Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Petre Munteanu

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In unserer Serie Operngeschichte erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

Und das bringt uns zu Petre Munteanu, dem rumänischen Tenor mit einer bemerkenswerten Karriere in Deutschland und Italien.

Zwei meiner liebsten geistlichen Aufnahmen mit ihm sind die beiden Oratorien von Mozart und Vivaldi, La Betulia liberata und Juditha triumphans unter Carlo Felice Cillario bzw. Alberto Zedda am Pult des Mailänder Angelicum Orchesters und Chores, schwer aus den Sechzigern und im Klang zwar Stereo aber doch recht betagt. Neben solchen eher regionalen, aber im damaligen Italien Säulen des Konzert- und Opernlebens seienden, Sängern wie Emilia Cundari (immerhin Tochter Bruno Walters), Oralia Dominguez, Adriana Lazzarini, Laura Londi, Irene Companeez (die Cieca im Rai-Studio neben der Callas) tritt Petre Munteanu leuchtend und prophetisch hervor, sein stets etwas melancholisches Timbre unverkennbar und seine Interpretation engagiert und voller Aussage. Das ist für mich musikalisches Drama, Aussage in Musik, ähnlich wie Marga Höffgen mit Vivaldis Stabat Mater oder Margarete Klose mit dem Lamento der Arianna – über stilistische Fragen hinweg gültige und überzeitliche Aufnahmen. Petre Munteanu ist auf Dokumenten reichlich vertreten, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Hermann Scherchen, mit dem er viel von Bach aufgenommen hat (Matthäus-Passion, Kantaten, Weihnachtsoratorium, meist auf Vanguard und kleinen italienischern Firmen)., Ein Verdi-Requiem findet sich bei Decca-Eclipse Australien, Beethovens Neunte erneut unter Scherchen bei DG. Eine Schöpfung von Haydn hatte die Firma Andromeda, das Mozart-Rerquiem findet sich bei Archipel. Youtube und Spotify haben viel von Munteanu. G. H.

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Es gibt Sänger, die bleiben ein Geheimtipp. Auch weit über ihren Tod hinaus. Petre Munteanu ist so einer. Für mich zumindest. Ob Lied, Oratorium oder Oper, er war – mit Ausnahme der Operette – in allen Genres unterwegs. Preiser Records, seit Jahrzehnten für Ausgrabungen und Erbepflege bekannt und geschätzt, hat sich den Liedinterpreten vorgenommen und in einem Album mit drei CDs Werke von Franz Schubert und Robert Schumann zusammengestellt (89306). In dieser Konzentration erhalten die Aufnahmen, die verstreut und auch in anderen Zusammenstellungen auf den Markt gelangten, eine neue Bedeutung. Munteanu war immer gegenwärtig. Nicht auf den ganz großen Labels. Er führte ein vergleichsweise bescheidenes, aber feines Plattendasein. Fällt sein Name, dann nicken sich bis heute Kenner und Sammler wissend zu. Munteanu scheidet keine Geister und polarisiert nicht wie manche Stars und Platzhirsche der Szene. Dafür ist er nicht glamourös genug. Er gehört zu den Stillen. Er braucht keinen Lärm um seine Person.

Petre Munteanu/ die Preiser-3 CD-Box mit den Liederzyklen

In seiner Kompaktheit erweist sich das Preiser-Album auch als aufregende Fundgrube. Wer es besitzt, stellt es nicht in die hinterste Reihe des Regals. Bei mir bleibt es immer griffbereit. Schubert ist mit der Schönen Müllerin und dem posthumen Zyklus Schwanengesang in der damals üblichen Zusammenstellung und Reihenfolge vertreten, Schumann mit Dichterliebe, dem Liederkreis op. 24 und der Liedersammlung Myrthen. Alle Aufnahmen kamen zuerst auf Schallplatten bei Westminster heraus. Mit Ausnahme des 1952 eingespielten Schwanengesang sind die anderen Titel 1954 in Wien eingespielt worden, am Flügel begleitet Franz Holetschek. Munteanu war damals noch keine vierzig. Das schlägt sich positiv nieder. Er singt jung und ist allein dadurch in meinen Ohren emotional auf eine direktere Weise beteiligt als jemand, der die Lieder aus der Perspektive des fortgeschrittenen Alters deutet und interpretiert. Bei Munteanu werden Liebe, Schmerz, Glück oder Sehnsucht nicht sublimiert. Als Vortragender ist er selbst Betroffener. Deshalb überzeugt er mich so stark. Wenn ich ihm zuhöre, kann ich mich mit meinen eigenen Gefühlen nicht auf Kunst hinausreden. Ich muss sie zulassen.

Dieser Sänger verlangt einem auf seine leise, einnehmende Weise einiges ab. Er unterhält nicht, er fordert strikte Aufmerksamkeit ein. Im Grunde ist er auch ein bisschen humorlos. Man wird ihn so schnell nicht wieder los. Mir kommt es so vor, als singe er mache Passagen etwas gestelzt. Als müsse er ja alles richtig machen. Ein leichter Akzent verweise auf einen, der „fremd eingezogen“ ist. Die Winterreise ist leider nicht dabei. Mir ist auch gar keine Aufnahme von Munteanu bekannt. Kein Zweifel, dass sie ihm sehr gelegen hätte. Mitunter verunglücken Wendungen in der Aussprache total. Wenn aus dem „rauschenden Bächlein“ in Schuberts „Liebesbotschaft“ auch in der Wiederholung ein „Bööchlein“ wird, klingt das zwar merkwürdig – aber gar nicht komisch. Warum nur? Der aus Rumänien stammende Munteanu entdeckt – gezielt oder zufällig? – die Fremden und die Außenseiter, die in diesem deutschen Liedgut allgegenwärtig sind. Deshalb wirkt er auf mich so aktuell und zeitgemäß. Trotz der sprachlichen Eigenarten ist er musikalisch bestens aufgestellt. Sein Stil ist schlicht und schnörkellos. Er lässt sich Zeit beim Singen. Rhythmische Akzente unterbrechen oder bremsen den Fluss der Melodie nur dann, wenn es inhaltlich geboten ist. Natürlich ist den Mono-Aufnahmen ihr Alter anzuhören. Munteanu hingegen wirkt auf mich gar nicht historisch. Allein technische Umstände verorten ihn in seiner Zeit. Das muss kein Widerspruch sein. Rüdiger Winter

Petre Munteanu/ die bemerkenswerte „Matthäus-Passion“ unter Hermann Scherchen bei Vanguard

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Dazu ein Artikel von Kurt Malisch in der Beilage zur (inzwischen verrgriffenen) 3-CD-Preiser-Ausgabe: Ein tenore di grazia aus Rumänien – Petre Munteanu: Selbst versierte Stimmenkenner werden sich schwer tun, mehr als eine Handvoll Namen zusammenzubekommen, wenn sie nach Sängern gefragt werden, die aus Rumänien hervorge­gangen sind und die über die Grenzen ihres Landes hinaus Reputation erlangt haben. Die Sopranistinnen Stella Roman, Virginia Zeani und Ileana Cotrubas zählen dazu, die Baritone Nicolae Herlea und David Ohanesian – auch der Tenor Petre Munteanu. Gemeinsam mit seinen italienischen Kollegen Cesare Valletti, Giacinto Prandelli, Nicola Monti, Ferruccio Tagliavini setzte der Rumäne nach dem Zweiten Weltkrieg die große Tradition jener leichten, lyrischen, flexiblen Tenorstimmen fort, die vor allem in den Opern Mozarts und Rossinis, Bellinis und Donizettis zu Hause sind. Der Name, den man dieser „Tenor-Familie“ gegeben hat, ist zugleich Programm: „Tenore di grazia“. Das bedeutet: stimmliche Anmut und stilistische Eleganz haben Vorrang vor machtvoller Lautstärke und zwingender Durchschlagskraft, gesangstechnische Verfeinerung und Koloraturvirtuosität gelten mehr als plakatives Pathos und auftrumpfende Stentorwucht. Diese Tenöre sind Meister des musikalisch-gesanglichen Details, dem sie immer neu variierte Gestalt zu geben vermögen, dank nuancierter Phrasierungskunst, sublimer Ab­stufung der dynamischen Grade, vielfältiger Schattierung der Klangfarben, vollendeter Legato- beherrschung und feinster Pianissimokultur.

Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg galt vor allem der Süditaliener Tito Schipa als tenora- ler Inbegriff solcher Stimmperfektion. Es ist daher kein Zufall, dass gerade Schipa das tief ver­ehrte Vorbild Petre Munteanus war, ja mehr noch: die Schallplatten Tito Schipas waren es, die den rumänischen Künstler überhaupt dazu bewogen, dem Drängen seiner Musikerfreunde und Lehrer nachzugeben und selbst Sänger zu werden.

In dieser Rundfunkproduktion, die 1949 beim NWDR entstand, singt Petre Munteanu einen sehr sensiblen und in sich gekehrten Faust in der gleichnamigen Oper von Charles Gounod. Erschienen ist die Aufnahme beim schweizerischen Label Relief (CR 1923).

Geboren am 26. November 1916 in Campina nahe bei Bukarest, erhielt Petre Munteanu schon als Kind Klavier- und Geigenunterricht. Er war siebzehn, als er in das Konservatorium der rumä­nischen Hauptstadt eintrat, mit dem Ziel, Violinvirtuose zu werden. Seinem unverkennbaren Gesangstalent schenkte er lange keine Bedeutung, bis es zu jener schicksalhaften Begegnung mit den Tondokumenten Tito Schipas kam.Was den jungen Sänger vor allem faszinierte, war der mühelose instrumentale Umgang mit der Stimme, den Schipas Vokalkunst auszeichnete. Nun ent- schloss sich Munteanu zum Gesangsstudium, war aber mit seinen Fortschritten viel weniger zufrieden als seine Lehrer. Als er 1940 an der Bukarester Oper mit dem Conte Almaviva in Rossinis „II barbiere di Siviglia“ sein Bühnendebüt geben sollte, meinte er, dafür noch nicht reif genug zu sein und wählte für seinen Einstand die, wie er glaubte, weniger problematische Rolle des Cavaradossi in Puccinis „Tosca“.

Munteanus Absicht war es, bei Tito Schipa selbst zu studieren. Als dies nicht zu verwirklichen war, folgte er dem Rat seines Bukarester Lehrers und ging zur weiteren Ausbildung an die Berliner Musikhochschule zu Günter Weissenborn. Im Gepäck hatte er eine Schallplatte Tito Schipas mit der Arie des Conte Almaviva „Ecco ridente il cielo“. Er war fest entschlossen, die Bühne nicht mehr zu betreten, bevor er dieses Stück nicht im Stile und mit der stimmlichen Vollendung Schipas würde singen können. Und tatsächlich war er zum Neubeginn seiner Karriere an der Berliner Volksoper erst zu bewegen, als er im Berliner Rundfunk die bewusste Arie des Almaviva aufnehmen durfte. Anschließend bat er seinen Lehrer in das Berliner Funkhaus und spielte ihm beide Aufnahmen unmittelbar hintereinander vor. Erst als Weißenborn auf Ehrenwort versichert hatte, der ehrgeizige junge Sänger habe sein erstes Ziel erreicht und sei seinem großen Vorbild zumindest nahe gekommen, akzeptierte Munteanu das Angebot der Volksoper. 1943 begann der Tenor im Berliner Theater des Westens seine zweite Karriere. Seinen Einstand gab er in der Rolle des Filipeto in Ermanno Wolf-Ferraris musikalischem Lustspiel „Die vier Grobiane“. Sehr bald folgte der Ernesto in Donizettis „Don Pasquale“, der Pedrillo in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ und der Chäteauneuf in Lortzings „Zar und Zimmermann“. Und gegen Ende seiner ersten Spielzeit durfte Munteanu in seinem neuen Engagement auch den Cavaradossi singen, jene Partie, mit der er vier Jahre zuvor in Bukarest debütiert hatte. „Wer hätte gedacht, dass die Volksoper mit dem jungen Rumänen Petre Munteanu einen solchen Treffer landen würde“, schrieb eine Berliner Zeitung. Weiter hieß es: „Eine derart schnelle Entwicklung dieses viel versprechenden lyrischen Tenors hat gewiss niemand erwarten können. Hier scheint ein Gesangskünstler heranzuwachsen, der einmal die Nachfolge eines Tito Schipa antreten kann.“

Petre Munteanu/Donizettis „Don Pasquale“ bei Philips

Auch die Leitung der Volksoper war sich bewusst, welch kostbares Talent sie für ihr Ensemble gewonnen hatte und gönnte ihm das Wichtigste, was eine solche Begabung benötigt: Zeit zu reifen. Man setzte Munteanu zunächst überwiegend in leichten Spielpartien ein, mutete ihm nur ganz allmählich gewichtigere Aufgaben zu wie die Partie des Alfredo in Verdis „La traviata“. Dies war zugleich die letzte Berliner Rolle des Siebenundzwanzigjährigen. Am 1. September 1944 wurden alle deutschen Bühnen geschlossen um ihr Personal für den Einsatz im „totalen Krieg“ freizustellen. Damit war für lange Zeit das deutsche Theaterleben erloschen. Munteanu wurde noch für einige Opern- und Liedaufnahmen im Rundfunk verpflichtet, dann war auch das nicht mehr möglich. Er verließ Deutschland, kehrte aber nicht in seine rumänische Heimat zurück, sondern fand sein neues Zuhause in Italien. 1947 in Rom begann Petre Munteanu zum drittenmal seine Laufbahn, als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“. Am 17. April desselben

Jahres gab er seinen Einstand an der Mailänder Scala, als Ferrando in „Cosi fan tutte“, neben Suzanne Danco als Fiordiligi und Giulietta Simionato als Dorabella, unter der musikalischen Leitung seines rumänischen Landsmannes Jonel Perlea. Damals erschien auch Munteanus Idol Tito Schipa noch auf der Bühne der Scala, im Dezember 1947 als Nemorino in Donizettis „L’elisir d’amore“, im stattlichen Alter von immerhin 58 Jahren. Während Schipa den Opern Mozarts eher aus dem Weg gegangen ist, machte sich Munteanu gerade in Partien dieses Komponisten einen Namen. Im Lauf der nächsten Jahre eignete er sich ein sehr umfangreiches Repertoire an, das von altitalienischen Arien bis zu moderner Musik reichte, von Domenico Cimarosas „Credulo“ bis zu Alban Bergs „Wozzeck“ und Igor Strawinskys „Persephone“. Ein denkwürdiges Datum war der 2. April 1952, als Petre Munteanu als Belmonte neben der jungen Maria Callas als Konstanze in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf der Bühne der Mailänder Scala stand. Im Jahr darauf kehrte der Rumäne dann wieder nach Berlin zurück, für ein Konzert mit Liedern und Arien von Gluck, Händel, Scarlatti, Pergolesi und Caccini. Auch von verschiedenen Rundfunkanstalten wurde der Tenor nun wieder verpflichtet. So entstand unter anderem beim Norddeutschen Rundfunk Anfang der fünfziger Jahre eine Gesamtaufnahme von Gounods „Faust“ mit Munteanu in der Titelpartie.

Petre Munteanu – stets ein Eleganter/ OBA

Das künstlerische Zentrum des Sängers blieb jedoch Italien, wo er an zahlreichen großen Bühnen auftrat, in Rollen wie Almaviva, Fenton („Falstaff‘), Belmonte und Pedrillo, Pylades („Iphigenie en Tauride“). 1954 wirkte er in Rom in der italienischen Erstaufführung von Rimsky-Korsakovs Oper „Snegurotschka“ mit. 1961 hob er in Venedig Luigi Ninos „Intolleranza“ mit aus der Taufe. Häufig führten ihn Gastspiele an andere bedeutende europäische Opernhäuser: an den Londoner Covent Garden, an die Münchner und Wiener Staatsoper, das Teatro Real in Madrid. Auf überaus erfolgreichen Tourneen bereiste er Australien, Indien, Pakistan und Japan. Noch während seiner aktiven Sängerlaufbahn begann Munteanu seinen musikalischen Wirkungskreis zunehmend zu erweitern: 1969 erlebte ihn Turin erstmals am Dirigentenpult, er veröffentlichte musikwissenschaftliche Aufsätze, promovierte mit einer Dissertation über Hugo Wolf und versuchte sich auch als Komponist. Nach seinem Abschied von der Bühne wirkte er in Mailand als begehrter Gesangspädagoge am Conservatorio Giuseppe Verdi, zuletzt war er Direktor der Accademia di Canti di Milano. In Mailand ist Petre Munteanu am 18. Juli 1988 gestorben (Foto oben: Munteanu als Faust). Kurt Malisch (in der Preiser Box 89306)

Einer für alle

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Warum wohl änderte Christof Loy die von Pucccini für sein Trittico vorgesehene Reihenfolge von Il Tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi in Gianni Schicchi, Il Tabarro und Suor Angelica? Wollte er 2022 in Salzburg dem Publikum das befreiende Gelächter nach dem veristischen Reißer und dem frommen Rührstück versagen? Oder hatte er ganz einfach erkannt, dass seine Protagonistin für alle drei Einakter, die Sopranistin Asmik Grigorian,  sich nur so vom Einsingen als Lauretta über Giorgetta als ein Glied des Trio infernal zur Primadonna assoluta einer Angelica steigern konnte? Entsprechend jedenfalls fiel der Beifall für sie aus, der sich von freundlich über herzlich bis zu frenetisch steigern konnte. Bedenklich stimmt die Besetzung der drei Partien trotzdem, denn die Lauretta der Grigorian erreichte nicht die sich einschmeichelnde Dolcezza der Besten in dieser Partie, ihre Giorgetta musste sich davor schützen, sich ganz zu verausgaben, denn für die Suor Angelica brauchte sie noch lyrische Leuchtkraft sowie für das „Senza Mamma“ gebändigte Expressivität und ein wunderschönes Diminuendo zum Schluss.

Bei Christof Loy kann der geplagte Opernfreund davor sicher sein, Geschmacklosigkeiten und Entstellungen ertragen zu müssen, auch wenn seine Inszenierungen immer ein wenig kalt wirken. Kahl und riesig ist das Gemach (Bühne Ètienne Pluss), in dem Buoso Donati sein Leben ausgehaucht hat. Die Verwandtschaft in Fünfzigerjahreskostümen (Barbara Drosihn) sitzt (wie in unendlich vielen anderen Produktionen bisher) aufgereiht an einer Wand, ist bereits beim Leichenschmaus, der natürlich aus Spaghetti Bolognese besteht, während die Besetzung alles andere als italienisch ist. Viele lustige Details unterhalten das Publikum bestens, so wenn einige Familienmitglieder sich bereits am Tafelsilber und anderem bereichern oder die Kerzen auslöschen, da das Geld dafür vom Erbe abgehen könnte.

Ein mächtiges Trumm von einem Kerl ist der Gianni Schicchi von Misha Kiria, einem georgischen Sänger mit einem vollmundigen Bariton voller Farbe, Saft und Kraft. Ihm nimmt man eher machtvollen körperlichen Einsatz als hinterlistigen Witz ab. Alexey Nekklyudov ist Rinuccio, optisch attraktiv,  mit einem durchdringenden „Firenze“ ohne Tenorschmelz und Poesie, dazu enger Höhe. Optisch wie akustisch ragt aus der Schar der Verwandtschaft Scott Wilde als Simone heraus. Auch Enkelejda Shkosa, die noch in zwei weiteren Partien zu erleben ist, kann als Zita mit üppigem Mezzosopran reüssieren. Insgesamt ist leider viel von dem, was der Italiener „a squarcia gola“ nennt, zu vernehmen. Feiner und italienischer hören sich die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst an.

Viel zusätzliches Personal, so Midinetten und Tänzer gibt es für Il Tabarro, ohne dass das Stück dadurch bereichert erscheint, auch Un amante wie Un‘ amante dürfen sich länger auf der Szene tummeln als vorgesehen. Ein riesiger Schleppkahn, vor dem man ein Wohnzimmer samt Stehlampe aufgebaut hat, beherrscht die Szene. Asmik Grigorian ist eine Jean-Harlow-Kopie, für die sich die Regie viele schlüssige Details ausgedacht hat, so wenn sie erst das Antlitz des Gatten zärtlich berührt, sich dann aber verstohlen die Hand abwischt. Eine ausgefeilte Personenregie kann auch hier überzeugen. Scott Wilde und Enkelejda Shkosa , später noch Suora Zelatrice, sind auch als Il Talpa und La Frugola darstellerisch wie vokal ein Gewinn, zu ihnen gesellt sich als ebensolcher Andrea Giovannini als Il Tinca. Hell und strahlend, aber doch recht kühl bleibend, füllt Asmik Grigorian die Partie der Giorgetta aus. Schon einmal optisch ideal rollendeckend sind Roman Burdenko als Michele und Joshua Guerrero als Luigi. Vokal hat Ersterer Wärme wie Autorität in seinem Bariton, während der Tenor mit einheitlich dunklem Timbre, weniger mit erotischem Flair punkten kann.

Die Nonnentracht ist kaum modischen Zwängen unterworfen, und so kann man lediglich am Kostüm der Zia Principessa, ein strenger Hosenanzug zu ebensolchem Herrenhaarschnitt, festmachen, dass auch hier die Handlung in moderne Zeiten verlegt wurde. Recht idyllisch und in freundlicher Atmosphäre spielt sich das Leben im Kloster ab, am Schluss gibt es keine Marienerscheinung und keinen tödlichen Trank, sondern Angelica sticht sich mit einer Schere beide Augen aus, ihr Kind läuft auf sie zu und umarmt sie. Davor allerdings zeigte die Nonne durchaus weltliche Gelüste, wenn sie sich aus einem Koffer mit Kleinem Schwarzen und Lippenstift fein machte und genussvoll eine Zigarette rauchte. Viel Wärme in ihrem Mezzosopran hat Hanna Schwarz als Badessa, während Karita Mattila trotz einschüchternder Optik weder darstellerisch noch vokal die Eiseskälte der Zia Principessa vermitteln konnte. Asmik Grigorian hingegen bewältigte zwar alle drei Partien, doch ist ihre achtenswerte Leistung durchaus kein Plädoyer für die Besetzung mit nur einer Sängerin (Major 809004). Ingrid Wanja

Wien liegt im Erzgebirge

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In der Geschichte der deutschsprachigen Operette bedeutet die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten Anfang 1933 einen radikalen Einschnitt: Die bis dahin erfolgreichsten Komponisten und Librettisten waren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) jüdisch, Aufführungen ihrer Werke im Deutschen Reich wurden umgehend verboten. Sie setzten ihre Karrieren in Wien (bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938), Budapest, Paris (bis zum Ausbruch des II. Weltkriegs) oder Zürich fort und waren dort mit neuen Stücken sehr wohl erfolgreich, aber diese Exil-Operetten wurden gewöhnlich nicht nachgespielt (schon gar nicht im Ausland!) und gerieten spätestens nach 1945 ganz und gar in Vergessenheit.

Ralph Benatzky/ Foto Discogs

Ein neues Interesse an diesen Werken, mit denen die Gattungsgeschichte der Operette an ihr Ende gelangt, ist erst in den letzten Jahren zu registrieren: Von Paul Abraham wurde Roxy und ihr Wunderteam(ungarisch Budapest 1936, deutsch Wien 1937) 2014 in Dortmund erstmals wieder gespielt und war zuletzt in der Volksoper Wien (Herbst 2021) zu sehen; im Sommer 2021 kam in Nürnberg Abrahams Märchen im Grand Hotel (Wien 1934) auf die Bühne. Die Volksoper Wien spielte 2016 Ralph Benatzkys „musikalisches Lustspiel“ Axel an der Himmelstür (Wien 1936). Benatzky ist auch der Komponist der „Kammeroperette“ Zur gold’nen Liebe (Berlin 1931), die im Juni 2021 mit großem Erfolg von der Bühne Burgäschi, einer Schweizer Truppe operettenbegeisterter Amateure, aufgeführt wurde.

Benatzky war nicht jüdisch, er verließ Deutschland, weil ihm das Regime des „Führers“ (den er gern den „Baedeker“ nannte) zuwider war. Am Deutschen Volkstheater in Wien kam im April 1936 seine Operette Der reichste Mann der Welt heraus. Die erfolgreiche Inszenierung sollte die einzige bleiben, erst 2021 stellte das Theater in Annaberg-Buchholz das Werk wieder auf den Prüfstand (dazu den Rezension von Rolf Fath in unserer Rubrik Die besondere Oper; nun als DVD in einer Aufzeichnung von 2022  bei der Firma Rondeau ROP9018 zum Nacherleben erschienen; die nachstehende Rezension von Albert Gier vermittelt seinen Eindruck vom Besuch des Eduard-von-Winterstein-Theaters in Annaberg am 16. Juli 2023. G. H.)

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Da die Orchesterpartitur verlorenging, hat Wolfgang Böhmer das Stück auf der Grundlage von Benatzkys Klavierauszug neu orchestriert. Böhmer und GMDJens Georg Bachmann, der Dirigent der Aufführung, betonen übereinstimmend, dass die Musik das Idiom der Wiener Operette mit Elementen der amerikanischen Musical Comedy verbindet. Das kleine Orchester in Annaberg-Buchholz besteht aus neunzehn Instrumenten, darunter Orchesterklavier und natürlich Schlagwerk.

Das Libretto von Hans Müller ist gut konstruiert, wenn auch nicht ganz so inspiriert wie die Bücher, die z.B. Curt Goetz (Zirkus Aimé) oder Willi Wolff und Martin Zickler (Zur gold’en Liebe; der Komponist wird als Mitautor genannt) für Benatzky schrieben. Regisseur Christian von Götzrückt das Stück in die Nähe der Boulevardkomödie, die sich durch hohes Tempo auszeichnet. Von Götz beschreibt sie als „Theater, wo die Türen klappern“, als sein eigener Bühnenbildner entwarf er einen abstrakten Raum, dessen Hintergrund eine gewölbte, aus verschiedenfarbigen Segmenten bestehende Wand bildet, in jedem zweiten Segment gibt es eine Tür. Im Verlauf des Abends wird bald die eine, bald eine andere Tür (von außen oder innen) aufgerissen, dahinter wird jeweils eine der Figuren sichtbar, die wieder verschwindet, wenn die Tür (meist recht schnell) wieder geschlossen wird.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Die Türen klappern also tatsächlich, allerdings nicht wie im französischen Bühnenschwank: Dort führt das Öffnen einer Tür meist zur unverhofften Begegnung von Figuren, die einander unbedingt aus dem Weg gehen wollen, vor allem an kompromittierenden Orten (z.B. in einem Stundenhotel). In der deutschsprachigen Operette ist der zweite Akt von Heubergers Opernball ein Musterbeispiel für diese Dramaturgie. Solche peinlichen Begegnungen gibt es in Der reichste Mann der Welt nicht, das Öffnen und Schließen der Türen steigert vor allem das Tempo des Bühnengeschehens, ist also letztlich funktionsloser Aktionismus, den sich der Zuschauer allerdings gern gefallen läßt.

Bevor das Spiel (ohne Ouvertüre!) beginnt, verbirgt ein pinkfarbener Vorhang die untere Hälfte des Bühnenbilds, der später als Gliederungssignal dient, zwischen den einzelnen Szenen wird er jeweils kurz zugezogen. Die Aufschrift („Einen Hut will ich tragen im ersten Akt (…) Und im vierten Akt… da komme ich nackt“) verheißt Frivolität, die Inszenierung löst dieses Versprechen allerdings nur zum Teil ein.

Die Geschichte, die laut Textbuch 1893 spielt, erhebt keinen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit: Die Ziegelei, die die aristokratische Familie der blonden Ilka betreibt, ist in Schieflage geraten, man schuldet Ludwig Reingruber in Wien, dem „reichsten Mann der Welt“, viel Geld. Würde Ilka Reingrubers Sohn Schorsch („Schorsch“ ist eine Dialektform des Vornamens Georg, aber auch ein verbreiteter jüdischer Nachname, verweist also indirekt auf die Herkunft des jungen Mannes und seines Vaters) heiraten, wären die Probleme gelöst, aber Ilka denkt nicht daran, sich ohne weiteres „verloben“ zu lassen. Schorsch leistet ebenfalls Widerstand, denn er will nicht ins Bankhaus seines Vaters eintreten, sondern als Opernsänger Karriere machen und hat offensichtlich auch das Zeug dazu.

Erwartungsgemäß kommen sich die beiden (wie zahllose andere Operetten-Paare) schnell näher, wenn sie einander kennenlernen, ohne zu wissen, wer der jeweils andere ist: Im Schnellzug, der Ilka nach Wien, Schorsch nach Venedig bringen soll, liegen ihre beiden Abteile nebeneinander – in Annaberg sind die „Abteile“ zwei Kommoden, aus deren Tiefen die Fahrgäste auftauchen, wenn der Schaffner – eine groteske Figur mit grünem Turban – nach den Billetten fragt. Die Szene zitiert den Donauwalzer, umtextiert und musikalisch verfremdet – der Tradition entsprechend sind die Walzer Ausdruck zärtlicher Gefühle.

Der energische, etwas hyperaktive Milliardär Reingruber schwingt sich an einem Seil auf die Bühne. Die Eingangspost – einen ganzen Sack voll! – verstreut er in der Gegend, der leere Sack leitet über zu dem szenischen Gag, dass alle Darsteller beim Sackhüpfen mitmachen – ähnlich wie das Rollschuhlaufen in einer der folgenden Szenen verstärkt das Sackhüpfen vor allem den Eindruck atemlos hohen Tempos.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Ilka und Schorsch bezeugen einander ihre Liebe wortlos in einer Tanzszene zu spanischen Rhythmen (Benatzky stellt einmal mehr unter Beweis, dass er ein Meister der Stilkopie ist). Dennoch gibt der junge Mann schließlich auf und tritt doch ins Bankhaus seines Vaters ein; der schickt ihn zur Börse, um die Neuemissionen aufzukaufen. Dass Schorsch das nicht tut, erweist sich im Nachhinein als Glücksfall, er bewahrt seinen Vater dadurch vor großen Verlusten. Für die Zukunft der beiden jungen Leute wagt ein Mitglied von Ilkas Familie die Prognose: „Entweder er heiratet sie – oder er bringt sie um!“, was den Einwand provoziert: „Aber das ist doch ein und dasselbe!“

Intimität wird sichtbar, wenn die beiden sich eng umschlungen in den Vorhang wickeln; für die Zuschauer unsichtbar tauschen sie die Kleider, Ilka trägt dann sein Jackett über ihren Strumpfhosenbeinen, Glöckner macht als auch als Damenimitator im Kleid gute Figur. Zum guten Schluß zieht das Ensemble das Fazit: „Wer ist der reichste Mann der Welt? / Der seinen Schatz im Arme hält!“

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Unter der ebenso engagierten wie souveränen Leitung von Jens Georg Bachmann leistet das kleine Orchester Beachtliches, Benatzkys schwungvolle Melodien werden mit viel Verve und dennoch präzise dargeboten, es macht Spaß zuzuhören. Aus einem sehr homogenen Ensemble (an dem kleinen Theater sind der Spielzeit-Broschüre zufolge weniger als zehn Sänger fest engagiert, nur fünf Rollen konnten mit hauseigenen Kräften besetzt werden, die übrigen sind Gäste) ragen Richard Glöcknerin der großen, anspruchsvollen Rolle des Schorsch und die attraktive Madeleine Vogt als Ilka heraus: Glöckner vermag den Eindruck zu vermitteln, dass Schorschs Hoffnungen auf eine Opernkarriere nicht unbegründet sind, er überzeugt mit der Strahlkraft seines lyrischen Tenors. Madeleine Vogt zeichnet das nuancierte Portrait einer kapriziösen, energischen und zugleich zu tieferen Gefühlen fähigen jungen Frau. Auch alle anderen füllen ihre Rollen musikalisch überzeugend und mit viel Spielfreude aus, was beachtlich ist, da alle fast ständig in Bewegung sind (Choreographie: Leszek Kuligowski): als Ilkas Eltern László Varga(Thassilo) und Bettina Grothkopf (Marie), als ihre Großeltern Leander de Marel (Anselm Hugelmann; er schwäbelt, weil er ein „Banater Schwabe“ ist) undJudith Christ-Küchenmeister(Philippine), als Schorschs Faktotum und alter ego Bandi Christian Wincierz(der auch den „Schlafwagenkondukteur“ spielt), als „reichster Mann“ Ludwig ReingruberJason-Nandor Tomory; außerdem Marvin George(Graf Bronsky), Nadine Dobbriner (Juliska) und Stefanie Ritter(Zenzi).

Der Autor: Albert Gier/Foto BR

Der reichste Mann der Welt ist eine rundum gelungene, musikalisch attraktive und amüsante Operette; dass sich das Theater in Annaberg-Buchholz des vergessenen Werkes annahm, ist sehr verdienstlich, das Ergebnis geriet überzeugend. Einmal mehr wünscht man sich, die Produktion möge den Anstoß geben zu weiteren Inszenierungen, die die im Werk angelegten Möglichkeiten durch andere szenische (und musikalische) Lesarten ausloten könnten. Albert Gier/ 16. Juli 2023 (mit Dank an das ORCA/ Operetta Centre Amsterdam, bei dem dieser Artikel von 2023 erstmals erschien, Dank an den Autor und den Chefredakteur Kevin Clarke für die Erlaubnis zur Übernahme).

Potsdamer Festspiel Dokument

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Inseln lautete das Motto der Festspiele 2022. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde 1768 im Schlosstheater des Neuen Palais aufgeführt, wohin es nun zurückkehrte. dhm hat die Aufführungen vom 12. und 14. Juni mitgeschnitten und auf zwei CDs veröffentlicht (19658794542).

Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni: Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. Der Tenor Rupert Charlesworth, seltsamerweise im Booklet als Sopranist ausgewiesen, gibt ihn mit lebhafter  Stimme, die gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) mit kraftvollen Spitzentönen imponiert.

Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll gerundetem Mezzo) und Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch Cetronella zur Gattin wählt. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „Oh gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.

Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet („Se d’un tenero Cupido“). Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt im 3. Akt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Giovanni Benvenuti hat diese fulminante Arie rekonstruiert. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta MameliIhr Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in Lisauras Arien sind  delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit soliden Stimmen die kontrastierend tiefen Töne ein.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Ihr gebührt Dank für diese Insel musikalischer Glückseligkeit. Man hofft nun auch auf Festspieldokumente von diesem Jahr, welches das schöne Motto „In Freundschaft“ trug. Bernd Hoppe

Glyndebourne Klassiker

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Sperrmüll oder Flohmarkt. Als Vintage deklariert bekommt das alte Zeugs einen eindeutig feineren Anstrich. So ist die Begeisterung zu verstehen, die der annähernd 40 Jahre alten, gefühlt aber noch viel älteren, mehrfach auf Video und DVD erschienen Aufführung von Albert Herring in der Inszenierung von Peter Hall Inszenierung entgegenschlägt. It’s „British opera at it’s best“, so der Daily Express oder wie die auf der Vorderseite der Opus Arte DVD zitierte Sunday Times schwärmte „a vintage production with a vintage cast“ (OA 1375D). Die Aufführung versammelt alles, was das zum exklusiven Festspielort avancierte Landhaus in Sussex in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte, als Bernard Haitink von 1978-88 die musikalische Leitung innehatte. Herrlich altmodisch. Absolut passend für ein Stück, das hier 1947 zum naserümpfenden Missfallen des Festspielgründers uraufgeführt und knapp 40 Jahre später, genau im Juli 1985, zu einem der größten Erfolge der Festspiele wurde und provinzielle Engstirnigkeit und moralischen Dünkel anprangert. Peter Hall und sein nicht minder berühmter Ausstatter John Gunter haben den englischen Kleinstadtmief um 1900 samt den schweren Renaissancestühlen, Decken, Vorhängen und dem finsteren Mobiliar in Lady Billows dunklen Salon gerettet, wo die Honoratioren des Ortes mit finsteren Äußerungen und dunkler Gesinnung die jungen Damen des Ortes behängen und deshalb bei der Wahl der Maienkönigin auf den tugendhaft einfältigen Albert Herring ausweichen müssen. Die Satire auf die Doppelmoral verlogener Kleinbürger wird bei Hall zu einer Komödie über die Unzulänglichkeiten der kleinstädtisch viktorianischen Gesellschaft, die er in einer Ansammlung skurriler Charakterköpfe präzise entwirft:

Eine Garde verdienter britischer Sänger halten die Glyndebourne-Ensemblekultur hoch. Sie sind, angeführt von der herrlich aufgeplusterten und matronenhaft vibratostarken Patricia Johnson als Lady Billows, durchweg überzeugend, exzentrisch, skurril, knapp vorbei an einer Karikatur, lächerlich und ernst zugleich. Auf der DVD sowie im Beiheft lassen sich die gestochen weiß gesetzten Namen gut lesen, kaum jedoch die matt rot auf braun schwarz gesetzten Rollen dazu. Eine Unart.  Mehr erahnen als tatsächlich lesen kann man, dass Felicity Palmer als Florence Pike eines ihrer frühen eigenwilligen Porträts liefert, Alexander Oliver den Bürgermeister gibt, Derek Hammond-Stroud den Vikar und Richard Van Allan den Superintendenten. Großartig, wie sie unter Führung der Lady im Laden der Mrs. Herring (mit deftigen Akzenten: Patricia Kern) einziehen, um ihre Wahl des Maikönigs zu verkünden. Der passend farblose John Graham-Hall war, grell und greinend singend, etwas glubschäugig und linkisch, der Albert einer Generation, dem man damals noch nicht seine lange Karriere in zahlreichen zeitgenössischen Stücken und Werken der klassischen Moderne vorhergesagt hätte. Ähnliches gilt für den Bariton Alan Opie als Sid, der eine feste Größe in Glyndebourne wurde und 2008 als Vikar zurückkehrte, und Jean Rigby als frühreife Nancy. Unaufdringlich und in mit vielen liebevollen Details – man schaue sich nur die köstlichen Exzesse bei der Kuchentafel am Ende des zweiten Aktes an – führt Peter Hall vom Salon der Lady Billows durch den Gemüseladen auf die Festwiese, ebenso feinsinnig, elegant und selbstverständlich steuert Haitink durch die Partitur, deren steifleinener Humor sich im Retro-Chic bestens ertragen lässt.     Rolf Fath

Dürftige Ausstattung

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Hätte Richard Jones Mussorgskys Oper Boris Godunov an Londons Opernhaus Covent Garden anders inszeniert, wenn es nicht bereits 2016, sondern erst 2022 geschehen wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine? Vielleicht hätte er nicht auf die Urfassung von1869 ohne Polenakt und ohne die Szene mit der Klage des Gottesnarren um das Schicksal Russlands zurückgegriffen, die dem abschließenden Tod des Boris vorausgeht und so aktuell erscheint, dass es einen fast gruselt. Auch dem Berliner Publikum ist die Inszenierung aus London bekannt, denn es handelt sich um eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, die hier 2019 gezeigt wurde, nicht mit Bryn Terfel wie in London in der Titelpartie, sondern mit Ain Anger, der wiederum in London der Pimen war, während Terfel nur zu einem Gastspiel in Berlin erschien.

Die Bühne von Miriam Buethe ist in ein Oben und ein Unten unterteilt, der Hintergrund des oberen Teil gülden wie der russischer Ikonen, und in ihm spielt sich immer wieder und fast zum Überdruss oft die Ermordung des mit einer bunten Kugel spielenden Zarewitsch ab, das letzte Mal als die des jungen Fjodor, Boris‘ Sohn. Die Kostüme von Nicky Gillibrand sind für die Oberen bunt wie russischer Lackmalerei abgeschaut, für die Unteren von hässlicher Eintönigkeit, Folkloristisches wird nicht verschmäht, aber nicht überbetont, wie die Gewandung der Wirtin beweist. Eindrucksvoll mit Zarenporträts ausgestattet ist die Zelle von Pimen, nur das letzte davon blieb unvollendet. Zeit und Ort des Geschehens, Russland um 1600, bleiben erhalten, ohne in Opernkitsch abzugleiten.

Obwohl mit keinem einzigen muttersprachlichen oder auch nur slawischen Sänger besetzt, wirkt die Aufführung äußerst authentisch, und obwohl nicht mit einem Bass des Kalibers Boris Christoff oder Nikolai Ghiaurov besetzt, wird die Titelpartie vom Bassbarion Bryn Terfel fesselnd und ergreifend gestaltet, nicht mit einer Überwältigungsstimme, aber mit warmen, auch oft weichen Tönen die Stimmungsschwankungen, denen die Figur unterworfen ist, eindrucksvoll vermittelnd. Viel Bassautorität, Sanftheit und Fülle strahlt die Stimme von Ain Anger als Pimen aus. Ein Kabinettstück, eine perfekte Mischung von Würde und Komik, bietet John Tomlinson als Varlaam mit immer noch hochpräsenter Stimme. Kostas Smoriginas hat einen ebenmäßig gefärbten, autoritätvermittelnden Bariton für den Anführer der Bojaren. David Butt Philip stattet den falschen Dmitri mit feiner Schauspielkunst und einem angemessenen Charaktertenor aus. Als blasser, lauernder Bürokrat  ist John Graham-Hall als Shuisky eher optisch als akustisch eindrucksvoll. Eine ausgesprochen farbig und geschmeidig klingende Stimme setzt Jeremy White für den Polizeioffizier ein. Die klare Diktion und eine angemessene plärrende Stimme beweisen die Eignung Andrew Tortises für den Gottesnarren. Zarewitsch Fjodor findet in dem Jungen Ben Knight einen auch akustisch erstaunlich präsenten Vertreter.

Ohne die Polin Marina haben die Frauen in dieser Fassung nicht viel zu sagen bzw. zu singen. Aber Rebecca De Pont Davies macht optisch wie akustisch sehr viel aus der deftigen Wirtin, Vlada Borovno ist eine anrührende Xenia und Sarah Pring eine mit weichem Alt tröstende Amme.

Der Chor von Covent Garden, einstudiert von Renato Balsadonna, singt höchst kultiviert, aber auch, wenn angebracht, mit dem notwendigen Aplomb, das Orchester unter Antonio Pappano sorgt für eine schöne Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben, ist eher in begleitender denn dominierender Funktion zu vernehmen. Das Booklet ist so dürftig, dass es nicht einmal eine Trackliste besitzt (Opus Arte BD7314D). Ingrid Wanja                    

Strauss light

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Misstraute Regisseur Krzysztof Warlikowski der Eleganz des hofmannsthalschen Wortes und der Überwältigungsfähigkeit der strausschen Musik so sehr,  dass er beiden ein optisches Aufpeppen durch seine Gattin, die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak, verordnete? Die kleidet das weibliche Personal von Elektra 2022 in der Salzburger Felsenreitschule bis hin zur Vertrauten und zur Schleppträgerin in elegante Kostüme der Fünfziger, macht Chrysothemis zum Girlie in Lackleder, Elektra zur Trägerin eines blütenweißen, weit ausgestellten Rocks, der aber auch gar nichts vom Elend ihrer Existenz verrät, dafür soll wohl das häufige Greifen zu Zigarette und Feuerzeug stehen. Ehe man in dieser Produktion zur mörderischen oder einer sonstigen Aktion schreitet, verordnet man sich eine Kneippkur, denn ein kristallklares Gewässer durchzieht die Bühne, lädt zum Bade, so auch eine Nackte, die offensichtlich zu den erfundenen Sechs Dienerinnen, denn Fünf Mägde gaben das nicht her, gehört. Videos blinken aus allen Ecken und Enden, Kinderpuppen erinnern an bessere Tage und ein blutverschmierter Agamemnon beobachtet hin und wieder das Geschehen. Soll eine Reihe von Deckenduschen an Auschwitz erinnern, die endlos händewaschende Klytämnestra an Lady Macbeth? Letztere darf sich vor Beginn der Oper mit ihrem Monolog aus Aischylos`Orestie noch für den Gattenmord rechtfertigen und bleibt in der Verkörperung durch den Mezzosopran Tanja Ariane Baumgartner neben dem Orest von Derek Welton die einzige textverständliche Figur auf der Bühne. Auf der tanzt zum Schluss nicht Elektra in den Tod, sondern auf der Rückwand tummeln sich Massen von Fliegen in munterem Reigen im aufspritzenden Blut und entziehen der Protagonistin jede Aufmerksamkeit.

Zu einer beinahe kammermusikalischen Deutung, deren Anliegen eher Durchsichtigkeit als Überwältigung scheint, ist Franz Welser-Möst mit den Wiener Philharmonikern verurteilt, denn außer dem Mezzosopran erscheint das weibliche Personal jeweils eine Nummer zu klein für seine jeweilige Partie zu sein, ist Orgiastisches nur zu hören, wenn die Sänger pausieren. Rücksichtnahme auf Sänger ist eine lobenswerte Sache, das Engagement zu leichter Stimmen  weit weniger.

Das trifft in keiner Weise auf Tanja Ariane Baumgartner zu, die nicht nur vorbildlich textverständlich auch im Gesang bleibt, sondern mit einer Stimme wie aus einem Guss und einem besonders vollmundigen mitreißenden Abgang imponiert. Eine frische, helle, klare Sopranstimme setzt Asmik Grigorian für die Chrysothemis ein, in der Extremhöhe allerdings recht spitzig mit nicht ideal angebundenen Spitzentönen und insgesamt lyrisches Leuchten vermissen lassend. Aušriné Stundyté, die im Jahr zuvor eine gefeierte Salome war, ist hörbar in einem Jahr nicht zu einer Elektra herangereift, sondern kann bei allem Bemühen um eine Verbindung von Eindringlichkeit und Schönheit des Klangs nur mit letzterem überzeugen, bleibt stets weich in der Tongebung, aber auch verwaschen und zu wenig nachdrücklich. So trägt sie wesentlich dazu bei, dass man das Gefühl hatte, einer Elektra light beizuwohnen.

Einen vokal markanten und doch sensibel erscheinenden Orest gibt Derek Welton, optisch unangemessen attraktiv als Ägisth und vokal blass ist Michael Laurenz, da ist nichts von der morbiden Attraktivität, die alternde Heldentenöre ausstrahlen können. Die Komische Oper Berlin ist mit Jens Larsen als Altem Diener vertreten, und Natalia Tanasii bleibt es nicht zuletzt wegen der Regie verwehrt, aus ihrer schönen Partie etwas zu machen (C-Major 804308). Ingrid Wanja

Nur bedingt gelungenes Konzept

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Na’ama Goldman war zunächst Pianistin, sie entdeckte den Gesang erst später, vor allem in Verbindung mit dem Schauspielen. So lag es nahe, dass sie vor allem Opernsängerin wurde. Diese Prägung spiegelt sich auch in der Auswahl der Lieder der vorliegenden CD wieder: „Es ist wunderbar, dass man dabei eine Geschichte erzählen und mit dem Publikum kommunizieren kann und zwar nicht nur durch die Musik“, betont die Sängerin. Die gebürtige Israelin ist inzwischen Berlinerin und damit Bewohnerin jener Stadt, aus der ihre Familie in der Nazizeit vertrieben wurde. So schließt sich ein Kreis.

Die Sängerin suchte vor einigen Jahren zusammen mit dem Pianisten Giulio Zappa Musik für ein Programm anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags in Mailand. Die Musik sollte mit dem Judentum verbunden, aber nicht „jüdisch“ sein: „Wir recherchierten in Bibliotheken, und wir schauten nach jüdischen Komponisten wie Mahler, Korngold, Kurt Weill. Sie waren Juden, haben aber keine ‚jüdische Musik‘ komponiert. Ihre Musik repräsentierte, wer und was sie waren – Deutsche, Österreicher. Sie komponierten, was ihre Inspiration und Kreativität ihnen eingab. Aber natürlich hatten ihre jüdische Tradition und ihre Familien auch einen Einfluss auf ihre Musik.“ Ravel gehört dazu, weil er sich von der jüdischen Tradition angezogen fühlte. Schließlich wandten sich Goldman und Zappa der jüdischen Folklore zu und auch zeitgenössischen israelischen Komponisten. „Die Auswahl der Lieder ist auf der einen Seite eine intellektuelle, aber im Endeffekt sind es doch die Lieder, die mich direkt persönlich ansprechen: als Frau mit einem jüdischen Hintergrund, als Israeli, die nach Deutschland gekommen ist.“ Na’ama Goldman sieht das Programm, ihre Zusammenstellung als „eine Art musikalischer Biografie zwischen Berlin und Tel Aviv“.

Die Umsetzung des einleuchtenden, anspruchsvollen, auch mutigen Programms ist nur bedingt gelungen. Die Sängerin wollte zwar explizit keinen „Liederabend“ auf CD veröffentlichen, doch dieser Anspruch wurde nicht wirklich eingelöst. Na‘àma Goldman verfügt über eine große, nuancenreiche und variable Stimme, setzt sie aber so ein, als ob sie auf einer Bühne stehe. Ihr Vibrato ist stark, manchmal zu stark, in der Höhe klingt der Gesang zu laut. Man vermisst die leisen Töne und in einigen Liedern auch den tiefschürfenden und „schlichten“ Ausdruck.

Das jüdische Trauergebet Kaddisch, das Maurice Ravel bewusst für eine Frauenstimme schrieb, singt sie mit großem Ausdruck und vibrierend. Ravels enigme éternelle bleibt rätselhaft, musikalisch und textlich (zumal eine deutsche Übersetzung fehlt). Aus den Sechs einfachen Lieder von Korngold hat Goldman zwei ganz unterschiedliche ausgewählt: Eichendorffs Schneeglöckchen ist eigentlich schlicht im Ton, kommt hier aber sehr expressiv. Das Gedicht Sommer des österreichischen Dichters Siegfried Trebitsch verrät den Dramatiker. Mahlers „Wunderhorn-Lieder“ Wo die schönen Trompeten blasen und Rheinlegendchen sind leider ohne Charme und Geheimnis. Das Rückert-Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen bleibt mangels Suggestivität doch eher diesseitig. Nannas Lied von Kurt Weill würde sicher stärker wirken, wenn es chansonhafter interpretiert würde.

Die Interpretationen der Lieder der jüdischen und israelischen Komponisten ist durchweg gelungener. Der Komponist, Musikwissenschaftler und Kritiker Joel Engel (1868-1927) begann um 1900 jüdische Volkslieder in Russland zu sammeln und zu arrangieren. Nur noch Dir brachte der Sängerin nach eigenen Worten „die Klänge ferner Erinnerungen mit sich“, sie nimmt es sehnsüchtig, melancholisch und auch temperamentvoll. Eyal Bat (Jahrgang 1966), einer der bekanntesten israelischen Vokalkomponisten, ist mit zwei neu komponierten Liedern vertreten. Az haya la ist ein weniger bekanntes Stück von Alexander „Sascha“ Argov (1914 in Moskau geboren, 1995 in Jaffa gestorben) – ein Liebeslied an Tel Aviv, das Na’ama Goldman auf ihrer Karriere immer wieder begleitet hat. Das Ende ist sehr gelungen – mit Elei tashuv, einem Lied des Komponisten, Dirigenten und Musikpädagogen David Sonnenschein. Na’ama Goldman singt es sicher auch deshalb so eindrucksvoll, weil es mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden ist und persönliche Erinnerungen und Gefühle aufkommen. Sonnenschein schrieb das (Liebes)Lied für ihre Großmutter, eine bekannte Sängerin, die in jungen Jahren ihre Stimme verlor. Die Noten fanden sich im Nachlass.

Sicher ließe sich die Wirkung, sprich die Verbreitung dieser CD durch eine einfache Maßnahme vergrößern. Programm und Interpreten „verkörpern“ Internationalität, Multikulturalität und Weltoffenheit. Wieso hielt man es da nicht für nötig, die fremdsprachigen Texte nicht nur in englischer, sondern auch in deutscher Übersetzung zu präsentieren. So bleiben die Lieder uns im wahren Sinne exotisch und zum Teil fremd (Solo Musica SM 421). Peter Heissler

Balletteinlagen von Rossini & Donizetti

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Die wichtigsten Opernballette wurden für Paris geschrieben (wenngleich auch anderssprechige Häuser diese kannten oder übernahmen), und zu den wichtigsten Komponisten zählen u. a.  Rossini, Donizetti und Verdi – alle drei Ausländer (und Italiener wie einst Lully) – sowie Meyerbeer, der aus seinen Balletten ungeahnte Spektakel machte und sogar die Bühnen dafür umbauen ließ (man denke an die Rollschuh-/Eisbahn der Patineurs).

Uns interessierte der musik-wissenschaftliche Ansatz zu einer gewissen Ehrenrettung des Genres, und wir haben dafür den klugen Text von Michael Kaye ausgegraben. Er hat sich mit den Ballett-Musiken von Rossini und Donizetti, eben mit der Ballett-Tradition am französischen Musiktheater Theater (nämlich auch an der Opéra-Comique), beschäftigt, den wir nachstehend mit Dank wiedergeben, weil wir denken, dass eine Opernöffentlichkeit viel zu wenig zu eben diesen Traditionen der Ballette in Opern weiss, da diese ja fast immer gestrichen werden. Wobei Aufnahmen in jüngerer Zeit dieses Manko gelegentlich korrigieren (so der Hamlet mit Hampson bei EMI/Warner)  und zumindest im Studio oder bei Festival-Mitschnitten (zum Beispiel der Fernand Cortez aus Florenz bei Dynamic mit ausgiebigstem Getrappel) dem Ungekürzten den Vorzug geben.

Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Lasterna Magica/ Sammlung Bernoit

Aber im Opernalltag sieht es nach wie vor düster aus. Denn da regiert das opportunistisch-tagespolitisch-belehrende Regietheater, das selten etwas mit Entertainment, mit Unterhaltung und Lust zu tun hat und haben will. Was für ein Irrtum! Da gab es nun, wie erwähnt,  Verdis Vepres siciliennes, ab und zu seinen Don Carlos oder gelegentlich auch die Muette de Portici (zuletzt in Cottbus) oder Rossinis und Donizettis Opern für Paris – fast alle ohne die obligatorischen Ballette. Wie kürzlich in Berlin bei den Vepres sind die Vier Jahreszeiten auf den gekürzten Winter zusammengestrichen, die Pellegrina Verdis wird nie aufgeführt (und es war ein großes Verdienst Herbert von Karajans, bei seinem alten Salzburger Don Carlo zumindest die einleitenden Mandolinen in der Gartenszene zu spielen), Guillaume Tell, Moise oder Jérusalem meist ganz ihrer Ballette beraubt, weil sie den zu oft ignoranten Regisseuren nicht in den Kram passen.  Namentlich Verdis Ballette waren kluge Teile der Handlung – man denke an die lyrische Peregrina als Gegenstück zum grausamen Autodafé.

Das Ballett in der Favorite braucht man für die Bestätigung der Beschreibung der vom Tenor besungenen Gärten der Alhambra, Guillaume Tells beide Balette sind wichtig um zum einen die bukolische, unschuldige Stimmung im Kontrast der Schweizer Dörfler gegenüber der Sodateska Österreichs hervorzuheben und andererseits um den Widerstand gegenüber eben dieser zu zeigen. Natürlich sind Ballette auch schowpieces für Startänzer, unjd die Choreographien von Petipa et al. sind bis heute bekannt, Maria Taglioni und ihre Kollegen hatten wie ihre heutigen ihre Fanclubs. Ballett war eine wichtige Kunst- und Unterhaltungsform an den Opernhäusern, abendfüllende Handlungsballette zumal, nicht nur Einlagen. Topoi wie Waldseen, Feen und Willis, stumme Handlungen boten reiche Vorlagen, auch literarische. Heute dümpeln Ballette so vor sich hin, sind auf wenige Titel beschränkt. Wie schade.   G. H.

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Und nun Michael Kaye: Obwohl sich der Name der Pariser Oper unter verschiedenen französischen Regimen geändert und sie seit ihrer Gründung durch Ludwig XIV. am 28. Juni 1669 zahlreiche Gebäude besetzt hat, lautet der offizielle Name der Institution Academie Royale de Musique et de Danse.
Seit Lully und während des gesamten 19. Jahrhunderts war die Leidenschaft für den Tanz unter den Franzosen so stark, dass sich das Corps de Ballet der Pariser Oper keine Sorgen um sein Erfolgspotenzial machen musste. Dieses Corps de Ballet bestand aus mehr als 150 Tänzern mit zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten, dank eines kaiserlichen Gesetzes, das vorschrieb, dass jede Oper, die an der Academie de Musique et de Danse aufgeführt wird, mindestens ein Divertissement oder eine Tanzsequenz enthalten musste. Diese Regelung blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts in Kraft – oft zum Entsetzen großer Komponisten und zur Freude dessen, was das Publikum des 19. Jahrhunderts als künstlerisch betrachtete.

Ballett zu Rossinis „Semiramide“ in Paris, Stich von Bertrand/ BNF Gallica

Opern in Frankreich und Italien wurden oft am selben Abend mit einem und manchmal sogar zwei abendfüllenden Balletten aufgeführt. „Noch nie ist ein Franzose zu Tode getanzt worden noch wird es jemals geschehen“, schrieb Richard Wagner in seinem Bericht an die Dresdner Abendzeitung mit dem Titel „Wunder aus der Ferne“ vom 6. Juli 1841, als beschlossen wurde, Webers Freischütz an der Pariser Oper mit von Hector Berlioz komponierten Rezitativen aufzuführen, die den ursprünglich gesprochenen Dialog ersetzten. Wagner berichtete seiner deutschen Leserschaft: „Zerbrechen Sie sich den Kopf, niemand konnte in dieser unmöglichen Musik eine Passage aufzeigen, zu der der Herr in goldenen Satinstrumpfhosen und die beiden langbeinigen Damen in kurzen Röcken zum Tanzen aufgefordert werden könnten. Nein, es war ganz aussichtslos. Doch irgendwo müssen sie tanzen! In den Freischütz musste ein Ballett hineingeschrieben werden, obwohl er ansonsten genau so aufgeführt wurde, wie er war. Was auch immer für Gewissensbisse gewesen sein mögen, sie wurden bald überwunden, als sich jemand daran erinnerte, dass Weber selbst eine Imitation zum Tanz geschrieben hatte. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der Tanz auf eigene Einladung des Komponisten stattfand? Herzlichen Glückwunsch rundum; alles war geregelt.“

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Es ist wichtig anzumerken, dass das Wort „Ballett“ die Assimilation französischer und italienischer Tanz-, Musik- und Schauspielelemente zu einem zusammenhängenden dramatischen Ganzen bezeichnet. In Frankreich hingegen wird Tanz, der in den Kontext einer Oper eingefügt wird, als Divertissement definiert und ist nur als Verschönerung gedacht. Tanzen hat die Fähigkeit, Lokalkolorit zu vermitteln und Rituale zu zelebrieren, wie es Musik nicht kann, aber Tanzmusik in der Oper leidet oft unter einer Pseudoexotik, wenn Komponisten durch mangelndes Interesse an oder Wissen über ethnische musikalische Merkmale oder antike musikalische Vertonungen behindert wurden.

Pière Charles Ciceris Dekoration für das dramaturgisch so wichtige Nonnenballett im „Robert le Diable“ Meyerbeers an der Pariser Oper/ Wikipedia

Ein hervorragendes Beispiel für die Meinung eines Komponisten über die Einbeziehung von Tanz in die Oper ist gut dokumentiert in den folgenden Auszügen aus der Korrespondenz von Giuseppe Verdi, der Otello 1894 widerstrebend für eine Produktion an der Pariser Oper überarbeitete. In einem Schreiben an seinen Librettisten Arrigo Boito vom 29. Oktober 1886 warnte Verdi: „Eine gute Idee, das Ballett im zweiten Akt zu haben, und es wird sie glücklich machen. Aber natürlich darf das Ballett nur der Oper dienen: überall sonst muss Otello so bleiben, wie er jetzt ist.“ Sechs Monate später meinte er zu Giulio Ricordi: „Was das Ballett oder besser gesagt das Divertissement betrifft, warum sollte man es überhaupt drucken? Es ist ein schwaches Zugeständnis, das Autoren der Oper machen, und zwar zu Unrecht“ (25. März 1887).

In den 1830er Jahren und in den Jahrzehnten danach war es der Ehrgeiz eines jeden Opernkomponisten, in Paris erfolgreich zu sein. Bellini wagte sich 1833 dorthin, wo er zwei Jahre später starb, wenige Monate nach der Uraufführung von I puritani. Donizetti ließ sich 1838 in Paris nieder, Wagner kam 1839 an und Verdi begann seine lange Beziehung zu den Franzosen im Jahre 1847.

Ballett zu „Guillaume Tell“ Rossinis in Pesaro 2019/ ROF

Gioachino Rossini war längst an den Pariser Theatern etabliert. Während der Pariser Opernsaison 1822 wurden im Théâtre-Italien von insgesamt 154 möglichen Abenden 119 Aufführungen von Rossini-Opern aufgeführt. Viele Jahre war er Musik- und Bühnendirektor dieses Theaters. In den sechs Jahren vor der Komposition seines letzten Opernmeisterwerks, Guillaume Tell, schrieb Rossini neben Il viaggio a Reims, einer szenischen Kantate für die Krönung Karls X., und Le Comte Ory auch
zwei erfolgreiche Überarbeitungen von Partituren, die er ursprünglich für Neapel komponiert hatte: Mosè in Egitto und Maometto II, die in Paris zu Moïse et Pharaon und Le Siège de Corinthe wurden. Diese Überarbeitungen wurden unter Berücksichtigung des vorherrschenden französischen Opernstils und -geschmacks durchgeführt.
Le Siège de Corinthe (uraufgeführt an der Oper am 9. Oktober 1826) ist eine überarbeitete Fassung von Rossinis Opera seria in zwei Akten mit dem Titel Maometto II (uraufgeführt in Neapel am Teatro San Carlo am 3. Dezember 1820) mit einem Libretto von Rossini Cesare della Valle, Duca di Ventignano, nach Voltaires Mahomet, ou Le fanatisme. Auf Italienisch ist diese überarbeitete Version als L’Assedio di Corinto in bekannt.

Bei der Premiere von Le Siège de Corinthe an der Pariser Oper wurde die Choreographie für das Divertissement von M. Gardel entworfen. Es wurde von 126 Tänzern aufgeführt, die als sechs türkische adelige Männer, sechs türkische adelige Frauen, acht Pagen, vierzehn Odalisken, sechs afrikanische Männer, sechs afrikanische Frauen, zwölf Derwische, sechs türkische einfache Frauen, sechs Jugendliche und 51 verschiedene griechische Damen, alte Männer und Kinder kostümiert waren.
Die beiden Airs de danse werden in der dritten Szene des zweiten Akts aufgeführt. Pamira, die Tochter des Gouverneurs von Korinth, ist hin- und hergerissen zwischen griechischem Patriotismus und romantischer Liebe zu Mahomet II., der ihr mitteilt, ihre Ängste zu überwinden und den Feierlichkeiten zu Ehren ihrer bevorstehenden Hochzeit vorzustehen.

Ballett zu „Ricciardo e Zoraide“ Rossinis 2020 in Pesaro/ ROF

Im Nachtrag zu seinen Memoiren behauptete Hector Berlioz am 25. Mai 1858: „Es war wirklich Rossini in Die Belagerung von Korinth, der als erster eine laute Orchestrierung in Frankreich einführte. Doch französische Kritiker erwähnen ihn in diesem Zusammenhang nie, noch beschuldigen sie Auber, Halévy, Adam und eine Reihe anderer für ihre abscheulichen Übertreibungen von Rossinis Stil.“
Moïse et Pharaon, ou Le passage de la mer Rouge wurde am 26. März 1827 an der Oper uraufgeführt. Der Kritiker der Gazette de France verkündete diese umgestaltete Fassung von Rossinis dreiaktiger Azione tragico-sacra mit dem Titel Mosè in Egitto (am 5. März 1818 in Neapel am Teatro San Carlo uraufgeführt) als „nicht weniger als eine lyrische Revolution“. Im dritten Akt werden drei Tänze zum Lob der Isis dargeboten. Der Hohepriester der Ägypter verlangt, dass die Israeliten Isis huldigen, aber Moses lehnt ab. Teile der drei Airs de danse wurden Rossinis Oper Armida entlehnt, die zehn Jahre zuvor für Neapel komponiert worden war.
Guillaume Tell war das erste Werk, das Rossini ausdrücklich für die Pariser Oper komponierte, wo es am 3. August 1829 uraufgeführt wurde. Darin manifestiert er seine Beherrschung des zeitgenössischen französischen Opernstils. Sie diente Generationen von Opernkomponisten als Vorbild, insbesondere in Bezug auf die erweiterte Bedeutung und Personifizierung des Chors, die freie Komposition und die Techniken der Orchestrierung. Es war Rossinis letztes Bühnenwerk. Bis zum 10. Februar 1868 hatte die Pariser Oper es 500  Mal aufgeführt.

Ballett zur „Armida“ Rossinis an der Met/ Foto Ken Howard/Met Opera Archives

Die zweite Szene des zweiten Akts spielt in Altdorf. Gesslers Soldaten feiern das 100-jährige Jubiläum der Eroberung der Schweiz und ihrer Angliederung an das (anachronistische) Kaisertum Österreich. 1834 kommentierte Berlioz in der Gazette musicale de Paris, dass der Pas de trois und der Tiroler Chor, „durchdrungen von rustikalen Schweizer Melodien, sorgfältig geschrieben und von außergewöhnlicher Eleganz sind“.
Am 5. Juni 1821 wurde Rossinis Otello (der am 4. Dezember 1816 in Neapel uraufgeführt worden war) zum ersten Mal in Paris im Théâtre Lyrique aufgeführt, aber das Divertissement wurde für eine Produktion an der Pariser Oper am 2. September 1844 hinzugefügt, wo es in einer französischen Übersetzung von Gustave Vaez und Alphonse Roger gesungen wurde. Die Choreographie wurde von Mazilier entwickelt. Obwohl er als Choreograph nicht sehr angesehen war, profitierten viele Tänzer (darunter Carlotta Grisi und Fanny Elssler) von ihren Auftritten in seinen Balletten, darunter Adams Le Corsaire und Aubers Marco Spada.

Maziliers Tänze für Otello wurden vor dem Finale des ersten Akts eingefügt, das in einem prächtigen Saal im Haus des venezianischen Senators Elmiro spielt, dessen Tochter Desdemone Otello heimlich liebt, einen Mohren, den ihr Vater verabscheut. Um ihr Glück zu sichern, beabsichtigt Elmiro, Rodrigue, dem Sohn des Dogen, zu erlauben, Desdemone zu heiraten, und hat seine Freunde versammelt, um die Hochzeit zu feiern. Die Tänzer führen zwei Pas de deux auf.

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Ballett zur „Favorite“ Donizettis an der Opéra de la Wallonie Liège/ OWL

Ballette in voller Länge waren manchmal die Quelle für Opern. Cammaranos Libretto für Donizettis L’Assedio di Calais wurde teilweise von einem gleichnamigen Ballett inspiriert, das von Louis Henri geschaffen wurde (mit Musik von Cesare Pugni, uraufgeführt 1828), abgeleitet von Luigi Marchionnis Stück, das ebenfalls L’Assedio di Calais hieß. Das Thema stammt wahrscheinlich aus einem historischen Melodram von M. Hubert (Pseudonym von Philippe-Jacques Roche) mit dem Titel Eustache de St Pierre, ou Le Siege de Calais. Donizetti komponierte diese Oper für Neapel, wo sie am 19. November 1836 uraufgeführt wurde, in der Hoffnung, sie auf die Bühne der Pariser Oper exportieren zu können.
In einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi vom 22. November 1836 beschrieb Donizetti diese ein Jahr nach Lucia di Lammermoor komponierte Oper als seine „am sorgfältigsten ausgearbeitete Partitur“. In einem Schreiben vom 21. Mai 1837 an seinen Freund, den berühmten Tenor Louis-Gilbert Duprez (der am 17. April 1837 ein sensationelles Debüt an der Pariser Oper als Arnold in Guillaume Tell gab und anschließend dabei half, für Donizetti eine Arbeit in Paris zu arrangieren) flehte Donizetti Duprez an, ihn dem Direktor der Oper, Charles Duponchel, zu empfehlen: „Ich würde ihnen so viele Tänze (ballabili) schreiben, wie sie wollen. Ich würde ändern oder verlängern, [welche Musik] auch immer Sie möchten … Das Werk, das ich gerne in der Grand Opéra präsentieren würde, wäre L’Assedio di Calais, die
gelehrteste meiner Opern, die am besten zum französischen Geschmack passt und
daher von allen als für Paris komponiert angesehen wird.“ L’Assedio di Calais wurde zu Donizettis Lebzeiten in Paris nicht gegeben. Obwohl es als eines der interessantesten Werke Donizettis gilt, wurde es selten irgendwo aufgeführt.

Szene aus Aubers Oper „Le lac des Fées“/ BNF Gallica

Les Martyrs wurde am 10. April 1840 an der Oper uraufgeführt. Der enorme Erfolg von Donizettis Lucia di Lammermoor am 12. Dezember 1837 im Théâtre-Italien ebnete schließlich den Weg für seine lang ersehnte Einladung nach Paris und seinen dortigen Arbeitsvertrag. Für sein Debüt an der Oper entschied sich das Management für eine Neufassung von Donizettis Opera seria Poliuto, die 1838 für Neapel komponiert, aber vom König verboten wurde, weil sie (in Donizettis Worten) „zu heilig“ war.
Die Pariser Oper wollte den Umfang von Donizettis Originalwerk, das auf Corneilles Polyeucte basiert, von drei auf vier Akte erweitern, daher war es am bequemsten, den letzten Teil des ersten Akts und die Eröffnung des zweiten Akts zu ändern, anstatt andere Abschnitte der Handlung anzutasten. Die in die sechste Szene des zweiten Akts eingefügte Tanzmusik besteht aus einem Divertissement mit drei Nummern, placiert zwischen der Arie und der Cabaletta, die vom Proconsul Severe während der Triumphszene auf dem öffentlichen Platz gesungen wird.

Scribes Libretto legt fest, dass „zwei gegnerische Gladiatorentruppen einander angreifen und sich im Laufe ihres Kampfes neu formieren. Letztendlich treten zwei einzelne Gladiatoren in einen Nahkampf, und nach einem anstrengenden Duell wird einer von ihnen besiegt. Als der Sieger im Begriff ist, seinen Gegner zu töten, erhebt sich Severe und winkt dem Gladiator zu, seinem zu Boden gegangenen Kontrahenten zu verzeihen. Auf den Gladiatorenwettbewerb folgen griechische und römische Tänze, die von jungen Frauen aufgeführt werden. Sie enden mit einem goldenen Kranz zu Severes Füßen.“

Donizettis La Favorite wurde am 2. Dezember 1840 an der Oper uraufgeführt. Das Divertissement spielt im spanischen Königreich Kastilien und findet im zweiten Akt im maurischen Palast von Alcazar statt. Alphonse XI., König von Kastilien, hat seiner Geliebten Léonor de Gusman versprochen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, um Léonor zu heiraten und sie zur Königin zu machen.Der König befiehlt Léonor, ihre Traurigkeit zu vergessen und die Feierlichkeiten zu genießen, die er für sie geplant hat.

Das Programm der Tänze, aufgeführt von spanischen Mädchen und Sklavinnen, von denen einige maurisch waren, wurde im offiziellen Produktionsbuch (mise en scene) der Uraufführung veröffentlicht, das als Beilage zur Revue et Gazette des Théâtres vom 17. Januar 1841 veröffentlicht wurde. Beim „Pas de mauresque“ gesellten sich zu den Damen und Herren des Corps de Ballet vier kleine maurische Musikanten, die kleine Trommeln spielten. Zu den Solotänzern gehörten Louise Fitzjames, Adele Dumilätre, Mesdames Maria, Noblet, Alexis, Blangy und Mr. Auguste Mabille. Am 12. Februar 1841 gab die berühmte Ballerina Carlotta Grisi zur Freude des Pariser Publikums ihr Debüt an der Pariser Oper in La Favorite.
Dom Sebastien ist Donizettis längste Oper. Es war auch die letzte vollständige Oper, die er komponierte, und seine einzige Oper, die ausdrücklich für die Pariser Oper geschrieben wurde, wo am 13. November 1843 ihre Uraufführung erfolgte. Die erste Szene des zweiten Akts spielt in Marokko, in Ben-Selims Wohnung in der Nähe von Fez, wo er der Gouverneur ist. Seine Tochter Zayda, die von portugiesischen Feinden gefangen genommen und christlich getauft wurde, ist von Dom Sebastien, dem König von Portugal, befreit worden, den sie heimlich verehrt. Ben-Selim befiehlt, zur Feier der Rückkehr seiner Tochter zu tanzen. Donizetti war ziemlich stolz auf die Tanzmusik, die er für den zweiten Akt komponierte, und sie wurde häufig von Ballettkompanien außerhalb des Kontexts der Oper aufgeführt. In den italienischen Ausgaben der Oper (bekannt als Don Sebastianò) trägt das Finale des Divertissements den Titel „Ballabile di Schiavi“ (Tanz der Sklaven) . Michael Kaye/Übersetzung Daniel Hauser

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Michael Kayes Artikel erschien in Englisch in einer inzwischen vergriffenen LP-Sammlung von Ballettmusiken von Rossini und Donizetti bei Philips/ Abbildung oben: Szene aus Meyerbeers „Crociato in Egitto“ von Bagnara/ Opera Rara

Würdiges Memento für Stefan Soltész

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Ein Libretto, das die titelgebende Figur der Vorlage außen vor lässt, eine Oper, deren erste Fassung später vom Komponisten zugunsten der zweiten Version verboten wurde und deren erste nun fast ausnahmslos aufgeführt wird, das ist Paul Hindemiths Cardillac, von dem es jetzt eine CD mit dem Münchner Rundfunkorchester unter dem zu früh verstorbenen Stefan Soltész gibt. E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi ist eine Kriminalgeschichte, die im Paris Ludwigs XIV. spielt und über die die Figur des Fräuleins ein mildes Licht gießt. Das Libretto von Ferdinand Lion, das der Komponist für die zweite Fassung des Werks wesentlich erweiterte und veränderte, so mit der Einführung einer Opernsängerin und eines festlichen Balls, ist eher ein Psychogramm einer gestörten und verstörten Persönlichkeit. Die erste Fassung wurde 1926 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt, die zweite 1952 in Zürich. 1960 erreichte man die gerichtliche Freigabe der ersten Version in Wuppertal, die nun fast ausschließlich auf die Bühnen gebracht wird und die durch den Kontrast zwischen den schon fast altertümelnden Nummern-Bezeichnungen, die seine Form ausmachen, und der Modernität der gestörten Künstlerpersönlichkeit eine Ausnahmestellung einnimmt.

Das Münchner Rundfunkorchester beweist unter Stefan Soltész  seine Qualitäten bereits im Vorspiel, wenn es durchsichtig filigran, aber gleichzeitig rasant beginnt, allmählich die Bedrohung, die von dem in seine Schöpfungen krankhaft verliebten Goldschmied ausgeht, hörbar werden lässt. Die Aufnahme besticht durch das Miteinander von dramatischer Expressivität und schlanker Eleganz. Eine höchst bedeutende Aufgabe hat der Chor, der Prager Philharmonische Chor unter Lukás Vasilek, der höchst idiomatisch und rhythmische wie Anforderungen an die Textverständlichkeit im Rahmen des Möglichen großartig meisternd zu einem der Protagonisten der Aufnahme wird.

Hoch zufrieden sein kann man auch mit den Gesangssolisten. Markus Eiche hat das angemessen virile, farbige Timbre für die Titelpartie, dazu eine gute Diktion und das, was man als eine darstellende Stimme bezeichnet, die sich zum Bekenntnis der furchtbaren Taten emphatisch steigern kann. Weich, sanft und feine Melodienbogen virtuos ausmalend, ist Juliane Banse eine sich auch im Quartett gut behauptende Tochter. Zwei Tenöre, Oliver Ringelmann  als früh gemeuchelter Kavalier und Torsten Kerl als Offizier und glücklicher Bräutigam der Tochter, stehen einander an strahlender vokaler Präsenz nicht nach. Mit koloraturgeläufigem Bass, der zudem viel Autorität vermittelt, glänzt Kay Stiefermann als Führer der Prévôté, viel aus der kleinen Partie des Goldhändlers macht Jan-Hendrik Rootering. Einen verführerisch klingenden Sopran kann Michaela Selinger für die Dame einsetzen. Vor allem aber ist diese Aufnahme als Vermächtnis von Stefan Soltész zu würdigen, von dem es leider eine allzu kleine Hinterlassenschaft gibt (BR Klassik 900345). Ingrid Wanja

Florentinisches Wien

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Das Eingangsbild zur Florentiner Ariadne auf Naxos mag erklären, warum die italienische Produktion zumindest optisch so wenig attraktiv ausfällt: Da wird ein ausgemergelt aussehender, fast nackter Invalide in einem Rollstuhl über die Bühne geschoben, um für immer hinter den Kulissen zu verschwinden. Sollte dies etwa der reichste Mann Wiens sein, der von einer unheimlichen Krankheit befallen wurde? Gehört er zu den im Personenverzeichnis erwähnten „figuranti speciali“? Sein Schicksal bleibt ungeklärt, so geheimnisvoll wie die Absicht von Regisseur  Matthias Hartmann und Bühnenbildner Volker Hintermeier, Vorspiel und Oper in einem, noch dazu zusammengewürfelt scheinenden Bühnenbild spielen zu lassen, das viele Stolperfallen aufweist, aber weder das aufgeregte Durcheinander vor einer Uraufführung noch das Geheimnis antiker Sagenwelt widerspiegelt. Der Unterschied zwischen beiden Welten besteht in AXS, den Neonbuchstaben, die für die Oper dem bereits für das Vorspiel vorhandenen NO hinzugefügt werden. Was Naxos bedeutet ist klar, was No weniger, es könnte die Weigerung des Komponisten sein, sein Werk zu verschandeln, das des Tenors, seine Perücke zu akzeptieren und vieles anderes auch. Glücklicher als mit der Bühne wird er Zuschauer sicherlich mit einem Teil der Kostüme, vor allem die für Najade, Dryade und Echo, wunderschönen Zwanzigerjahre-Fummeln von Adriana Braga Peretzki entworfen, die mit Adriana und Zerbinetta weniger im Sinn hatte, die eine in einen silbernen Schlauch presste und die andere wie eine Puffmutter ausstattete. Ansonsten gibt es viel Gold bei Requisiten und Kostümen, auch an den Komödianten funkelt und glitzert es.  Wie ein Fremdkörper erscheint ein Fels mit dem Schriftzug Ariadne, der an einen Grabstein erinnert.

Daniele Gatti wird bald Gelegenheit haben, mit der Dresdner Staatskapelle ein Orchester zu leiten, das mit Richard Strauss bestens vertraut ist. Was er dem Orchester des Maggio Musicale Fiorentino entlockt, ist aber auch aller Ehren wert, klingt so durchsichtig wie üppig, so verschwenderisch wie klug kalkuliert. Auch an den Sängern wurde im Nach-Corona-Jahr 2022 nicht gespart. Nur was ihre sängerischen Leistungen betrifft, ist Krassimira Stoyanova eine Primadonna. Der dunkel getönte, einheitlich gefärbte, nie schrill werdende Sopran meistert die schwierige Partie souverän, eine Leistung, die von Reife und von einer Karriere spricht, die auf ihrem Zenit angekommen zu sein scheint. Den einzigen Szenenbeifall heimste stückbedingt die Zerbinetta von Jessica Pratt ein, den Italienern aus dem Belcantorepertoire bestens bekannt und natürlich auch rollenbedingt zu solchem herausfordernd. Sie ist inzwischen eine recht reife Darstellerin für die kokette Allroundloverin, ihre große Arie meistert sie angemessen. Auf dem Weg zum Heldentenor ist AJ Glueckert, der den Bacchus mit ungefährdeten Stentortönen versah und trotz unmöglicher Kostümierung stattlich daher kam.

Ein wunderbares Paar waren der sensible, leidenschaftliche, jeden Ton mit echt erscheinender Empfindung füllende Komponist von Sophie Koch und der warmherzige wie warmstimmige Musiklehrer von Markus Werba. Einmal mehr bedauert man, dass sie so schnell und dann für immer von der Bühne verschwinden. Echten Wiener Schmäh brachte der Haushofmeister von Franz Tscherne auf die Bühne, geschmeidig bewegten sich und sangen Maria Nazarova, Anna Doris Capitelli und Liubov Mevedeva die drei Fabelwesen, aus der Schar der Komödianten ragte Liviu Holender mit feinem Kavaliersbariton als Harlekin heraus. Antonio Garés machte viel aus dem Tanzmeister, Joseph Dahdah war der schmucke Offizier. Die Aufführungen fanden im intimeren Teatro della Pergola statt, wohin ein Kammerspiel auch gehört. Die guten Verbindungen von  Alexander Pereira nach Österreich hatten sich bewährt, der Himmel hing noch voller Geigen (Bluray Dynamic 57970 & gleichnamige CD). Ingrid Wanja       

Daniza Mastilovic

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An Daniza Mastilovic (sie starb 15. Juli 2023 in hessischen Dreieich) erinnere ich mich genau und mit Freude, wenn sie an der Deutschen Oper Berlin als Elektra in der unerreichten  Sellner-Inszenierung erst einsprang und dann öfter den illustren Vorgängerinnen Mödl und Varnay sowie auch Schlemm folgte. Ihre machtvolle Stimme, die wir in West-Berlin auch als Turandot (erst in Deutsch und dann im Original) hörten war eine absolute Überraschung wegen der Kraft (einer Kuchta gleich) und der italienischen Geschmeidigkeit, wie sie man in der Forza oder auch im Trovatore bewundern konnte. Optisch war sie eher dem Ideal der gestandenen Stimmen verpflichtet und auch vielleicht nicht die ganz große Gestalterin, aber die machtvolle Stimme ohne jede Höhenprobleme bleibt mir in bester Erinnerung. Wenn sie auf dem Plan stand wusste man, was man bekam, und sie war jede Minute den Besuch der Vorstellung wert. Möge sie in Frieden ruhen. G. H.

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Daniza Mastilović, im deutschen Sprachraum auch Danica Mastilovic wurde am * 7. November 1933 in Negotin, im damaligen Königreich Jugoslawien geboren und starb am † 15. Juli 2023 in Dreieich, Hessen. Sie wurde als Tochter von Luka Mastilovič und dessen Ehefrau Ljubica Pajki, die beide serbischer Abstammung waren, im Osten des heutigen Serbien geboren. Sie studierte am Belgrader Konservatorium Gesang bei dem Bassisten Nikola Cvejić-Vladin (1896–1987) und trat bereits während des Studiums in den Jahren 1955 bis 1957 an verschiedenen Belgrader Operettentheatern auf.

Ohne Deutschkenntnisse und ohne Studienabschluss kam Danica Mastilović, vom damaligen Frankfurter Ersten Kapellmeister Wolfgang Rennert in Belgrad entdeckt, Ende der 1950er Jahre auf Veranlassung des Dirigenten Georg Solti zum Vorsingen nach Frankfurt am Main, wo sie zur Spielzeit 1958/59 vom damaligen Intendanten Harry Buckwitz zunächst mit einem Dreijahresvertrag an die Oper Frankfurt engagiert wurde. Sie debütierte dort 1959 mit der Titelpartie in Tosca und gehörte bis zu ihrem Bühnenabschied am Ende der Saison 1998/99 insgesamt 40 Jahre zum festen Ensemble der Frankfurter Oper. Nachdem sie zunächst kleinere Partien gesungen hatte, erhielt sie an der Oper Frankfurt nach und nach größere Aufgaben, vor allem im dramatischen Fach, übertragen. 1964 sang sie in Frankfurt mit großem Erfolg erstmals die Titelpartie in Turandot. Während der Zeit von Christoph von Dohnányi als Generalmusikdirektor und Direktor der Frankfurter Oper wechselte sie Ende der 1960er-Jahre ins hochdramatische Fach. 1971 sang sie in Frankfurt am Main erstmals dieElektra, wofür der damalige Frankfurter Ballettchef John Neumeier eine spezielle Choreografie mit ihr erarbeitet hatte. 1978 sang sie in Frankfurt die Kundry und Isolde. 1979 debütierte sie als Küsterin in Janáčeks Jenůfa unter der musikalischen Leitung von Michael Gielen.

Ab 1983 übernahm sie auch Partien aus dem Charakterfach. Sie sang die Larina in Eugen Onegin, die Berta in Der Barbier von Sevilla und die Czipra in der Operette Der Zigeunerbaron. In der Spielzeit 1985/86 übernahm sie die Mutterrolle der Ludmila in einer Neuinszenierung der Oper Die verkaufte Braut (Regie: Christof Nel). Außerdem war sie in der Spielzeit 1985/86 die Venus in einer Neubearbeitung der Offenbach-Operette Orpheus in der Unterwelt, bei der sie „mit […] barocken Proportionen in vergangenheitsmächtiger Pose ihre nach wie vor üppigen stimmliche Reize zur Schau stellt[e].“ 1995 und nochmals 1997 war sie als alte Buryja in Jenůfa an der Frankfurter Oper zu hören.[7] In der Spielzeit 1998/99 verabschiedete sie sich in der Rolle der Filipjewna in Eugen Onegin als festes Ensemblemitglied von der Bühne und von ihrem Frankfurter Publikum.

Mastilović wurde 1983 zur Kammersängerin ernannt. Sie war verheiratet und lebte zunächst viele Jahre in Mainz.Nach Beendigung ihrer Karriere blieb sie in Frankfurt am Main wohnen und lebte in Sachsenhausen. Sie starb im Juli 2023 im Alter von 89 Jahren im hessischen Dreieich.

Parallel zu ihrem Festengagement an der Oper Frankfurt übernahm sie zahlreiche Gastengagements, so 1963 als Abigaille an der Seite von Tito Gobbi an der Lyric Opera of Chicago. Im Januar 1964 debütierte sie als Tosca an der Wiener Staatsoper. Sie trat dort bis 1980 u. a. als Leonora in Il trovatore, Senta, Kundry, Ortrud sowie als Turandot und Elektra auf. Von 1965 bis 1967 war Mastilović als Gerhilde in Die Walküre bei den Bayreuther Festspielen verpflichtet. Im Oktober 1970 debütierte sie als Färberin am Teatro Colon in Buenos Aires. Weitere Gastspiele gab sie dort im August 1972 als Abigaille und im September 1975 als Elektra.  Im März 1972 gab sie als Elektra ihr Debüt an der Mailänder Scala.[15] In der Spielzeit 1975/76 sang sie dort in vier Vorstellungen die Turandot. An der Oper Zürich war sie 1973 als Ortrud verpflichtet. Im November 1975 debütierte sie an der Metropolitan Opera in New York als Elektra, mit der sie dort bis 1979 auftrat. 1980 sang sie die Färberin an der Grand Opéra Paris.

Weitere Gastspiele führten sie an die Dresdner Semperoper, die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf, die Hamburger Staatsoper, die Deutsche Oper Berlin und an die Opernhäuser von Athen, Zagreb, Stockholm und Mexiko-Stadt. 1987 trat sie als Klytämnestra in Elektra am Salzburger Landestheater auf. Im April 1988 gastierte sie mit dieser Rolle bei Elektra-Vorstellungen in Pretoria. In der Spielzeit 1991/92 gastierte sie am Theater Trier als Gräfin in Pique Dame.

Mastilovićs Bühnenlaufbahn konzentrierte sich hauptsächlich auf die Werke von vier Komponisten – Verdi und Puccini im italienischen, Richard Wagner und Richard Strauss im deutschen Fach. Sie galt als „große Verdi-, Wagner- und Puccini-Interpretin“. Zu ihren Hauptrollen gehörten insbesondere die Titelrollen in Turandot und Elektra. Die Turandot verkörperte sie weltweit an insgesamt 28 Opernhäusern, zum Beispiel in Buenos Aires und Wien, im Großen Salzburger Festspielhaus, beim Puccini-Festival von Torre del Lago (anlässlich des 50. Todesjahrs des Komponisten), in der Arena di Verona und an der Opéra de Monaco (1979).

Zu ihrer international wichtigsten Rolle wurde die Elektra. Sie sang die „Rolle ihres Lebens“ in nahezu 200 Vorstellungen auf der Bühne, unter anderem an der Bayerischen Staatsoper (1973), am Londoner Royal Opera House (1973 und 1975), an der New Yorker Metropolitan Opera, an der Mailänder Scala, am Teatro Colón in Buenos Aires, am Teatro Liceu in Barcelona (1980) sowie in Wien und Paris (1977, Grand Opéra). (Foto als Elektra/ Piccagliani/ Archivio Storico del Teatro alla Scala Mailand/ Quelle Wikipedia)

Frühwerke aus Lucca

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Giacomo Puccini, in aller Welt bekannt als Opernkomponist,  war eigentlich und durch seine Herkunft bedingt Organist und Kirchenmusiker in fünfter Generation in der toskanischen Stadt Lucca, nicht weit vom Puccini-Festspielort Torre del Lago entfernt,  seine diesbezügliche Karriere in der Kirche San Girolamo beginnend. Harmonia mundi stellt Werke vor, die  zwischen 1880 und, ja, kein Druckfehler, 2014 uraufgeführt wurden. Es handelt sich um eine Komposition mit dem ursprünglichen Titel Messa a quattro voci, später wohl wegen des breit angelegten Gloria als Messa di Gloria bekannt geworden, um ein Scherzo für Streicher, das seine Uraufführung erst 2014 im Teatro Giglio  von Lucca erlebte und eigentlich als Teil eines Streichquartetts geplant war, und um ein Capriccio sinfonico, das als Examensarbeit seine Studienzeit in Mailand beendete. Relativ bekannt ist das abschließende Crisantemi, eine Elegia per quartetto d’archi, ein Auftragswerk nach dem Tod des Duca Amedeo Ferdinando di Savoya. Nicht nur beim Hören dieses Werkes wird der Opernliebhaber die Ohren spitzen, denn Puccini ließ nichts umkommen, verwertete Musik aus seinen frühen Orchesterwerken später wieder in seinen Opern. So erklingt in den Crisantemi, den Totenblumen der Italiener, auch die Reise nach Le Havre aus Manon Lescaut, im Kyrie die aus Edgar und im Capriccio wird das Bohéme-Leben gefeiert. Sogar das Agnus Dei erlebt eine Wiederauferstehung im Madrigal, mit dem Geronte die kapriziöse Manon langweilt.

Dennoch sind die auf der CD vereinigten Frühwerke des Aufführens und Hörens wert, besonders wenn sie von so versierten Kräften angeboten werden. Da sind erst einmal die vorzüglichen Gesangssolisten, der Tenor Charles Castronovo und der Barion Ludovic Tézier, dazu der Chor Orfeó Català, der die sanfte Bitte des Kyrie wunderbar bruchlos anschwellen und wieder abschwellen lässt, der im Gloria einen balsamischen Kontrast zum eher herben Orchesterklang bildet und einen schönen Dialog mit den Bläsern führt, im Gloria wie weichgespült klingt und ein die Welt umarmendes Amen und ein Et resurrexit  voller Jubel zelebriert. Das Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Gustavo Gimeno gibt  die unterschiedlichen Stimmungen, die durch die frühe Meisterschaft Puccinis auch in der Orchestrierung bereits in diesen Werken hörbar werden, eindrucksvoll wieder. Der Tenor hat einen keuschen Ton für das Gratias, die Höhe ist strahlend, er singt mit reicher Agogik, und die Stimme erhebt sich machtvoll im Credo über den Chor, ist höchst eindrucksvoll im Et incarnatus est. Der Bariton singt ein empfindsames Benedictus, die Stimme weist exakte Konturen auf, glänzt im Agnus Dei durch edle Schlichtheit des Ausdrucks. Eine CD, die man mal schmunzelnd ob der Opernanklänge, insgesamt aber mit Interesse und Profit genießen kann (harmonia mundi 905 36). Ingrid Wanja

Refices Kirchenoper „Cecilia“

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Laut Arturo Toscanini hätte Licinio Refice (1883-1954) der größte Opernkomponist seiner Zeit sein können, wenn er nicht den Talar gewählt hätte: «Refice sarebbe il più grande operista del nostro tempo se non fosse per quella tonaca», schreibt er, der sich sehr für die Komponisten seiner Zeit einsetzte. Der Priester Don Refice bewies seine musikalischen Fähigkeiten als Komponist von Kirchenmusik (darunter ca 40 Messen und mehrere Oratorien, darunter das bei Colosseum dokumentierte Lilium Crucis). Auch zwei Opern beendete er, die zu ihrer Zeit in Italien erfolgreich waren. Cecilia wurde 1934 an der Königlichen Oper in Rom auch dank der Sopranistin Claudia Muzio in der Hauptrolle ein Triumph, der weltweit zu über 1000 Vorstellungen führte, 1938 eröffnete dann Refices Margherita da Cortona die Saison an der Mailänder Scala (davon ein LP-Mitschnitt ehemals bei Voce mit Antonietta Cannarile Berdini bei der RAI 1975). Cecilia und Margherita di Cortona – beide wurden von der katholischen Kirche heiliggesprochen, Refice blieb auch bei seinen Opern Kirchenmusiker.

Licinio Refice/Autogrammblatt/Tamino

Die heilige Cäcilie, die Patronin der Kirchenmusik, starb als Märtyrerin ca 230 n.Chr. in Rom, da sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwören wollte. In Europa entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Tradition der Cäcilienverehrung, entsprechende Kompositionen gibt es bspw. von Purcell, Händel, Haydn, Gounod oder Britten. Das Frühchristentum in Rom ist ein Thema, das bereits Donizetti in seiner aktuell wieder Aufmerksamkeit bekommenden Oper Poliuto/Les Martyrs  verwendete. 1932 wurde in der New Yorker Carnegie Hall das Mysterienspiel Maria Egiziaca von Ottorino Respighi konzertant aufgeführt und in der der Folge in Italien szenisch auf die Bühne gebracht. Respighis religiöse Oper in drei Episoden (2013 von den Wuppertaler Bühnen für eine Kirchenaufführung inszeniert) ist das zeitgeschichtliche Ergänzungswerk zu Refices Cecilia. Beide Werke vereint eine klangsinnliche Herangehensweise in spätromantischer Klangwelt. Wenngleich sich auch das Wort Kirchenkitsch aufdrängt, ist doch der moderne Zuhörer weit entfernt von dieser italienischen Mystifizierung. Aber man muss das Werk – und ja eigentlich alle – aus der historischen Einbettung heraus betrachten und im ästhetischen Sinne nicht durch die Brille unseres rabiaten Kapitalismus mit seinen Folgen be- oder verurteilen.

Thematisch befindet man sich bei Cecilia also auf bekannten Pfaden, spannend wird es durch die katholische Färbung des Komponisten – Refice nannte seine Oper eine azione sacra in drei Episoden und vier Bildern -, die die Handlung musikalisch gekonnt dramatisiert und dabei geschickt Vorbilder wählt. Die erste Episode, bei der Cäcilie in das Haus ihres ihr anverheirateten heidnischen Gatten Valerianus gebracht wird und doch ihre Unberührtheit bewahren kann, erinnert vom Aufbau an den ersten Akt von Madama Butterfly. Herzstück ist die mit einem melodisch fast alle wichtigen Motive vereinenden Vorspiel beginnende zweite Episode, bei der Cäcilie Valerianus zu einem frühchristlichen Gottesdienst in die Katakomben mitnimmt, bei dem ein Wunder geschieht: Eine Blinde kann wieder sehen, die Gemeinde stimmt ein Halleluja an, Valerianus lässt sich taufen und ein Engel erscheint, der die geistige Beziehung der Ehegatten segnet und auf das kommende Leid verweist. Tribunal und Verurteilung (als Vorbild könnte man den dritte Akt von Andrea Chénier nennen) sowie die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen (ähnliche Beispiele finden sich in Norma, Anna Bolena und Maria Stuarda) führen in der dritten Episode zu Tod und Verklärung.

Eine Neueinspielung (Mitschnitt einer Aufführung bei Dynamic aus dem Theater in Cagliari) lässt uns zu  einen älteren Artikel über das Werk in operalounge zurückkehren. Erst einmal die Besprecdhung von Ingrid Wanja und dann ein Blick auf weiteres Verfügbares. G. H.

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Nicht laut genug erschallen kann das Lob für das Teatro Lirico di Cagliari auf Sardinien und ebenso kräftig sollte es ertönen für das Label Dynamic aus Genua, denn das eine bringt seit Jahrzehnten immer wieder unbekannte Opern auf seine Bühne, das andere gibt sie fast zeitgleich als CD oder Bluray heraus und lässt so ein großes Publikum am jeweiligen Ereignis teilnehmen. Da gab es unter anderem den Schiavo von Gomes, Webers Euryanthe, Tschaikowkys Pantöffelchen, eine sardische Oper aus der Zeit der Nuraghe und in den letzten Jahren Giorgio Marinuzzis Palla de’Mozzi und  im Winter 2022 Licinio Refices Cecilia. Letzterer ist eigentlich ein Don Licinio Refice, Priester und in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts  für die Musik in Santa Maria Maggiore in Rom verantwortlich, welches Amt er jedoch zum Ärger der Kurie zugunsten unter anderem mehrerer Südamerikareisen vernachlässigte, auf der letzten, während der Proben zu Cecilia 1954 in Rio de Janeiro mit Renata Tebaldi in der Titelpartie verstarb er. 1953 wagte sich das Teatro San Carlo in Neapel an das Werk, und auch damals sang Renata Tebaldi die Cecilia, es dirigierte der Komponist.

.Azione sacra in tre episodi nannte der Komponist sein Werk, das eigentlich eine Oper mit geistlichem Inhalt ist wie auch Margherita da Cortona, eine dritte Oper mit dem Titel Il Mago, brachte es nicht einmal zu einem vollendeten ersten Akt.

Für Cecilia hatte sich Refice eine Uraufführung zum Heiligen Jahr 1925 erhofft, die aber am Zwist zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat scheiterte und erst nach den Patti Lateranensi 1934 im römischen Teatro Reale dell‘ Opera, sprich Teatro Costanzi, 1934 möglich wurde. Für den beachtlichen Erfolg war nicht zuletzt die Sängerin der Cecilia, Claudia Muzio, verantwortlich.

Licinio Refice privat/ personaggi illustri

Refice verwendet als heißer Verehrer Richard Wagners zwar Leitmotive für seine Protagonisten, auch für den Chor, sei es der der Christen oder der der Heiden, aber ansonsten ist seine Musik durch und durch italienisch, üppig melodienselig, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme, Giuseppe Grazioli, nennt sie „un trait d’union“ zwischen Puccini und Respighi. Nachvollziehbar ist, dass Refice als Kirchenmusiker dem Chor eine bedeutende Rolle zuerkennt, sei es als entrückter Engelsgesang, als der der schüchternen Ancelle, der unversöhnlich auftrumpfenden Heiden oder der auf Überwältigung angelegte gemeinsame der irdischen wie himmlischen Heerscharen.

Erstaunlich kompetent sind, bedenkt man, dass es sich um ein selten aufgeführtes Werk in einem teatro di provincia handelt, die Sänger. Marta Mari hat einen in der Höhe aufblühenden Sopran mit viel corpo, dolcezza und splendore, rund und farbig auch im Piano. Emphatisch klingt das „Si, Valeriano“, ein feines akustisches Gespinst ist das „Io sorrido di pianto“. Die Stimme wird im Verlauf der Handlung immer entrückter wirkend, bis sie zu ersterben scheint. Frisch und schlank ist der Sopran, den Elena Schirru für den Engel einsetzt. Giuseppina Piunti gibt mit etwas schütterem Mezzosopran die Cieca, die natürlich von ihrem Gebrechen geheilt wird und dadurch auch an Stimmvermögen zunimmt.

Einen lyrischen Tenor setzt Mickael Spadaccini für den Gatten Valeriano ein, kann,  als bereits Hingerichteter, der der aus dem Jenseits klingenden Stimme ein schönes Schweben verleihen. Glück für das Personalbüro, dass sein Bruder Tiburzio bereits vor dem zweiten Akt das Zeitliche segnet, so dass Leon Kim nicht nur diese Partie, sondern auch die des Amachio singen kann und beides mit einem textverständlichem, viel vokale Autorität ausstrahlendem Bariton. Schnell hat Christian Collia als Un Liberto und Un Neolita sein vokales Pulver verschossen, einen hochpräsenten  Bariton setzt Patrizio La Placa als Schiavo ein, warm und dunkel klingt Alessandro Spina als Urbano.

Musikalisch hochinteressant, dürfte es das Werk wegen seines Themas weiterhin schwer haben. Die Begegnung mit ihm lohnt auf jeden Fall (Dynamic CDS 7967.2). Ingrid Wanja 

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Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italien, sang die Cecilia bei der RAI/Melodram

Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italiens, sang die Cecilia 1955 bei der RAI/Melodram

Refice bekehrt musikalisch und will das Herz seiner Zuhörer berühren. Sein Erfolgsrezept liegt in der Mischung: veristische Momente, gregorianischer Gesang und eine an Mascagni und Puccini (bspw. Suor Angelica) erinnernde Klangsprache. Wer diese musikalische Mischung aus Wehmut, Hingabe und Erhabenheit schätzt, wird bei Refice fündig: Es gibt melodische Einfälle, die haften bleiben. Arien aus Cecilia wurden später von bekannten Sängerinnen eingespielt, bspw. von Renata Tebaldi (1953 unter dem Komponisten selbst bei der italienischen RAI, ehemals als knisternde LP von UORC) und Renata Scotto (im New Yorker Konzert 1976 unter Campori). Refice starb 1954 in Rio de Janeiro, wo er mit Renata Tebaldi seine Oper probte.

In der Folge geriet Cecilia in Vergessenheit. Ber youtube gibt es zum Hören Aufnahmen mit der Muzio, Tebaldi und Scotto (als CD gekürzt auf VAI erhältlich, sehr empfehlenswert wegen der opernhaften Hinwendung) sowie Maria Pedrini (als LP, später CD ehemals bei Melodram im RAI-Mitschnitt von 1955 unter De Fabritiis, ungeschlagen wegen der wunderbaren pastosen Stimme voller Unschuld und Unverstelltheit – eine gläubige Italienerin singt aus ihrem erfüllten Herzen heraus), die eine der großen Vertreterinnen der Partie nach dem letzten Krieg und überhaupt eine der schönsten Spinto-Stimmen ihrer Zeit (und zudem in Italien eine bedeutende Norma neben der Cerquetti) war. In jüngster Zeit näherte sich Jonas Kaufmann dem Werk, dessen Tenorarie „Ombra di nube“ er auf seinem Decca-Recital singt.

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Die  Gesamteinspielung der tüchtigen Firma Bongiovanni ist ein Live-Mitschnitt eines Konzerts vom 22.11.2013 in der Kirche von Monte-Carlo. Es handelt sich um ein wichtiges Plädoyer für eine vergessene Oper – die  Aufnahme taugt allerdings kaum als Referenz, dafür fehlten einigen Sängern am Aufnahmetag die Unverwechselbarkeit und Überzeugungskraft und die Akustik ist nicht ideal. Als Cecilia hat man mit Denia Mazzola Gavazzeni einen (zu) reifen, gestisch fast zu dramatischen Sopran gewählt, der zwischen Gläubigkeit, spiritueller Anrufung und Todesbereitschaft Eindruck hinterlässt, deren scharfe Sopranstimme allerdings auch den Weg zum Werk verstellt. Als ihr Partner Valerianus hat man den nicht immer frei klingenden Tenor von Giuseppe Veneziano gewählt, der Engel Gottes ist mit Serena Pasquini stimmlich wohlklingend, aber unaufregend besetzt. Der Bassist Riccardo Ristori als Bischoff Urban könnte deutlicher würdevoller und standhafter klingen; die gut besetzten Corrado Cappitta (Tiburzio/Amacchio) und Kulli Tomingas (La vecchia cieca) ergänzen u.a. in den kleineren Rollen. Auf der Habenseite dieser Aufnahme befinden sich Dirigent Marco Fracassi und das Orchestra Filarmonica Italiana, die für positive Eindrücke sorgen. Der Chor der Camerata di Cremona wirkt nicht immer ganz sicher und passt sich der durchwachsenen Gesamtleistung an. Eine Oper, die – wenn sich die richtigen Stars ihrer annehmen würden – durchaus wieder eine Chance auf der Bühne bekommen könnte. Und die Aufnahmen mit Scotto (in gutem Stereo-Sound) oder Pedrini (sehr ordentliches Mono) zeigen, was große Gestalterinnen sind (2 CDs, Bongiovanni, GB 2472-2). G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Grauns „Iphigenia in Aulide“

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Das Ensemble barockwerk hamburg ist für seine außergewöhnlichen Projekte und eindrücklichen Programme bekannt. Insbesondere die Wieder-Aufführung von bisher unveröffentlichten Werken der hamburgischen Musikgeschichte erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Erstmals in Form eines Streaming-Konzerts stellte das Ensemble mit seiner Leiterin Ira Hochman nun die Oper Iphigenia in Aulis von Carl Heinrich Graun vor.

Die Geschichte der Königstochter Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert werden soll, gehört zu den klassischen Tragödien der griechischen Antike, die das Theater bis heute zu immer neuen Interpretationen inspirieren und die Zuschauer fesseln. Mit gerade einmal 24 Jahren begeisterte sich auch Carl Heinrich Graun an dem Stoff und komponierte vor 290 Jahren die Iphigenia in Aulis. Seine jugendlich frische und farbenfrohe Musik erklang zuletzt im Jahr 1731 auf der Bühne der hamburgischen Gänsemarkt-Oper. Im Zentrum des Werks steht die freiwillige und selbstlose Aufopferung der Iphigenie in den Zeiten der gesellschaftlichen Krise. Vaterliebe und Königspflicht, Treue und Verrat, Ironie und Intrigen und eine Hochzeit als Schlussakkord bieten alle Zutaten für eine opulente und abwechslungsreiche Barockoper. (Quelle Universität Hamburg)

Eine ausführliche Rezension von Bernd Hoppe folgt, danach  eine Einführung von der Dirigentin Ira Hochman zur neuen Einspielung bei cpo (2 CD 555 475-2).

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Mit ihrem Ensemble barockwerk hamburg hatte Ira Hochmann vor einigen Jahren schon Carl Heinrich Grauns Polydorus bei cpo auf CD veröffentlicht (s. Rezension in operalounge.de), nun legt sie des Komponisten Oper Iphigenia in Aulis nach (555 475-2, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Christuskirche von Hamburg-Othmarschen.

Das Ensemble barockwerk hamburg im Lichthof der Hamburger Staatsbibliothek/ ebh

Das Libretto stammt von Georg Caspar Schürmann, der einen Text von Christian Heinrich Postel für Reinhard Keisers Die wunderbar errettete Iphigenia als Vorlage nutzte. Postel hatte gemäß der italienischen Barockoper eine zweite Liebesgeschichte hinzugefügt – die zwischen Deidamia und Achilles. Letzterer ist eine Tenorpartie in extremer Notierung, die Graun, der eine sehr hohe Stimme besaß, für sich selbst schrieb. In der Aufnahme nimmt sie Mirko Ludwig wahr, der die erste Arie von stürmischem  Zuschnitt, „Mit seinem Feinde herzhaft kämpfen“, beherzt angeht, doch in der Höhe an Grenzen stößt und im Klang zu buffonesk bleibt. Dagegen findet er in „Geliebte Seele“ im 3. Akt auch zu innigen Tönen. Die Sopranistin Santa Karnite hat als Deidamia ebenso viele Arien zu absolvieren wie die Titelheldin, was für die Bedeutung der Partie spricht. Der Auftritt mit „Armes Herz“ lässt eine klare, reine Stimme von instrumentaler Führung hören. In „Sollte Treu im Lieben sein?“ gibt sie ihrer Enttäuschung über die unglückliche Liebe zu Achilles nachdrücklich Ausdruck.

In der Titelrolle ist Hanna Zumsande zu hören, deren wenig individueller Sopran in der ersten Arie, „Treuer Liebe reine Flammen“, keinen rechten Kontrast zu Deidamias Stimme herstellt. In der Arie „Kann ich dir das Leben geben?“ zu Beginn des 2. Akt stört ein allzu jammernder Tonfall. Am besten gelingt ihr der Koloraturjubel in „Schönste Blumen“ im 2. Akt. Auch das getragene Arioso am Ende des 2. Aktes, „Wertste Seele“, ist geglückt. Iphigenias Mutter Clytemnestra gibt die Mezzosopranistin Geneviève Tschumi, ihren Vater Agamemnon der Bassist Dominik Wörner mit flexibler Stimmführung. Dessen vertrauter Freund Nestor ist doppelt besetzt – mit dem Tenor Ludwig und dem Bass Wörner, da seine Gesangsnummern vom Komponisten beiden Stimmfächern zugeteilt wurden. Clytemnestra hat mit „Stürmet noch einmal“ eine wirkungsvolle Auftrittsarie mit bewegten Koloraturläufen, die Tschumi überzeugend wiedergibt. König Thoas, unter dem Namen Anaximenes, ist eine besonders farbige Partie zugeordnet, welche der Altus Terry Wey solide ausfüllt. Gelegentlich, wie in der ersten Arie „Schönste Seele“, klingt sein Ton etwas larmoyant. Das getupfte „Augen, machet euch bereit“ im 2. Akt profitiert von delikaten Nuancen und das stürmische „Nach wilder Wellen Brausen“ am Ende vom forschen Zugriff. Die Besetzung komplettiert der Bariton Andreas Heinemeyer in der Rolle von Deidamias Diener Thersites, der in der Tradition der Hamburger Gänsemarkt-Oper als komische Figur fungiert. Er kommentiert und persifliert in hoher Tessitura, munter plappernd und mit lautmalerischen Effekten das Geschehen.

Der Schlusschor, „Es weiche, es fliehe der Kummer“, wurde Grauns Oper Caio fabricio entnommen, da er, ebenso wie alle Rezitative, in der Handschrift der Iphigenia fehlt.

Die Erfahrung der Dirigentin mit dem Werk Grauns spiegelt sich sogleich in der Ouvertüre wider. Das Orchester musiziert kultiviert und nobel, ist den Sängern ein verlässlicher Partner. Die Virtuosität in vielen Kompositionen Grauns findet man hier allerdings nur gelegentlich, insgesamt herrscht ein getragener, dem Oratorium naher Stil, dem auch Elemente des Singspiels eigen sind, vor. Bernd Hoppe

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Carl-Heinrich-Graun/ Wikipedia

Zu seinen Lebzeiten war Carl Heinrich Graun (1704–1759) als Komponist und erster Kapellmeister der Königlichen Oper in Berlin vor allem für seine italienischen Opern bekannt und umjubelt. Die Tatsache, dass er zuvor am Opernhaus am Braunschwei­ger Hagenmarkt und der Gänsemarkt-Oper in Hamburg mit deutschsprachigen Opern wichtige Grundsteine für die Entwicklung dieser Gattung gelegt hatte, wird bis heute kaum wahrgenommen. Dabei bemerkte schon im achtzehnten Jahrhundert der Hamburger Gelehrte und Musikschriftsteller Christoph Daniel Ebeling (1741–1817): „[Grauns deutsche Opern] haben so viel Melodie, Ausdruck und Neuheit, als man in manchen Arien seiner neuern [= italienischen Opern] nicht finden wird“.1 Eine Fest­stellung, die das Ensemble barockwerk hamburg nach seiner erfolgreichen Erstein­spie­lung der Oper Polydorus (cpo 555 266-2) nur unterstreichen kann, und die nun mit der Vorstellung eines weiteren frühen Werks des Komponisten, seiner Oper Iphigenia in Aulis (1728), erneute Unterstützung findet.

Geboren in Wahrenbrück, begann Carl Heinrich Graun seine Karriere schon als Sängerknabe an der Kreuzschule in Dresden. Als jüngster der drei Gebrüder Graun, die alle ausgezeichnete Musiker waren, genoss er die bestmögliche Musikausbildung seiner Zeit, erhielt Unterricht auf der Orgel, Cembalo, Cello, Laute und in Kompo­sition. Nach dem Stimmbruch wurde aus dem Knabensänger ein exzellenter hoher Tenor. Carl Heinrich komponierte zahlreiche Kantaten und Opernpartien für die eigene Stimme, darunter die extrem hohe Partie des Achilles in der Iphigenia in Aulis. Graun soll als Privatperson einen sehr angenehmen Charakter gehabt haben, so hatte er viele Freunde und Förderer, darunter den Dresdner Hofpoeten Johann Ulrich König. Dieser prominente Opernlibrettist vermittelte den jungen Sänger 1725 nicht nur an die Hagenmarkt-Oper in Braunschweig, sondern lieferte auch das Libretto zu seiner (vermutlich) ersten Oper Sancio, oder die in ihrer Unschuld siegende Sinilde. In Braunschweig debütierte Graun 1726 als Tenor in der Oper Heinrich der Vogler von Georg Caspar Schürmann. Er wurde bald auch kompositorisch tätig und bekam nach dem großen Erfolg seiner Oper Polydorus den Titel Vizekapellmeister. Zwischen dem deutlich älteren Hofkapellmeister Schürmann und Graun als Vertreter des moderneren Stils entstand ein kollegiales Verhältnis, eine damals typische Art von Teamwork. Graun schrieb Einlagearien für Schürmanns Opern, darunter Ludovicus Pius, Heinrich der Vogler und Clelia, Schürmann dichtete für ihn unter anderem den Text der Iphigenia in Aulis. Dieses Bühnenwerk soll die dritte von sechs in Braunschweig geschriebenen Opern Grauns sein.

Zu Grauns „Iphigenia“: das Hamburger Theater am Gänsemarkt/ Wikipedia

In seiner Studie zur Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper von 1863 dokumentiert der Musikwissenschaftler Friedrich Chrysander die etwas verwirrende Chronologie der Aufführungen von Grauns Iphigenia in Aulis folgender­maßen: „Um 1730. Iphigenia in Aulis. Eine ganz deutsche Oper, von welcher zwar nur ein Textbuch aus der Sommermesse 1734 vorliegt, die aber in diese Zeit gehören muss, weil sie mit Graun’s Musik schon 1731 in Hamburg war.“2 Tatsächlich wurde die dreiaktige Oper in Braunschweig bereits 1728 uraufgeführt, und die Gänsemarkt-Oper in Hamburg spielte das Werk dreimal im Winter 1731/32. Danach verschwand es für 293 Jahre aus dem Opernrepertoire.

Im Sprechtheater gehört Euripides‘ Iphigenie in Aulis zweifelsfrei zu den meist­gespiel­ten antiken Tragödien. Im Bereich des barocken Musiktheaters waren die mythologischen Opern zwar die beliebtesten Opernsujets, jedoch sind heute nur zwei Adap­tionen des Iphigenien-Mythos bekannt, Glucks Iphigénie en Aulide (Paris 1774) und Martín y Solers Ifigenia in Aulide (Neapel 1779). Dabei wurde auf der Bühne der Hamburger Gänsemarkt-Oper schon im Jahr 1699 die Oper Die wunderbar errettete Iphigenia von Reinhard Keiser gespielt. Dessen Librettist Christian Heinrich Postel schrieb in seinem Vorbericht, dass ihm Euripides‘ „vortreffliches Trauer-Spiel“ als Grundlage diente. Postel fügte der Handlung eine Liebesgeschichte zwischen Deidamia und Achilles hinzu, um der üblichen Dramaturgie einer Barockoper zu entsprechen. Das wiederum zog es nach sich, möglichst eine Intrige als Nebenstrang und eine komische Figur für die Unterhaltung des Publikums in die mythologische Handlung einzupflegen. Die Musik dieses „Singe-Spiels“ hat sich leider nicht erhalten. Der zeitgenössische Druck des Librettos hingegen ist heute digital zugänglich.3

Zu Grauns „Iphigenie“: Uraufführungs-Kostüm für Arcas/ BDO

Genau dieses Libretto diente 1728, also fast 30 Jahre später, Georg Caspar Schür­mann als Grundlage für den Text der Iphigenia in Aulis. Die Handlung wurde von ihm von fünf auf drei Akte gekürzt und die Rezitativtexte wurden gestrafft. Der Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson übte daran harsche Kritik und schrieb, es sei „die 32 Jahre alte, schöne Postelsche Poesie […] lästerlich verschnitten, weggewor­fen, zerstümmelt, vertauscht und geflickt“ worden.4 Bei einem weniger polemischen, sachlichen Vergleich der Textbücher wird offensichtlich, dass den Kürzungen insbesondere Ensembles und Interaktionen zwischen Charakte­ren zum Opfer fielen, die zuvor wahrscheinlich in kürzeren musikalischen Formen ver­tont worden waren. Schürmanns Bearbeitung des Librettos bewegt sich also in Rich­tung der klassischen Struktur einer Barockoper mit ihrer Abfolge von Da-Capo-Arien und Rezitativen.

Zwei unvollständige Handschriften der Iphigenia in Aulis aus den Hofkapellen in Braunschweig-Wolfenbüttel und Sondershausen werden heute im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel5 und in der Stadtbibliothek Sondershausen aufbewahrt.6 In ihnen fehlt leider die Musik zu sämtlichen Rezitativen, den drei Chören, dem abschließenden Auftritt der Diana mit allen Beteiligten sowie dem Schlusschor. Deren Texte sind aber in den zeitgenössischen Drucken des Hambur­ger und des Braunschweiger Librettos (beide 1731) enthalten, von denen Exemplare in den Beständen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und des Landes­archivs Wolfenbüttel aufbewahrt werden. Darüber hinaus ist die Quellenlage insofern unübersichtlich, als dass sich manche Arien ausschließlich in einer der beiden Musik­quellen befinden und manche, obwohl sie zur selben Rolle gehören, verschiedenen Stimmfächern zugeordnet sind. Das letztere Rätsel kann eigent­lich nur darauf zurück­­­geführt werden, dass die bei den verschiedenen Auf­führungen für die Besetzung die­ser Rollen engagierten Sänger nicht der ursprüng­lichen Stimm­zuweisung entsprachen und man entweder die Arien transponierte oder neu komponierte. Abgesehen von diesen offenen Fragen ist eine Fülle an höchst inspirierender Musik vorhanden, darunter die Ouverture, sowie 35 Arien, und es wäre mehr als schade, dieses umfangreiche Werk weiterhin ungespielt in den Archiven liegen zu lassen.

Zu Grauns „Iphigenia“: Der SchauspielerLavigne, in der Rolle des Achilles / BDO

Mit Blick auf heutige Aufführungen stellt sich somit die Frage: Wie unvollständig ist Iphigenia in Aulis tatsächlich? Stellen wir dazu einen Vergleich an. Sowohl eine der bekanntesten Opern von Georg Friedrich Händel, die dreiaktige Giulio Cesare in Egitto als auch Grauns fünfaktige Oper Polydorus weisen 37 Musiknummern auf. Wir können daraus schließen, dass wohl nur sehr wenige Stücke der Iphigenia in Aulis fehlen. Dennoch benötigte die Oper für unsere Erst-Wiederaufführung einen Schlussgesang. Wir haben uns erlaubt, diesen aus Carl Heinrich Grauns Oper Caio fabricio (GraunWV B:I:14) von 1746 zu entlehnen. Deren Schlusschor „La gloria è un gran bene“ ließ sich problemlos der Text des Schlusschors aus Schürmanns Iphigenia-Libretto unterlegen. Die letzte Arie des Anaximenes (Altus), „Nach wilder Wellen brausen“, die überraschenderweise im Bassschlüssel notiert ist, wurde eine Oktave nach oben versetzt und damit dem Rest der Partie angeglichen. Die Rolle des Nestor, ein Freund Agamemnons und der­jenige, der die Schlüsselbotschaft über die Opferung der Iphigenia überbringt, behielt die Diversität der Stimmfächer: Nestor singt das Eröffnungsduett mit Agamemnon als Tenor, während seine spätere Arie „Wo ungerechte Götter thronen“ dem Bass zugeteilt ist und auf unserer Aufnahme von dem Bassisten Dominik Wörner vorgetragen wird.

Zu Grauns „Iphigenia“: Titelseite des Hamburger Librettos (Staats- und Universitatsbibliothek Hamburg, Signatur: 281 in MS 639/3:20)

Es ist erstaunlich, wie feinsinnig der 24-jährige Komponist die Charaktere seiner zwei­ten beziehungsweise dritten Oper gestaltet hat. Iphigenia ist unschuldig und unerfahren, und dennoch mutig und entschieden. In der Arie „Schönste Blumen, meine Wonne“ begießt sie mit ihren Tränen die Blumen. Graun verzichtet hier auf die tiefen Bassinstrumente und bringt so die Musik zum Schweben. Todesmutige Opferbereitschaft hingegen zeigt Iphigenia in der großangelegten und dennoch schlichten Arie mit Hörnern und Oboen d’amore „Lebe wohl, ich muss dich lassen“. Für die Rolle der Deidamia schrieb Graun ebenso viele Arien wie für die eigentliche Hauptpartie der Iphigenia. Er muss diesen Charakter sehr gemocht haben. Ihre Musik besticht durch eine berührende Ehrlichkeit der Gefühle. Ihre Enttäuschung in der Liebe zu Achilles hört man insbesondere in der Arie mit Oboen d’amore und ostinaten Violinen „Sollte Treu im Lieben sein“, während die Arie „Treuloses Herz, verkehrter Sinn“ ihrer Verzweiflung Ausdruck verleiht. König Agamemnon, Iphigenias von Zweifeln geplagter Vater, wird musikalisch in einem archaischen, an oratorische Musik gemahnenden Stil gezeichnet.

Die facet­ten­reiche und sehr anspruchsvolle Tenorpartie des Achilles komponierte Graun für sich selbst. In der Arie „Geliebte Seele, weine nicht“ zeugt sein Gesang im Dialog mit dem obligaten Cello, einem Instrument, dass Graun selbst gut beherrschte, nicht nur von Achilles‘ kriegerischen Zügen, sondern auch von seinen liebevollen Eigenschaften und von Momenten voller Mitgefühl. Diese Arie, im Grunde ein Duett zwischen Stimme und Violoncello, ist eine herausragende Komposition im Hinblick auf den Anspruch an die beiden Partner und die musikalische Qualität. Der skyti­sche König Thoas unter dem falschen Namen Anaximenes ist vielleicht die kontrast­reichste Partie der Oper, die dementsprechend besonderes farbig vertont ist. Die Affekte reichen von sehr verliebt in der Arie „Schönste Seele, deine Lippen“ über todessüchtig in den Arien „Augen, machet euch bereit“ und „Ach, Iphigenia“ bis hin zu aufbrausend in den spektakulären Koloraturen der schon erwähnten Arie „Der wilden Wellen brausen“. Iphige­nias Mutter Clytemnestra zeigt sich einerseits in ihren Pflichten gefangen, andererseits rebellisch gegen das Schicksal und die Götter. Besondere Beachtung verdient die Rolle des Thersites, Deidamias Diener. Er stellt eine volkstümliche, komische Person dar, die vor allem für die Hamburger Gänsemarkt-Oper typisch ist. Kommentierend greift er in stimmlich extrem hoher Lage in die ernste Handlung ein. Er lacht aus, pointiert und provoziert. Seine geschwätzigen Kommentare bilden einen Kontrast zur Innigkeit und Ehrlichkeit von Deidamias Gefühlen. Die Männersitten werden verspottet, „denn bei Jungen und bei Alten hat noch keiner Wort gehalten.“

Die Dirigentin und Prinzipalin Ira Hochman/ barockwerk hamburg

Sollte Grauns Iphigenia in Aulis eines Tages zu einer theatralischen Wieder­aufführung kommen, kann man unsere Entscheidungen über den Schluss der Oper sowie eine Lösung für die verlorengegangene Rezitativ-Vertonungen neu über­denken. Für eine weitergehende Vervollständigung der Oper könnte man zudem auf eine zusätzliche Quelle zurückgreifen. Graun schrieb 1748 in Berlin Ifigenia in Aulide (GraunWV B:I:18), eine italienische Oper mit dem Libretto von Leopoldo di Villati nach Jean Racines Iphigénie en Aulide (Paris 1674). Sowohl die Sprache als auch der spätere Kompositionsstil Grauns eig­nen sich nicht direkt für eine Entlehnung von Musik, dennoch könnte man sich für die fehlende Opferungsszene der Iphigenia auf jeden Fall an der Instrumentalmusik bedie­nen und die Ansprache der Göttin Diana mit dieser Musik unterlegen. Man könnte das Stück als Singspiel mit gesprochenen Rezitativtexten spielen oder die Rezitative neu vertonen lassen.

Wir haben uns für eine konzertante Aufführung mit modernen Zwischentexten entschieden. Wir wagen die Voraussage, dass diese Oper mit einigen Hilfsgriffen hervorragende Chancen auf ein erfolgreiches Bühnenleben haben wird. Dafür spricht Grauns Musik, die von so herausragender Qualität und melodischer Schönheit ist. Ira Hochman 

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Quellen:  1) Charles Burney, Tagebuch seiner musikalischen Reisen, aus dem Englischen übersetzt von Christoph Daniel Ebeling, Bd. 3, Hamburg 1773, S. 175.  2) Friedrich Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für musikalische Wissen­schaft, Bd. 1, 1863, S. 147–286.  3) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: 81 in MS 639/3: 5   4) Zitiert nach Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper (siehe oben).  5) Zeitgenössisches Manuskript, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, Signa­tur: 6 Hs 17 (Nr.11)  6) Handschriftlicher Stimmensatz, Stadtbibliothek Sondershausen, Signatur: Mus. A 1: 3.

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus Tiepolos Monumentralgemälde der „Ifigenia in Aulide“ in der Villa Valmerana bei Vicenza/ Wikipedia. Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier