und gesendet, 2015 wurde diese Oper an der Budapester Staatsoper gespielt (mit einem Ausflug ans New Yorker Koch Theater), beide sind auf youtube zu erleben. Eine weitere Aufführung findet sich bei der jüdischen Gemeinde in Budapest in der nämlichen Zeit . Merlin wurde von Gerd Schaller nach den Aufführungen in Bad Kissingen 2009 bei Hänssler Profil herausgegeben. Das Heimchen am Herd existiert in einer stark beschnittenen Aufnahme vom Reichsrundfunk. Die erwähnte dritte Aufnahme der Königin von Saba stammt aus New York (LP-BJR/ Gala/ Ponto) mit der absolut erregend singenden Teresa Kubiak als Sulamith (die Auftrittsarie ist eine unerreichte Wucht, nicht einmal die von mir stets sehr geschätzte Dagmar Schellenberger im Amsterdamer Konzert 1997 neben dem eindrucksvollen Wólfgang Milram unter dem hochsinnlichen Daniel Nazareth kommt daran) und mit  Wolfgang Anheisser als sonorer König Salomon, der Rest ist gerade mal passable, Gala hats zuletzt herausgegeben. Tondichtungen und Ouvertüren zu weiteren Opern etc. finden sich bei jpc und youtube. G. H,

.

.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Zeitungsnotiz in der New York Times zur Aufführung in Frankfurt 1903/ Archiv Luther

Zum Inhalt: Götz von Berlichingen, der Held mit der eisernen Hand, kämpft für das alte Recht und für das gute Recht – für das alte Recht der freien Reichsritter, die sich von keinem Fürsten regieren lassen wollen und für das gute Recht der Fehde, die allen Streit mit der Gewalt des Stärkeren löst und manchmal dabei auch den Schwachen weiterhilft. Er weiß, daß er im Recht ist – und da das viele andere nicht wissen, muß er selbst zum Schwert greifen: der Selbsthelfer in einer verderb- ten Welt. Ein Held für Generationen.

Mit seinem alten Freund Weislingen ist er über Kreuz: als Kinder, als Knappen, hatten sie alles gemeinsam, aber nun ist Weislingen ein Höfling geworden, weichlich und elegant, ein Freund der Frauen und des bequemen Hoflebens. Mehr aus Zufall hat Götz ihn neulich gefangen genommen, und jetzt sitzt er bei ihm auf Jagsthausen und langweilt sich. Es geht ihm gut und keineswegs wie einem Gefangenen – Götz wirbt um die alte Freundschaft – und schließlich verlobt er sich mit Götzens Schwester Maria. Gleich darauf kommt sein Diener Franz vom Hof des Bamberger Bischofs, der inständig um Weislingens Rückkehr bäte. Und der lockende Stern an diesem Hof ist Adelheid von Walldorf – jung verwitwet und so schön, dass Franz kaum noch sprechen kann vor Begeisterung. Dass sich sein Herr soeben hier verlobt hat, ist ihm Vergeudung. Im selben Moment aber kommt auch ein Brief, der Götz vor ein Gericht nach Heilbronn fordert. Götz will sich natürlich keinem Gericht unterwerfen und unseligerweise schlägt jetzt Franz vor, Weislingen könne ja in Bamberg für Götz vermitteln.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Goethes Drama in der Aufführung der Burgfestspiele Jagsthausen

Vor dem Gericht in Heilbronn: Der bürgerliche Rath Heilbronns soll Götz das Urteil des Kaisers verkünden: Er solle den Raubzügen und kleinen Privatkriegen für immer abschwören, auf seiner Burg sich still verhalten, bis der Kai- ser ihn für die Türkenkriege brauche. Das will Götz nicht und als man auch nur ihn freilässt und nicht auch seine Leute, ist ihm klar, das kann nicht des Kaisers Wille sein. Den Kaiser liebt er, und der Kaiser ist im Herzen ein Ritter wie er und nur durch Fürstenintrigen zu bewe- gen, solch ein Urteil zu sprechen. Der Rat von Heilbronn hatte sich für Konflikte gewappnet – die stärksten Handwerker sollten notfalls eingreifen, aber im Angesicht des wütenden Götz wollen sie sich alle lieber verstecken. Als nun auch noch Franz von Sickingen mit einem kleinen Trupp die Stadt besetzt und droht, sie anzuzünden, bleibt ihnen nichts, als Götz zu huldigen und ihn um Milde zu bitten.

