Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aus der Komischen Oper Berlin

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Fast auf den Tag genau 87 Jahre nach ihrer Uraufführung im Berliner Admiralspalast wurde in einer rekonstruierten und neu arrangierten Fassung, denn die Orchestrierung ging in den Kriegswirren verloren, Jaromir Weinbergers Operette Frühlingsstürme in der Komischen Oper aufgeführt. Am 20. Januar 1933 war das Stück erfolgreich uraufgeführt worden, das dem Tenor Richard Tauber auf die Stimmbänder komponiert worden war, der nach der Vorstellung vor dem Hotel Kempinski am Kurfürstendamm von SA-Schlägern niedergeschlagen wurde. Der Komponist und sein Star verließen Deutschland, auch Weinbergers Oper Schwanda der Dudelsackpfeifer, in der Spielzeit 29/30 die noch vor Carmen oder Zauberflöte meistgespielte Oper in Deutschland, verschwand von den Spielplänen, Frühlingsstürme wurde noch einige Male in tschechischer Sprache aufgeführt, zum letzen Mal 1947 in Ostrava.  Aus dem Jahr 1933 gibt es einige Aufnahmen von Arien und Duetten, allerdings hat hier Tauber nicht seine Bühnenpartnerin Jarmila Novotná zur Seite und diese an seiner Stelle den Tenor Marcel Wittrich.

Das Libretto von Gustav Beer ist der Nachwelt überliefert worden, weist allerdings die genreüblichen Schwächen mit Herz-Schmerz-Reimen auf wie „sollst mein Leben hold umschweben“ oder Holprigem wie „darf ich sie nicht begehren, wozu wär‘ solches gut“, ansonsten neigt sich das Werk eher dem Genre tragische Operette zu, denn es gibt kein happy end zwischen den Komponenten des Hohen, sondern nur des  Buffo-Paars, stattdessen ein Sichfügen in die Gegebenheiten, eine aus einem Irrtum entstandene Ehe für den Tenor, für die Diva das Bündnis mit dem alternden General, dem sie einst das (falsche) Lösungswort „Frühlingsstürme“ entlockte, um ihrem Geliebten die Flucht aus dem feindlichen Lager zu ermöglichen. Die Darstellung der Handlung nahm im Programmheft der Komischen Oper zwei volle Seiten in Anspruch, was für eine Operette bedenklich ist, auch damit zusammenhängt, dass sie auf tatsächliche historische Ereignisse, den japanisch-russischen Krieg von 1905 und die darauf folgenden Friedensverhandlungen, zurückgreift.

Trotz all dieser nicht gerade optimalen Voraussetzungen war der Komischen Oper wieder ein zumindest in großen Teilen praller Operettenabend gelungen, den Naxos jetzt als DVD vorstellt. Da ist ein Wehrmutstropfen nur, dass ausgerechnet der  Beginn sich mit einer langen Sprechszene für die Lagebesprechung im russischen Hauptquartier in der Mandschurei ungewöhnlich zäh dahinzieht.  Einen Kontrast dazu bieten die frech-fetzigen, manchmal zu klamaukhaften Szenen des Buffopaars, der aufmüpfigen Generalstochter Tatjana und des deutschen Skandaljournalisten Roderich Zirbitz, der sich auch als Koch oder Zauberkünstler verkleidet, um an seine Stories zu gelangen. So richtig in die Operettengänge kommt die Geschichte, wo sie sich fein über die Gattung lustig macht mit Damenballett (Choreographie Otto Pichler) mit riesigen Schwanenfederfächern, Revuetreppe in rosigen Farben und einem Starkregen von roten Papierherzchen. Nicht nur die Tänzerinnen bekamen in vielen ganz unterschiedlichen Funktionen, Chinapüppchen oder blasierte Hotelgäste, die allerschönsten Kostüme von Dinah Ehm verpasst. Der andere große Pluspunkt ist der Darsteller der reinen Sprechrolle des heiratslustigen, wenn auch bereits von Altmännerproblemen geplagten Generals Katschalow, Stefan Kurt, für den sich Regisseur Barrie Kosky eine Fülle herrlicher Szenen ausgedacht hatte, so das Musizieren auf dem verführerisch ausgestreckten Bein der angebeteten Lydia, den Streit zwischen hochfliegenden Liebesgedanken und viel tiefer liegenden Misshelligkeiten, den inneren Kampf zwischen Erzieherstrenge und Vaterliebe. Ihm galt dann auch, trotz eines schlimmen eingelegen „Kuda, kuda“ der herzlichste Beifall des Publikums.

Auf leerer schwarzer Bühne  (Klaus Grünberg) ist ein riesiger wandelnder Kubus zu bestaunen, der sich zu Schauplätzen wie Vorzimmer zum Ballsaal oder Hotelhalle öffnen kann und durch eine Unzahl von Türen Auftritts-, Flucht- und Versteckmöglichkeiten ohne Zahl bietet. Da bedarf es dann nur weniger Requisiten wie zweier auch als Versteck dienender Palmen, um die passende Atmosphäre zu schaffen.

Die Komische Oper kann auch eine Operette bestens mit Kräften aus dem eigenen Ensemble besetzen. So die zwielichtige Lydia mit der bildschönen, mit leichtem, aber farbigem, in der Höhe reich aufblühendem Sopran bedachten Vera- Lotte Boecker, mit Alma Sadé, die die flippige Tatjana hinreißend spielt und deren Sopran an Frische nichts einbüßt, obwohl sie häufig fürchterlich kreischen muss. Eine kurze und dazu gesangslose Rolle hat Martina Borroni als Gattin des Helden und kann trotzdem berühren. Dieser ist mit Tansel Akzeybek rollengerecht besetzt, bringt das exotische Element als Ito und dazu einen timbreschönen, mitreißend höhensicheren Tenor in die Produktion. Dominik Köninger windet sich schlangengleich durch seine Partie als newssüchtiger Roderich und singt dazu hinreißend mit markigem Bariton. Tino Lindenberg und Luca Schaub lassen als russische Offiziere in schmucker Uniform weibliche Herzen für das Militär schlagen. Ihr unrühmliches Ende zwölf Jahre später blendet man besser aus.

Viel Verdienstvolles ist  Norbert Biermann zu verdanken, der aus Klavierauszügen, Schlagerheftchen, wenigen originalen Orchesterstimmen und Platten-Aufnahmen und nach dem Studieren des Schwanda eine Rekonstruktion und Arrangements schuf, die in ihrer Raffiniertheit, Klangschönheit und ihrem musikalischen Reichtum vom Orchester der Komischen Oper unter Jordan de Souza voll zur Geltungsgebracht wurden und damals Appetit machten auf die Premiere von „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ im folgenden März. Die erhoffte generelle Renaissance der Werke des Komponisten allerdings blieb aus (Naxos 2.110677-78). Ingrid Wanja  

Kenneth Montgomery

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Mit großem Bedauern lasen wir vom Tode des britischen Dirigenten Kenneth Montgomery OBE (28. Oktober 1943 – 5. März 2023). Viele seiner Aufnahmen, ob nun offizielle oder (überwiegend) inoffizielle vom Radio zieren die Sammlungen der Musikfreunde, vor allem die Früchte seiner Arbeit in Amsterdam, wo er lange Jahre für herausragende Aufführungen sorgte. Ob nun Johann Christian Bach (sein Amadis gehört zu meinen absolute Lieblingsaufnahmen) oder Händel, Donizetti et al: Seine energische, dichte Orchesterbehandlung, sein Drive und sein Verständnis für die Musik zeichnen alle seine Dokumente aus. Mit seinem Tod ist die Musiklandschaft ärmer geworden. G. H.

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Dazu nun die englische Wikipedia: Als einziges Kind von Lily und Tom Montgomery wuchs er in Wandsworth Parade, Belfast, auf und besuchte die Royal Belfast Academical Institution. Sein Musikstudium absolvierte er am Royal College of Music. Er studierte bei Adrian Boult und setzte später seine Dirigierstudien bei Hans Schmidt-Isserstedt, Sergiu Celibidache und Sir John Pritchard fort. Zu seinen ersten Engagements als Dirigent gehörte die Arbeit an der Glyndebourne Festival Opera, wo er als Assistenzdirigent, Assistenz-Chorleiter und Probenpianist tätig war. Später gehörte er dem Dirigentenstab der Sadler’s Wells Opera an.

Im Jahr 1973 wurde Montgomery Musikdirektor der Bournemouth Sinfonietta. Von 1975 bis 1976 war er Musikdirektor der Glyndebourne Touring Opera und blieb dem Ensemble als Gastdirigent erhalten. 1985 wurde er sowohl künstlerischer als auch musikalischer Leiter der Opera Northern Ireland. Beim Ulster Orchestra war Montgomery als erster Gastdirigent tätig, und im September 2006 ernannte ihn das Orchester mit Wirkung vom September 2007 zu seinem Chefdirigenten – der erste in Belfast geborene Musiker, der zum Chefdirigenten des Orchesters ernannt wurde. Er beendete seine Tätigkeit als Chefdirigent des Ulster Orchestra am Ende seines Dreijahresvertrags im Jahr 2010.

Außerhalb des Vereinigten Königreichs wurde Montgomery 1975 zum Chefdirigenten des Niederländischen Radio-Sinfonieorchesters ernannt und bekleidete dieses Amt von 1985 bis 1989 auch unter dem neuen Namen Netherlands Radio Symphony. Später wurde er zum Leiter des Niederländischen Rundfunkchors (Groot Omroepkoor) ernannt. Im Jahr 1991 wurde er Leiter der Opernstudien am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Er lebte weiterhin in den Niederlanden, wo er im Jahr 2023 starb.

Ab 1982 war Montgomery regelmäßiger Gastdirigent an der Santa Fe Opera (SFO).  Im Mai 2007 ernannte die Santa Fe Opera Montgomery zu ihrem Interims-Musikdirektor als Nachfolger von Alan Gilbert. Montgomerys Amtszeit als Interims-Musikdirektor endete nach der Spielzeit 2007 mit der Ernennung von Edo de Waart zum Chefdirigenten der SFO mit Wirkung vom 1. Oktober 2007. Im April 2013 wurde Montgomery zum Ehrendirigenten der SFO für die Spielzeit 2013 ernannt.

Montgomery wurde bei den Neujahrsehrungen 2010 zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt. Er starb am 5. März 2023 im Alter von 79 Jahren. (Foto kennethmontgomery.net)

Schlammschlacht bei Wagners

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Ist es ein Zufall, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Biographien über zwei Wagner-Frauen erschiene? Über Cosima W. (wenngleich diese nun mehr als vielfach in Biographien porträtiert wurde) und ihre Tochter Isolde. Es macht nach unserer Meinung Sinn, die beiden Bücher in einer Präsentation zu besprechen, war doch die Beziehung zwischen beiden problematisch. G. H.

So schreibt der herausgebende Suhrkamp Verlag mundig:(…) „Cosima wollte für ihre Tochter nur das Beste – nämlich eine gute Partie. Die war der Musiker und Dirigent Franz Beidler, den Isolde im Dezember 1900 heiratete, nicht. Ihm fehle die »vornehme Gesinnung« – so Cosima, die ihn vom Bayreuther Hügel verbannte. Isolde rächte sich, als sie der Mutter zukommen ließ, ihr geliebter Sohn Siegfried sei homosexuell – damals ein schweres Vergehen. Die Folge: Isolde wurde die Herkunft als Tochter Richard Wagners aberkannt und ihr Sohn damit enterbt. Eine beispiellose Schlammschlacht begann.“ 

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Vor zehn Jahren befasste Eva Rieger sich mit dem Schicksal der Wagner-Enkelin Friedelind, nun ist ihr neuestes Buch erschienen und ist der Wagner-Tochter Isolde gewidmet (Isolde – Richard Wagners Tochter im Insel Verlag). Beiden Nachkommen gemeinsam ist der ihr gesamtes Leben überschattende Zwist mit den in Wahnfried ansässigen und die Festspiele leitenden Wagners, beiden gemeinsam ist aber auch die offensichtliche künstlerische Begabung, die Isolde nie ausbilden, geschweige denn vor den Augen der Welt offensichtlich machen konnte, während Friedelind, eine Generation weiter, eher an ihrer Unfähigkeit , mit Geld umzugehen, scheiterte. Während Friedelind um ihr Erbe kämpfte, stritt Isolde um den Namen Wagner. Während sie gezeugt wurde, war ihre Mutter Cosima bereits die Geliebte Wagners, lebte aber noch, wenigstens zeitweise, mit ihrem Gatten, dem Dirigenten Hans von Bülow, unter einem Dach. Auch ihre Geschwister Eva und Siegfried wurden geboren, ehe Cosima und Richard einander heiraten konnten, die Eintragung Siegfrieds beim Standesamt wurde erst nach der Scheidung und Wiederverheiratung Cosimas vorgenommen.

Das Buch von Eva Rieger liest sich wie ein spannender Roman, genügt aber streng wissenschaftlichen Ansprüchen, indem er im Wesentlichen aus Briefen, Zeitungsartikeln, Bekenntnissen besteht, die geschickt zu einer fortlaufenden Handlung miteinander verknüpft werden und so das Werk zu „Eine(r ) unversöhnliche(n) Familiengeschichte“ machen. Geht es einmal ins Reich der Spekulation, dann wird das auch mit einem „vielleicht“ betont. Da gerät der Leser immer wieder ins Staunen darüber, wie viel Schriftliches die damalige Generation verfasste, aufbewahrte und damit der Nachwelt zukommen ließ. Bewundernswert ist auch die Beherrschung der Sprache, die manchen Brief geradezu zu einem literarischen Kunstwerk werden lässt. Genauso bemerkenswert ist aber auch die Gefühlsseligkeit, ist das Pathos, das aus den Briefen zum heutigen Leser spricht, so dass er fast beschämt darüber ist, so tief in das Gefühlsleben fremder Menschen einzudringen, die ihm mit zunehmender gelesener Seitenzahl immer vertrauter werden.

Für Isolde scheint das Leben zunächst nur Positives bereit zu stellen, sie gilt als „Lieblingstochter“, als „wunderliches Wunderkind“, nach zwei Halbschwestern, deren Vater der ungeliebte von Bülow ist, als erstes in Leidenschaft empfangenes und mit Freude geborenes Kind Cosimas, wenn auch „nur“ ein Mädchen. Und so wird auch nur für den nach vier Mädchen geborenen Siegfried Wert darauf gelegt, dass er auch für das Standesamtsregister als Kind Wagners gilt.

Nicht nur die Wagner-Familie wird portraitiert oder portraitiert sich durch die überlieferten Zeugnisse selbst, auch viele berühmte Zeitgenossen wie natürlich der Großvater Franz Liszt oder Malwida von Meysenbug begegnen dem Leser, der natürlich, was die frühen Lebensjahre Isoldes betrifft, nur das akribisch aus Zeitzeugenberichten Herausgefilterte zur Kenntnis nehmen kann, der aber gerade darin die Redlichkeit der Verfasserin erkennt, die sich nicht in Spekulationen ergeht. Wenn sie einmal mutmaßt, Isolde habe eine Aufführung besonders genossen, dann lässt sich das durch die Zeichnungen, die die Wagner-Tochter Jahre später davon anfertigte, schon fast beweisen. Ein kleiner Exkurs, der nicht von der Autorin zu verantworten ist, stellt Siegfried über Brünnhilde, eine fragwürdige Parallele zum Verhältnis des Wagner-Sohnes zu seinen Schwestern ziehend.             

Die Autorin Eva Rieger/ Wikipedia

Erfreulich ist auch der umfangreiche Bildteil, in dem auch Isoldes Kostümentwürfe für die Blumenmädchen in Parsifal zu sehen sind und der beweist, dass sie nicht nur die begabteste, sondern auch die attraktivste der vier Cosima-Töchter war. Ein bisschen dünn ist die Beweislage für die Behauptung, Isolde „blieb… unbeirrt in ihrer Suche nach einem Lebensinhalt“, und deutet sich bereits das nächste Buch von Rieger mit folgendem Absatz an:“Die schwärmerische Idealisierung von Diven durch homosexuelle Männer ist ein Phänomen, das bislang wissenschaftlich nicht eindeutig erklärt werden kann“?

Sehr bald taucht am Horizont mit Houston Chamberlain eine verhängnisvolle Figur auf, der nacheinander der verwitweten Cosima, Isolde und, schließlich mit Erfolg, Eva den Hof macht und einen extremen Antisemitismus in das ohnehin nie den Juden zugetane Wahnfried bringt. Noch ist das Verhältnis zwischen Cosima und Isolde gut, bittet die Tochter die Mutter, ihr bei der „Wegfindung“ zu helfen. Sie heiratet den Dirigenten Franz Beidler, der, selbst hochbegabt, dem angeblichen Genie Siegfried, weder dem Komponisten noch dem Dirigenten, angemessen huldigen mag und deshalb aus dem Festspielhaus verbannt wird, in Russland, England oder Spanien sein Auskommen suchen muss. Da ihm Isolde dorthin nur selten folgt, gibt es einen interessanten Briefwechsel zwischen den beiden Gatten, von dem das Buch profitieren kann. Zum endgültigen Bruch und um einen Prozess um den Namen Isoldes kommt es, nachdem die Homosexualität Siegfrieds ins Spiel gebracht wurde, ihre Gegner Isolde am liebsten in eine Nervenklinik einweisen lassen würden. Das empört die Autorin so sehr, dass sie sich zu einem unbewiesenen „Das (die Offenlegung der Homosexualität Siegfrieds) hätte Isolde niemals zugelassen“, hinreißen lässt. In diesem Konflikt sieht die Verfasserin und sie belegt es eindrucksvoll, entgegen der bisherigen Meinung nicht nur ein „erbrechtliches Kalkül“, sondern den Versuch, den Sohn Isoldes generell von der Erbfolge auszuschließen. Schließlich war er bis zur späten Ehe Siegfrieds und der Geburt Wielands der einzige Enkel Wagners.

Was am Schluss des Buches die Zuordnung von Kaiserreich und Nazizeit zum Männlichen, der Weimarer Republik zum Weiblichen soll, ist nicht ganz auszumachen und eigentlich überflüssig, mindert aber den Wert des Werks nur geringfügig. Bibliographie, Abkürzungsverzeichnis, Bildnachweise, Personenregister, Stammtafel und Bilderverzeichnis vervollständigen den Band (Eva Rieger: Isolde – Richard Wagners Tochter, Insel Verlag 2022, 345 Seiten, ISBN 978 3 458 64292 3). Ingrid Wanja 

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Dazu aber auch Achim Bahr von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft:  Ignoranz und Unwissenheit –  ein Beispiel dafür, wie durch Ignoranz und Unwissenheit gerade in Bezug auf Siegfried Wagner Fehler erzeugt und kolportiert werden, gibt Eva Rieger in ihrem neuen Buch: Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte. Darin zitiert sie aus einem Brief Isolde Beidlers an ihre Schwester Eva Chamberlain: »›Das war ein Müssen‹, war ›Herzensgebot‹!« und erläutert die Zitate [Plural!] in Fußnote 46: »Zitat [Singular!] aus Meistersinger, III. Akt.« Dies bezieht sich freilich nur auf das erste Zitat in dieser Briefstelle, das zweite erkennt sie gar nicht und verwechselt es anscheinend sowieso mit einer Stelle aus dem II. [!] Akt Meistersinger (»Lenzes Gebot, die süße Not …«). Sie weiß ganz offensichtlich nicht, dass es sich hierbei eindeutig um ein Zitat aus einer Oper von Siegfried Wagner handelt: STERNENGEBOT (op. 5, 1906), Schluss des 3. Aktes: Höher als aller Sterne Gebot waltet ein Zweites: Des Herzens Gebot! Der Kontext dieses zweiten Zitats würde Eva Rieger einen zusätzlichen Aspekt der Situation ermöglichen, die sie an dieser Stelle ihres Buches beschreibt, so aber weder verstehen noch einordnen kann. Achim Bahr (in Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth)

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Und nun die Rezension zu Sabine Zurmühls Buch Cosima Wagner-Ein widersprüchliches Leben im Böhlau-Verlag: Widersprüchlich ist das Wort im Untertitel von Sabine Zurmühls Cosima-Wagner-Biographie, das das Interesse an seiner Lektüre wachruft, und es ist dasjenige, dem man widersprechen möchte, wenn man seine Lektüre beendet hat. Nachvollziehbar ist immerhin, dass als Widerspruch zur  bedingungslosen Anbetung des musikalischen Genies die Emanzipation der  von einer hochadligen Mutter abstammenden Katholikin, die aus einer Ehe ohne Liebe ausbricht und Jahre lang in wilder Ehe mit einem Bürgerlichen lebt, gesehen wird. Auch ihre souveräne Leitung der Bayreuther Festspiele nach Richard Wagners Tod spricht für ihre tatsächliche Emanzipation, wobei das Widersprüchliche immerhin darin gesehen werden könnte, dass sie die Emanzipationsbestrebungen der Frauen in ihrer Zeit eher ironisch kommentierte, statt sie zu unterstützen.

Das Buch erweckt zunächst den Anschein, wie eine Oper gegliedert zu sein, beginnend mit der Ouvertüre,  aus den Kosenamen Wagners für seine zweite Frau bestehend. Das wird aber nicht durchgehalten, es folgen Kapitelüberschriften, meistens nur aus einem Wort bestehend, so „Schreiben“, „Kindersorge“ oder „Gesundheit“, innerhalb derer chronologisch vorgegangen wird. Souverän werden umfangreiche Zitate aus Briefen, Tagebüchern, Aussagen von Zeit- und Weggenossen mit den Kommentaren der Verfasserin ineinander verschränkt. Und auch Träume sind es wert, von Cosima dargestellt und von der Verfasserin in ihren Text aufgenommen zu werden. Das „atemlose Leben“ der Cosima scheint über weite Strecken eine Atemlosigkeit der Sprache der Autorin zu provozieren, ein Aufeinandertürmen von Gegensätzen, leidenschaftliche Formulierungen wie „ja, sie war“- und es folgen die Vorwürfe, die man der unehelich geborenen, gar nicht hübschen, später zu Karikaturen provozierenden Liszt-Tochter machte.

Einfühlsam beschreibt Zurmühl die Zerrissenheit zwischen Französisch- und Deutschsein, später eine bedingungslose Hinwendung zum eigentlich „nur“ zweiten Heimatland. Nicht ganz verleugnet wird die feministische Grundstimmung der Verfasserin, aber diese führt nie dazu, die bedingungslose Hingabe, ja Selbstaufopferung ihres Forschungsgegenstands ins Lächerliche zu ziehen. Man gewinnt stattdessen zunehmend mit dem Fortschreiten in der Lektüre den Eindruck, noch nie zuvor habe sich eine Biographin Cosima Wagners ihrem Forschungsgegenstand gegenüber so fair verhalten, so fern von Schönfärberei wie von Verunglimpfung. Sympathisch müssen der Autorin die vielen Freundschaften gewesen sein, die Cosima (Nach einigen Skrupeln nennt sie sie durchgehend so und nicht, wie es den Männern zugestanden wird, mit ihrem Familiennamen.) in einem reichen Briefwechsel pflegte.

Zwei Wagner-Partien spielten für Cosima und damit auch für Zurmühl eine besondere Rolle: Fricka und Kundry. Einmal war es die Faszination des Gegensatzes zwischen Regelbruch, wie ihn Wotan verkörpert, und Prinzipientreue, für die Fricka steht, der Cosima interessierte und nicht minder die Autorin, zum anderen der Weg Kundrys, der im Dienen Ziel und Ende findet.

Die Autorin Sabine Zurmühl/ Wikipedia

Anschaulich berichtet Zurmühl von der Gestaltung von Festen, so des Cosima-Geburtstags mit Aufführung des Siegfried-Idylls, der Selbstinszenierung, in der auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt. Es bleibt nicht bei einer Darstellung, einer Beschreibung, sondern es werden Schlüsse gezogen wie der, dass Cosima das apollinische, Richard das dionysische Prinzip verkörpere.

An anderer Stelle kommt Zurmühl zum überzeugenden Fazit:“Cosima gehört damit zu den nicht seltenen Frauen der Oberschicht, die tagespolitisches Engagement für  Frauenfragen strikt ablehnen, in ihrer Lebensrealität aber das Rollenmodell selbst verkörperten, das die Frauenbewegung für die Masse der Frauen erst fordern musste“. Wenn Cosima Rechte wahrnahm, so waren noch viel  zahlreicher die Pflichten, denen sie sich freiwillig unterwarf und die die Autorin eindrucksvoll schildert. Dazu gehörte die Erziehung und Bildung der fünf Kinder, die Führung des Haushalts, die Beherbergung zahlreicher Gäste, darunter auch des Vaters Franz Liszt, die Vorbereitung von häufigen Reisen und Umzügen, das Notenschreiben , die Pflege von Verwandten und Gästen, das Heranschaffen von Sponsoren und vieles mehr. Nach Wagners Tod kam noch die Führung der Bayreuther Festspiele dazu, wo sie Regie führte, sich um Bühnenbilder, Technik und alles weitere kümmerte.

Ambivalent ist ihr Verhältnis zu den Juden. Tendenziell ist sie Antisemitin, bedauert aber die Schrift Wagners gegen das Judentum, pflegt durchaus auch herzliche, vorbehaltlose Kontakte mit einzelnen Juden. „Ich habe die besten Freunde unter Juden“, ist von ihr überliefert. Besonders interessant und von Zurmühl detail- und kenntnisreich dargestellt ist die Beziehung zum Parsifal-Dirigenten Levi, ausführlicher Betrachtung wert die zum Schwiegersohn Chamberlain. 

Natürlich muss der Zorn Zurmühls Felix Weingartner treffen, der sich in hässlicher Überheblichkeit über Cosima äußert. Der Verfasserin hingegen kann man bescheinigen, dass ihr völlig das Bestreben abgeht, Cosima von der hohen Warte der besserwissenden Spätgeborenen her zu beurteilen. So enthält sie sich auch im Unterschied zu anderen Biographen jeglicher Spekulation darüber, wie Cosima zu Hitler stand.  Und so kann es geschehen, dass man nach dem Lesen des Buches, das von Fakten und Quellen ausgeht und nicht von einer vorgefassten, zu bestätigenden Meinung,  zu einem sehr viel positiveren Urteil über die Heldin des Werks bereit ist, als es vorher der Fall war.       

Ein Nachwort von Monika Beer, dazu ein nochmal 55 Seiten umfassender Anhang vervollständigen neben vielen interessanten Fotos das Buch (360 Seiten, 2022 Böhlau Verlag Wien, ISBN 978 3 205 21501 1). Ingrid Wanja (Foto oben Bernd Meyer Stiftung mit Dank)

Pluspunkt lange Fassung

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Aus Kostengründen entstehen immer seltener Aufnahmen kompletter Opern im Studio – WARNER CLASSICS bildet da eine rühmenswerte Aufnahme. Denn nicht nur die zahlreichen Aktivitäten auf dem Barocksektor beim Label Erato ragen da heraus, auch italienische Standardwerke werden produziert, wovon die Aida von 2015 mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann zeugt. Sie wurde mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom unter Antonio Pappano aufgenommen.

An diesem Ort entstand genau vor einem Jahr die Einspielung von Puccinis Dramma lirico Turandot, die nun auf zwei CDs veröffentlicht wurde (5054197406591). Wieder wirken das aus der Aida-Aufnahme bekannte Orchester und sein Dirigent mit. Ihre Besonderheit bezieht die Ausgabe aus Pappanos Entscheidung, das originale Finale des Komponisten Franco Alfano komplett aufzunehmen. Nach Puccinis Tod 1924 hatte er das Schlussduett zwischen Turandot und Calaf auf der Grundlage von Puccinis Skizzen vollendet. Dirigent Arturo Toscanini allerdings veranlasste ihn zu Änderungen und Kürzungen. In dieser amputierten Fassung wird die Oper heute zumeist aufgeführt. 1999 gab es einen Versuch des italienischen Komponisten Luciano Berio für eine neue Finallösung, die 2002 uraufgeführt wurde, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Die prominente Besetzung der Neuaufnahme führt die Amerikanerin Sondra Radvanovsky an, die derzeit die Lady Macbeth am Liceu in Barcelona singt. Nach ihren Donizetti-Königinnen, der Norma, Medea, Manon Lescaut und Tosca erarbeitet sich die Sopranistin zielstrebig ein Repertoire, das ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit belegt. Sie legt die Prinzessin im Rahmen ihrer stimmlichen Möglichkeiten an, also nicht als hochdramatischer Sopran, sondern eher in der Nachfolge einer Sutherland und Caballé. Ihr Auftritt mit der fordernden Arie „In questa Reggia“ ist reich differenziert – von dunkler Glut, aber auch introvertierter Wehmut – und bestechend in der stimmlichen Fülle. In der Rätselszene, „Straniero, ascolta!“, klingt der Sopran zunächst geschärfter, nimmt aber zunehmend Töne der Verunsicherung an, gipfelnd in der inständigen und betörend gesungenen Bitte an ihren Vater, sie nicht diesem Fremden auszusetzen. Das Schlussduett „Principessa di morte!“ in der vollständigen Fassung Alfanos dauert nun fast zwanzig Minuten und ist eine vokale Herausforderung an die beiden Interpreten, gibt vor allem dem Kuss Calafs mehr musikalische Entfaltung. Radvanovsky lässt hier flirrende lyrische Töne vernehmen, welche die Verwirrung der Figur eindrücklich zeigen, muss aber dann eine hohe Tessitura bewältigen, was ihr gleichfalls souverän gelingt.

Wieder ist Jonas Kaufmann mit von der Partie, nach seinem Radamès nun als Calaf. Der Tenor singt mit zumeist wuchtiger Stimmgebung, klingt allerdings oft sehr guttural und gelegentlich auch erstickt. Das erste Solo, „Non piangere, Liù“, nimmt er anfangs sehr zurück und lässt erst am Ende starken Einsatz erkennen. Vehement ertönen seine Antworten auf Turandots Rätsel, doch der Spitzenton im Finale des 2. Aktes kann allenfalls als Angstschrei gewertet werden. Auch der populäre Hit „Nessun dorma!“ wirkt etwas forciert und könnte mehr Glanz haben. Das Schlussduett beginnt er in äußerster Erregung, offenbart auftrumpfend seinen Namen und singt gemeinsam mit der Titelheldin noch ein exponiertes  „Amore!“.

Antonio Pappano und Jonas Kaufmann bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ Warner/ youtube

Ein Trumpf der Besetzung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als Liù. Bekannt für ihre expressiven Rollenporträts der Violetta, Angelica und Butterfly, bietet sie auch als unglückliche junge Sklavin ergreifende Momente von innigen, flehentlichen Gesängen. Ihre erste Arie, „Signore, ascolta!“, besticht durch den feinen Schimmer und wunderbar aufblühenden Schluss. Zu Herzen gehend und exquisit gesungen sind ihre Soli im letzten Akt („Tanto amore“ und „Tu, che di gel sei cinta“).

Bekannte Namen finden sich auch für die Nebenrollen – Michele Pertusi als reifer Timur und als große Überraschung Michael Spyres als Altoum. Der amerikanische Tenor, auf dem Höhepunkt seines Könnens und selbst ein potentieller Vertreter für den Calaf, ist eine Luxus-Besetzung für den alten Kaiser. Er verstellt seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit und suggeriert mit ihr trefflich den schütteren Greis.

Mit gebührend schneidenden Akkorden eröffnet Pappano mit dem Orchester die Handlung. Michael Mofidian singt den Mandarino mit etwas dumpfem Bariton. Das charaktervolle Terzett der Minister bilden die Tenöre Gregory Bonfatti als Pang und Siyabonga Maqungo als Pong sowie der Bariton Mattia Olivieri als Ping. Mit starkem Einsatz und klangvollem Gesang bringt sich der Coro dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia (Piero Monti) ein. Pappano scheut nicht den Pomp und Bombast des monumentalen Werkes, bringt aber auch dessen musikalisches Raffinement und die reiche Farbpalette zu angemessener Wirkung. Bernd Hoppe

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PS: Nun gibt es kaum etwas zum ersten Mal. Und es wäre eine Unterlassung, erwähnte man nicht frühere Bemühungen um den originalen, ungekürzten Alfano-Schluss der Turandot. Denn die 1990 Aufsehen erregende CD von Josephine Barstow (Opera Finales bei Decca) enthielt unter Mitwirkung des italienischen Tenors Landon Bartolini eben diesen, sehr wirkungsvoll und Tenor wie Sopran in Bestform (für meinen Geschmack überzeugender als hier nun die Kollegen auf der neuen Warner-Aufnahme, aber de gustibus …).

Und unbekannt war Sammlern das Alfano-Finale nicht. Außer der Oper Bonn in den Neunzigern (Sophia Larson alternierte mit Linda Kelm) gab es die lange Fassung in Amsterdam 1993 (Linda Kelm und Nicola Martinucci, bei Sammlern), in Buenos Aires bereits 1983 (mit der unerschrockenen Adelaide Negri und Vincenzo di Bella, bei Sammlern), 1985 in Rom (mit Gwyneth Jones und Nicola Martinucci, bei Sammlern),  Athen ebenfalls 1983 (mit Giovanna Casolla und Alberto Cupido, bei Sammlern), 1985 in New York (City Opera, erneut Linda Kelm und John Frederic West, bei Sammlern), 1987 in Wien mit Gwyneth Jones und Giuliano Ciannella), 1997 in Bologna mit Jane Eaglen und Nicola Martinucci), 1989 an der Met (mit Eva Marton und Placido Domingo, auch als DVD), 2014 in Cagliari (Cristina Piperno und Frank Porretta), 2015 in Novara (mit Maria Billieri und Walter Fraccaro,  bei Sammlern), 2018 in Odessa (mit Tatjana Zakharchuk und Oleg Zlakoman,  bei Sammlern), und die Finnische Nationaloper schließlich 2019 (mit Satu-Kristina Vesa und Petri Vesa, Calàf Jukka Nykänen).

Sondra Radvanovsky bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ youtbube/ Warner

Aber die neue Warner-Einspielung in für mich wattigem Sound ist in der Tat die erste Studio-Einspielung mit dem Alfano-Ende. Wenngleich unter schwierigsten Umständen eingespielt, was den unbefriedigenden Klang erklärt. Wie Dirigent Pappano im Booklet andeutet, ist diese Turandot in  der Tiefe der Corona-Krise in Italien entstanden. Italien war ja besonders betroffen, und die Leichen stapelten sich auch in Rom. Die Aufnahme in der großen Halle von Santa Cecilia war geplant und konnte (oder wollte? aus Kostengründen?) nicht abgesagt werden. Es gab Masken auf den Gesichtern (bei youtube gibt´s einen clip dazu), der Chor sang in einem getrennten Raum, die Solisten in Teilen ebenfalls. Was die Aufnahme umso schwieriger machte und den mulschigen Klang erklärt. Man kann sich fragen, ob die kommerziellen (und vertraglichen) Erwägungen dieser Aufnahme den Markt nicht unnötig verstopfen, denn so schnell wird keine weitere Firma einen Alfano-Schluss aufnehmen, der ja das eigentliche Verdienst dieser hochbesetzten Turandot ist…  G. H. 

Deutsch-Russisches von 1710

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Aus welchen Gründen die 1710 komponierte Oper Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron von Johann Mattheson in der Hamburger Oper am Gänsemarkt nicht aufgeführt wurde, ist ungeklärt. Gemutmaßt wird, dass der Komponist das Werk zurückgezogen habe oder dass die Aufführungsbedingungen im Opernhaus unzulänglich gewesen seien. So kam es erst am 29. Januar 2005 im Bucerius Kunst Forum Hamburg zur Uraufführung, von der ein Mitschnitt bei der Edition Musik Landschaften Hamburg auf drei CDs vorliegt. Rudolf Kelber leitete das auf historischen Instrumenten musizierende Cythara-Ensemble.

Jetzt bringt cpo eine Neuaufnahme des in Deutsch und Italienisch komponierten Werkes auf zwei CDs heraus (555 502-2), bei der ebenfalls ein historisch orientierter Klangkörper musiziert – das 2012 gegründete Jugendorchester THERESIA unter Andrea Marchiol. In der Ouvertüre und mehreren Instrumentalteilen  – Entrées, Sinfonie (von Reinhard Keiser), Bourrée (von Georg Philipp Telemann),  Menuett, Passepied –  zeigt er sein Gespür für den delikaten und spritzigen Stil der Musik Die Besetzung weist keine bekannten Sängernamen auf, ist aber von solider Qualität. Angeführt wird sie von dem Bassisten Olivier Gourdy in der Titelpartie. Seine  Auftrittsarie „Empor!“ stattet er mit energischem Aplomb aus und erweist sich auch als souverän in der Bewältigung der Koloraturläufe. Das zeichnet auch sein letztes Solo im 3. Akt, „Mi prepara il Ciel contento“, aus. Julie Goussot gibt seine Tochter Axinia mit gefälligem, leichtem Sopran. In der Aria „Son più dolci“ im 3. Akt gewinnt er noch an lyrischer Substanz. Auch Theodorus Iwanowitz, Großfürst von Moskau, ist eine Basspartie und Yevhen Rakhmanin singt sie mit profunder Stimme von weichem Klang. Davon profitiert auch die gewichtige Aria „Wer vergnüget herrschen will“ im 2. Akt.

Seine Gemahlin Irina ist die Sopranistin Flore Van Meerssche, der mit der Aria col Coro, „Hochbeglückte Zeiten“,  das erste Solo des Werkes zufällt. Sie singt es mit heller Stimme und intensivem Vortrag. Auch ihre wiegende Aria „Der Neigung widerspricht“ im 1. und die Aria „Per seguire vano piacere“ im 2. Akt überzeugen in Tongebung und Musikalität.

Den in Irina verliebten Bojaren Fedro singt Sreten Manojlovic mit etwas verquollen klingendem Bass. In der munteren Aria „Ein heimliches Hoffen“ am Ende des 1. Aktes hinterlässt er einen günstigeren Eindruck.

Die Besetzung wird komplettiert von der Mezzosopranistin Alice Lackner als russische Fürstin Olga sowie den Tenören Eric Price als Prinz Josennah und Joan Folqué als Prinz Gavurst. Sie vereinen ihre Stimmen harmonisch in zwei Arias à 3Wer die geliebten Augen siehet“ und „O Glücke, wer dir folgt“.  Die Sängerin kann zudem in ihrer empfindsamen Aria „Vorrei scordami“ und der Arietta im 3. Akt, „Wer Liebe recht ansieht“, gefallen und der Tenor Folqué in der stürmischen Aria „Will sich die Liebe rächen“ energisch auftrumpfen. Und alle Mitwirkenden singen gemeinsam die finale Ciacona „Auf Bestand muss Liebe sich gründen“, mit der das Werk feierlich endet, denn Boris wird zum neuen Zaren gekrönt. Bernd Hoppe

Repertoirewürdig

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Ein ganz harmloses, idyllisches Libretto wünschte sich Pietro Mascagni nach seinem Sensationserfolg mit Cavalleria Rusticana, denn das auf dem Roman von Giovanni Verga basierende hatte seiner Meinung nach zu viel Aufmerksamkeit bei Kritik und Publikum gefunden und seine Musik in den Schatten gestellt. Das Booklet zur Blu ray von L’amico Fritz von Dynamic berichtet davon und stellt damit einen bemerkenswerten Kontrast zu Giuseppe Verdi her, der immer darauf versessen war, ein noch leidenschaftlicherisches, noch dramatischeres Sujet als das gerade verarbeitete von seinen Librettisten geliefert zu bekommen. L’amico Fritz erfüllte die Wünsche seines Komponisten in idealer Weise, in ländlichem Milieu spielend und mit einer Heirat endend, ohne dass die Wogen der Leidenschaften allzu hoch hätten gehen können. In nur zwölf Tagen war das Libretto von Pierre Suardon fertiggestellt, einiges noch von Mascagni und Freunden hinzugefügt, und 1891 konnte die neue Oper im Teatro Costanzo von Rom uraufgeführt werden, wo die Musik gefiel, die vom Komponisten mit einem „la mia musica è per i cuori buoni“ klassifiziert worden war. Zwei berühmte Sänger, Emma Calvè, auch die erste Santuzza, und Fernando De Luca waren ebenfalls Garanten des Erfolgs, der allerdings ein im Vergleich zur Cavalleria recht kurzlebiger war, und nur das Kirschenduett erlangte eine dauerhaftere Popularität. In gewisser Weise bedeutet L’amico Fritz durch die Wiedereinführung einer Rolle en travestie und die Gliederung in einzelne Gesangsnummern einen Schritt zurück in der Musikgeschichte.

Während des Maggio Musicale Fiorentino des Jahres 2022 wurde trotz Corona das Stück mit Chor und sogar reichlich zusätzlichem Personal aufgeführt, der Kinderchor mit durchsichtigen Masken ausgestattet. Das Bühnenbild von Gary McCann weicht etwas von den Angaben des Librettos ab, zeigt für den ersten Akt ein Café mit französischem Flair, für den zweiten das Arbeits- und Lagerzimmer von Fritz Kobus und kehrt dann ins Bistro zurück. Nicht mehr ein Rabbiner ist der hochzeitsstiftende Freund David, kein Zigeuner der fiedelnde Beppe, obwohl dieser mit einem „Viva lo zingaro“ empfangen wird. Die Regie von Rosetta Cucchi hat die Handlung in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verlegt, Suzel trägt Jeans und hämmert als Bürokraft auf einer Schreibmaschine herum, zur ihrer Romanze trägt sie Kopfhörer auf den Ohren.

Wie in Cavalleria ist die rein orchestrale Musik, so das Vorspiel zum 3. Akt, besonders den Ohren schmeichelnd, ein weiterer Höhepunkt ist das Violinsolo, das mit dem Erscheinen des Beppe verbunden ist, und auch die Oboe hat einen besonders schönen Auftritt.

Die Titelpartie singt Charles Castronovo mit dunkler gewordenem Tenor, der im Duett mit Suzel aufblühen kann und insgesamt metallischer erscheint als erinnerlich. Die bekannten Plattenaufnahmen lassen zum größten Teil einen mehr im Lyrischen angesiedelten Tenor vernehmen. Die erst im Verlauf der Handlung Angebetete, Salome Jicia,  tut trotz der modernen Jeans recht gschamig, verfügt über einen dunklen, weichen Sopran, der sich im „Non mi resta che il pianto“ schön entfaltet und eigentlich nicht so recht zur blonden Perücke passt. Teresa Iervolino ist der Beppe mit geschmeidigem Mezzosopran, Massimo Cavaletti der würdige David mit samtweichem Piano des sonoren Baritons, der überzeugend trösten kann. Riccardo Frizza leitet souverän das Orchester des Maggio Fiorentino.

Zum Schlussapplaus erscheinen alle Solisten mit gelb-blauer Schleife am Revers, es war schließlich nicht nur Corona-, sondern dazu auch noch Kriegszeit (Dynamic 57960). Ingrid Wanja

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“

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Mehr als der Titel seiner Oper Der Trompeter von Säckingen und vielleicht noch daraus der früher im Radio-Wunschkonzert gespielte Dauerbrenner „Behüt´ dich Gott, es wär so schön gewesen“ ist vom Werk des Komponisten Victor Nessler nichts übrig geblieben. Dabei war gerade diese Oper bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ungemein erfolgreich. Im letzten sorgten noch Sänger wie Hermann Prey oder Wolfgang Anheisser für den Fortbestand zumindest dieses Stückes. Aber wie Opern des jüngere Kollegen Lortzing oder Brüll,  Flotow und andere mehr  werden diese deutschen Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet  (oder werden in Ignoranz dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung (!) und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden.

Der Komponist Victor E. Nessler/ Wikipedia

Aber schade ist´s, die schöne Musik, diese eben typisch deutschen Melodien nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es uns ein Anliegen, diese Lücke zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Rattenfänger von Hameln von Victor Nessler etwas zu scließen.

Dem Regisseur Ingolf Huhn habe ich ja schon dicke Kränze geflochten. Als Fan des heutigen Operndirektors in Annaberg reiste ich nach der Wende zu dessen damaligen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist für mich der Champion für die Deutsche romantische Oper. Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Vendig und viele andere vergessene Werke des vorletzten Jahrhunderts erblickten durch ihn erneutes Leben, immer im Rahmen und der Möglichkeiten der kleinen Theater wie Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Nesslers noch viel unbekannterer Oper Der Rattenfänger von Hameln auf den Vorstellungen an den Theatern Freiberg und Döbeln 2004 und auf dem Programmheft vom Dramaturgen Christoph Nieder.

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Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Am 19. März 1879 wurde im Leipziger Stadttheater eine Oper uraufgeführt, die in den nächsten Jahrzehnten ihren Weg durch Europa machte: Der Rattenfänger von Hameln von Victor E. Nessler. Grundlage der „Großen romantischen Oper“ war natürlich die berühmte Sage, die Geschichte vom Rattenfänger, der im Auftrag der Hamelner Bürger das Ungeziefer vertreibt und dann, als ihm der versprochene Lohn vorenthalten wird, mit den Kindern der Stadt davonzieht. Damit die operntypischen Liebesgeschichten nicht fehlen, ist der Titelheld, wie schon in der Goethe-Ballade vom Rattenfänger, auch ein „Mädchenfänger“, der dem Damenchor ebenso den Kopf verdreht wie der Fischer- und der Bürgermeistertochter.

Der Rattenfänger war nicht die erste, wohl aber die bis dahin erfolgreichste Oper Nesslers, die in Leipzig auf die Bühne kam. Wie sehr damals in Leipzig das Musikleben blühte, zeigt schon die Tatsache, dass mindestens vier einschlägige Zeitschriften nebeneinander existierten: Die „Allgemeine musikalische Zeitschrift“, die von Robert Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik“, die „Signale für die musikalische Welt“ und das „Musikalische Wochenblatt“ informierten wöchentlich oder monatlich Leipzig und die „musikalische Welt“ über Aufführungen klassischer Werke, vor allem aber auch über Novitäten, über Ur- und Erstaufführungen, die ganz anders als heute das Musikleben bestimmten.

So hatte sich der elsässische Komponist Victor E. Nessler 1864 nicht etwa nach Paris, sondern nach Leipzig gewandt, um seine musikalische Karriere voranzubringen; und auch den Librettisten Friedrich Hofmann, der aus Thüringen stammte, zog es 1858 in die „geistige Metropole Sachsens“.

Die „Signale für die musikalische Welt“ begannen ihre Besprechung der Rattenfänger-Uraufführung mit leiser Ironie: „Die beiden Verfasser der Oper haben ihren Wohnsitz – wie zuvörderst bemerkt sein soll – in Leipzig: der Librettist als Mitarbeiter der „Gartenlaube“, der Componist als Chordirektor am Stadttheater. Beide Männer sind auch in weiteren Kreisen nicht unbekannt: Herr Hofmann besonders durch seine gemütvollen poetischen und prosaischen Beiträge in dem genannten Weltblatt, Herr Nessler durch seine Bestrebungen auf dem Gebiete der Männergesang-Composition.“

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Zu diesem Zeitpunkt allerdings war Nessler nicht mehr Chordirektor, sondern bereits als Kapellmeister ans Carola-Theater gewechselt; sein Nachfolger wurde der später weltberühmte Dirigent Arthur Nikisch. Direktor des Stadttheaters war damals Angelo Neumann, der gerade mit der Aufführung von Wagners Ring, mit der er dann auch auf Europa-Tournee ging, Aufsehen erregt hatte. Neumann erkannte schnell die Qualitäten Nikischs und machte ihn zum Kapellmeister; in dieser Funktion dirigierte er die Uraufführung des Rattenfänger wie 1884 auch die des Trompeter von Säckingen, ehe er seine Karriere in den USA und Budapest fortsetzte, um schließlich als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig zurückzukehren.

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Drei Deutsch-Nationale: Victor E. Nessler, 1841 im Elsass geboren, stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus. Er studierte zunächst Theologie, der Erfolg seines Erstlings Fleurette in Straßburg ließ ihn jedoch zum Komponisten werden – die Quellen widersprechen sich, ob er wegen des „Fehltritts“ exmatrikuliert wurde oder aber freiwillig von der Theologie zur Musik wechselte. Nessler ging nach Leipzig und sammelte vielfältige musikalische Erfahrungen, komponierte Gelegenheitswerke und leitete Männerchöre. 1870 wurde er Chordirektor am Stadttheater, später Kapellmeister am Carola-Theater. Einige frühere Opern wie Dornröschens Brautfahrt (1867) oder Irmingard (1876), mit denen sich der junge Komponist ausprobiert hatte, waren über Leipzig nicht hin-ausgekommen; der Rattenfänger aber wurde ein Riesenerfolg, nachgespielt nicht nur an den Hofopern in Berlin, Stuttgart oder München und vielen anderen deutschen Bühnen, sondern auch in London. Danach konnte er sich zur Ruhe setzen, versuchte 1881 mit dem gleichen „Team“ – Librettist Friedrich Hofmann bearbeitete eine Vorlage von Julius Wolff: Der wilde Jäger – vergeblich an den Erfolg anzuknüpfen, bis 1884 Der Trompeter von Säckingen so einschlug, dass auch der Rattenfänger langsam in Vergessenheit geriet. Nessler kehrte wieder in das inzwischen deutsch gewordene Straßburg zurück, wo er bereits 1890 starb.

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Der Librettist Friedrich Hofmann/ Wiki

Der Librettist Friedrich Hofmann wurde am 18. April 1813, im selben Jahr wie Giuseppe Verdi und Richard Wagner, Georg Büchner und Friedrich Hebbel, in Coburg geboren. Seine Mutter war als junges Mädchen Dienstmagd bei Jean Paul gewesen; sein Vater, während der napoleonischen Kriege 1813 bis 1815 Feldtrompeter, wurde später Hofmusikus. Als Gymnasiast dichtete Hofmann „Freiheitslieder“ für den „Vaterlandsverein“ und wurde daraufhin für alle Zukunft vom Staats-dienst ausgeschlossen. In Jena studierte er Literatur und Geschichte; erste Veröffentlichungen beschäftigten sich mit der Geschichte seiner Coburger Heimat, und 1841 zog er als Mitarbeiter von Meyers „Großem Konversationslexikon“ nach Hildburghausen. 1854 erhielt er für seine Verdienste um die Volksbildung die Doktorwürde der Universität Jena und ging bald darauf als Hauslehrer eines Verwandten der Coburger Fürsten nach Venedig. Nach Hildburghausen zurückgekehrt, wurde er zum Begründer der Coburger Mundartdichtung, ehe es ihn 1858 nach Leipzig, in die geistige Metropole Sachsens, zog. Nachdem er an verschiedenen Zeitschriften mitgearbeitet hatte, wurde er 1861 Redakteur der „Gartenlaube“. 1871 war er in deren Auftrag einer der ersten Deutschen, die das belagerte Paris besuchten. Nach dem Krieg war er mit Kriegs- und Vaterlandsgedichten erfolgreich, baute aber auch einen Suchdienst für Vermisste und Verschollene auf und setzte damit sein soziales Engagement fort, das in den 40er Jahren mit dem „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ – der Erlös seiner Gedichte finanzierte Weihnachtsgeschenke für bedürftige Kinder – begonnen hatte. 1883 wurde er Chefredakteur der Gartenlaube, und im Januar 1888 ernannte ihn die Gabelbachgemeinde auf dem Kickelhahn bei Ilmenau zum „Gemeindepoeten“ – als Nachfolger des verstorbenen Joseph Victor von Scheffel, dessen Trompeter von Säckingen Julius Wolff wesentlich beeinflusst hatte und der zur Vorlage der zweiten Erfolgsoper Nesslers wurde. Während eines Urlaubs in Ilmenau starb Hofmann im August desselben Jahres.

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Der Gelegenheitsdichter Friedrich Wolf/ OBA

Die Vorlage: Julius Wolff, 1830 in Quedlinburg geboren, übernahm zunächst die elterliche Textilfabrik. Nach deren Bankrott wurde er Journalist. 1870/71 zog er in den Krieg und arbeitete anschließend als Angestellter in Berlin. Ersten Schriftstellerruhm erntete er mit einer Kriegsliedersammlung „Aus dem Felde“. In der Tradition von Scheffels ungemein populärem Trompeter von Säckingen erschien 1876 Der Rattenfänger von Hameln – eine „Aventiure“, ein Erfolg, der Wolff finanziell unabhängig machte und ihm auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hameln eintrug. In den nächsten Jahren verfasste er epische Dichtungen wie Tannhäuser. Ein Minnesang oder Der fliegende Holländer. Seemannssage. Er wurde zu einem Protagonisten der „Butzenscheibenromantik“ und erfüllte den Wunsch des wilhelminischen Publikums nach einem nostalgischen Rückblick in die „gute alte Zeit“. Noch nach seinem Tod 1910 erschien eine knapp zwanzigbändige Gesamtausgabe seiner Werke.

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Die Komposition: Nesslers Musik im Rattenfänger von Hameln umfasst eine weite Spanne. Sie ist harmonisch und in der Verarbeitung durchaus auf der Höhe ihrer Zeit und reicht vom leichten Singspieltonfall (2. Bild) über das sentimentale Strophenlied bis zur großen Verfluchungs-Szene, vom Buffo-Terzett (Beginn 3. Akt) bis zum sechsstimmigen, kanonartig aufgebauten Ensemble (Finale des 1. Aktes: „Nun reiche mir die Hand“), vom schlichten Volkschor bis zum komponierten Chaos im Streit der Ratsherren gleich zu Beginn. Immer ist die Musik dramatisch, theater-praktisch gedacht, immer im Dienst der Szene. Nessler verwendet einige prägnante Motive, die in der Oper häufig wiederkehren, aber nicht als Wagnersches Leitmotiv, sondern eher als Erinnerungsmotiv, z. B. ein sich um sich selbst windendes, schleichendes chromatisches Motiv als Symbol für die Ratten, das gleich zu Beginn der Ouvertüre eingeführt wird, oder eine marschartige Melodie für die Rats- und Bürgermeister-welt. Auffällig sind die zahlreichen Zitate in Nesslers Musik. Mal handelt es sich um ein Detail der Instrumentation, wenn z. B. die Solobratsche das Duett zwischen Regina und Dorothea im zweiten Bild maßgeblich begleitet, ist das Vorbild klar: die zweite Ännchen-Arie aus dem Freischütz.

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“ in Döbeln/ Szene/ MTDF

Manchmal sind es Motivfetzen (Wotans Speermotiv in der Gerichtsszene des 5. Aktes, das „Auf Wiedersehen“ aus dem ersten Quintett der Zauberflöte), manchmal auch reizt die Parallelität der Situationen Neßler zum Zitat: Wenn im 4. Akt der steinerne Roland zu sprechen beginnt, erklingt umgehend eine kurze Phrase Leporellos aus dem Finale des Don Giovanni, der Nachtwächter scheint direkt den Meistersingern entsprungen zu sein, und ob bei der Wahl des „tragischen“ c-Moll Beethovens für den Streit der Ratsherren ein Schuss Ironie im Spiel ist, sei dem Zuhörer anheimgestellt… Die Häufigkeit und Auffälligkeit der Zitate lassen jedenfalls eher auf eine Hommage an die Vorbilder schließen denn auf billiges „Klauen“. Besonders kunstvoll arbeitet Neßler im großen Duett zwischen Gertrud und Hunold zum Schluss des zweiten Aktes. Jeder Figur ist ein Soloinstrument zur Seite gestellt, Gertrud die Bratsche und Hunold das Violoncello, die die Melodielinien mitspielen. Nach Hunolds „Dich zu erringen“ in A-Dur zweifelt Gertrud „Lieber Zaubrer, sag mirs ehrlich, bist du wahr und wirklich mein“ harmonisch weit entfernt in F-Dur, stößt dann aber bei „du bist mein, ich bin die deine“ mit E-Dur über Hunolds Harmonie hinaus. In einem Zwischenspiel verschlingen sich die Melodielinien der Soloinstrumente symbolisch für die Figuren auf der Bühne. Nach einem längeren zweistimmigen Teil schließen die Sänger in hymnischer Ein-stimmigkeit in A-Dur – beide sind vereint, musikalisch wie szenisch, und Gertrud ist in Hunolds Welt angekommen.

Das Mittelsächsische Theater in Döbeln/ Wikipedia

Neuland betritt Nessler im Mittelteil der Ouvertüre, wo er ein Melodram einführt, das die Ouvertüre gleich zu einem Teil der Handlung werden lässt. Erst sehr viel später sollten Leoncavallo und Mascagni auf ähnliche (dann aber gesungene) Modelle bei I Pagliacci und bei Cavalleria rusticana zurückgreifen. Der Trauermarsch des 5. Aktes weist schon voraus bis zu Gustav Mahler, manche Finesse der Harmonie im Lied „Wenn dem Wächter das Horn einfriert“ zu Beginn des 3. Aktes zu Hugo Wolf. Und auch vor kräftigen Dissonanzen scheut Neßler in der Ouvertüre nicht zurück, um gleich zu Beginn klarzustellen, dass dieser Rattenfänger von Hameln weit mehr bietet als brave Butzenscheibenromantik. Martin Bargel

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Verbreitung und Dokumente: Kaum eine Note Nesslers ist – außer einem dürftigen Querschnitt des Trompeter von Säckingen mit Hermann Prey bei Electrola und einer diskutablen Gesamtaufnahme des WDR (leider ohne Dialoge) als Nachklang der Aufführungen beim Festlichen Herbst Bad Urach bei Capriccio (noch bei jpc erhältlich) – auf Tonträger dokumentiert. Historische Einzelaufnahmen der eingangs erwähnten Arie finden sich von Prey, Tauber, Schlusnus, Melchior, Muench, vom Montanara Chor und in Blasorchesterfassung.

Dabei ist der Trompeter nicht etwa sein eigentlicher Erfolg gewesen, sondern eben der Rattenfänger. Aber die Aufführungen des damals scheidenden Intendanten des Mittelsächsischen Theaters, Ingolf Huhn, in den Theatern von Freiberg und Döbeln im Frühjahr 2004, wurden leider nicht beim MDR aufgezeichnet. Das Mittelsächsische Theater gastierte mit dem Werk bei den Musikfestspielen Dresden im Sommer 2004 und nahm es in der neuen Saison noch einmal auf, wo  auch  Lortzings Oper Rolands Knappen ebendort dort im Mai 2005 zur Aufführung kam.

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Das Mittelsächsische Theater in Freiberg/ Wikipedia

Der Rattenfänger von Hameln, Große romantische Oper in fünf Akten von Victor E. Nessler; Libretto von Friedrich Hofmann nach dem Gedicht von Julius Wolff UA: 19. März 1879 Leipzig (1. Aufführung in moderner Zeit 2004 am Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln).

Inhalt: Die deutsche Sage tritt auf und spricht einen Prolog. Erster Akt: Rathaussaal Streit im Hamelner Stadtrat: Die Stadtkasse ist leer, die Bürger klagen über die hohen Steuern. Der Bürgermeister weist darauf hin, dass es ein noch größeres Problem gebe: die Rattenplage. Aber er hat auch schon eine Lösung parat: Ein fremder Spielmann, Hunold Singuf, hat sich angeboten, die Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Dafür fordert er 100 Mark und eine später zu benennende zusätzliche „Spende“. Trotz der hohen Forderungen nimmt der Stadtrat schließlich das Angebot des Rattenfängers an. Hausgarten des Bürgermeisters Regina, die Tochter des Bürgermeisters, erwartet ihren Bräutigam Heribert, den Sohn des Stadtschultheißen. Als der von einem Studienaufenthalt Heimgekehrte erscheint, sind alle zufrieden – außer dem Stadtschreiber Ethelerus, der sich selbst vergeblich um Regina bemüht hatte.

Zweiter Akt: Im Wirtshaus zum „Braunen Hirsch“. Hunold unterhält die Gäste mit seinen Liedern; insbesondere die Frauen sind von ihm fasziniert. Ethelerus lädt ihn zu einem abendlichen Treffen im Weinkeller gemeinsam mit seinem Freund, dem Kanonikus Rhynperg, ein. Da erscheint Gertrud; Hunold und sie erkennen im jeweils anderen den lange Erträumten. Die übrigen Gäste sind verwundert; Wulf, der Schmied, Gertruds Verlobter, schwört Rache. Beim Fischerhaus am Strom Gertrud und Hunold haben ein Stelldichein; Wulf versucht vergeblich, Gertrud zurückzugewinnen.

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Dritter Akt: Vor dem Ratskeller. Der Schreiber und der Kanonikus wetten mit dem Rattenfänger, dass auch er, der sich seines Erfolgs bei Frauen rühmt, Regina keinen Kuss abgewinnen könne.

An der Weser: Wulf beklagt sich bei seinen Nachbarn über Gertruds Untreue. Des Nachts lockt der Rattenfänger Ratten und Mäuse in die Weser; Wulf lauert Hunold auf, wird aber von diesem besiegt. Vierter Akt Offene Ratshalle Die Frauen sind glücklich darüber, dass die Ratten fort sind. Von Wulf aufgestachelt, wollen die Bürger dem Rattenfänger dennoch den versprochenen Lohn nicht zahlen. Regina, Dorothea und Heribert bezeugen, dass im Keller des Bürgermeisters noch ein „Rattenkönig“, fünf zusammengewachsene Ratten, die nicht fortlaufen konnten, geblieben, der Vertrag also nicht erfüllt sei. Hunold klagt nun Wulff an, der entgegen den Bedingungen nachts auf der Straße geblieben sei: Deshalb habe der Zauber nicht vollständig funktioniert. Außerdem fordert er nun die zusätzlich zum Geld vereinbarte Spende – einen Kuss der Bürgermeistertochter. Die Frauen finden diese Zusatzforderung apart, die Männer sind empört. Hunold will mit seinem Zauber auch Regina berücken. Die Roland-Statue auf dem Markt warnt ihn: „Recht verbürg‘ ich! Missethat würg‘ ich!“

Vierter Akt: Der Rathhaussaal als Festsaal. Die Verlobung von Heribert und Regina wird gefeiert. Regina wird unruhig, als Hunold erscheint, und fällt ihm um den Hals, nachdem er ihr ein Lied gesungen hat. Hunold wird des bösen Zaubers angeklagt.

Der Autor: Der Musiker, Dirigent, Pianist und Komponist Martin Bargel/ LIN

Fünfter Akt. Vor der Stadt Hameln. Gertrud beklagt den Verrat Hunolds an ihr. Die Richter verurteilen Hunold zum Tode. Gertrud beruft sich auf ein altes Gesetz, demzufolge das Leben eines Verurteilten einer Jungfrau geschenkt werden kann, die dann mit ihm fortziehen muss. So befreit sie Hunold, stürzt sich dann aber verzweifelt in die Weser. Vor der Kirche: An der Brücke. Aus der Kirche, wo die Hochzeit Heriberts und Reginas gefeiert wird, tönt der Gesang der Bürger. Hunold tritt auf, lockt mit Schalmeienspiel und Gesang die Kinder der Stadt herbei und führt sie über die Brücke davon. Seine Rache schreit er in die Kirche hinein; die herauseilenden Bürger müssen mit ansehen, wie die Brücke einstürzt und ihre Kinder im Berg verschwinden.

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Die vorliegenden Texte übernahmen wir – mit leichten Modifikationen – dem informativen Programmheft zur Aufführung in Freiberg-Döbeln 2004, wobei wir dem dortigen Dramaturgen Christoph Nieder sehr zu Dank verpflichtet sind. Der Autor Martin Bargel war damals Dirigent am Mittelsächsischen Theater, während er in dieser Zeit und auch danach immer wieder in spannenden musikalischen Projekten in Erscheinung trat, auch mit Eigenkompositionen. Redaktion und ergänzende Texte G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Mehr von Händel

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Von Händels Frühwerk Amadigi di Gaula präsentiert Chandos Records eine bemerkenswerte Neuaufnahme auf zwei CDs, die Ende 2021 London entstand (CHSA 0406/2). 1715 wurde die dreiaktige Oper im Londoner King’s Theatre uraufgeführt, der Autograph des Werkes ist verschollen, doch existieren davon mehrere handschriftliche Kopien. Teile der Ouverture sowie neun Gesangsnummern übernahm Händel aus seiner 1713 komponierten Oper Silla. Die in Griechenland spielende Geschichte handelt von dem für seine Heldentaten berühmten Ritter Amadigi und seiner Liebe zu Prinzessin Oriana, welche durch die Zauberin Melissa und ihren Anspruch auf Amadigi auf die Probe gestellt wird.

Die Early Opera Company leitet deren Gründer Christian Curnyn, der sich durch viele Einspielungen barocker Werke international einen Namen gemacht hat. Die reiche Palette der musikalischen Klangfarben der Komposition fächert er faszinierend auf und erzielt dabei stupende Wirkungen. Solche hört man schon in der Ouverture mit ihrem gravitätischen Largo als Einleitung und einem lebhaften Allegro als Mittelteil. Am Ende sorgt er mit dem Ballo di Pastori e Pastorelle für einen lebhaft-heiteren Ausklang.

Die Besetzung führt der renommierte Countertenor Tim Mead in der Titelpartie an. Er führt sich mit der Cavatina „Notte, amica die riposi“ ein und lässt eine sanft schmeichelnde Stimme hören. Das folgende Allegro „Non sa temere“ ist von beherztem Zuschnitt und demonstriert die flexible Stimmführung des Sängers. Zu Beginn des 2. Aktes kann er in der wiegenden Siciliana „Sussurrate, onde vezzose“ mit schwebenden Tönen bezaubern. Mit „Sento la gioia“ brilliert er am Ende des Werkes noch mit einem jauchzenden, Koloratur gespickten Solo. Seine Geliebte Oriana, Tochter des Königs der Glücklichen Inseln, nimmt die britische Sopranistin Anna Dennis wahr – auch sie erfahren im Barock-Genre und mit einer Stimme von lyrischem Wohllaut ausgestattet. Mit der Aria „Oh caro mio tesor“ fällt ihr eine Perle der Oper zu, welche sie mit fein gesponnenen Tönen zu bester Wirkung bringt. „Ti pentirai, crudel“ im 2. Akt ist dagegen erregt und heftig im Vortrag. Zu Beginn des 3. Aktes bezaubert sie mit zarten Klängen in „Dolce vita del mio petto“. Geliebt wird Amadigi auch von der Zauberin Melissa, die Mary Bevan singt. Ihr Sopran entfaltet in der Auftrittsarie „Ah! spietato!“ klagende Laute der Verzweiflung. In „Io godo, scherzo e rido“ kann sie dagegen vehement auftrumpfen. Auch ihr Duetto mit Amadigi im 2. Akt, „Crudel, tu non farai“, ist von stürmisch-auffahrendem Duktus. Mit „Desterò dall’empia dite“ fällt ihr ein von Trompetengeschmetter begleitetes Bravourstück zu, in welchem die Sängerin ihr virtuoses Vermögen demonstriert. Von ähnlichem Zuschnitt ist das rasante „Vanne lunghi“ im 3. Akt, das ihr energische Koloraturläufe abverlangt, in denen dann auch einige strapazierte Momente zu hören sind.

Eine der weltweit führenden Altistinnen ist Hilary Summers, der die Hosenrolle des thrakischen Prinzen Dardano anvertraut wurde. Mit „Pugnerò contro del fato“ fällt ihm das erste Solo des Werkes zu, ein energisches Presto, in welchem die Sängerin ihre noch immer perfekt funktionierende und agile Stimme vorführt. In der Aria „Agitato il cor mi sento“ überzeugt sie mit resolutem Ausdruck. Das getragen-ernste „Pena tiranna“ nimmt das berühmte „Lascia ch’io pianga“ aus dem Rinaldo auf und Summers zelebriert es in würdevoller Manier. „Tu mia speranza“ bringt eine kokette Note ein. Der Countertenor Patrick Terry komplettiert die Besetzung klangvoll als Zauberer und Orianas Onkel Orgando.

Das Werk ist auf dem Musikmarkt nicht eben reich vertreten. Die vorliegende Chandos-Aufnahme ist erst die dritte kommerzielle Einspielung der Oper und ergänzt die bisher maßstäbliche unter Marc Minkowski von 1989 auf Erato. Sie dürfte sogar eine starke Konkurrenz zu dieser Vorgängerin sein. Bernd Hoppe

Robuste Emotionen

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Eine beachtliche Karriere hat der armenische Bariton Gevorg Hakobyan bereits gemacht, der im kommenden Sommer auch in der Arena di Verona zu erleben sein wird, nachdem er bereits an vielen bedeutenden Bühnen mit Erfolg gesungen hat. Mit Ettore Bastianini und mit Silvano Carroli soll man ihn verglichen haben, welchem Urteil man zumindest, was den Jüngeren der beiden betrifft, zustimmen kann, entspricht doch trotz eines süffisanten Lächelns, das er auf dem Cover seiner CD bei Delos mit dem Titel Arias of Love & Sorrow zeigt, die Optik, aber auch die Stimmfarbe eher dem typischen „Brunnenvergifter“ á la Barnabà als dem edel-tragischen Helden.

Es beginnt mit dem Credo des Jago, das man allerdings weder der Liebe noch der Sorge zuordnen kann, zu dem aber die etwas dumpfige, dunkel grollende Stimme sehr gut passt, die Gemütsbewegungen weniger durch ein chiaro-scuro als durch einen Wechsel der Lautstärke hörbar werden lässt. Besonderen Nachdruck will der Sänger durch ein energisches Hervorstoßen der Töne erzielen, in der Höhe wird die Stimme etwas flacher, das grässliche Gelächter, das viele Baritone der Arie folgen lassen, unterlässt Hakobyan dankenswerterweise.

Hört man Nemico della patria, das dem Credo folgt, kann man wahrnehmen, dass die Stimme von Natur aus gar nicht so böse klingt, für den Jago wohl künstlich abgedunkelt wurde und nun einen echten Heldenbariton vernehmen lässt. Bärbeißiger zeigt sich dann wieder der Michele aus Il Tabarro, der seine Arie mit einem sieghaften Spitzenton krönen kann.  Legato und Phrasierung stimmen im Gebet Nabuccos, eine farbige mezza voce wird für den Renato eingesetzt, der für die besungenen dolcezze auch einiges davon im Timbre aufweist. Soweit das italienische Repertoire.

In die italienischen Arien eingestreut sind solche aus russischen und armenischen Opern. Bekannt ist Tschaikowskis Pique Dame, aus dem der Bariton die Erzählung des Tomsky vorträgt, sehr empfindsam nimmt er sich der Klage des Fürsten Igor aus Borodins gleichnamiger Oper an, zugleich ein beachtliches Material ausstellend wie sich mit Erfolg um ein differenzierendes Portrait des unglücklichen Fürsten bemühend. Das wilde Aufbegehren des Gryaznoy aus Rimski-Korsakows Zarenbraut wird eindrucksvoll vermittelt. Aus Rachmaninoffs Aleko wird dessen Arie schließlich  schön differenzierend zwischen Wut und zärtlicher Erinnerung dargeboten.

Im Westen nicht bekannt sind die armenischen Opern, derer sich Hakobyan verständlicherweise annimmt. 1945 wurde Levon Khodja-Eynatyans Oper Arshak II in Jerewan uraufgeführt, die  Arie des Titelhelden klingt recht basslastig, aber auch die sichere Höhe der Stimme kann ihre Wirkung entfalten. Mit zwei Werken ist der Armenier Armen Tigranian vertreten, und sowohl in der Arie des Mosi aus Anoush wie in der des David Bek aus der gleichnamigen Oper kann der armenische Sänger noch einmal alle Vorzüge seiner Stimme ausstellen. Begleitet wird er von John Fisher und Constantine Orbelian, die das Kaunas City Symphnony Orchestra leiten (Delos 3577). Ingrid Wanja    

Unentwegt auf Tour

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So richtig auf den Geschmack gekommen, was Freilichtgroßereignisse betrifft, scheint Luciano Pavarotti nach dem Konzert 1990 mit den anderen zwei Tenören in den Thermen des Caracalla in Rom anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1990 gekommen zu sein. Damals gewann übrigens Deutschland den Titel. Bereits im folgenden Jahr gab es , allerdings nur mit ihm als Alleinstar, im Londoner Hydepark und noch ein Jahr später im Central Park von New York  ein Konzert mit einer halben Million Zuschauer.

Die Programme der beiden Veranstaltungen ähnelten einander, nahmen allerdings auch Rücksicht auf die jeweiligen Vorlieben des Publikums, das Wetter hätte nicht unterschiedlicher sein können, denn während in London ein buntes Meer von Regenschirmen wetterfest ausharrte, konnte man und kann man nun auch auf zwei Blurays in New York bei strahlendem Sonnenschein den einen oder anderen nackten männlichen Oberkörper bewundern.  Während das Londoner Publikum Weltmeister im Winken zu sein scheint, ist das in New York  weitaus gelassener.

War in Ravenna, wo es im Juni eigentlich kaum regnet, ein Pavarotti-Konzert im Hafen der Stadt wegen schlechten Wetters noch auf den kommenden Abend verschoben worden, ist man in London schlechtes Wetter gewöhnt und trotzt ihm, so wie auch Lady Diana, Prince Charles und Ministerpräsident Major in der ersten Reihe, die Mitglieder des Philharmonia Orchestra fürchteten wahrscheinlich um ihre kostbaren Instrumente, aber Leone Magiera, bevorzugter Dirigent italienischer Sänger und oft auch ihr Begleiter am Flügel, zog das Programm durch.  In New York war er gleichfalls der Taktgeber, diesmal für The New York Philharmonic. An beiden Orten beginnt man mit der Ouvertüre zu Luisa Miller, gefolgt von der Arie des Rodolfo, „Quando le sere“, einschließlich Rezitativ, aber ohne Cabaletta. Für die vielen Verdi-Partien, die der Tenor sang, ist abgesehen vom Duca und Alfredo die Stimme recht hell, in New York klingt sie etwas metallischer als in London, der Spitzenton ist natürlich ein strahlender und wird mit Lust lange gehalten. Geht es in London mit „O paradiso“ weiter, so in New York sehr viel angemessener mit dem Schlussbild von Lucia di Lammermoor, in London bleibt man weit eher der bedeutenden  E-Musik verhaftet, ehe es zu den Canzoni geht, in New York wechselt nach einem Lamento di Federico der Star bereits ins Populäre, ehe er bei den Zugaben wieder  zu den beiden Cavaradossi-Arien und damit zur Oper zurückkehrt.

In London hat der Philharmonia Chorus eine bedeutende Funktion im Konzert, natürlich mit dem unvermeidbaren „Va pensiero“, aber völlig unverhofft und aus dem Rahmen fallend auch mit dem Brautchor aus Lohengrin. Die Londoner bekommen weit mehr Pavarotti serviert als die New Yorker, die auf Canio und Des Grieux verzichten müssen, dafür aber, unbefangen wie man in den USA nun einmal ist, mitten im Pavarottikonzert mit dem Boys Choir of Harlem und Strayhorn, Ellington und I can go to God konfrontiert werden.

In beiden Städten kommt das Publikum in den Genuss der Kunst eines außergewöhnlich guten Flötisten, Andrea Griminelli, der in London nur eine Carmen-Phantasie, in New York dazu noch Mercadantes Rondo Russo zum Besten gibt. Auf O Sole mio und Nessun dorma aber braucht man weder in London noch in New York zu verzichten, und auf beiden Aufnahmen ist der Maestro in guter Form, stellt seine Stimme genüsslich und genussvoll aus, ein prächtiges Material, das sich selbst genug ist (C-Major 762404 und 762704). Ingrid Wanja      

KATRIN WUNDSAM

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Im deutschsprachigen Raum vor allem durch ihre Auftritte bei den Bregenzer Festspielen, an der Staatsoper Unter den Linden und an der Oper Köln bekannt, wo sie über viele Jahre zum Ensemble gehörte, arbeitet Katrin Wundsam nun schon mehrere Jahre als freischaffende Sängerin. Nun stehen diese Spielzeit spannende und wichtige Debüts auf dem Programm. Momentan steht die Künstlerin als Jezibaba und Fremde Fürstin in Rusalka auf der Bühne des Staatstheaters Wiesbaden, im Frühling kommt die erste Magdalene in den Meistersingern von Nürnberg beim Tokyo Spring Festival und im Frühsommer Lulu/Gymnasist/Gaderobiere bei den Wiener Festwochen. Geplant sind außerdem Partien wie Komponist, Fricka oder Charlotte. Mit Christian Glace sprach Katrin Wundsam über diese Pläne, Rusalka am Staatstheater Wiesbaden, ihre Zeit an der Oper Köln, ihre Ausbildung zum Coach für Angstbewältigung und vieles mehr.

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Was ist Ihre erste mit Musik verknüpfte Erinnerung? Meine erste Erinnerung ist es tatsächlich, ein österreichisches Volkslied mit meiner Mama im Duett zu singen. „In die Berg bin i gern“.

Katrin Wundsam/Foto Liliya Namisnyk

Wie entstand Ihr Interesse am Singen? Und wann haben Sie gemerkt, dass Sie eine Stimme haben, die für Opernbühne tauglich ist und sich entschieden, professionelle Opernsängerin zu werden?
Gesungen habe ich immer gern, und wohl auch gut. Von dort, wo ich herkomme, vom Land, war die Blasmusikkapelle und der Kirchenchor im Prinzip das höchste der Gefühle. Singen war an sich nichts, was auch nur ansatzweise als Beruf hätte angesehen werden können. Ich habe, als ich die HBLA [Höhere Bundeslehranstalt für Landwirtschaft und Ernährung] begonnen habe, Aufnahmeprüfung am Bruckner-Konservatorium Linz gemacht. Und mein Lehrer „to-be“ meinte, da wäre EIN Ton gewesen, der hätte ihm gezeigt, dass da was möglich ist…

In der Neuproduktion von Rusalka in Wiesbaden sind Sie mit der herausfordernden Aufgabe betraut, zwei Rollen in derselben Aufführung zu singen, Ježibaba und die Fremde Fürstin. Die beiden Rollen sind sowohl was ihren Charakter angeht, als auch hinsichtlich der stimmlichen Anforderungen sehr verschieden. Ježibaba ist eine echte dramatische Mezzopartie, während die Fremde Fürstin ja schon Zwischenfach ist und oft einem Sopran anvertraut wird, da sie eine höhere Tessitura und einen bis zum hohen C reichenden Tonumfang hat. Wie gehen Sie diese Herausforderung und diese zwei Rollen an?
Ich muss sagen, ich liebe es!! Herausforderungen generell und dies im Besonderen. Beide Rollen liegen mir sehr gut und beide haben jeweils einige sehr exponierte Momente- sei es in der Tiefe und in der Höhe. Ich arbeite immer daran, die Stimme farblich durch alle Übergänge auszugleichen und an solchen Passagen arbeitet man natürlich umso mehr. Aber zum Glück liegen alle Töne gut im Stimmumfang, das heißt, es gilt „nur“, sie dem Charakter der Rollen, des Textes und der Dynamik anzupassen .

Was können Sie über die Produktion am Staatstheater Wiesbaden sagen? Es ist eine sehr frische Sicht auf das Stück. Dem Regieteam um Daniela Kerck und Olesya Golovneva und auch dem Dirigenten Philipp Pointner ging es von Anfang darum, eine springende Geschichte zu erzählen. Theater und Oper im besten Sinne zu machen. Das Stück gibt so viel her, und ich glaube, wir haben einen sehr märchenhaften Zugang gefunden. Gespickt mit atemberaubenden Videos von Astrid Kessler.

Welche Rollen werden Sie demnächst in Ihr Repertoire aufnehmen? Und welche zukünftigen Engagements sind geplant? Mein nächstes Engagement führt mich direkt zum Tokyo Spring Festival für die Magdalene in den Meistersingern von Nürnberg unter Janowski. Dann geht’s als Gymnasist/Gaderobiere in Lulu ans Theater an der Wien [Wiener Festwochen]. Schöne Debüts, über die ich mich sehr freue!
In meinem Repertoire sind für die nächste Zukunft Rollen wie Komponist, Venus, Fricka, Judith (Blaubart) geplant. Aber auch Marguerite (Damnation) oder Charlotte… es gibt sooo vieles.

Katrin Wundsam/Foto Liliya Namisnyk

Was können Sie uns über Ihre Erfahrungen als Ensemblemitglied der Oper Köln erzählen? Ich hatte eine tolle Zeit in Köln. Ich habe dort gelernt, eine Sängerin zu sein. Viele tolle Partien in den verschiedensten Spielstätten. Und mir wurde immer ermöglicht zu gastieren, ein Netzwerk aufzubauen.

Wie bzw. nach welchen Kriterien haben Sie Ihr aktuelles Repertoire aufgebaut? Nun ganz ehrlich, wenn man als junge Sängerin ins Festengagement kommt, ist man immer etwas abhängig davon, was einem angeboten wird. Ich hatte Riesenglück, denn Uwe Laufenberg hat mich von Anfang an unterstützt und auch auf sein eigenes Risiko mit größeren Rollen ohne Orchesterproben besetzt. Auf meinen eigenen Wunsch. (lacht) So geschehen bei Clemenza di Tito, als ich ablehnte, Annio zu singen… Und weil ich mir den Sesto eingebildet habe, hat er ihn mir gegeben. Ohne Orchesterproben, weil die gab’s nicht. Das war eine grandiose Herausforderung und etwas, das ich nicht vergesse.

Welche Opernaufnahme würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Muss es Oper sein? Wenn, dann einen Ring, da hat man auch lange was von! (lacht)

Auf Social Media teilen Sie regelmäßig Fotos und Videos Ihres Bauernhofs, den Sie mit Ihrem Mann neu aufbauen.  Ja. Unser Lebensprojekt. Der Hof der Großeltern meines Mannes, circa 300 Jahre alt, wurde von uns abgerissen – bis auf zwei Stallungen. Den Rest bauen wir mit dem alten Holz, eigenen Tannen und nachhaltig im alten Grundriss wieder auf. Eigene Energieversorgung, eigene Quelle und Hackschnitzel aus eigenem Wald runden unsere recht energieautonome Bauweise ab. Hinein kommen die Firma meines Mannes Reitinger Ofenbau & Fliesen, und ein Musikbereich, der wohl auch für Kammermusik, Vernissagem, Meisterkurse, etc. genutzt werden wird.

Katrin Wundsam/Foto Liliya Namisnyk

Sie sind ja auch Coach für Angstbewältigung. Ich bin hier noch in Ausbildung, habe diese in der Coronazeit begonnen. Lampenfieber bis hin zur Panik war immer ein großes Thema für mich und ich glaube, über die Jahre habe ich mir einiges angeeignet, was den Umgang damit gut erträglich macht. Sehr viel in eigenem trial-and-error Verfahren. Und sehr viel mit Hilfe von Dr Anja Walter Riß, einer fantastischen Coach, die mich seit drei Jahren begleitet. Solch eine Art von Hilfestellung und Begleitung stelle ich mir auch vor, geben zu können. Nicht nur für SängerInnen. Für alle, die sich trotz hoher Kompetenz selbst im Weg stehen, weil das Lampenfieber sie von den „Bühnen“ fernhält.

Und wie würde eine ideale Spielzeit für Sie aussehen? Hm…. Komponist, Fricka, Blaubarts Burg. Gespickt mit tollen Konzerten wie Verdis Requiem, Ravels Sheherazade und immer gern 9. Beethoven, weil sie einfach auch beim 100.Mal mein Herz berührt (Foto oben als Sesto/ La Clemenza di Tito/ Paul Leclair).

Verdienstvolle Editionen

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Der aus der Schweiz stämmige Komponist Heinrich Sutermeister (1910-1995) wird von Toccata Classics nach dem begrüßenswerten Erstling nun mit einer zweiten Ausgabe seiner Orchesterwerke gewürdigt (TOCC 0608). Die CD weist zwar keine Überlänge auf (Vol. 1 kam auf rekordverdächtige 87 Minuten), ist mit 72 Minuten jedoch gut gefüllt.

Abermals zeichnet der Dirigent Rainer Held verantwortlich, diesmal an der Spitze der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. Als die namhaften Solisten treten in Erscheinung die Sopranistin Juliane Banse und der Tenor Benjamin Bruns. Im Mittelpunkt stehen in Vol. 2 Orchesterlieder Sutermeisters, welche ihn als bedeutenden musikalischen Lyriker ausweisen, der er neben seiner wichtigen Rolle als Opernkomponist zweifelsohne war.

Auf 1935 datieren die Sieben Liebesbriefe für Tenor und Orchester, welche auf Texten aus dem 18. Jahrhundert basieren. Bereits als 25-Jähriger zeigt Sutermeister darin einen spezifischen Individualstil mit einer hervorgehobenen Rhythmik, kontrastreicher Kantabilität, dem bewussten Einsatz von Sprechgesang und der Betonung des Schlagwerkes. Bei den sieben Dichtern bzw. Briefschreibern handelt es sich um Gottfried August Bürger (Der Leidenschaftliche), Wilhelm von Humboldt (Der Naturphilosoph), Johann Wolfgang von Goethe (Der Liebeswahnsinnige), Heinrich Voß (Der Bürger als Bräutigam sowie Der Bürger als Edelmann), Gotthold Ephraim Lessing (Liebe und Tod) und nicht zuletzt Kronprinz Friedrich von Preußen, der spätere Friedrich der Große (Der Kavalier). Das liedhafte Ich reise weit aus der Oper Romeo und Julia für Sopran und Streichorchester (1940) ist ebenfalls noch in diese frühe Phase von Sutermeisters Kompositionstätigkeit zu einzuordnen.

Dem gegenüber entstammen die beiden anderen Liederzyklen den späten Lebensjahren des Komponisten. Die 1977 entstandene sogenannte Consolatio philosophiae (wörtlich „Der Trost der Philosophie“) weist er als Dramatische Szene für hohe Stimme und Orchester aus. Grundlage sind Verse des spätrömischen Dichters Boethius (um 480-524). In Erwartung seiner Hinrichtung hatte dieser einen Dialog mit der weiblich symbolisierten Philosophie über Glück, Wahrheit, Tod und weitere essentielle Themen geführt. Das Werk entstand zu Ehren von Ernest Ansermet und war Wolfgang Sawallisch gewidmet.

Mit den Sechs Liebesbriefen für Sopran und Orchester kehrte Sutermeister 1979 fast 70-jährig zum Sujet des eingangs genannten Vorgängerwerkes zurück. Die Texte entstammen diesmal aus dem 16. und 18. Jahrhundert. Anders als 1935 steht hier nicht mehr Sturm und Drang im Mittelpunkt. Die Verlobung datiert bereits auf 1544 und stellt ein Schreiben der Leipziger Goldschmiedstochter Margaretha Kuffner an ihren Verlobten Philipp Melanchthon d. J. dar. Mit Die Hochzeit von 1598 rückt Ursula Freher, Tochter des Nürnberger Stadtsyndikus, ins Zentrum, welche der Verbindung mit dem begüterten Frankfurter Patrizier Johann Adolf von Glauburg entgegenfiebert. Sehr viel traurigeren Anlasses ist Der Tod, 1766 von niemandem Geringeren als der nunmehrigen Kaiserinwitwe Maria Theresia verfasst, die darin das Ableben ihres geliebten Gemahls Franz Stephan von Lothringen beklagt. Die Trennung von 1771 hingegen sollte ein Happyend haben für Maria Karoline Flachsland und ihren späteren Gemahl Johann Gottfried Herder. