Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Für Wien aus Wien

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Eingerahmt von zwei Adelaiden, der von Beethoven und der von Schubert, präsentiert sich die CD des Tenors Daniel Johannsen unter dem Titel Wiener Lieder, bei dem man erst einmal an Heurigen und Schrammelmusik denkt. Mit Wien haben die auf der CD vertretenen Komponisten aber nur insofern zu tun, als die ihr ganzes Leben oder einen bedeutenden Teil davon in der Stadt der Habsburger verbrachten. Zu den beiden Komponisten-Genies gesellen sich noch Conradin Kreutzer und Nicolaus von Krufft, beide zu Lebzeiten ähnlich bekannt und beliebt wie Beethoven und Schubert. Kreutzer ist der Schöpfer einer Unzahl von Opern, von denen nur Das Nachlager von Granada Opernfreunden noch ein Begriff ist, von Kruffts Schaffen ist mit 24 Liedern und einigen Sonaten sehr viel übersichtlicher. Ihm blieb als Sekretär Metternichs, den er 1815 nach Paris und später auf anderen Reisen begleitete, nicht viel Zeit für kompositorische Arbeiten.
Es beginnt also mit Beethovens Adelaide, die der Tenor mit ausgeprägter, nicht durchweg nachvollziehbarer Agogik angeht, mit einem frischen, jung klingenden, aber manchmal auch herb und spröde erscheinenden Timbre und sehr viel Aufmerksamkeit für den Text. Das führt manchmal dazu, dass der Fluss der Melodie unterbrochen zu werden scheint. Gut nachvollziehbar sind die Steigerungen bei der mehrmaligen Wiederholung des Namens Adelaide.
Eine leichte stimmliche Hand hat der Sänger für das tändelnde Mit einem gemalten Band, der säuselnde Zephir charakterisiert das Singen, am Schluss gibt es eine schön heraus gearbeitete Verzierung.
Es folgt der Zyklus An die ferne Geliebte mit einem rasanten Schluss für das erste, ein wenig hervorgehobenes „ewiglich“ für das zweite, munteres Plaudern für das dritte und viel Heftigkeit für den Schluss des vierten Lieds. Untertreibend und recht trocken nimmt sich der Tenor des Frühlingsüberschwangs im fünften Lied an, während er sich beim letzten Stück zwischen beschaulich reflektierend und martialisch bewegt, wobei er an seine Grenzen gerät, was das Volumen der Stimme betrifft.
Angemessen theatralisch und kontrastreich beginnt Johannsen mit von Kruffts Der Abend, der aus dem Zyklus mit sechs Gedichten von Schiller stammt. Von fast lautlos bis hochdramatisch reicht das Spektrum, es geht mehr um die Herausarbeitung von kontrastreichen Einzelheiten als das Schaffen einer Gesamtstimmung. In Des Sägers Lohn auf den Text von Motte-Fouqué werden die Kontraste auch in der Begleitung von Matthias Krampe besonders effektreich ausgestellt. Recht gefällig erscheinende Rokokomusik scheint der Komponist für das Sturm-und-Drang-Lied Rastlose Liebe geschrieben zu haben, die Interpreten werden auch dem Text angenehm gerecht. Auch für Schillers Sehnsucht versuchen Sänger und Pianist mehr aus der Musik herauszuholen, als in ihr zu stecken scheint. In Des Mädchens Klage wird schön differenziert zwischen wörtlicher Rede und Erzähltext.
Es geht weiter mit Kreutzers Frühlings-Glaube, dem Beschwingtheit verliehen wird, in dem die Stimme aber auch scharf werden kann. Ein schönes Piano zelebriert sie in Ruhethal, wie alle Kreutzer-Lieder auf einen Text von Ludwig Uhland.
Wohl zu Recht wenig bekannt ist Schuberts Viola, in dem nicht enden wollend, genau eine Viertelstunde lang, das Sterben eines Schneeglöckchens betrauert wird. Dafür fasst sich Schubert mit seiner Adelaide zwei Minuten kürzer als Beethoven und Daniel Johannsen beweist noch einmal, dass er wohl vor allem für Lied und Konzert, weniger für die Oper bestimmt ist (Spektral SRL4-21791). Ingrid Wanja

Andreas K. W. Meyer

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Der Schock könnte nicht größer sein – Operndirektor Andreas Meyer starb an den Folgen eines Herzversagens. Ein Freund, ein wunderbarer, humorvoller Mensch und ein kenntnisreicher Musikmann ist tot. Rund 20 Jahre kannte ich ihn, zuletzt in Bonn, davor in Berlin und Kiel. Was für eine Lücke hinterlässt dieser Champion für die Oper, namentlich für die unbekannte. Deren Titel sich immer wieder auf seinen Spielplänen fanden. Eigentlich fehlen da die Worte. Deshalb nachstehend die Pressemitteilung des Theater Bonn. Die eigenen bleiben im Halse stecken. G. H.

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Mit großer Bestürzung teilt das Theater Bonn den Tod seines Operndirektors Andreas K. W. Meyer mit. Andreas Meyer verstarb mit 64 Jahren infolge von Herzversagen am Karsamstag, 8. April 2023. Als Dramaturg prägte Andreas Meyer seit der Spielzeit 2013/14 das Gesicht und die Geschicke des Bonner Opernhauses entscheidend mit. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Wiederbelebung zu Unrecht in Vergessenheit geratener Werke der Opernliteratur, vorrangig des frühen 20. Jahrhunderts. Zu Beginn seiner Bonner Zeit brachte das Haus Opern wie DER TRAUM EIN LEBEN von Walter Braunfels, Emil Nikolaus von Rezniceks HOLOFERNES oder Hermann Wolfgang von Waltershausens OBERST CHABERT zur Aufführung. Diese Arbeit verdichtete sich in den vergangenen Jahren in der vielbeachteten Reihe FOKUS ´33 – Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben. Große Beachtung erfuhren zuletzt unter anderem Inszenierungen von Rolf Liebermanns LEONORE 40/45, Giacomo Meyerbeers EIN FELDLAGER IN SCHLESIEN und Alberto Franchettis ASRAEL. Besonders am Herzen lag Meyer die Wiederaufführung von Clemens von Franckensteins LI-TAI-PE. Zuletzt arbeitete er mit Hochdruck an der ersten ungestrichenen Wiederaufführung von Franz Schrekers DER SINGENDE TEUFEL. Das Haus wurde für diese Arbeiten mehrfach ausgezeichnet.

Andreas K. W. Meyer, 1958 in Bielefeld geboren, war Musikdramaturg und -publizist. Nach einem privaten Kompositionsstudium bei Rudolf Mors studierte er ab 1981 Musikwissenschaft, unter anderem bei Klaus Hortschansky sowie Kunstgeschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 1987 begann er eine Tätigkeit als freier Kritiker, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und verschiedene Rundfunkanstalten, vornehmlich für den WDR und den BR.

Von 1993 bis 2003 arbeitete er als Musikdramaturg an der Oper Kiel: zunächst unter Generalintendant Peter Dannenberg, ab 1995 als leitender Musikdramaturg sowie ab 2002 als Chefdramaturg Musik und stellvertretender Opernintendant unter der Intendantin Kirsten Harms. 2004 wechselte er zusammen mit ihr an die Deutsche Oper Berlin, deren Chefdramaturg er bis 2012 war. Zur Spielzeit 2013/14 bat ihn Bernhard Helmich als Operndirektor und stellvertretender Generalintendant ans Theater Bonn.

Vor allem die Wiederentdeckung von Franco Alfanos CYRANO DE BERGERAC sowie ein Zyklus mit weniger bekannten Werken von Franz Schreker und die Neubefragung von Gian Francesco Malipieros I CAPRICCI DI CALLOT oder Richard Strauss’ DIE LIEBE DER DANAE verhalfen der Oper Kiel zu erheblichem überregionalem Interesse. An der Deutschen Oper Berlin kamen Alberto Franchettis GERMANIA und Alexander von Zemlinskys DER TRAUMGÖRGE hinzu. Die SZENEN AUS DEM LEBEN DER HEILIGEN JOHANNA von Braunfels wurden bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahre 2008 zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt.

Zu den Veröffentlichungen von Andreas K.W. Meyer gehören unter anderem Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen (Herausgeber, zusammen mit Christoph Munk), Kiel 2001; Wie man die Geschichte erzählt, Kiel 2003; Aufsätze in verschiedenen Publikationen, darunter: Frederick Delius: Music, Art and Literature, Aldershot 1998; Musik des Aufbruchs. Franz Schreker. Grenzgänge – Grenzklänge, Wien 2004./ Theater Bonn

Saverio Mercadantes „Proscritto“

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„Verdienstvoll“ ist das Wort, dass dem Opernfan bei dem hochspannenden Programm von Opera Rara einfällt. Immer wieder hat sich die englische Firma um die Lücken (weitgehend) im Kanon des Belcanto gekümmert und seit rund 30 Jahren viele, viele Opern aus dieser Epoche zum Leben erweckt, deren Titel nur die erbitterten Sammler kannten, oft nicht einmal diese. Deshalb muss man die Firma immer wieder hervorheben und loben ob ihrer vielfältigen Initiativen.

So auch nun, wenn nach dem erfolgreichen Konzert von Saverio Mercadantes Oper Il proscritto 2022 in London diese Oper mit schönem Booklet und einem wie stets hochinformativen Aufsatz des eminenten Musikwissenschaftler Roger Parker auf 2 CDs herausgekommen ist. Nachstehend erst einmal ein Auszug aus der Einleitung zur Oper von Roger Parker aus dem umfangreichen Booklet zur CD-Ausgabe, dann der dertailfreudige Konzerteindruck von Alan Jackson, Schatzmeister der ehrwürdigen Londoner Donizetti-Gesellschaft und danach eine kurze Einschätzung der Aufnahme selbst. G. H.

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Roger Parker: Saverio Mercadante (1795-1870), der erfolgreichste italienische Opernkomponist des 19. Jahrhunderts außerhalb der „großen Vier“ (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi) (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi), hatte eine wechselvolle Karriere. Unehelich geboren (sein adeliger Vater und seine Hausangestellte als Mutter hätten selbst eine Opernhandlung bevölkern können), gelang es ihm, eine Ausbildung am Konservatorium von Neapel zu erhalten und um 1820 schlug er eine Opernkarriere ein, zwangsläufig als Nachfolger und Nachahmer Rossinis. Sein größter früher Erfolg war die komische Oper Elisa e Claudio, deren Triumph an der Mailänder Scala 1821 zu zahlreichen neuen Aufträgen führte. Der internationale Erfolg schien schien gesichert, als der neapolitanische Impresario Domenico Barbaja ihn für eine Saison am Wiener Kärtnerthortheater engagierte 1824. Aber das ging schief (die von Rossini besessenen Wiener waren noch nicht bereit, einen italienischen Nachfolger in Erwägung zu ziehen), und als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, war er bereits wieder auf dem Weg nach Italien.

Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, hatte sich dort ein rivalisierender Komponist, Giovanni Pacini, etabliert. Und so ging die Achterbahn weiter. Erfolgreiche Aufenthalte auf der iberischen Halbinsel erhöhten seinen Einsatz erneut, und 1833 wurde er zum Maestro di cappella am Dom von Novara ernannt, eine Position, die zwar eindeutig die Produktion von religiöser Musik erforderte, die ihm aber auch die Möglichkeit gab, regelmäßig zu verreisen, um seine seine Opernkarriere fortzusetzen. Ein weiterer Wendepunkt war das Jahr 1836: Rossini, inzwischen im Ruhestand und die „éminence grise“ am
Théâtre Italien in Paris, arrangierte für ihn eine Uraufführung in diesem prestigeträchtigen Theater (wie schon Bellini und Donizetti im Jahr zuvor). Aber die Wirkung der von ihm produzierten Oper I briganti war nur bescheiden.
1840, an einem anderen Wendepunkt, wurde Mercadante zum Direktor des Konservatoriums von Neapel ernannt (eine Position, für die sich Donizetti lange eingesetzt hatte). für die sich Donizetti seit langem eingesetzt hatte) und begann, sich verstärkt pädagogischen Aufgaben und der Komposition von Instrumentalmusik zu widmen. Er spielte mit dem Gedanken, die Opernkomposition ganz aufzugeben, kehrte aber schließlich zum Komponieren für die Bühne zurück, wenn auch in einem viel langsameren Tempo. Il proscritto, das am 4. Januar 1842 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt wurde, war die erste Oper, die in dieser neuen Phase des von Mercadantes Leben und wurde deshalb mit Spannung erwartet. Sie war vielversprechend, nicht zuletzt wegen des schönen Libretto von Salvadore Cammarano, das (wie im vorangegangenen Aufsatz besprochen) auf einem neueren französischen Melodram mit dem Titel Le Proscrit basiert, das von Soulié und Dehay geschrieben und 1839 in Paris uraufgeführt wurde.

Mercadante: „Il proscritto“: Elisabetta Buccini und Antonietta Ranieri Marini, Malvina und Odoardo der Uraufführung 1842/ Opera Rara

Im Mittelpunkt des Dramas steht eine klassische Dreiecksbeziehung, die sich – bei Soulié und Dehay – in die napoleonische Zeit verlegt, spielt es im „exotischen“ Schottland zur Zeit von Oliver Cromwell. Herrschaft von Oliver Cromwell. Die gequälte Heldin Malvina ist zwischen zwei politischen Gegnern hin- und hergerissen: Giorgio, ihr erster Ehemann und leidenschaftlicher Royalist, wird auf See totgeglaubt; Arturo, ihr Verlobter, ist – natürlich – ein überzeugter Cromwellianer. Der vierte Hauptdarsteller ist eine sogenannte „Hosenrolle“, Malvinas jüngerer Bruder Odoardo. Die für die Verkörperung dieser gegensätzlichen Charaktere ausgewählten Darsteller war in der Tat erstklassig. Die Malvina wurde von der Mezzosopranistin Antonietta Ranieri Marini gesungen, die in den Jahren zuvor die weibliche Hauptrolle in Verdis ersten beiden Opern, Oberto, conte di San Bonifacio und Un giorno di regno. Giorgio wurde von dem baritonalen Tenor Giovanni Basadonna gesungen, der einige Jahre zuvor die Titelrolle in Donizettis Roberto Devereux verkörpert hatte; Arturo war ein weiterer Tenor, Gaetano Fraschini, der damals am Anfang einer bedeutenden Karriere stand, die ihn zu einem imposanten tenore di forza werden ließ (er sang die Titelrolle in Verdis Stiffelio und war der erste Riccardo in Un ballo in maschera). Die vierte Hauptrolle sang Eloisa Buccini, eine Altistin der ersten Stunde, die in dieser Zeit an vielen bedeutenden Opernhäusern auftrat. (…)
Was ist von Il proscritto zu halten, wie es jetzt, nach fast 200 Jahren völliger Vergessenheit, auftaucht? Ein Punkt muss hervorgehoben werden. Die Tatsache, dass die Oper nach ihrer Uraufführung nicht wieder aufgenommen wurde, ist keineswegs ungewöhnlich und sollte nicht überbewertet werden. Dieses Schicksal ereilte schließlich die meisten dramatischen Werke im Italien des frühen 19. In einer Kulturwirtschaft in der (ähnlich wie heute im Kino) das größte Interesse stets neuen Schöpfungen galt, den eigens für den Anlass geschriebenen Werken, mussten viele mussten viele Opern verdrängt werden, um Platz für den ständigen Zustrom von Neuem zu schaffen. Auf der anderen Seite geht aus den Rezensionen und Berichten über die Reaktion des Publikums geht hervor, dass Mercadantes Idiom ungewöhnlich war und als etwas schwierig galt.

Mercadanrtes Oper „Il proscritto“: Giovanni Basadonna und Gaetano Fraschini, Giorgio und Arturo 1842/ Opera Rara

Das Schlimmste von allem, zu einer Zeit, als die große neapolitanische Opernschule offensichtlich im Niedergang begriffen war, wurde dem Komponisten vorgeworfen, mit dieser Oper seine Heimat zu verraten und zu versuchen, „nördlichen“ Einflüssen nachzueifern. Warum dieser Vorwurf gerade an Il proscritto angehängt wurde, bleibt ein Rätsel, aber wie dem auch sei, wir haben es hier mit eindeutig lokalen Belangen zu tun; die neapolitanischen Urteile von 1842 dürften uns 180 Jahre später kaum noch berühren, da uns die Geschichte all dessen, was sich seither auf dem Gebiet der Oper ereignet hat, noch in den Ohren klingt. Wir müssen versuchen, neu zu denken.
In diesem Zusammenhang ist es auffällig und paradox, dass Mercadante mit seiner neuen Oper zumindest in gewisser Hinsicht seine „Reform“-Agenda des vorangegangenen Jahrzehnts zurück. So sind zum Beispiel die Solonummern (vor allem die von Arturo und Giorgio im ersten Akt) sind voller lyrischer Inspiration, und obwohl sie in der Tat einige auffällige harmonische und orchestrale Ablenkungen aufweisen, dienen diese dazu die melodischen Ergüsse eher zu unterstützen als zu untergraben. Darüber hinaus hat die Oper, entgegen dem oben zitierten Manifest von Mercadante Oper ihren Anteil an überschwänglichen Cabalettas, beginnt mit einem markanten Krach der Banda und ist (wenn es die Stimmung erfordert) großzügig mit der großen Trommel und den Becken. Es stimmt aber auch, dass eine der größten Stärken der Partitur die Abfolge der Duette ist, und hier wird die „Reform“-Agenda deutlicher sichtbar.

Mercadante Oper „Il Proscritto“: Seite aus der ersten gedruckten Klavierfassung bei Ricordi/ Opera Rara

Es gäbe noch so viel mehr über diese bemerkenswerte Oper zu sagen. Darüber, wie die ungewöhnliche Mischung der führenden Sänger, die beiden sich bekriegenden Tenöre und die Konzentration auf die tieferen Lagen der Frauenstimme mit einer konsequenten Vorliebe für „dunkle“ Tonarten einhergeht (bis hin zu d-Moll im Finale des zweiten Akts). Was die schiere Kühnheit einiger harmonischer Exkursionen angeht: Achten Sie auf dezente harmonische Akzente in vielen Orchesterpassagen, in einem Fall sogar ein Verweilen auf dem Tristan-Akkord; oder die außerordentlich stimmungsvolle orchestrale Eröffnung des Duetts zwischen Malvina und Giorgio im zweiten Akt, die Giorgios unruhigen Schlaf illustriert. Über den den ständigen Erfindungsreichtum von Mercadantes „Brücken“-Passagen zwischen den lyrischen Abschnitten, die nie in Routine verfallen und oft ein unter solchen Umständen völlig ungewöhnliches Maß an musikalischer Originalität. Vielleicht vor allem die Art und Weise, wie die Musik auf die ungewöhnliche psychologische Komplexität der Hauptfiguren eingeht. Malvina, Giorgio und Arturo beginnen die Oper in einem Situationen, die man als klassisch melodramatisch bezeichnen könnte; aber in jedem Fall werden ihre Überzeugungen in Frage gestellt, was zu seltsamen Umkehrungen und schaffen Situationen, in denen sie eine psychologische Tiefe zeigen, die in dieser Opernperiode wirklich selten ist. Mercadante reagiert auf die Herausforderung dieser Komplexität, insbesondere durch seine Fähigkeit, lange Momente der freien Deklamation aufrechtzuerhalten Deklamation aufrechtzuerhalten, in denen die emotionalen Haltungen der Figuren im Fluss sind. Das Ergebnis ist eine Oper, die, obwohl sie fast unmittelbar nach ihrer Entstehung von der Bildfläche verschwunden ist, dennoch eine starke Wirkung auf das Publikum des 21. Jahrhunderts zu vermitteln und vielleicht sogar ein Umdenken in der historischen Landschaft zu bewirken, die so viel von unserem Standard-Opernrepertoire hervorgebracht hat. © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

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Mercadantes Oper „Il proscritto“: Das Konzert 2022/ Foto Russell Duncan/ OR

Alan Jackson zum Konzert 2022: Als  Opera Rara ihre konzertante Aufführung von Donizettis Les Martyrs kurz nach den Aufnahmesitzungen im Jahr 2014 vorstellte, gab es einen Moment, in dem das die konzertante Aufführung Feuer fing. Die erste Hälfte war schon beeindruckend, die Größe, Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit von Donizettis Partitur wurde gut eingefangen. Dann, kurz nach der Pause, begann Michael Spyres seine Cabaletta „Oui, j’irai dans leurs temple“, und irgendwie wurde das Publikum stärker einbezogen als vorher. Als er die Cabaletta mit einem hohen E beendete, war die Atmosphäre elektrisierend, und wir Zuhörer brachen in frenetischen Beifall aus.

Etwas Ähnliches geschah 2023 im (Konzertsaal des) Barbican. Der erste Akt von Il proscritto enthält eine wunderschöne Kavatine für den zweiten Tenor, ein reizendes Duett für Mezzosopran und Alt und ein imposantes concertato, die alle großartig vorgetragen wurden. Gleich nach der Pause folgt ein Duett für die beiden Tenöre, und die Funken sprühen nur so. Nicht, dass es irgendwelche stratosphärischen Höhen gäbe (in der Tat liegt keiner der beiden Tenöre besonders hoch), aber ihre Konfrontation ergriff uns zutiefst, das Publikum explodierte und der Beifall nahm kein Ende. Und genau wie bei Les Martyrs wurde diese neue Intensität bis zum Ende des Abends beibehalten. Sie steigerte sich sogar noch, als die Altistin uns in ihrer Arie mit ihren weit ausholenden und extrem schnellen Koloraturen verblüffte.

Die Handlung von Il proscritto, die im Schottland des 17. Jahrhunderts mit seinen Spannungen zwischen Royalisten und Cromwells spielt, dreht sich um die Heldin Malvina. Ihr erster Ehemann Giorgio, ein Royalist, wird seit langem bei einem Schiffsunglück für tot gehalten. Ihre Familie will, dass sie Arturo, einen Cromwellianer, heiratet, und Malvina hat sich in Arturo verliebt, obwohl sie sich schuldig fühlt, wenn sie an ihren ersten Mann denkt. Da es sich um ein romantisches Melodrama handelt, ist Giorgio natürlich noch am Leben und taucht am Hochzeitstag von Malvina und Arturo auf. Die beiden Tenöre schwanken zwischen antagonistischer Rivalität und Verständnis für Malvinas Notlage; sie löst das Dilemma der Wahl, indem sie am Ende der Oper Gift nimmt. Der vierte Hauptdarsteller ist Odoardo, Malvinas Bruder, dessen dramatische Funktion darin besteht, Malvina zu trösten und zu beschützen. Das Libretto von Salvadore Cammarano setzt gekonnt eine Reihe von Duetten und großen Ensembles ein. Ungewöhnlich ist die Verteilung der Stimmlagen. Giorgio und Arturo sind beide Tenöre, Malvina ist ein Mezzosopran und Odoardo ist ein Alt, eine späte Blüte der Musico-Tradition. Die Duette von Malvina mit Giorgio und Arturo sind dramatisch und konfrontativ, ebenso wie das von Giorgio und Arturo. Malvinas Duett mit Odoardo steht in der Tradition des Ottocento mit Duetten für zwei Frauenstimmen – man denke an Anna Bolena, Norma, Il giuramento, Pia De’Tolomei.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Gruppenbild/ Foto Russell Duncan/ OR

Die Sänger, alle wirklich ausgezeichnet, waren Irene Roberts (berührend als Malvina), Elizabeth DeShong (sensationell in Odoardos großer Arie), Ramón Vargas und Iván Ayón-Rivas (ebenfalls sensationell in ihrem großen Duett als Giorgio bzw. Arturo). Kleinere Rollen, die sehr stark besetzt waren, wurden von Sally Matthews, Goderdzi Janelidze, Susanna Gaspar, Alessandro Fisher und Niall Anderson übernommen. Der Opera Rara Chor und die Britten Sinfonia waren beide großartig, und der wunderbare Dirigent war der künstlerische Leiter von Opera Rara, Carlo Rizzi. All dies zusammen machte den Abend zu einem großartigen Erlebnis. Dieser Aufführung gingen einwöchige Aufnahmesitzungen voraus, und ich freue mich schon auf die Veröffentlichung der CDs.

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Und was ist mit der Oper selbst? Carlo Rizzi und Roger Parker (Repertoireberater von Opera Rara und Autor des Programmheftes des Abends) haben über die Freude geschrieben, die sie bei der Arbeit an der Partitur empfanden, nachdem sie das autographe Manuskript im Archiv des Konservatoriums von Neapel gefunden hatten. Sie verweisen auf den melodischen Erfindungsreichtum, die harmonischen Feinheiten und die reiche Instrumentation sowie auf Mercadantes Fähigkeit, große konzertante Sätze und Duette zu konstruieren, die die übliche Aufteilung in einzelne Sätze zugunsten psychologischer Einsichten und Wahrheiten verwischen. Einiges davon folgt den Reformen, die er fünf Jahre vor Il proscritto in seinem Manifest niederschrieb. Hier sagte er: Mit Il giuramento [habe ich] die Formen variiert, triviale Cabaletten abgeschafft, die crescendi verbannt; Prägnanz, weniger Wiederholungen, etwas Neues in den Kadenzen; die dramatische Seite gebührend berücksichtigt; die Orchestrierung reicher, ohne die Stimmen zu überschwemmen; lange Soli in den Ensemblenummern vermieden, da sie die anderen Stimmen zwangen, kalt daneben zu stehen, zum Nachteil der dramatischen Handlung; nicht viel große Trommel und Becken, und sehr wenig Banda [Bühnenbanda].

Man kann darüber diskutieren, wie sehr Mercadante sich in Il proscritto an dieses Credo hält. Ich werde darauf vertrauen, dass die Formen in den Duetten variiert werden – ich war zu sehr mit dem Fortgang des Dramas beschäftigt, um es an diesem Abend zu bemerken. Sicherlich gibt es noch viele cabalettas, aber ich gebe zu, dass ich cabalettas selten trivial finde! Prägnanz? Nicht in den großen Ensembles; darauf werde ich weiter unten zurückkommen. Es gibt reichlich große Trommeln und Becken. Was die Banda anbelangt, so wird die Oper mit einem Chor eröffnet, der mit riesigen und unerwarteten Banda-Unterbrechungen versehen ist, die noch deutlicher hervortreten, da die Musiker im Kreis und nicht außerhalb der Bühne positioniert sind: wenn schon nicht „Reform“, so doch auffallend und neuartig. Mercadantes Orchestrierung ist dichter und reichhaltiger als in mehr oder weniger zeitgenössischen Opern von Donizetti (was sie nicht per se besser macht) und viel dichter als in Bellinis Opern ein paar Jahre zuvor. Abgesehen von Odoardos Arie gibt es wenig oder gar keine fioritura in den Gesangslinien. Aber vielleicht spielt das alles keine Rolle. Ich habe die Musik geliebt und fand sie bei einmaligem Hören sehr beeindruckend; ich verließ den Saal mit einem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Team der Opera Rara und allen Musikern, die diese Wiederbelebung einer 180 Jahre lang ungehörten Oper möglich gemacht haben. Die nächste Etappe sollte eine Theateraufführung sein.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Ramon Vargas und Dirigent Carlo Rizzi/ Foto Russell Duncan/ OR

Aber hier habe ich zwei Vorbehalte. Der erste ist, dass ich trotz des melodischen Reichtums nicht finde, dass sie in meinem Gedächtnis haften bleibt, und ich verlasse den Saal (entweder in der Pause oder am Ende des Abends) gerne mit einer Melodie, die in meinem Kopf schwirrt, etwas, das immer beim ersten Hören einer Verdi-Oper passiert ist und fast immer bei Donizetti. Bei Mercadante war das nur bei Il giuramento (das Duett für Bianca und Elaisa gegen Ende der Oper – 2002 live in Wexford gehört) und Orazi e Curiazi (eine Phrase im concertato des 1. Aktes, wie sie auf der Opera Rara-Aufnahme zu hören ist – und letzteres ist ein (vielleicht unbeabsichtigter) Kopie von Rossinis La donna del lago! (Siehe meinen Artikel im Newsletter 140).

Mein zweiter Vorbehalt betrifft den schieren Umfang dieser wunderbaren konzertanten Sätze. Ich habe sie im Konzert nicht gemessen, aber sie schienen ähnlich lang zu sein wie der im Finale des 1. In der Opera Rara-Aufnahme dauert es über 8 Minuten. Vergleichen Sie dies mit dem concertato in Donizettis Lucia, dem berühmten Sextett, das weniger als 4 Minuten dauert. Ich fürchte, dass 8+ Minuten einfach zu lang sind, um die Bühnenhandlung aufrechtzuerhalten, während Donizetti die Balance zwischen Aktion und Reflexion genau richtig hinbekommt. Übrigens ist die Struktur beider Sätze im Grunde die gleiche: A1A2B1B2C1C2, gefolgt von einer Kadenz und einer coda (obwohl die coda vielleicht eine etwas zu große Bezeichnung für die beiden Akkorde ist, die das Lucia-Sextett beenden). Jeder Teil des Orazi-Stücks ist doppelt so lang wie sein Gegenstück in Lucia. Das macht es zu einem wunderbaren Hörerlebnis, ob im Konzertsaal oder zu Hause auf CD, aber ich habe meine Zweifel, ob es auf der Bühne dramaturgisch sinnvoll ist.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein wunderbarer Abend war. Il proscritto reiht sich in eine lange Liste von Opera Rara-Wiederentdeckungen ein und schien mir schon beim ersten Hören ein vollwertiges Beispiel dafür zu sein, was Opera Rara ausmacht. Ich freue mich sehr auf die CD-Veröffentlichung und darauf, die Oper besser kennen zu lernen. Und ich freue mich darauf, den Tristan-Akkord zu entdecken, den Roger Parker uns verspricht, auch wenn ich ihn an diesem Abend verpasst habe. Alan Jackson/ Übersetzung G. H.

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Mercadantes Oper „Il proscritto“: der französische Dramatiker Fréderic Soulier (1800 – 1847)/ Opera Rara

Alas, nun ist hinterlässt ja ein Konzert als einmaliges und emotional befeuertes Hör-Erlebnis einen ganz anderen Eindruck als das wiederholte Abhören einer Studio-CD im eigenen Wohnzimmer mit Lautsprechern, Gardienen und Topfblumen. Es gibt einen akustisch exzellenten privaten Mitschnitt der oben erwähnten Aufführung aus dem Londoner Barbican von 2022, der Alan Jacksons Begeisterung nachvollziehen lässt, weil ganz offensichtlich der Abend alle Beteiligten zu großem, absolut nachvollziebarem Engagement geführt hat. Ich hab ihn oft und mit viel Vergnügen  abgehört. Sowohl Carlo Rizzi mit superben, flotten Tempi und einer gut aufgefächerten Dynamik wie auch die Sänger zeigen sich in Bestform. Die Saal-Akustik tut neben der ganz offensichtlichen Begeisterung der Zuhörer das Ihre zu einem rasanten Erlebnis, das auch den Hörer enthusiasmiert mit dem Fuß wippen lässt.

Alas, würde der Engländer sagen, live ist eben nicht Studio. Nun – kalt aufgenommen und sicher auch dem Regiment des Tonmeisters/ Produzenten unterworfen – wirkt die neue Aufnahme auf mich eher unbelebt, weniger spontan, vielleicht in einzelnen takes zu oft zur gewünschten Perfektion wiederholt, wie das bei Studioaufnahmen leider üblich ist, wo der letzte Ton bis zur Erschöpfung wiederholt wird, bis er „sitzt“ – auf Kosten von Spontanität und Ausdruck. Wie bei jpc (die auch keine Live-Mitschnitte präferieren) ist dies eine No-public-Studioeinspielung der getragenen, etwas rumsigen Tempi, die die Defizite der Sänger greller beleuchtet als sie in einem schmissigen Konzert auffallen, wo das mitreißende Engagement des Moments über weniger Perfektes hinwegträgt (Nicolais Rückkehr des Verdammten aus Chemnitz oder Meyerbeers Vasco da Gama bei jpc sind hier die besten Beispiele, wo die Live-Konzerte viel überzeugender waren als die „kalten“ Aufnahmen zwischen den Aufführungen im leeren Saal).

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Der Librettist Salvatore Cammarano (1801 – 1852/ Opera Rara

Das betrifft vor allen den Tenor, dessen Mittel doch viel fortgeschrittener sind als erinnert, und die Mikros im Studio tun ihm (bei recht steifer Höhe) absolut keinen Gefallen. Auch Irene Roberts „(berührend als Malvina)“ und  Elizabeth DeShong „(sensationell in Odoardos großer Arie)“ unterscheiden sich im dunklen Timbre für mich zu wenig, um sie ohne Libretto in der Hand auseinander zu halten (zumal die Handlung auch gelinde gesagt etwas verwirrend ist). Irene Robert ist mir viel zu unitalienisch-gauming, zu unruhig im Ton und beide zu wenig dem Wort verpflichtet. Für Miss DeShong gilt nämliches. Auch wurden meine alten Vorurteilen gegen Sally Mathews auf dieser Einspielung nicht widerlegt: gaumig-quallig. Allerdings schlägt sich Iván Ayón-Rivas als Giorgio recht tapfer und bringt eine solide dunkle Note ins Geschehen bringt. Aber die Besetzung bis auf Vargas und Ayón-Rivas ist mir zu cis-alpin, zu insular, zu blutarm, zu wenig Neapel oder Palermo. Das ist natürlich Geschmackssache und für mich oft bei den Besetzungen von Opera Rara zu bemängeln. Bei allem Maulen ist dies dennoch eine außerordentlich lobenswerte Ergänzung zum immer umfangreicher werdenden Katalog der Mercadante-Opern. Und man muss schon deshalb wieder einmal Opera Rara für die Initiative selbst und die wie stets tolle Ausstattung des CD-Klappmanns (ganz ökologisch keine dicke Box mehr) loben. Ecco. G. H.

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Die Handlung: Die Oper spielt in der Mitte des 17. Jahrhunderts, während der Herrschaft Oliver Cromwells, in einem Schloss in der Nähe von Edinburgh sowie dessen Umgebung. Einige Zeit vor Beginn der Handlung hatte Malvina Douglas den für die Sache der Royalisten einstehenden Giorgio Argyll geheiratet, der jedoch in einen Schiffbruch geriet und totgeglaubt ist. Malvinas Mutter Anna sowie deren
Sohn aus einer früheren Ehe, Guglielmo Ruthven (ein Unterstützer Cromwells), drängen sie nun, Arturo Murray zu ehelichen (der ebenfalls auf der Seite Cromwells steht). Die Handlung beginnt am Tag von Malvinas und Arturos geplanter Hochzeit.

Zu Mercadantes „Proscritto“: Oliver Cromwell, Gemälde von Samuel Cooper 1656/ Wikipedia

1. Akt Festlich erleuchtete Gärten. Auf einer Seite führt eine prächtige Treppe zum Schloss hinauf, vor dem eine Bühne aufgebaut ist; darauf hat ein Orchester Platz genommen. Im Hintergrund liegt ein See, man sieht zahlreiche Boote, aus denen Damen, Ritter und Verwandte der Familie Murray steigen. Die Familie Ruthven begibt sich vom Schloss herab, um die Gäste feierlich willkommen zu heißen. Osvaldo gehört zu den Wachposten, die die Szene umgeben. Die versammelte Menge feiert die Hochzeit, die Malvina und Arturo gleich begehen werden (Chor: „D’amistàle soavi catene“). Guglielmo drängt Osvaldo jedoch zu Wachsamkeit, da in der Umgebung royalistische Rebellen entdeckt wurden. Arturo tritt auf und besingt seine Liebe zu Malvina (Cavatine: „Son del tuo volto immagine“). Ein großer Raum in den Gemächern Malvinas. Rechterhand eine Tür, die zu den inneren Räumen führt, auf der anderen Seite ein Eingang, der auf einen Korridor hinausgeht.
Die Szene beginnt mit einem Gespräch zwischen Clara, einer einstigen Bediensteten Giorgios und jetzigen Zofe Malvinas, und Odoardo, Malvinas jüngerem Bruder, der zu ihrer bevorstehenden Hochzeit aus London herbeigeeilt ist. Malvina tritt ein und schildert Odoardo den Schiffbruch, bei dem Giorgio ums Leben gekommen ist. Dann berichtet sie ihm von den Plänen ihrer Mutter und Guglielmos, sie mit dem
Cromwell-Unterstützer Arturo zu verheiraten. Zunächst habe sie ob dieses Ansinnens Gift nehmen wollen, doch im Laufe mehrerer Begegnungen mit Arturo sei zwischen ihnen ein Gefühl von Liebe entstanden. Allerdings wird Malvina beim Gedanken an ihren früheren Mann von Schuldgefühlen gequält. Odoardo versucht, sie zu trösten (Duett: „Il mar che freme“). Frauen kommen hinzu und führen Malvina zu ihrer Hochzeit. Giorgio trifft ein, Osvaldo begrüßt ihn. Giorgio bittet, mit Clara sprechen zu dürfen, weigert sich aber, seinen Namen zunennen. Osvaldos Verdacht ist geweckt, er geht davon. Giorgio ist voll Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner geliebten Malvina (Romanze: „L’aura ch’io spiro“), er ist überzeugt, dass ihn nach allem, was er durchgemacht hat, keiner der Gäste erkennen wird. Malvina kommt nach der Hochzeitszeremonie hinzu. Vor Entsetzen, so unvermittelt Giorgio gegenüberzustehen, schreit sie auf,
doch dann hört sie sich nähernde Schritte und bringt ihn, um seine Sicherheit fürchtend, in ihre Gemächer. Die Hochzeitsgesellschaft kommt, Osvaldo erzählt Guglielmo im Flüsterton, dass sich der unbekannte Gast wohl in Malvinas Räumen aufhalten müsse. Malvina will ihre offensichtliche Erregung leugnen, sinkt aber halb ohnmächtig in die Arme der sie umgebenden Frauen. Alle auf der Bühne Versammelten schildern ihre widerstreitenden Gefühle – Verzweiflung (Malvina), Bestürzung (Odoardo, Arturo), Verdacht (Guglielmo, Osvaldo) und Sorge (Anna, Clara) (Concertato: „Omai l’arcan terribile“). Guglielmo und Osvaldo beauftragen Bewaffnete, Malvinas Räume zu durchsuchen, doch Odoardo stellt sich schützend vor die Tür. Schwerter werden gezogen, da erscheint unvermittelt Giorgio. Er gibt seine Identität nicht preis, sagt aber, die Witwe Giorgio Argylls könne die Wahrheit über ihn offenbaren. Guglielmo befiehlt, den Fremden festzunehmen, wogegen Giorgio sich zunächst wehrt, doch dann händigt er Odoardo sein Schwert aus und fordert seine Widersacher auf, ihn zu töten und seinen Kopf vor das Brautpaar zu legen. Der Akt endet in allgemeinem Durcheinander („Il cor ne avvampa“).

Zu Mercadantes Oper „Il proscritto“: Titelblat zum Drama in 5 Akten, „Le proscrit“ von Fréderic Soulié und Thimothée Dehay/ Opera Rara

2. Akt Später am selben Tag. Ein Raum in den Gemächern, die Arturo überlassen wurden; er sitzt an einem Tisch, auf dem ein Schriftstück liegt. Osvaldo sagt Arturo, dass Guglielmo nach Edinburgh aufgebrochen sei, er wolle eine Truppe zusammenstellen, die den Fremden dorthin bringen solle. Als Osvaldo gegangen ist, liest Arturo einen Brief, den er von Malvina erhalten hat. Sie bittet ihn, dem Fremden zu helfen, der ein Freund ihres verstorbenen Ehemannes sei. Giorgio wird hereingebracht, und als sie allein sind, bietet Arturo ihm an, ihn freizulassen. Das aber weist Giorgio wütend von sich und offenbart zugleich, dass Malvina ihn früher geliebt habe. Damit bricht ein offener Konflikt zwischen den beiden Männern auf (Duett: „Ah! perché rovente acciaro“). Arturo verspricht Giorgio, ihm ein Schwert zu geben, damit sie bei Tagesanbruch ein Duell auf den Tod führen können. Mächtige Klippen, die zum Teil über das Meer hinausragen. Es ist Nacht, der Mond ist von Wolken bedeckt. Aus einer Höhle, deren Eingang hinter Dickicht verborgen liegt, treten Männer ins Freie, sie sind in Umhänge gehüllt: Dies sind die Verbannten, Giorgios Gefährten.Die Männer beschwören die dunkle Nacht und ihr Wanderdasein (Chor: „Ha steso la notte“). In der Ferne hören sie Dudelsäcke spielen, die stetig näherkommen. Odoardo trifft ein und sagt, dass er ihnen helfen könne, Giorgio zu retten. Zum Beweis seiner Vertrauenswürdigkeit berichtet er ihnen, dass Giorgio seinem und Malvinas Vater zu Hilfe gekommen sei, ihn vor den Henkern des Königs gerettet und um dessen Leben gefleht habe (Arie: „Ahi! del giorno sanguinoso“). Die Verbannten billigen Odoardos Rettungsplan und brechen zum Schloss auf. Im Inneren eines Turms. Rückwärts ein Balkon, seitlich eine Tür. Giorgio schläft, er träumt unruhig von Malvina, als sie und Odoardo hinzukommen. Odoardo wirft eine Strickleiter vom Balkon hinunter, sagt Malvina warnend, dass bald der Morgen graut, und geht davon. Giorgio erwacht, und Malvina teilt ihm mit, dass seine Gefährten auf ihn warten. In einem leidenschaftlichen Duett („Stretto agli avanzi fragili“) schildert Giorgio seine Verzweiflung nach dem Schiffbruch und seinen Schmerz, sie jetzt zu sehen. Als sie ihm jedoch sagt, dass sie mit ihm fliehen werde, bittet er sie, bei ihrem jetzigen Gemahl zu bleiben, anstatt mit ihm das Leben eines Vagabunden zu führen. Sie weigert sich und tritt auf den Balkon, und in dem Moment treffen Arturo und Guglielmo mit ihrem Gefolge ein. Arturo wirft seiner Braut Verrat vor, doch Giorgio verteidigt ihre Ehre und sagt, sie habe mit ihrem Gemahl fliehen wollen. Diese Offenbarung seiner Identität führt zu einem weiteren großartigen Ensemble (Concertato: „Tutta in lui piombò del fato“). Dann händigt ein Offizier Arturo einen Brief von Cromwell aus, der ihm das Verhör des Gefangenen überträgt und, sofern dieser schuldig sei, auch dessen Hinrichtung. Malvina, Odoardo und der Chor flehen Arturo an, Gnade walten zu lassen, doch sowohl er als auch Giorgio stehen sich unverändert feindlich gegenüber.

Zu Mercadantes „Proscritto“: The Battle of Naseby 1645, die entscheidende Schlacht zwischen Royalisten und Cromwellianern, Gemälde von Charles Landseer (1799 – 1879)/ Wikipedia

3. Akt Früh am nächsten Tag. Ein großer Raum neben dem Turm, hinten eine Tür. Giorgio sitzt, Malvina steht in großer Erregung in der Nähe der Türschwelle. Jenseits davon patrouillieren zwei Wachposten. Giorgio und Malvina warten auf Arturos Entscheidung. Giorgio wünscht sich den Tod, doch Malvina nimmt ihm das Versprechen ab, dass er sich zu leben entscheidet, wenn sie ihm zeigen kann, dass seine Befürchtungen wegen ihrer Zukunft mit Arturo unbegründet sind. Odoardo tritt ein und sagt, dass Arturo nach Giorgio geschickt habe. Giorgio geht mit Odoardo ab. Allein zurückgelassen, beschließt Malvina, dass sie sich töten muss, wird aber von Arturo unterbrochen, der ihr sagt, es stünde ihr frei, mit Giorgio fortzugehen. Malvina lehnt das Angebot ab und gesteht schließlich, dass sie Arturo trotz Giorgios Rückkehr nach wie vor liebe. Arturo ist überglücklich, doch Malvina sagt ihm ernst, nur im Himmel könnten sie vereint sein (Duett: „Vanne dunque“).Malvina tritt ab, und Giorgio stürmt herein, er hat den letzten Teil von Malvinas Gespräch mit Arturo gehört. Wieder fordert er seinen Rivalen heraus, der ihn zu beschwichtigen versucht, sich aber schließlich doch zu einem Duell bis auf den Tod aufstacheln lässt. Gerade wollen sie aufbrechen, als Malvina leichenblass hereintaumelt. Sie sagt, sie habe Gift genommen, und fleht beide an, ihre Versprechen ihr, Malvina, gegenüber zu erfüllen. Als sie zu Boden sinkt, eilt Giorgio zu ihr und bedeutet Arturo zu gehen. Seine letzten Worte lauten: „Spenta o viva è mia tuttor!“ (Ob tot oder lebendig, sie ist auf ewig mein!). © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

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Saverio Merrcadante: Il proscritto; Melodramma tragico in three acts, Libretto by Salvadore Cammarano, Premiered on 4 January 1842, Teatro San Carlo, Naples; Carlo Rizzi dirigiert die Britten Sinfonia und den Opera Rara Chorus; Ramón Vargas Giorgio Argyll, Iván Ayón-Rivas Arturo Murray, Irene Roberts Malvina Douglas, Elizabeth DeShong Odoardo Douglas Sally Matthews Anna Ruthven, Goderdzi Janelidze Guglielmo Ruthven, Susana Gaspar Clara, Alessandro Fisher Osvaldo, Niall Anderson An official of Cromwell; Recorded in studio conditions at Henry Wood Hall, June 2022, Opera Rara, 2 CD ORC62; 

Dank vor allem an Roger Parker für seine großzügige Genehmigung, Teile seines Artikels und die Inhaltsangabe aus dem Booklet der neuen Aufnahme in unserer Übersetzung zu übernehmen; Dank auch an Alan Jackson, seine auf der website der Londoner Donizetti Gesellschaft veröffentlichte Kritik des Konzertes 2022 in ebenfalls unserer Übersetzung übernehmen zu dürfen. Foto oben: Tyrone Power und Maureen O´Hara in „The black swan“/ Henry King 1957/ Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.

Solo Strauss

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Ihre erste CD bei Sony war noch ein wildes Mit- und Durcheinander von italienischer, deutscher, slawischer Musik, und sogar ein bisschen Operette war auch dabei nebst einem Puccini-Duett mit Jonas Kaufmann. Auf der zweiten CD nun gibt es keinen Star-Kollegen als schmückendes Beiwerk dafür aber ein so nachvollziehbares wie sinnvolles Programm mit Richard Strauss‘ Vier letzten Liedern und der Mondscheinmusik plus anschließendem Monolog der Gräfin aus Capriccio. Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen der CD sollte eigentlich an der Deutschen Oper Berlin Arabella mit dem Sopran in der Titelpartie Premiere feiern. Diese aber sagte Rachel Willis-Sørensen ab, und peu à peu trat sie auch von allen weiteren Vorstellungen zurück.

Dabei beweist ihre Strauss-CD, dass die amerikanische Sängerin das Rüstzeug für den bajuwarischen Komponisten hat, sie sang bereits mehrfach die Marschallin und  2021 in Paris die Vier letzten Lieder, die sie zudem zur Geburtstagsfeier von damals noch Prince Charles im Buckingham Palace zu Gehör brachte.

Nicht nur die Lieder sind die letzten die Strauss komponierte, auch die Oper Capriccio ist sein letztes Bühnenwerk, 1942, ein Jahr vor  der Bombardierung der Münchner Staatsoper, entstanden, während die Lieder nach Kriegsende in den Jahren 1946 bis 1948 komponiert  und erst posthum von Kirsten Flagstad im Jahre 1950 uraufgeführt wurden. Fassungslos hatte der Komponist vor den Trümmern des Opernhauses gestanden, dessen Verlust er als den erschütterndsten seines Lebens empfand, das Schicksal Dresdens und Weimars beklagte er später, und man kann darüber spekulieren, wie viel von diesen Empfindungen in sein letztes Werk eingeflossen ist.

Es beginnt mit dem fast zwei Oktaven umfassenden Frühling, in dem der Sopran beweisen kann, dass er über die notwendigen Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit Strauss verfügt, über eine sichere Höhe, die ein A im Pianissimo nicht scheuen muss, ein reiches Farbspektrum, eine Reife und Fülle, die es mit einem robusten Orchesterklang aufnahmen können, das feine Umspielen von „selige“. Unüberhörbar ist aber leider auch die verwaschene Diktion, die man einem Strauss-Sopran notgedrungen in einer der berüchtigten Opernpartien noch verzeihen muss, nicht aber im Liedgesang, vor allem wenn der Dirigent Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig keinerlei Anlass dafür geben. In September erfreuen die weitgespannten Bögen und Klanggirlanden, das verhangene „trauert“ und das matte „leise“. Eine gute Mittellage und eine aufblühende Höhe werden für Beim Schlafengehen eingesetzt, während das Orchester zwischen der zweiten und dritten Strophe seine hervorragenden Qualitäten unter Beweis stellt. Das getragene Im Abendrot schließlich beeindruckt besonders durch das schöne Legato, den Schwellton auf „Freude“.

Wunderbar wie in Capriccio der Mondschein den Raum zu überfluten scheint, ehe der Haushofmeister mit der schlanken Stimme von Sebastian Pilgrim das Wort ergreift. Willis-Sorensen unterscheidet fein zwischen Sonettvortrag und Reflektion, hat im Konversationston auch immer eine leichte Melancholie und lässt die Stimme in der Höhe aufblühen. Vom beiläufig Plaudernden bis hin zur Emphase werden viele Möglichkeiten der Darstellung klug ausgeschöpft bis hin zum Fahlwerden des Soprans auf „Tod“. Alles in allem lässt die CD bedauern, dass man die Arabella von Rachel Willis-Sørensen (noch) nicht in Berlin erleben durfte (Sony 19439921722). Ingrid Wanja

Auf barocken Abwegen

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Verwundert nimmt man den Titel der neuen CD von Michael Spyres bei seiner Stammfirma ERATO zur Kenntnis: Contra-Tenor? Schon bei seiner letzten Platte Baritenor hatte der amerikanische Tenor zwei Stimmfächer bedient, sollte er sich nun noch in einem dritten versuchen? Wörtlich übersetzt, bedeutet Contra-Tenor allerdings die Gegenstimme zum Tenor, wie sie in der Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Einsatz kam. In seinem Einführungstext im Booklet spricht der Sänger über die Kategorisierungen der männlichen Stimmen im Barock: Tenor, Contre-Tenor, HauteContre, Baritenor… Sänger dieser Gattung wurden bald als tenori assoluti zu den Konkurrenten der gefeierten Kastraten. Komponisten schrieben für sie Partien von Königen und Göttern, welche diese Sänger mit Schönheit, Technik, Virtuosität und Kraft interpretierten. Legendäre Vertreter dieses Stimmtyps waren beispielsweise Francesco Borosini, Annibale Pio Fabri, Angelo Maria Amorevoli und der Deutsche Anton Raaff, der im höheren Alter von 65 Jahren noch die Titelrolle in Mozarts Idomeneo kreierte. Die Kunst dieser divi wollte Spyres mit seinem Album (5054197293467) wieder zum Leben erwecken. Zweifellos ist das ein verdienstvolles Unterfangen, doch erklärt das nicht die Wahl der Stimmgattung im Titel der CD. Denn Spyres singt fasst nur Tenorpartien und keine von Kastraten, welche in unserer Zeit von Sopranisten,  Countertenören oder Altisten wahrgenommen werden.

Das Programm umfasst 15 Titel von 15 verschiedenen Komponisten, darunter drei Weltersteinspielungen, beginnend mit zwei kurzen Ausschnitten aus Jean-Baptiste Lullys Persée. Im zweiten, einer Passacaille, hat das begleitende Ensemble Il Pomo d’Oro unter Francesco Corti Gelegenheit für ein animiertes Musizieren. Auch vom anderen großen Vertreter des französischen Barock, Jean-Philippe Rameau, findet sich ein Tonbeispiel mit dem sanften Air des Neptune, „Cessez de ravager la terre“, aus Naïs, in welchem Spyres die Stimme schweben lassen kann und sie raffiniert moduliert.

Aus dem Schaffen von George Frideric Handel wurde die Szene des Bajazet, „Empio, per farti guerra“, aus Tamerlano ausgewählt.

Hier klingt die Stimme des Interpreten heroisch und mächtig, wird mit vehementem Einsatz geführt – der Ausschnitt wirkt besonders gelungen. Es folgt aus Antonio Vivaldis Artabano, re de´ parti die Arie des Titelhelden „Cada pur sol capo audace“, in der Spyres seine resonante Mittellage wirkungsvoll einsetzen kann. Besonders virtuose Musik komponierte Leonardo Vinci, wovon die Arie des Titelhelden aus Catone in Utica, „Si sgomenti alle sue pene“, zeugt, welche dem Sänger bravouröse Koloraturgirlanden abverlangt. Spyres absolviert sie mit Glanz. Ähnlich anspruchsvoll für den Sänger sind die Opern von Nicola Porpora, von denen Segestos „Nocchier, che mai non vide“ aus Germanico in Germania ausgewählt wurde. Es ist eine Gleichnis-Arie vom Steuermann in hüpfendem Melos, mit virtuosen staccati und extrem hohen Noten, die Spyres lustvoll vorträgt. Einen schönen Kontrast bringt das wiegende „Fra l’ombre“ des Ulisse aus Domenico Sarros Achille in Sciro, dessen Melismen der Tenor genüsslich auskostet, in der exponierten Höhe allerdings einige forcierte Töne nicht vermeiden kann.  Solche finden sich auch in der schwärmerischen Arie des Titelhelden „Vil trofeo d´un´alma imbelle“ aus Baldassare Galuppis Alessandro nell´Indie.

Weniger bekannt ist der Komponist Gaetano Latilla, doch stammt das Libretto zu seiner Oper Siroe, re di Persia immerhin von Pietro Metastasio. Daraus erklingt als eine der Weltpremieren die stürmische Arie des Cosroe „Se il mio paterno amore“, die das Orchester mit Vehemenz einleitet. Spyres singt sie mit höchster Bravour und totalem gestalterischem  Engagement. Von Johann Adolf Hasse ist die Arie des Segesto „Solcar pensar un mar sicuro“ aus Arminio zu hören – auch diese ein Gleichnis von Himmel und Meer, nur weniger dramatisch, doch dafür mit höchster Tessitura. Auch Antonio Maria Mazzoni zählt zu den weniger populären Barockmeistern. Aus seiner Oper Antigono ist die Arie des Titelhelden „Tu m´involasti un regno“ zu hören, der darin energisch auftrumpft, allerdings auch einen schmerzenden Extremton absolvieren muss (die frühere Gesamtaufnahme aus Martina Franca mit Spyres ist bei Dynamic noch im Programm).

Bekanntester Titel der Anthologie ist Orphées „J’ai perdu mon Euridice“ aus Christoph Willibald Glucks Oper. Die empfindsame Gestaltung des Sängers reiht sich würdig ein in die zahllosen Modell-Interpretationen dieser Nummer. Mozarts Frühwerk Mitridate, re di Ponto erlebte in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Wiederbelebung. Spyres selbst hat die Titelrolle Ende 2020 in einer Gesamtaufnahme von ERATO interpretiert und stellt auf diesem Recital noch einmal Mitridate Arie „Se di lauri“ vor. Sie spiegelt im Vortrag des Sängers Größe und Würde des Herrschers wider. Das Programm endet mit Médors „En butte aux fureurs de l’orage“ aus Niccolò Piccinnis Roland. Es ist eine Partie, welche bei der  Uraufführung tatsächlich von einem Haute-Contre, dem bekannten Joseph Legros, verkörpert wurde. Dieses Gleichnis vom tobenden Sturm ist ein effektvoller Abschluss, in welchem auch das begleitende Ensemble mit Bravour aufspielt. Und der Solist kann noch einmal mit virtuosen Koloraturläufen und gestalterischer Verve glänzen. Bernd Hoppe

Bis zum Frühstück ist alles erledigt

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Im Gegensatz zu der wegen ihrer politischen Sprengkraft ursprünglich wenig genehmen Halka, die heute als polnische Nationaloper gilt, war Stanislaw Moniuszkos Idyllen, die das Polen des 18. Jahrhunderts auf die Opernbühne zauberten, von Anfang ein großer Erfolg beschieden. Dazu gehört auch der 1861 an dem von ihm seit 1858 geleiteten Teatr Wielki in Warschau uraufgeführte Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort). Bereits die leichtfüßige Allegro vivo-Ouvertüre illustriert auf charmierende Weise den anbrechenden Morgen auf dem Landgut des Pan Serwacy, wo der Diener Bartholomiej die jungen Leute zu Ehren von Serwacys Tochter Zuzia zu einem Huldigungschor aufstellt. Wie ein Sonnenstrahl über einer altpolnischen Ideallandschaft verströmt diese Genreszene eine wohlige Gemütlichkeit, so dass sich die kleinen Turbulenzen während Zuzias Namenstag im Lauf des gut einstündigen Einakters bis zum Frühstück bequem klären lassen und im Polka-Quintett der fünf Protagonisten mit Chor die zunächst aussichtslos scheinende Heirat des jungen Paares gefeiert werden kann. Zuzia hat sich in Stanislaw verliebt, den sie durch einen Kutschunfall kennenlernte. Beide gestehen sich walzerselig ihre Liebe, werden aber vom Serwacy daran erinnert, dass er einst seinem Freund Pan Marcin sein Ehrenwort gegeben habe, dass Zuzia dereinst dessen Sohn heiraten werde. Das Ehrenwort ist heilig. Da hilft keinen Weinen. Stanislaw versteht das. Zuzia jammert. Nun erscheint Pan Marcin und preist in höchsten Tönen die Verzüge seines Sohns Michal, der in einer Woche ankommen werde, worauf sofort die Hochzeit stattfinden könne. Kurz zerstreiten sich Serwacy und Martin, als Serwacy erzählt, seine Tochter habe Gefühle für einen Fremden entwickelt, der ihr bei einem Unfall zu Seite gestanden habe. Rechtzeitig klärt Stanislaw alles auf. Er ist Martins Sohn Michal, der sich nach dem Unfall im Hause des Nachbar Serwacy mit anderem Namen einführte, damit sein Vater nichts von dem Unfall erfahre. Das Libretto stammt von Jan Checinski, der darin eine Rückbesinnung auf nationale Tugenden und Identität beschwört, wie sie später auch im Gespensterschloss eine Rolle spielt, und Landadel und Bauern als große Familie zeigt. Zum Motor werden polnische Traditionen, wie Mazurka und Polonaise, die Moniuszko gekonnt mit westlichen Einflüssen mischte, man denke an Auber, ein wenig auch an südliche Buffolaune, die ihm als versiertem Kapellmeister natürlich vertraut waren.

Alles ist passgenau, keine Nummer zu lang, dazu gehören das nette Terzett der jungen Liebenden mit dem Brautvater, der aufschneiderische Vortrag des Marcin oder das Duett der Väter. Das Werk ist hübsch und würde, wie manche Einakter von Lortzing, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy oder Weber, auf Minibühnen Beachtung verdienen.

Es ist ja nicht so, dass dieses hübsche Opernchen unbekannt ist, das sich in einigen nationalen LP-CD-Ausgaben bei Muza und anderen polnischen Labels findet (vergl. ein Blick zu Discogs), das uns zuletzt auf der DUX-Aufnahme aus Szczecin von 2010 begegnete; bereits 1969 spielte Robert Satanowski den Einakter in Posen ein. Kurze internationale Aufmerksamkeit auf CD sichert nun dem Ehrenwort der geradezu bravourös auffahrende Fabio Biondi, dessen Herz seit Jahren für Moniuszko schlägt – zuletzt bei der 2020 im Teatr Wielki entstandenen Hrabina. Im Rahmen des Chopin and his Europe-Festivals setzte Biondi sich im August 2021 für Verbum nobile ein, Mit dabei im Teatr Wielki waren, wie stets, Biondis Orchester Europa Galante und der Podlasie Opera and Philharmonic Choir. Adam Palka, vor allem durch seine Auftritte in Stuttgart (u.a. Leporello, Boris, Mefistofele), bekannt, ist als Bartolomiej das rund plappernde Bass-Faktotum, das seine Buffoarie elegant ausformt. Jan Martiník und Stanislav Kuflyuk sind als Serwacy und Marcin die gemütlich tiefstimmigen Gutsherren Serwacy und Marcin. Mit dunklem Sopran und elegischem Ton verleiht Olga Pasiecznik der Zuzia ein Gesicht, die bei Biondi erstmals ihre Dumka (Track 15) in der Version singen kann, die Moniuszko am Neujahrstag 1861 dirigierte. Mariusz Godlewski, wie Martiník bereits auf der Hrabina zu hören, klingt als Liebhaber Stanislaw/ Michal in seinem Couplet fast italienisch schwungvoll, allerdings nicht mehr so jugendlich, wie man ihn Zuzia wünschen würde. Die Ausstattung ist, wie immer in dieser Reihe, prachtvoll (1 CD NIFCCD09). Ich frage mich nur, wer sich noch so großzügig dimensionierte CD-Ausgaben ins Regal stellen will (07.04.23).  Rolf Fath

 

Flotte Nummer

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Eine Rarität legt OPUS ARTE auf Blu-ray Disc vor (OABD7309D). Damit ist natürlich nicht Handels Oratorio Semele gemeint, welches auf dem Musikmarkt vielfach vertreten ist, sondern dessen Aufführungsort – die New Zealand Opera. In der Holy Trinity Cathedral von Auckland haben Thomas de Mallet Burgess und Jacqueline Coats das Werk als Musical Drama inszeniert. Die Aufführung fand am 29. September 2021 statt. Die Ouverture wird mit Filmaufnahmen bebildert, welche Angehörige der britischen High Society bei den Vorbereitungen zur Hochzeit von Semele und Athamas zeigen. Das bietet dem Ausstatter Tracy Grant Lord Gelegenheit für eine opulente Kostümierung mit upper class-Roben samt extravaganten Hüten. Der New Zealand Opera Chorus und der Holy Trinity Cathedral Choir können gleich im feierlichen „Lucky omens bless our rites“ mit machtvollem Gesang aufwarten. „Hail Cadmus“ am Ende des 1. Aktes ist dagegen klanglich unausgewogen. Aber am Schluss können beide Ensembles mit dem jauchzenden „Happy, happy shall we be“ wieder punkten.

Prominent besetzt ist die Titelrolle mit Emma Pearson, die gleich zu Beginn im weißen Brautkleid ihr Los beklagt, soll sie doch Athamas heiraten und ist noch ganz erfüllt von ihrer vorherigen Begegnung mit Zeus. Dieser kommt in Ledermontur auf einem Motorrad herbei geprescht und stört nicht nur die Hochzeit empfindlich, sondern entführt gar die Braut. Am Ende des 1. Aktes fällt ihr der Hit „Endless pleasure“ zu, den sie wie eine Schlagersängerin ins Mikrofon singt und dabei auch strenge Töne hören lässt. Im 2. Akt hat sie mit „O sleep, why dost thou leave me?“ gleichfalls eine berühmte Nummer, die sie, auf einer großen Liege gebettet, mit recht larmoyantem Klang  absolviert. Ihr Glanzstück im 3. Akt ist „Myself I shall adore“, das ihr – wieder mit dem Handmikrofon – beachtlich gelingt. Sehr expressiv gezeichnet ist das Accompagnato „Ah me! too late“ bei ihrem Tod.

Die weiteren Interpreten sind hierzulande weniger bekannt, bieten aber ein solides Niveau. Amitai Pati ist der Jupiter und Apollo in bester britischer Oratorientenor-Tradition, was sein „Where’er you walk“ zum stimmlichen Fest werden lässt, Sarah Castle mit resolutem Mezzo die Göttergattin Juno und gefühlvollem Semeles Schwester Ino. Letztere liebt den Prinzen Athamas, den Stephen Diaz mit klangvollem Alt und starker Empfindung singt. Nach dem Willen des Königs Cadmus (Paul Whelan, der mit sonorem Bass auch den Somnus gibt) soll er Semele heiraten. Chelsea Dolman singt bemerkenswert die Iris mit substanzreichem. leuchtendem Sopran.

Mit Peter Walls steht ein kompetenter Dirigent am Pult des New Zealand Opera Baroque Orchestra, der die Dynamik der Musik, ihre Farben und Tempi zu optimaler Wirkung bringt. Der Titel des Klangkörpers sagt schon viel aus über seine Affinität zu diesem besonderen Musikstil und das authentische Klangbild hält dem  Vergleich mit renommierten Ensembles der Alten Musik durchaus stand. Bernd Hoppe

Goldmarks „Götz von Berlichingen“

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Mehr als die in jüngster Zeit gelegentlich in Freiburg und Budapest aufgeführte Oper Die Königin von Saba (und vielleicht noch daraus die früher in Radio-Wunschkonzerten gern gespielte Tenor-Arie„Magische Töne“ und gelegentlich die Tondichtung „Ländliche Hochzeit“) ist von Carl Goldmark nicht übrig geblieben. Dabei war gerade die Saba im frühen 20. Jahrhundert ungemein erfolgreich. Immerhin sorgen heute Sänger wie Roberto Alagna (naja), Peter Seiffert, Siegfried Jerusalem (mit Gesamtaufnahme), Jonas Kaufmann und manche andere für den Fortbestand zumindest dieses Stückes aus der Oper, von den Großen der Schellackzeit ganz zu schweigen.

Aber wie der jüngere Kollege Lortzing, oder Brüll, Flotow, Nessler und andere mehr werden deren Opern-Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet (oder werden ignorant dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese zerbrechlichen und außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden (und da machte die indiskutable Freiburger Inszenierung der Saba keine Ausnahme, die Budapester zumindest blieb angenehm konventionell, wie sich das gehört).

Johann Hofer: „Carl Goldmark, Komponist der Ringstraßenzeit“/ Edition Steinbauer

Aber schade ist´s, die schöne Musik und diese eben typischen  Melodien des deutschsprachigen Raums nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es mir ein Anliegen, dieses Fehlen zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Götz von Berlichingen Carl Goldmarks  etwas zu korrigieren,. Denn der hat nicht nur die Saba geschrieben.

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Wir haben dem Theatermann Ingolf Huhn ja schon viele dicke Kränze geflochten. Als Fan des nun heutigen Operndirektors im erzgebirgischen  Annaberg-Buchholz  reiste ich zu dessen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist der Champion für die Deutsche Romantische Oper(wobei schon das Wort deutsch Stirnrunzeln der jungen Grünen hervorrufen wird, man ist heute nicht gerne deutsch …). Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen  und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Venedig (folgt demnächste bei operalounge.de), jüngst Hahns Hochzeit des Job und viele andere vergessene Opern kamen durch Ingolf Huhn erneut zum Leben, immer im Rahmen der Möglichkeiten der kleinen Theater in Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben nun Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Goldmarks vergessene Oper, Szenen aus dem Leben Götz von Berlichingen, auf den Vorstellungen am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg 2012 und auf dem Programmheft der Dramaturgin Annalen Hasselwarder.

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Jason-Nandor Tomory sang die Titelrolle am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz; in weiteren Partien hörte man Tatjana Conrad / Nadine Dobbriner, Juliane Roscher-Zücker, Madelaine Vogt, László Varga, Michael Junge, Frank Unger, Bettina Grothkopf, Bettina Corthy-Hildebrandt u. a.; Extrachor unter 
Naoshi Takahashi am Pult der Erzgebirgische Philharmonie Aue und des Chores des Eduard-von-Winterstein-Theaters/ Eduard-von-Winterstein-Theater

Der Theaterbesuch: Nur mit Mühen erreicht der interessierte Hauptstadt-Besucher das Berlin-ferne Annaberg (eigentlich Annaberg-Buchholz) im Erzgebirge, unweit der tschechischen Grenze. Im bezaubernden kleinen Eduard-von-Winterstein-Theater aus der Mitte des letzten Jahrhunderts residiert Ingolf Huhn als Intendant und gräbt, wie bereits auf seinen Stationen in Döbeln, Freiberg, Zwickau und Plauen, Ungehörtes aus der Wende des vor-vergangenen Jahrhunderts aus. Nach solchen Trouvaillen wie den Nibelungen von Dorn, Einaktern von Lortzing, Nesslers Rattenfänger, Schillings Pfeifertag und ähnlichem reizte diesmal der Götz von Berlichingen Goldmarks von 1902, den wirklich niemand nach 1930 mehr gehört hat, schon weil Goldmark Sohn eines jüdischen Kantors in Budapest war.

.Der Besuch in Annaberg war in vielerlei Hinsicht eine Reise in die nahe und ferne Vergangenheit. Schon die Anfahrt mit ihren Teilstrecken via Chemnitz – zweimal umsteigen und dann mit dem Bus – abenteuerlich! Die schmucke Erzgebirgsbahn für die letzte Etappe versetzte mich in Rübezahl-Stimmung angesichts der dicht bewaldeten Täler und naherückenden Berge mit ihren steilen Hängen, mit Wasserfällen und Schluchten.

Der Ort selbst wie geleckt und am Sonntag menschenleer, der hübsche Marktplatz und die trutzige St. Annenkirche eindrucksvoll-verlassen. Mengenweise Handarbeits- und Andenkenläden, die vom Tourismus sprechen, der wohl überwiegend im Winter bei Schifahrern anläuft. “Der Wilde Mann”, das Hotel am Platze, altmodisch-würdig-dunkel – all dies versetzt den Westbesucher in die sechziger Jahre eines DDR-Ferienortes der Nachsaison. Grimms-Märchen-Atmosphäre mit schwieriger Versorgungslage – natürlich sonntags nix zu essen, da blieben nur die Nüsse auf dem Zimmer

Goldmarks „Götz von Berlichingen“ am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz/ Foto Eduard-von-Winterstein-Theater

Und in diese rückwärtsgewandte Stimmung passt auch der Götz von Berlichingen (eigentlich “Szenen aus…”) im Theater (reizende Eisensäulen stützen den Balkon), wo eine solide Rechts-Links-Mitte-Regie des Hausherrn mit realistischen Anklängen in Stil-Kostümen und Dreh-Kulisse (Annabel von Berlichingen, Chemnitzer Event-Künstlerin aus einer Nebenlinie) das Geschehen wie ein Schwindtsches Mammutgemälde ausbreitet: Szenen nach Goethes Dichtung mit abenteuerlichem Stabreim, aber auch mit dem berühmten Originalzitat („Leckt mich am A…“), mehr als ansprechend, zum Teil überraschend toll gesungen, nur die Geigen/Hörner der Erzgebirgischen Philharmonie Aue wiesen auf die begrenzten Mittel des Institutes hin. Aber wir waren ja auch in Annaberg und nicht an der Met (und was man da manchmal hört…). Und alles buchstäblich mit Hauskräften besetzt – eine große Tat!

Vielleicht hatte sich der Ausflug (für mich) eher wegen der musikhistorischen Informationen gelohnt als wegen eines lukullischen Erlebnisses, denn Goldmarks Musik ist eine späte, sehr und zu späte. Sie bot dem Premieren-Publikum der Opernhäuser Budapests und Frankfurts, danach Wiens und anderer Metropolen (wo das Werk einen Siegeszug antrat, den wir uns heute kaum vorstellen können), wie in einem Digest die Highlights aus dem bis dahin beliebten Repertoire. Meterweise, absolut unverstellt, wird aus der Königin von Saba, Goldmarks internationalem und einzig nachgekommenem Erfolgswerk von 1875, zitiert, die Anlagen ganzer Szenen (etwa Adelheids großes Solo im 4.Akt) beruhen darauf in orientalisierter Melodik wie auch in der Figurenzeichnung. Leider sind (nicht nur mir) die übrigen Werke Goldmarks zu wenig im Ohr (es gibt Dokumente, s. nachstehend!), sonst hörte man sicher Ähnlichkeiten/ Zitate zu/aus Merlin, Briseis oder dem Heimchen am Herd. Unüberhörbar ist die Musiksprache Humperdincks und des Wagnernachfolgers Cornelius, aber auch Wagner selbst kommt mit Siegfried und Walküre zu Worte, vom Tannhäuser ganz zu schweigen.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Hilde Greiff-Andriesen (hier als Königin von Saba) sang Adelheid in Frankfurt/ Foto Luther

Das erinnert an Leoncavallos Roland mit seinen opportunistischen Wagner-Einstreuungen, um Wilhelm I. zu gefallen.  Goldmark, dessen Götz ein Riesenerfolg vor allem in Deutschland, war und der  allein bei der Frankfurter Premiere 40 Vorhänge erhielt, bediente eben die Erwartungen eines konservativen Deutschlands in der ersten Kaiserzeit, und die Oper wirkt so restaurativ wie die Fassaden vieler Gründerzeit-Häuser in Annaberg, eine merkwürdige Parallele.

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In der Folge finden sich zeitgenössische Kritiken, die sich überraschend klar zu Aufbau und musikalischen Meriten/Defekten äußern, namentlich der Vater des Komponisten Korngold, Julius Korngold, macht da besonders gute Figur.

Im Bühnentelegraf schreibt der Kritiker zur Uraufführung in Budapest 1902: „In der Wahl seiner Stoffe liebte Goldmark von jeher Überraschungen. Aus der schwülen Farbenpracht des Orients zog er plötzlich nach den nordischen Gestaden zu König Artus und von hier nach der schlichten Dorfhütte, in der das Heimchen zirpte, um dann mit einem Male auf hohem Kothurn in den strengen Säulenbau Trojas einzutreten (Briseis). Immer aber ruhte sein Auge auf der freundlichen Bergschroffe, von welcher Burg Jaxthausen (sic !!) in deutsche Gaue blickte. Der durch langer Jahre Flucht gehegte Herzenswunsch des alten, doch nicht greisen Tondichters, den knorrigen, doch edlen Ritter Götz auf die Opernbühne zu stellen, all das markig schreitende Heldentum, das glühende Minnespiel, das Toben entzügelter Volksmassen, das Grauen des geheimen Femegerichts im Goetheschen Jugendwerk in Noten zu bannen, ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun freilich der also vertonte Götz noch weit weniger als Goethes Stück (…). Und Herr Willner, der, dem Drängen des Komponisten gehorchend, die leidige Aufnahme übernahm, das Werk zum Libretto zurechtzustutzen, erinnert lebhaft an den Mann, der einen Goldklumpen gefunden und ihn nicht heben kann, ohne ihn in Stücke zu schlagen. Auch er schlägt Goetz in Stücke, die er, ungleich im Werte wie sie sind, mit all ihren Sprüngen und Rissen dem Komponisten überlässt – diesen hierdurch zu einer musikalischen Kurzatmigkeit zwingend, die mit dem natürlichen Bedürfnis jeder Musik, sich auszu- breiten, stellenweise bald zu retardieren, bald zu ruhen, im peinlichsten Widerspruch steht. In neun Bilder gezwängt, drängt die Handlung mit Eilzugstempo nach vorn, und Goldmark musste sich, auf Stileinheit ebenso Verzicht leistend wie auf jeglichen psychologischen Zusammenhang, darauf beschränken, jede einzelne der Scenen aus Götz von Berlichingen (…) für sich zu vertonen. Und was das fahrige Hin und Her, den kaleidoskopartigen Wechsel der zahlreichen Scenen noch erhöht, ist das fortwährende Ineinandergreifen der gewisser- massen rivalisierenden zwei Handlungen, die auch im Schauspiel Goethes parallel nebenein- anderlaufen und deren erste und für die Oper zumindest wichtigere Adelheid und Franz zum Mittelpunkt hat. Götz selbst ist nur scheinbar der ‚Held des Stückes’ und steht an der Spitze von Ereignissen, die nicht er herbeigeführt hat. Im Vordergrund bleibt einzig Adelheids und Franz’ sündige und gesühnte Liebe, und erst dort, wo diese zu Worte kommt, weicht auch die fast teilnahmslose Kühle, mit der das Orchester anfangs die Bühnenvorgänge beglei- tet, voller reich strömender Herzenswärme.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Heinrich Hensel (1894 – 1935 hier als Lohengrin), sang den Franz in Frankfurt/Foto Luther

Fordert das Textbuch mehr als einmal unsere Spottlust heraus, so muss man mit umso ehrlicher Achtung und Bewunderung vom musikalischen Theil jugendliche Frische des Goldmark der Saba, vielleicht auch die klassische Formenreinheit des Briseis-Komponisten mangeln. In der malenden Pracht seiner Farben, in der Schärfe seiner Charakteristik und der staunenden Man- nigfaltigkeit der wiederholt auch aus dem Born des deutschen Volkslieds geschöpften Stimmungen ist auch diese Partitur ein echter, voller Goldmark. (…) In der orchestralen Untermalung der Bühnenvorgänge zieht Goldmark diesmal eine ganze Reihe neuer, bunter Register auf, er- geht sich in einer Unzahl reizend illustrierender Wendungen, fügt Triolen für die lockende Adel- heid hinzu, untermalt Treuebruch und Klage mit entsprechenden Klangfolgen…”

Und Vater Julius Korngold schreibt in der Neuen Freien Presse Wien über Budapest 1902: „… Einfaches Rezitieren über durchsichtigster Orchesterbegleitung scheidet sich bewusst von der merklich gekürzten, dramatischen Melodie, und die Charakteristik hat etwas Schrittweises. Wo die Situation Lyrik zulässt, knospt ein Arioso auf; neben diesen Blumenbeetlein des Gesangs schaffen sich Sträuchergrüppchen orchestraler Vor- und Zwischenspiele Raum. (…) Im Götz scheint oft der schichte volkstümliche Ton des Schauspiels ein Spiegelbild finden zu wollen in einer schlichten, volkstümlichen Musik. Und die Königin von Saba scheint auch das mittelalterliche Deutschland im Inkognito einer Adelheid von Walldorf aufzusuchen…“

Und im Pester Lloyd, 1902 schreibt August Beer (immerhin!): „Als interessantes Gegenstück zu dem knorrigen Titelhelden erscheint die andere Hauptfigur, die schöne gleisnerische Verführerin Adelheid. Die Liebesszenen ins- besondere mit ihrem großen Crescendo von zarter Schwärmerei bis zu lodernder Gluth sind geradehin Prachtstücke erotischer Lyrik. Geschickt wird das heitere, volkstümliche Element eingeflochten. Die grotesk-zierliche Musik in der Pagenszene, melodiöse Strophengesänge von populärer Fassung blitzen wie helle Glanzlichter in die immer tragischer sich zuspitzende Handlung. Farbiges Leben bringen dazwischen auch Ensembles und Chöre, letztere zumeist im Dienste dramatischer Steigerungen. (Das Orchester dient) dem unablässigen Untermalen der Szene in zahllosen, gleichsam nur der Momentaufnahme dienenden Details…”

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: zeitgenössische Illustration zu Goethes Dichtung/ DW-Sonstiges-Frankfurt-Archiv

Jetzt ganz schnell nocdh die nötigen Angaben zu Goldmark nach Seegers Opernlexikon/Berlin 1978: Goldmark, Karl, geb. 18.5.1830 Keszthely/ Ungarn, gest. 2.1.1915 Wien; ung.-österr. Kom- ponist. Stud. Wien/privat bei L. Jansa und Kons.; wurde Geiger und Kl-Lehrer in Ödenburg, Budapest und Wien; schrieb neben Instrumentalmusik die Opern Die Königin von Saba/1875; Merlin/1886; Das Heimchen am Herd/1896, Die Kriegsgefangene/ i. e. Briseis, 1899; Götz von Berlichingen/1902; Ein Wintermärchen/1907.

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An Operndokumenten gibt´s – außer der Königin von Saba in manchen Mitschnitten und drei Gesamtaufnahmen (Ponto/ Hungaroton/ zuletzt die sehr ordentliche aus Freiburg 2016 bei Naxos) – wenig. Von Briseis keine Spur. Ein Wintermärchen wurde in Wexford 2021 gegeben und gesendet, 2015 wurde diese Oper an der Budapester Staatsoper gespielt (mit einem Ausflug ans New Yorker Koch Theater), beide sind auf youtube zu erleben. Eine weitere Aufführung findet sich bei der jüdischen Gemeinde in Budapest in der nämlichen Zeit . Merlin wurde von Gerd Schaller nach den Aufführungen in Bad Kissingen 2009 bei Hänssler Profil herausgegeben. Das Heimchen am Herd existiert in einer stark beschnittenen Aufnahme vom Reichsrundfunk. Die erwähnte dritte Aufnahme der Königin von Saba stammt aus New York (LP-BJR/ Gala/ Ponto) mit der absolut erregend singenden Teresa Kubiak als Sulamith (die Auftrittsarie ist eine unerreichte Wucht, nicht einmal die von mir stets sehr geschätzte Dagmar Schellenberger im Amsterdamer Konzert 1997 neben dem eindrucksvollen Wólfgang Milram unter dem hochsinnlichen Daniel Nazareth kommt daran) und mit  Wolfgang Anheisser als sonorer König Salomon, der Rest ist gerade mal passable, Gala hats zuletzt herausgegeben. Tondichtungen und Ouvertüren zu weiteren Opern etc. finden sich bei jpc und youtube. G. H,

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Zeitungsnotiz in der New York Times zur Aufführung in Frankfurt 1903/ Archiv Luther

Zum Inhalt: Götz von Berlichingen, der Held mit der eisernen Hand, kämpft für das alte Recht und für das gute Recht – für das alte Recht der freien Reichsritter, die sich von keinem Fürsten regieren lassen wollen und für das gute Recht der Fehde, die allen Streit mit der Gewalt des Stärkeren löst und manchmal dabei auch den Schwachen weiterhilft. Er weiß, daß er im Recht ist – und da das viele andere nicht wissen, muß er selbst zum Schwert greifen: der Selbsthelfer in einer verderb- ten Welt. Ein Held für Generationen.

Mit seinem alten Freund Weislingen ist er über Kreuz: als Kinder, als Knappen, hatten sie alles gemeinsam, aber nun ist Weislingen ein Höfling geworden, weichlich und elegant, ein Freund der Frauen und des bequemen Hoflebens. Mehr aus Zufall hat Götz ihn neulich gefangen genommen, und jetzt sitzt er bei ihm auf Jagsthausen und langweilt sich. Es geht ihm gut und keineswegs wie einem Gefangenen – Götz wirbt um die alte Freundschaft – und schließlich verlobt er sich mit Götzens Schwester Maria. Gleich darauf kommt sein Diener Franz vom Hof des Bamberger Bischofs, der inständig um Weislingens Rückkehr bäte. Und der lockende Stern an diesem Hof ist Adelheid von Walldorf – jung verwitwet und so schön, dass Franz kaum noch sprechen kann vor Begeisterung. Dass sich sein Herr soeben hier verlobt hat, ist ihm Vergeudung. Im selben Moment aber kommt auch ein Brief, der Götz vor ein Gericht nach Heilbronn fordert. Götz will sich natürlich keinem Gericht unterwerfen und unseligerweise schlägt jetzt Franz vor, Weislingen könne ja in Bamberg für Götz vermitteln.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Goethes Drama in der Aufführung der Burgfestspiele Jagsthausen

Vor dem Gericht in Heilbronn: Der bürgerliche Rath Heilbronns soll Götz das Urteil des Kaisers verkünden: Er solle den Raubzügen und kleinen Privatkriegen für immer abschwören, auf seiner Burg sich still verhalten, bis der Kai- ser ihn für die Türkenkriege brauche. Das will Götz nicht und als man auch nur ihn freilässt und nicht auch seine Leute, ist ihm klar, das kann nicht des Kaisers Wille sein. Den Kaiser liebt er, und der Kaiser ist im Herzen ein Ritter wie er und nur durch Fürstenintrigen zu bewe- gen, solch ein Urteil zu sprechen. Der Rat von Heilbronn hatte sich für Konflikte gewappnet – die stärksten Handwerker sollten notfalls eingreifen, aber im Angesicht des wütenden Götz wollen sie sich alle lieber verstecken. Als nun auch noch Franz von Sickingen mit einem kleinen Trupp die Stadt besetzt und droht, sie anzuzünden, bleibt ihnen nichts, als Götz zu huldigen und ihn um Milde zu bitten.

Am Hofe des Bischofs von Bamberg: Adelheid von Walldorf, deren Schönheit in aller Munde ist, tändelt mit dem kurz an den Hof zurückgekehrten Weislingen. Und sie verspricht auch Weislingens Diener Franz viel – oder alles. Franz ist gar nicht mehr bei sich selbst vor Aufregung, Verliebtheit, Hoffnung. Weislingen aber will wieder fort. Götz hat sein Freundeswort und wartet auf ihn in Jagsthau- sen, und dort ist er ja auch verlobt. Als ihn der Bischof kühl verabschiedet, braucht Adelheid nur drei Worte, um ihn zu fesseln und zu halten. Der Bischof und der Hof feiern seine Heimkehr als politischen Erfolg – und Götzens Knappe Georg, der gekommen ist, um ihn zu fragen, wo er bleibe, bekommt eine böse Abfuhr.

Im Wald: Götz allein. Bei einem kleinen Raubzug auf ein paar Heilbronner Kaufleute wird Götz schwermütig: Vieles fällt ihm auf´s Gemüt, und als der langerwartete Georg von Bamberg zu ihnen stößt und von Weislingens Verrat erzählt, wütet er – auch gegen die gefangenen Kaufleute. Georg und Selbitz holen ihn zurück, aber er spürt, dass es jetzt schwerer wird.

Am Hofe des Kaisers in Augsburg: Adelheid und Weislingen sind verheiratet, aber sie wirbt um den Sohn des Kaisers. Am Rande eines Maskenfestes ordnet Weislingen an, dass sie den Hof verlassen und auf das heimische einsame Schloss zurückkehren soll. Nichts hat sie weniger im Sinn zu tun als dies. Weislingens Diener Franz, der ihr eigentlicher heimlicher Geliebter ist, soll ihren Mann vergiften.

Im Bauernkrieg: Aufständische Bauern ziehen planlos und unorganisiert durchs Land. Eine Truppe versucht Götz als Hauptmann zu gewinnen und der sagt zu, weil er glaubt, so das Geschehen steuern zu können. Das misslingt. Hinter seinem Rücken geht das wilde Sengen und Brennen weiter und als er fort  ist wird sein Lieblingsknappe Georg von den Bauern erstochen.

Bei der Feme: Beim Laiengericht der Feme wird Adelheid verklagt, ihren Mann durch ihren Geliebten vergiften lassen zu haben. Die Feme beschließt ihren Tod und schickt einen Mörder.

Auf Adelheids Schloss: In einer schönen Mondnacht erwartet Adelheid ihren letzten Geliebten Franz. Sie sieht ihn weither kommen, den Berg hinauf, bis an das Tor – und merkt schließlich, dass dies jemand anderes ist; der Mörder der Feme. Sie verschließt alle Türen, aber der Mörder ist dennoch plötzlich da und erwürgt sie.

Am Ende: Götzens Wurzeln sind abgehauen. Er ist allein mit seiner Frau und dem Freund Lerse: Der Kaiser ist tot, Selbitz – und sein Lieblingsknappe Georg. Das Urteil über ihn ist aufgehoben und er ist eigentlich frei. Aber sein Durst nach Freiheit ist ungestillt. Der bleibt.

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(Die Inhaltsangabe folgt dem Programmheft der Aufführung am 29. April 2012 in Annaberg von Annelen Hasselwander, Dramaturgin. Dank geht an Matthias Käther und Einhard Luther für die Auffindung der zeitgenössischen Kritiken und Fotos. Das Foto oben haben wir der Spiele-website Age of Empires kurzfristig entliehen. G. H). Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.

Bröckelnde Hinterlassenschaft

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Mit dem Glamour und der Grandeur, die jedem ihrer minutiös ausgetüftelten Auftritte die Aura des Einzigartigen verliehen, scheint der Nachruhm nicht Schritt zu halten. Freilich hat Jessye Norman ein umfangreiches, von Purcell bis Schönberg reichendes Erbe auf CD hinterlassen, aber man muss sie live erlebt haben, um das Gesamtkunstwerk Jessye Norman zu erfassen.

Mit einer drei Alben umfassenden Ausgabe von Aufnahmen, zu deren Freigabe sie sich bis zu ihrem Tod 2019 nicht entschließen konnte und die jetzt durch Unterstützung der Familie möglich wurde, wobei Jessye Normans Haltung dazu im Lauf der Jahrzehnte offenbar nachsichtiger wurde, erinnert Decca, die das Philips Classics-Erbe der Norman übernommen hat, an die Sängerin, für die der Begriff Diva wie gemacht schien. Entstanden sind The Unreleased Masters zwischen 1989 und 1998.

Norman bewegt sich mit Wagner, Strauss, Berlioz und Haydn – sie hatte bereits in den 1970er Jahren im Rahmen der Haydn-Edition der Philips bei zwei Opern mitgewirkt – auf bekanntem Terrain; einzig Benjamin Brittens Phaedra fällt als Novität auf. Vertraut sind auch die Mitstreiter: James Levine, Seiji Ozawa und Kurt Masur. Mit Masur und dem Gewandhausorchester hatte sie eine ihrer maßstabsetzenden Aufnahmen realisiert, die 1983 veröffentlichten Vier letzten Lieder, woran sich – ebenfalls mit Masur in Leipzig – die ebenfalls sehr gute Ariadne auf Naxos anschloss.

Alle, die nun The Unreleased Masters in Händen halten, werden sich vermutlich zunächst auf die erste CD stürzen, auf der Norman mit dem Erfolgsteam zwischen dem 19. März und 1. April 1998 im Leipziger Gewandhaus die Isolde anging, die ihr letztes Opern-Projekt bleiben sollte. Im Beiheft wird vorsichtig auf „Spannungen bei den Sitzungen“ hingewiesen. In den sieben Sitzungen wurde eine gute Stunde Musik aufgenommen, darunter ein Großteil des Liebesduetts und der Liebestod. Der Eindruck ist verhalten, oft quälend. Masur dirigiert wie ausbremst, obwohl vor allem Ian Bostridge in den ersten Szenen des ersten Aktes sehr apart den Jungen Seemann singt, aber Norman wirkt als Isolde anfangs („Entartet Geschlecht“) exaltiert, unstet und starr in Ton und fremdelnd im Ausdruck, manchmal hohl in der Mittellage, gespreizt und vage in der Höhe. Es gibt in den Szenen mit der hellstimmig kurzatmigen Brangäne der Hanna Schwarz erfüllte Momente, auch in Isoldes Erzählung „Wie lachend sie mir Lieder singen“ kreiert Norman magische Phrasen, doch sie verliert sich in Detailmalerei und der Fluch bleibt merkwürdig verquollen und erkämpft. Thomas Moser ist ein mehr als achtbarer Tristan, der den untertemperierten Eindruck zunächst zu korrigieren scheint und der Norman im Liebesduett ein sensibler Verführer ist; beider „O sink hernieder“, wo Normans edles Timbre gelegentlich seinen gewohnten Reiz entfaltet, gehört zu den gelungenen Momenten der Aufnahme, ebenso der „Liebestod“, zu dem Norman bereits Alternativen mit Davis, Tennstedt und von Karajan geliefert hatte. Verständlich, dass keine Versuche unternommen wurden, das Leipziger Tristan-Projekt zu komplettieren. „Trotz des Luxus von Aufnahmesitzungen mit großzügig bemessenen Pausen, bleiben die Einspielung bei denen, die dabei waren, als eine zunehmend immer weniger zufriedenstellende Angelegenheit in Erinnerung“, so Cyrus Meher-Momji im Beiheft.

Andere Opernprojekte, Meher-Homji erwähnt eine Elektra unter Abbado, blieben Phantome.
Ohne Scheu und Vorbehalt können die beiden weiteren CDs gehört werden. Die Vier letzten Lieder und die Wesendonck-Lieder profitieren von der herzlichen Live-Atmosphäre zweier Konzerte unter James Levine mit den Berliner Philharmonikern im Mai 1989 bzw. November 1992 in der Berliner Philharmonie, die Jessye Norman auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten zeigen. Normans Stimme thront königlich vor dem Orchester, farbenreich und rund, Norman singt mit der Fülle des Klangs und der Emotionen als seien die Lieder ihr ureigenster Ausdruck. Großartig, wie sie den „Zauberkreis der Nacht“ durchschreitet oder das „Abendrot“ umschattet. Pure Magie die opalisierenden Klangreize, die sie den Wesendonck-Liedern entlockt. Der Eindruck ist ein spontaner, leidenschaftlicher und mitreißender und der Applaus, mit dem die Sängerin vor den Strauss-Liedern begrüßt wird, mehr als verdient. In diesen klanglich ausgezeichneten Aufnahmen agieren die Berliner mit bestürzender Schönheit und großartiger Spielkultur.

Bei Strauss, war es offenbar nur eine Note, die der skrupulösen Jessye Norman missfiel, bei der Bostoner Konzerten, in denen sie im Februar 1994 mit Haydns Berenice, Brittens Phaedra und der Cléopâtre von Berlioz drei antike Königinnen porträtieren, dagegen der Audiomix bei Berlioz, der jetzt für die Veröffentlichung „zufriedenstellend“ remixed wurde. Die Scena di Berenice gehörte 1795 zu den großen Erfolgen während Haydns zweitem Besuch in London. Norman singt die vierteilige Konzertarie mit dem Text Metastasios, in dem Berenice den Verlust ihres Geliebten Demetrio betrauert, mit elegant fließendem Ton, geschliffenen Akzenten in den Rezitativen und klassischem Pathos in den Arien, klar und mitfühlend. Noch leidenschaftlicher ist die dramatische Kantate La morte de Cléopâtre des 26jährigen Berlioz. Mit perfekter Artikulation, zwischen Ekstatik und Resignation wuchtig ausbalanciertem Ausdruck und gloriosen Tönen, die den Seelenzustand der innerlich zerrissenen Königin beschreiben und der Wildheit von Berlioz‘ Kantate gerecht werden, ob derer Kühnheit er den Rom-Preis verfehlte, umreißt Norman die letzten Minuten der Kleopatra vor ihrem Selbstmord, nachdem zuvor Mark Anton in ihrem Armen gestorben ist. Zurück zu barocken Mustern mit einer Folge aus Rezitativen und ariosen Teilen ging Britten in seiner 1975 für Janet Baker komponierten Phaedra nach Racine, in der sich Phaedra an die Beteiligten der Tragödie richtet und von der Liebe zu ihrem Stiefsohn und ihrem Entschluss durch Gift zu sterben berichtet. Der Audiomix wirkt tatsächlich etwas hohl, was der Wirkung auch dieser von Norman nobel und packend, wenngleich ein wenig manieriert gestalteten Szene keinen Abbruch tut. Rolf Fath

Pedro Lavirgen

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Der spanische Tenor Pedro Lavirgen Gil (geboren am 31. Juli 1930 in Bujalance) starb am 2. April 2023 in Madrid. Lavirgen wurde zuerst Volksschullehrer, nahm dann aber Gesangsunterricht bei Miguel Barrosa und Carlota Dahmen. 1959 debütierte er in Zaragoza in der Zarzuela Marina von Emilio Arrieta. 1964 gewann er einen internationalen Gesangswettbewerb in Barcelona. Im selben Jahr erfolgte an der Oper von Mexiko-Stadt sein Operndebüt – als Radames in Verdis Aida. Kutsch/Riemens schreiben, dass damit „eine glänzende Karriere, vor allen an den großen Theatern in Spanien und Südamerika, ihren Anfang“ nahm.[2] Obwohl der Schwerpunkt seiner Rollen im Spinto-Fach lag (Radames, Casio, Rodolfo), reichte sein Repertoire von lyrischen Partien (Herzog, Edgardo) bis zum Heldenfach (Otello, Kalaf).

Langjährige Zusammenarbeit verband ihn mit dem Teatro Liceu von Barcelona, Lavirgen trat dort von 1966 bis 1982 auf – in zahlreichen Verdi-Partien und auch in Zarzuelas. 1968 gastierte er in Madrid. In Nordamerika kam es zu einem einzigen Auftritt an der Metropolitan Opera (als Cavaradossi in der Spielzeit 1968/69) sowie zu Vorstellungsserien an den Opernhäusern von Philadelphia (unter anderem als Pollione an der Seite von Joan Sutherland), Montreal (als Canio) und New Orleans (als Radames). In Lateinamerika war er in Santiago de Chile (als Cavaradossi) und in Buenos Aires (als Arrigo und Don Carlos) zu sehen und zu hören. In Tokio gastierte er zweimal, 1973 als Don José und 1985 mit einer Zarzuela-Truppe aus Spanien.

Im deutschen Sprachraum debütierte er bereits 1966 an der Wiener Staatsoper, an welcher er bis 1980 regelmäßig auftrat. Er sang in Wien zehn verschiedene Rollen, darunter siebenmal Don Carlos, neunmal Manrico und 16-mal Canio.[3] Er war auch Gast der Staatsopern von München und Hamburg. 1981 übernahm er die Titelpartie in Verdis Otello im Spiel am See bei den Bregenzer Festspielen. Die meisten Auftritte Pedro Lavirgens fanden in Italien statt. Er sang 1971 den Don José am Teatro Regio von Turin, 1972 den Kalaf am Teatro San Carlo von Neapel, 1974 Kalaf, Don José und Alvaro in der Arena di Verona, 1975 den Manrico im Teatro Margherita von Genua und den Don José im Teatro Comunale von Bologna. Im selben Jahr debütierte Lavirgen auch an der Mailänder Scala – als Radames und Don José. 1976 kehrte er als Radames in die Arena di Verona zurück, 1979 übernahm er den Don José beim Sferisterio Opera Festival von Macerata. 1970 war er als Andrea Chénier an der Oper von Dublin zu sehen. (Wikipedia)

Veramente un Mito dell’Opera

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Das überaus tüchtige und liebenswerte Bologneser Label Bongiovanni zeichnet sich von jeher dadurch aus, dass es mit der jeweiligen Aufnahme, in diesem Fall bisher Unveröffentlichtes des Baritons Ettore Bastianini, auch gleich die Kritik mitliefert in dem wie immer knapp gehaltenen, aber informationsreichen Booklet zur CD.

Die Aufnahmen stammen aus den Fünfzigern und zum größten Teil aus dem Opernhaus von Neapel und bieten nur mit Ausschnitten aus Aida das, wofür der früh verstorbene Sänger berühmt war, nämlich als Verdi-Sänger. Daneben gibt es Ausschnitte aus dem Barbier von Sevilla und aus den Verismoopern La Gioconda und Andrea Chénier.

Das Booklet weist den Leser darauf hin, dass Bastianinis Amonasro die tiefe Note auf „cercai“ im Unterschied zu anderen Sängern auf Grund seiner Vergangenheit als Bass genüsslich aussingen kann, aus dem gleichen Grund auch das „morir“ besonders ausdrucksvoll gelingt. Es kann natürlich auch nicht übersehen, dass der Text nicht durchgehend korrekt gesungen wird, während dem heutigen Hörer zunächst einmal die vorbildliche Diktion auffällt, dazu die Fermatenverliebtheit des Sängers, aber auch eine wacklige Intonation, was aufgewogen wird durch die hörbare Lust am Singen, die zutiefst berührt. Die Aida ist Maria Curtis Verna mit hochpräsentem, zu Schärfen neigendem Sopran. Und so hingebungsvoll die Sänger singen, so begeistert reagiert das Publikum auf sie.

Fern aller französischen Eleganz ist natürlich die italienisch gesungene Carmen, aus der das Torrerolied und der Schluss des 3. Akt auf der CD zu finden sind. Da ist auch neben dem Gesang viel los auf der Bühne, der Escamillo Bastianinis neigt zu willkürlicher Phrasierung und recht brutaler Kraftentfaltung. Das vokale Duell mit Don José geht eindeutig zugunsten des Baritons aus.

Viel mehr Freude bereiten die Auszüge aus Andrea Chénier, der Anfang und „Un di mi era di gioia“, in denen eine wunderbare Ausgewogenheit zwischen Schöngesang und Expression herrscht, viel Verachtung im zweiten Stück mitschwingt und die Stimme direkt zum Herzen des Hörers zu sprechen scheint. Wie auch die anderen Tracks vermittelt die Aufnahme den Eindruck, der Sänger stünde dicht neben dem Hörer, dieser sei in das Geschehen mit einbezogen.

Für den Barnaba hat Bastianini so wie auch sein Tenorkollege Gianni Poggi dezente colpi di glottide, grässlich böse und wie in Stein gemeißelt klingt das „O monumento“, raubeinig die Canzone aus dem zweiten Akt, und unbekümmert schmettert der Chor.

Außer dem „Largo al factotum“ gibt es aus dem Barbier noch das Duett mit dem Tenor Eugen Conley, dessen ätherische Stimme kaum zur Vollmundigkeit des Baritons passt, wohl aber besser zu Rossini als Bastianini.

Der Dirigent von Carmen, Gioconda und Andrea Chénier ist Oliviero de Fabritiis, ein Garant für Italianità und Sängerzugewandtheit. Wie ein Gruß aus alten, besseren Opernzeiten, als die Sänger und nicht die Regie Pausengesprächsstoff waren und die Oper zumindest in Italien eine Kunstform für alle, klingt diese in der Reihe Il Mito dell’Opera  erschienene CD (GB 1242-2). Ingrid Wanja         

Spätbarocke Sterne

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Amate stelle ist eine neue CD bei GLOSSA betitelt, welche  Arien für die gefeierte Barock-Primadonna Anna Maria Strada präsentiert (923536). Solistin ist die Sopranistin Marie Lys, spezialisiert im Barock- und Belcanto-Repertoire. Bekannt wurde sie in unseren Breiten durch ihre Mitwirkung in der Vivaldi-Edition von naïve. Die CD wurde im Oktober 2019 in Basel aufgenommen. Das Abchordis Ensemble musiziert unter Leitung von Andrea Buccarella mit starken Akzenten und inspirierenden Vorgaben.

Anna Maria Strada wurde 1703 in der Lombardei geboren und war in Venedig und Neapel engagiert, bevor sie Händel 1729 für seine Zweite Akademie in. London verpflichtete. Dort errang sie den Ruf, die beiden amtierenden und rivalisierenden Diven Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni sogar noch zu übertreffen. Ihre Virtuosität, die Stimmqualität und der lyrische Ausdruck waren legendär. 1737 kehrte sie nach Italien zurück und wurde am berühmten Teatro San Carlo in Neapel engagiert. Das Institut widmete seine Weihnachtsproduktion des Jahres 1740, Porporas Zenobia, Stradas Abschied von der Bühne. Erstmals übernahm die Diva in dieser Aufführung eine Rolle en travestie, dementsprechend wurde der Titel der Oper als Hommage an sie in Tiridate geändert. 1775 starb die Sängerin im Alter von 72 Jahren in Neapel.

In der Programmfolge von zwölf Arien finden sich einige bisher unveröffentlichte Titel. Den Beginnt markiert jene Vivaldi-Oper, welche die Strada in ihrer Karriere als erstes Werk dieses Komponisten interpretierte: La verità in cimento. Daraus erklingt eine Aria der Rosane, „Con più diletto il mio Cupido“, welche eine Alternative für ihr „Solo quella guancia bella“ darstellt. Mit ihren Koloraturkaskaden ist sie von hohem Anspruch und Marie Lys meistert diesen bewundernswert. Der Sopran ist kraftvoll, hell und klar, im Timbre vielleicht nicht unbedingt memorabel, aber sein virtuoses Vermögen ist außerordentlich. Die zweite Nummer stammt aus Domenico Sarros Tito Sempronio Gracco. Es ist die Eingangsarie der Erminia, „Se veglia, se dorme“, welche Strada 1725 in Neapel sang. Dies ist ein empfindsames Legato, das langen Atem und verinnerlichten Ausdruck verlangt. Der dritte Titel ist der erste aus der Feder von Händel, die Aria der Adelaide, „Scherza in mir navicella“, aus dem Lotario, welche Stradas Debütrolle in London markierte. In dieser stürmischen Aria di bravura kann die Solistin der CD erneut mit virtuosem Zierwerk glänzen.

Den Höhepunkt von Stradas Londoner Wirken stellt die Titelheldin in der Alcina dar (1735), aus der Marie Lys die Aria „Ah! Mio cor!“ Interpretiert. Sie verlangt im Gleichmaß Pathos und den Ausdruck seelischen Leids, was Lys beeindruckend gelingt. Dramatischen Aplomb erfordert die Aria der Tusnelda, „Scaglian amore e sangue“, aus Arminio, die Strada 1737 sang, bevor sie nach Italien zurückkehrte. Lys demonstriert hier leidenschaftlichen Zorn und stupende Sicherheit in den Spitzentönen.

Zu den großen Meistern der Italienischen Barockszene zählt Leonardo Vinci, in dessen Eraclea die Strada 1724 die Partie der Flavia sang.  Deren Aria im 1. Akt, „Il ruscelletto amante“, singt Lys bezaubernd kokett und rhythmisch sehr akzentuiert.

Ein anderer Vertreter des Barock ist Leonardo Leo, aus dessen Schaffen sogar drei Beispiele ausgewählt wurden. Aus Achille in Sciro (1740) erklingen zwei Arien – aufgewühlt „Non vedi tiranno“ und expressiv „No, ingrato, amor non senti“, aus Zenobia in Palmira (1725) Aspasias vehementes „Quando irato il ciel“. Es war diese die bedeutendste Partie der Strada in Neapel, wo sie an der Seite von Farinelli brillierte.

Ergänzt wird die Sammlung durch Emirenas mit Koloraturen gespicktes „Infelice in van mi lagno“ aus Baldassare Galuppis Adriano in Siria (1740) und deren empfindsames „Oh, Dio, mancar mi sento“ aus Giovanni Alberto Ristoris Vertonung des Stoffes (1739). Die letzte Nummer stammt aus Nicola Porporas Tiridate, jenem Werk, das die Strada 1740 bei ihrem Bühnenabschied in Neapel interpretierte. Die kantable Aria des Titelhelden, „Vi conosco amate stelle“, welche dem Album den Titel gab, zeugt noch einmal von der starken Ausdruckskraft und dem virtuosen Vermögen der legendären Sängerin und beweist auch die Meisterschaft der aktuellen Interpretin, die hier mit delikaten Trillern und kunstvollen Verzierungen aufwartet (14. 03. 23). Bernd Hoppe

Eitle Nabelschau

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Flüchtig und von weitem betrachtet scheint das Cover von Barrie Koskys Buch einen Markthändler bei der Anpreisung seiner Waren darzustellen, bei näherer Betrachtung allerdings stützt dieser seine ringegeschmückten Hände auf die Rückenlehne der Parkettreihe aus der Komischen Oper Berlin, von der aus er seine Anweisungen an die Bühne zu geben pflegt, und die ist im Hintergrund schattenhaft zu sehen. Und Vorhang auf, Hallo!“ ist der ebenfalls etwas marktschreierische Titel mit dem Untertitel Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.“, der auf Oper, Operette und Fernsehshow gleichermaßen hinweist. Der Co-Autor ist Rainer Simon.

Nicht nach Lebensabschnitten, sondern nach Opernfiguren ist das Buch gegliedert, zu denen sich außer denen im Titel genannten noch Tatjana, Hans Sachs, Tosca und Mackie Messer gesellen, allerdings prägen diese zugleich einzelne Entwicklungsschritte des aus Australien stammenden Künstlers.  Diesem fernen Erdteil und der dahin aus Europa verschlagenen Großmutter ist das erste Kapitel namens Mariza Down Under gewidmet, die nie ihre ungarischen Wurzeln und die damit verbundene Liebe zu Opern vergaß und sie schon dem Kind Barrie einzuimpfen verstand. Dieses hatte allerdings nicht nur ungarische, sondern durch andere Vorfahren auch weißrussische und polnische Wurzeln. Die Großmutter hatte eine besondere Liebe für die deutsche Sprache, die der Enkel unbedingt lernen sollte. Nicht die Welt osteuropäischer Schtetl allerdings lernte der Junge kennen, sondern die auch recht abgeschlossene der in Melbourne lebenden Juden und mit dreizehn Jahren die erste Operette, mit fünfzehn seinen ersten Tristan.     

Von Gräfin Mariza in Melbourne wird der Bogen zur Tätigkeit an der Komischen Oper geschlagen, dem früheren Metropoltheater, wo der dann Intendant und Regisseur nicht etwa die von ihm der „Spießigkeit“ verdächtigten Strauß und Léhar, sondern Kalman, Straus und Abraham aufführt. Auch Felsenstein, Rothenberger und Schwarzkopf finden keine Gnade vor seinen Augen und Ohren noch der Einsatz von Opernsägern in der Operette. Die Genugtuung, die es der „kleine(n) australische(n) jüdische(n) Schwuchtel“ bereitet, quasi nachträglich noch Hitler besiegt zu haben, „da wir diese  Stücke genießen“, durchzieht viele Kapitel. Daneben gibt es vieles anderes Nachdenkenswertes wie die Überzeugung, Regie solle nicht illustrieren, sondern einen Kontrast oder eine Zutat, die ergänzt, sein.

Der Großvater handelt in Australien mit Pelzen und besitzt als gebürtiger Russe eine reiche Sammlung russischer Musik, darunter viel Tschaikowski. „Jeder Takt seiner Musik….Queerness“, glaubt Kosky schon früh zu erkennen, nachdem er mit 16 seinen ersten Eugen Onegin erlebt hat. An der Komischen Oper wird er sein ganzes Augenmerk und seine Zuneigung auf Tatjana lenken und lässt den Leser an seinen Inszenierungsideen teilnehmen, die auch einen Orgasmus Tatjanas am Ende der Briefszene einschließen. Da verbindet sich das uneingeschränkte Lob für die Sopranistin Asmik Grigorian mit der Einsicht, Ausprobieren und Vertrauen zwischen Sänger und Regisseur seien wichtig, mit der rigorosen Ablehnung des „ganzen Müll, den wir schon hundertmal gesehen haben“, d.h. traditioneller Inszenierungen.

Fühlte sich der schwule Kosky besonders durch Tschaikowski angesprochen, so ist es der Jude Kosky, der Richard Wagner aus verständlichen Gründen eigentlich aus tiefstem Herzen hasst, seine Musik aber liebt, glaubt, ihn als Dubbek höhnisch auf seiner Schulter sitzend zu erleiden und erfährt, dass er ihn durch die Inszenierung der Meistersinger und ausgerechnet in Bayreuth überwinden und verscheuchen kann. Er macht aus dem Paar Sachs-Beckmesser das Wagner-Levi, aus der Handwerkerstadt Nürnberg des 16. Jahrhunderts die der Nürnberger Prozesse. Da selbst nicht mit den für einen Juden nachvollziehbaren Vorbehalten gegenüber den Meistersingern behaftet sein müssende Künstler unter Verkennung der historischen Situation die Ansprache des Sachs für “problematisch“ halten, kann man diese Position Barrie Kosky gewiss nicht nachtragen, wohl aber zweifeln an der Richtigkeit der Aussage, Wagner und andere „bereiteten mit ihrem deutschtümelnden, nationalistischen Schaffen…den Boden für die Reichsmusikkammer“. Die hätte es wohl leider auch ohne Meistersinger gegeben.

Miss Piggy, der drag-queen der Popkultur, die Nurejew zum Sex bewegen will, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auch auf Musicals wie Ein Käfig voller Narren eingegangen wird. An Wildes Salome, einem Text, der Queerness atmet, reizt ihn der Geruch eines „in Fäulnis verfallenden Pfirsichs, lässt Verwunderung darüber aufkommen, dass einer der spießbürgerlichsten Komponisten, den Kosky eigentlich nicht mag, „eine solche“, d.h. wunderbare Musik schreibt. Sicherlich haben viele Zuschauer sich wie Kosky selbst an dessen Regieideen, so der von ihm gesehenen Nekrophilie Salomes  berauscht, ob sie auch den Haarstrang, den sie sich aus der Vagina zieht, deuten konnten oder wie Kosky meinten: Sie bläst ihm einen, sei dahin gestellt. Aber immer noch nachvollziehbarer als die auch von Kosky verdammte Darstellung der Salome als die eines Kindesmissbrauchs.

Im Kapitel über Tosca setzt der Regisseur Puccinis Opern mit Hollywoods Melodramen in Beziehung, lässt den opernliebenden Leser aber über einige Ungenauigkeiten stolpern. Da ist einmal ein Foto von Corelli als Don Josè, das ihn angeblich als Cavaradossi darstellt, der aber nie eine spanische Uniform trug. Da wird behauptet, Scarpia wolle Tosca in ihrer Wohnung vergewaltigen und diese sei durchaus fasziniert von Scarpias Brutalität. Da wird Cavaradossi als „selbstverliebt“ und „eitel“, als Narzisst  diffamiert, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass Kosky in seiner Jugend viele ihm als Cavaradossi erscheinende Lehrer und Mitschüler anhimmelte und nie erhört, ja wohl nicht einmal wahrgenommen wurde. Auch wird nicht jeder Zuschauer wie Kosky in Tosca eine queere Oper sehen, nur weil „all die Körpersäfte, der Schweiß, die Tränen, das Sperma (!), die Tosca auszuscheiden scheint….Ingredienzien queeren Kulturschaffens sind“. Boleslav Barlog an der Deutschen Oper meinte, Cavaradossi glaube an seine Rettung, Kosky vertritt die Ansicht, er stelle sich im dritten Akt nur tot- „mit verheerenden Folgen“. Allerdings, denn wie soll es dann weitergehen? Schüttelt man hier und da den Kopf, überzeugt anderes wieder wie der Bericht über Vorarbeiten zu einer Inszenierung, die allmähliche Entwicklung derselben während der Probenarbeit.

Bereits in der Schule hatte Kosky Weill inszeniert, in der Dreigroschenoper sieht weder ein Meisterwerk „noch ein politisches Bühnenmanifest“, und diese Einsicht bestimmte auch seine Inszenierung am Berliner Ensemble.

Der Epilog ist noch einmal ein Bekenntnis zur Gattung Oper und zum Opernerleben, der Chance, „einen flüchtigen Blick in unser Innerstes zu erhaschen“. So endet ein sehr ehrliches, überschwängliches, nicht in allem und von jedem nachvollziehbares Bekenntnis zur Oper, die wir alle lieben( 250 Seiten Insel Verlag Berlin 2023; ISBN 978 3 458 64370 8). Ingrid Wanja

Was alles veröffentlicht wird …

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Was erwartet der Leser von einem Buch mit dem Titel Diva in violett glänzenden Lettern, das zudem nach den Untertitel Eine etwas andere Opernverführerin trägt? Dazu gibt es das Konterfei einer durch eine Maske lugenden Dame in festlicher Gewandung. Glamour, Erotik, Begeisterung, aber auch fundiertes Wissen um das, zu dem man verführen will, sollten sich doch wohl auf den 425 Seiten vereinen, doch zumindest nach einer kursorischen Lektüre dürfte das Ergebnis der Lektüre beim Opern-Nichtkenner Verwirrung breit gemacht haben, beim Kenner jedoch ein zunehmender Verdruss wegen der mal feministischen Einseitigkeit, mal der Fixiertheit aufs Religiöse und der mangelnden musikalischen Kenntnisse der Autorin Barbara Vinken.

Bereits beim Lesen der Einleitung stößt man auf geheimnisvolle Begriffe wie den der „Maria-Theresia-Klammer“, auf eine „nobilitierte Cavalleria rusticana“, die doch eigentlich nur „Bauernehre“ bedeutet, auf die Behauptung, Oper sei eine „raffiniert witzige Reflexion auf Geschlechterkonstellationen“, Kastraten stellten die „Ent-Naturalisierung der Geschlechterrolle“ dar, wo doch ihr bedauernswertes Schicksal zunächst einfach einmal Folge des Verbots weiblicher Mitwirkender im Kirchengesang war.

Ärgern kann man sich über Fehler und unbeweisbare Behauptungen wie die Zuordnung Cherubinos und Octavians zu den Sopranen, auch dadurch werden sie nicht „engelhaft“, es sei denn, man könne Engeln einen ausgeprägten erotischen Appetit nachsagen. „Selbstherrliche Dummheit“ wird den Tenorpartien nachgesagt, und so scheint es nur folgerichtig zu sein zu behaupten, „keinem wird so übel mitgespielt wie dem Tenor“, „Männlichkeit wird auf der Opernbühne fast durchgehend lächerlich gemacht“. Aber auch andere Stimmfächer bekommen etwas ab, wenn dem Conte Almaviva ein „rumbrüllender Bariton“ angedichtet wird. Hin und weg ist er Leser, wenn ihm mitgeteilt wird:“Die Oper arbeitet an der Re-Interpretation und Umbesetzung des Opfertodes Christi“.

Der Block  „Vorspiel“ ist drei Mozart-Opern gewidmet, beginnend mit Le Nozze di Figaro. Verstört nimmt der Leser zur Kenntnis, dass der brave Figaro „aristokratische Eleganz“ verkörpere, zudem ein „frivoler Strippenzieher“ sei, dass der Leser sich einer „Fehllektüre“ schuldig mache, wenn er annehme, Figaro sei ein Vorbereiter der Revolution. Dafür hat er aber Don Curzio ein „Kuckucksei ins Nest gelegt“, was natürlich bisher noch von niemandem bemerkt wurde. Es gibt ungeheuer viele Zitate aus zeitgenössischer Literatur, fast gar nichts über die Musik, die in einer Oper doch eine gewisse Rolle spielt. Über die des Figaro weiß die Autorin lediglich zu sagen,  Cherubino sei die Inkarnation der schmelzenden, weichen Musik“. Damit nicht genug. Mit Cherubino steht und fällt das Patriarchat und die  Geschlechtsidentität.“ Schließlich versteigt sich die Verfasserin noch zu der unbewiesenen und unbeweisbaren Behauptung, dass im Figaro weniger das Ancien régime kritisiert werde als das republikanische Bürgertum. Cherubino aber verkörpere die „Durchkreuzung der binären Geschlechtsidentität“. Wenn das nicht zur Oper verführt! Zumindest in diesem Kapitel wird nicht vom Werk ausgegangen, sondern diesem eine wohl nicht wenigen Lesern als recht seltsam anmutende Weltsicht übergestülpt. Zumindest zum Weiterlesen wird er damit nicht verführt.

Aber das Kapitel über Tosca soll einen zweiten Versuch, sich verführen zu lassen,  wert sein. Immerhin wird durch die Betitelung mit Nicht von dieser Welt: Göttliche Stimmen die Hoffnung geweckt, man würde nun etwas über den Zauber der Musik erfahren. Zufrieden stimmt erst einmal, dass die deutsche Übersetzung der Arien eine wörtliche ist und nicht wie im Kapitel über Cavalleria rusticana die unsägliche in deutschen Opernhäusern bis zur Umkehr zu Aufführungen in Originalsprache praktizierte.. Über viele Seiten hinweg beschränkt sich die Autorin auf eine ausführliche Paraphrase, gemischt mit Zitaten aus anderer Sekundärliteratur, mit vielen Rückgriffen auf die Geschichte bis hin zu Virginia und Lucrezia als anderen Beispielen für heroisch handelnde Römerinnen. Schon komisch ist der Hinweis darauf, dass Mario Cavaradossi sein Schicksal bereits in seinem Namen, dem cadavere verwandt, trägt. Cavare heißt Ziehen oder Herausnehmen, da wären der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Außer der Architekturgeschichte der drei Handlungsplätze spielt natürlich die Schlacht von Marengo eine Rolle, richtig erkannt, aber falsch ist, dass hier ein Sieg Napoleons über die Heilige Allianz gefeiert wurde. Die wurde erst 1815 nach dem Sieg über Napoleon gegründet. Neben solchen Ungenauigkeiten erschrecken auch immer wieder Sätze wie „Das römische Erbe der Bürgerkriege hat die verspätete Geburt einer geeinten Nation heimgesucht.“ 

Lange muss man auf kurze Bemerkungen zur Musik warten, findet man eine, dann ist auch die eher verstörend wie: „harmonisch verbindend ist auch die weichgefügte, strömende Melodieführung“, nicht weniger der den Seelen angedichtete „umschlungene(n), sphärische(n) Flug“.

Obwohl sicherlich die größte Sympathie Puccinis dem Freigeist Cavaradossi galt und nicht der frömmelnden Tosca, stellt Vinken das Tosca-Kapitel unter einen religiösen Überbau, wenn sie unter anderem im zweiten Akt die Perversion der eucharistischen Wandlung sieht, in der aus Wein Blut und aus Brot „gefoltertes Fleisch wird.

Dass dieses Buch den Leser dazu verführt, sich der Gattung Oper zuzuwenden, darf bezweifelt werden, dass er sich von der Oper abwendet, wenn er noch mehr davon liest, ist zu befürchten (Klett-Cotta 2023; ISBN 978 3 608 11938 1). Ingrid Wanja       

Eine Bedeutende des Belcanto

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Die rumänische Opernsängerin Virginia Zeani (geb. 21. Oktober 1925 in Solovăstru, Siebenbürgen) starb am 20. März 2023. Sie wurde wurde als Virginia Zehan in Solovastru geboren und studierte Literatur und Philosophie an der Universität von Bukarest, während sie ihre Stimme bei Lucia Anghel und Lydia Lipkowska ausbildete. Nach ihrem Umzug nach Italien erhielt sie Gesangsunterricht bei Aureliano Pertile. Ihr frühes Debüt gab sie 1948 als Violetta (!) am Teatro Duse Bologna, was sich als Triumph für die junge Sängerin erwies. Die Violetta wurde zu der Rolle, mit der sie eng verbunden war und die sie im Laufe ihrer Karriere Hunderte von Malen sang!

Virginia Zeani mit Gatten, dem Bassisten Nidola Rossi-Lemeni/ Wikipedia

Diese Rolle, die sie insgesamt 648 Mal sang, führte sie an die größten Theater der Welt, darunter das Palais Garnier in Paris, das Royal Opera House in London und das Metropolitan Opera House in New York. Mit einem Repertoire, das von der Barockoper bis zu zeitgenössischen Werken reicht, wurde sie 1957 von Francis Poulenc für die Rolle der Blanche de la Force in der Uraufführung der Dialoge der Carmelites an der Scala ausgewählt.

Mehr als zehn Jahre lang widmete sie sich den Rollen, die man allgemein als Koloraturen“ bezeichnet, und sang Lucia, Elvira, Amina und Gilda. Bald kamen Norina, Rosina und Fiorilla (unter anderem) hinzu. 1956 gab sie ihr Debüt als Cleopatra in Händels Giulio Cesare an der Scala. Bei der Premiere von Poulencs Dialogues des Carmélites sang sie die Rolle der Blanche. Ihre hervorragende Technik ermöglichte es ihr, die vier Rollen (Olympia, Giulietta, Antonia, Siebel) in Offenbachs Les Contes d’Hoffmann mit Bravour zu singen. Später nahm die Künstlerin weitere lyrisch-dramatische Rollen in ihr Repertoire auf: Aida, Desdemona, Tosca, Magda Sorel in Menottis Consul, Fedora, Cio-Cio-San, Manon Lescaut, Elsa und Senta in Italienisch, Adriana Lecouvreur, Thaïs, Marguerite usw. Als innovative Künstlerin nahm sie an vielen Wiederaufnahmen von Belcanto-Opern teil (z. B. Maria di Rohan, Le Comte Ory, Zelmira, Rossinis Otello, Alzira).  Zeani sang am Bolschoi-Theater in Barcelona, in der Arena di Verona, in Monte Carlo, Paris, St. Petersburg, Mexiko-Stadt, Belgrad, Houston, Budapest, Philadelphia, an der Met und in Wien (Volksoper und Staatsoper). Sie trat mehrmals in Dublin auf und ist dort noch immer in bester Erinnerung.

Ihr nordamerikanisches Debüt gab sie 1965 in Montréal, wiederum in der Rolle der Violetta. Nachdem sie fast 15 Jahre lang leichte Sopranpartien gesungen hatte, wurde sie von Zubin Mehta überredet, ihr Repertoire zu erweitern und schwerere Rollen wie Aida zu singen, die sie erstmals im Salle Wilfrid-Pelletier an der Seite von Jon Vickers, Lili Chookasian, Louis Quilico und Joseph Rouleau sang. 1968 kehrte sie für eine Produktion von Puccinis Manon Lescaut nach Montréal zurück. In ihrer außergewöhnlich langen Karriere, die insgesamt 34 Jahre dauerte, stand sie mit einigen der größten Stars des 20. Jahrhunderts auf der Bühne, von Beniamino Gigli, Giuseppe di Stefano und Franco Corelli bis Alfredo Kraus, Luciano Pavarotti und Plácido Domingo.

Virginia Zeani als Aida/ Zeani.com

1982 zog sie sich von der Bühne zurück und gab ihr wei8teres Debüt an der San Francisco Opera in den Carmelites, diesmal als Mutter Marie. Sie und ihr Ehemann, der Bass Nicola Rossi Lemeni, erhielten anschließend einen Lehrauftrag an der Jacobs School of Music der Indiana University, wo sie 1994 den Titel „Distinguished Professor of Music“ erhielt. Zu ihren zahlreichen Schülern gehören Ailyn Perez, Elizabeth Futral, Marilyn Mims und Vivica Genaux.

Virginia Zeani fiel sofort durch ihre seltene Fähigkeit auf, ihrer Musik einen präzisen Sinn zu geben, indem sie jene seltene Synthese von Belcanto und Ausdruck erreichte, die ihre Interpretationen sowohl für ihre dramatische Sensibilität und Intimität als auch für ihren strahlenden Gesang lobte. Unter all dem hatte Zeanis Timbre jedoch etwas, das direkt ins Herz ging: eine Aura verschleierter Melancholie, eine edel kontrollierte Leidenschaft, die sich vorzüglich mit der betörenden Farbe ihrer Stimme verband, die in der Mitte düster und in der Höhe strahlend war. Es war eine Stimme von faszinierender Weiblichkeit, die sowohl Zärtlichkeit als auch Sinnlichkeit, Elegie und Tragödie auszudrücken vermochte. G. H.

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In einem Interview mit dem kürzlich verstorbenen renommierten kanadischen Kritiker und Musikwissenschaftler Gérald Dubois sprach sie 2021 über Einzelaspekte ihrer Karriere:  Zum Beginn: Ich verließ Rumänien 1947, ich war 21, ich ging im Februar und mein Geburtstag ist im Oktober, also war ich genau 21 Jahre und 4 Monate alt. Hier habe ich sehr viel studiert, aber in Rumänien hatte ich keine Karriere. Ich hatte ein Konzert in der Dalles Hall, mit den anderen Schülern meiner Gesangslehrerin, Lydia Lipkowska, und das war alles, ich hatte keine Karriere. Mein erstes offizielles Konzert war vielleicht, als ich für den italienischen Konsul und Botschafter sang, die mich zu einem Abendessen eingeladen hatten. Aber ich hatte schon viel gelernt, als ich wegging, seit ich 12 war. 12 und ein halbes Jahr alt, um genau zu sein. Im Jahr ’38!

Ich hatte ein sehr seltsames Schicksal. Ich habe sehr jung angefangen, ich habe sehr hart studiert und ich habe nie etwas mehr geliebt als das Singen. Ich glaube, das ist etwas, das einem in die Wiege gelegt werden muss. Man weiß nie, was als Nächstes passiert, aber irgendetwas oder irgendjemand führt dich zu dem, was du liebst, aber nicht unbedingt verstehst, und das gibt dir die Kraft, Zeit und Energie zu investieren, um zu entdecken, was deine Berufung im Leben ist. Die Tatsache, dass man diesen Ehrgeiz hat, etwas zu lernen, ist ein Mysterium, aber gleichzeitig ist es eine Freude, etwas zu verfolgen, das man liebt und das letztendlich nicht wirklich erreichbar ist. Wie kann man Musik „erreichen“?

Ich habe schon als Kind gerne gesungen und alle Vögel und alles, was ich im Garten hörte, imitiert. Ich habe mit 13 Jahren angefangen, und man hielt mich für einen Mezzosopran, dann für einen lyrischen Sopran, dann für einen lyrischen mit Koloraturen. Das Ziel meines Wunsches war immer ein Geheimnis, aber die Anziehungskraft, die ich auf den Gesang ausübte, brachte mich dazu, diesem Wunsch jeden Tag nachzugehen. Ich wusste, dass es mein Schicksal war, zu singen.

Ratschlag zur Langlebigkeit der Stimme: Ich denke, das wichtigste ist, es von Tag zu Tag zu nehmen und nicht zu übertreiben. Danach muss man mit dem Talent, das man an dem Punkt hat, an dem man sich befindet, sein Bestes geben. Man kann nicht entscheiden, was man sein wird, bevor man dort ankommt, wenn man noch jung ist und sich ständig verändert. Selbst nach all den Jahren des Trainings wird sich deine Stimme verändern, und du musst die Geduld haben, dein wunderbares Naturtalent nicht durch zu schnelles Handeln zu ruinieren. Langsam und beständig gewinnt das Rennen.

Was man jedoch tun kann, ist, dass Sie, wenn Sie am Ziel sind, darauf vorbereitet sind, jede Herausforderung zu meistern, die sich Ihnen stellt. Ich glaube, das gefährlichste Verhalten, das ich bei jungen Sängern immer noch sehe, ist, dass sie keine Geduld zum Lernen haben. Sie machen sehr schnell das nach, was sie auf der Bühne oder auf Aufnahmen hören, und sie verändern die Farbe ihres Klangs, anstatt mit Ruhe und Geduld zu lernen.

Virginia Zeani mit Francis Poulenc bei den Proben zu dem „Dialogen der Carmeliterinnen“ an der Scala 1957 / Archivio storico del Teatro alla Scala

Regie gestern und heute: Der größte Unterschied auf den Bühnen heute im Gegensatz zu früher ist die Frage der Regie. Heutzutage ändern einige Regisseure alles: Sie lassen die Opern nicht so erzählen, wie die Komponisten sie wollten. Sie versuchen, das Thema zu modernisieren, was für mich absurd ist, weil ich denke, dass die Oper mit dem Komponisten, der Zeit, in der sie komponiert wurde, und dem Moment der Geschichte, der in dieser speziellen Geschichte eingefangen wurde, verbunden ist. Zu meiner Zeit waren wir diejenigen, die die Inszenierungen, in denen wir auftraten, meistens selbst inszenierten. Es war wirklich eine Teamleistung zwischen den Sängern, dem Dirigenten, dem Regisseur und der Arbeit, die uns aufgetragen wurde. Wir arbeiteten Hand in Hand, um herauszufinden, was der Komponist mit der Musik ausdrücken wollte, und nicht, um einen Weg zu finden, diese Meisterwerke „aufregend“ zu machen: Das sind sie schon, auf so viele Arten.

Die Stimme: Zunächst einmal bleibt das Instrument gleich, nichts ändert sich außer den Farben, je nach Gemütsverfassung der Figur. Das Geheimnis ist, die Richtung der Phrasierung und die Fragen der Oper zu finden. Wenn man die Werke von Poulenc nimmt, die ich gesungen habe, die Dialoge oder auch La voix humaine, die stilistisch nicht dem Belcanto nahe stehen, musste ich die sehr modernen Konzepte verstehen und sie dem Publikum mit einem guten Klang und einer großartigen Diktion erklären, um genau das auszudrücken, was der Komponist in seiner Partitur sagt, wie ich es bei jeder Oper tun würde.

Mit dem Publikum leben: Das Ziel bei jeder Art von Musik ist es, zu kommunizieren, zu teilen, und der Ansatz sollte für alle Arten von Repertoire derselbe sein. Man muss nach der Phrasierung suchen, die die Botschaft der Oper vermitteln soll. Man kann nicht die gleichen Farben für die Rolle der Alissa oder der Blanche verwenden, weil die Phrasen und die Komponisten unterschiedlich sind. Wenn man denkt, dass man einer neuen Rolle etwas geben kann, sollte man das unbedingt tun. Wie aufregend ist es für ein Publikum, jemanden zu hören und zu sehen, der etwas tut, was es noch nie zuvor gehört oder gesehen hat? Neue Geschichten zu haben, ist sehr wichtig.

Es geht darum, dem Publikum jedes schöne Gefühl zu erklären, das man in seinem Herzen hat. Ich mochte es nie, in meinem Gesang aggressiv zu sein, besonders im Belcanto-Repertoire. Ich mochte es immer, jedes Gefühl durch meine Augen und meine Stimme mit Schönheit, Ruhe und Leidenschaft zu vermitteln. Man muss sich mit dem Publikum austauschen, und wenn es die Gefühle, die man hat, versteht und mit ihnen übereinstimmt, bedeutet das, dass man in einer totalen Einheit und einem Austausch von Gefühlen ist. Aber jeder ist anders geboren, und man wird nie jemanden finden, der genau so ist wie man selbst oder der die Dinge genauso empfindet wie man selbst.

Virginia Zeani mit Alfredo Kraus in „La Traviata“ in Lissabon/ Romania.Muzical

Deshalb müssen wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen, indem wir dem Komponisten und dem Librettisten, aber vor allem uns selbst, unserem Hintergrund und unserem Geist treu bleiben. Das ist der Grund, warum manche Leute eine Interpretation einer anderen vorziehen, wir können Schönheit auf eine bestimmte Art und Weise empfinden, die jemand anderes nicht versteht, aber wenn wir das tun, kommen wir einander sehr nahe, und das ist eine der schönsten Sachen: unsere Seelen durch Musik zu vereinen.

Belcanto:  Vom technischen Standpunkt aus betrachtet, nenne ich mein System des Singens folgendermaßen: Auf Italienisch sagen wir „raccogliere i suoni“. Das bedeutet, dass man die Schwingungen, die „Töne“, in einem Punkt, der Maske, versammeln muss, der es der Stimme erlaubt, so viel wie möglich mit so wenig Anstrengung wie möglich zu glänzen, und dass man diese Schwingungen mit dem Zwerchfell unterstützen muss. Wenn man diese Schwingungen in diesem Punkt bündelt, wird man nie müde, im Gegensatz zu breitem, offenem oder lautem Singen, wie man es heute leider oft hört. Dann muss man mit diesen Klängen Emotionen vermitteln, ihnen Farbe geben und die Intention des Komponisten finden. Darüber hinaus muss jede Stimme alles können, vom Koloratursingen bis zum Vibrieren der Töne in Millionen von Farben, und man muss einen Weg finden, dies mit Leichtigkeit zu tun, sonst ermüdet man sich selbst enorm. Der Trick besteht darin, herauszufinden, was man wirklich gut kann, und es zu seinem Vorteil zu nutzen, während man an dem arbeitet, was verbessert werden muss. Belcanto ist letztendlich ein Weg, um jede einzelne Person in der Oper zu einem echten Star zu machen. (Übersetzung P. C.)

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Foto oben: Romania Muzical  

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