Am Hofe des Bischofs von Bamberg: Adelheid von Walldorf, deren Schönheit in aller Munde ist, tändelt mit dem kurz an den Hof zurückgekehrten Weislingen. Und sie verspricht auch Weislingens Diener Franz viel – oder alles. Franz ist gar nicht mehr bei sich selbst vor Aufregung, Verliebtheit, Hoffnung. Weislingen aber will wieder fort. Götz hat sein Freundeswort und wartet auf ihn in Jagsthau- sen, und dort ist er ja auch verlobt. Als ihn der Bischof kühl verabschiedet, braucht Adelheid nur drei Worte, um ihn zu fesseln und zu halten. Der Bischof und der Hof feiern seine Heimkehr als politischen Erfolg – und Götzens Knappe Georg, der gekommen ist, um ihn zu fragen, wo er bleibe, bekommt eine böse Abfuhr.

Im Wald: Götz allein. Bei einem kleinen Raubzug auf ein paar Heilbronner Kaufleute wird Götz schwermütig: Vieles fällt ihm auf´s Gemüt, und als der langerwartete Georg von Bamberg zu ihnen stößt und von Weislingens Verrat erzählt, wütet er – auch gegen die gefangenen Kaufleute. Georg und Selbitz holen ihn zurück, aber er spürt, dass es jetzt schwerer wird.

Am Hofe des Kaisers in Augsburg: Adelheid und Weislingen sind verheiratet, aber sie wirbt um den Sohn des Kaisers. Am Rande eines Maskenfestes ordnet Weislingen an, dass sie den Hof verlassen und auf das heimische einsame Schloss zurückkehren soll. Nichts hat sie weniger im Sinn zu tun als dies. Weislingens Diener Franz, der ihr eigentlicher heimlicher Geliebter ist, soll ihren Mann vergiften.

Im Bauernkrieg: Aufständische Bauern ziehen planlos und unorganisiert durchs Land. Eine Truppe versucht Götz als Hauptmann zu gewinnen und der sagt zu, weil er glaubt, so das Geschehen steuern zu können. Das misslingt. Hinter seinem Rücken geht das wilde Sengen und Brennen weiter und als er fort  ist wird sein Lieblingsknappe Georg von den Bauern erstochen.

Bei der Feme: Beim Laiengericht der Feme wird Adelheid verklagt, ihren Mann durch ihren Geliebten vergiften lassen zu haben. Die Feme beschließt ihren Tod und schickt einen Mörder.

Auf Adelheids Schloss: In einer schönen Mondnacht erwartet Adelheid ihren letzten Geliebten Franz. Sie sieht ihn weither kommen, den Berg hinauf, bis an das Tor – und merkt schließlich, dass dies jemand anderes ist; der Mörder der Feme. Sie verschließt alle Türen, aber der Mörder ist dennoch plötzlich da und erwürgt sie.

Am Ende: Götzens Wurzeln sind abgehauen. Er ist allein mit seiner Frau und dem Freund Lerse: Der Kaiser ist tot, Selbitz – und sein Lieblingsknappe Georg. Das Urteil über ihn ist aufgehoben und er ist eigentlich frei. Aber sein Durst nach Freiheit ist ungestillt. Der bleibt.

.

.

(Die Inhaltsangabe folgt dem Programmheft der Aufführung am 29. April 2012 in Annaberg von Annelen Hasselwander, Dramaturgin. Dank geht an Matthias Käther und Einhard Luther für die Auffindung der zeitgenössischen Kritiken und Fotos. Das Foto oben haben wir der Spiele-website Age of Empires kurzfristig entliehen. G. H). Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.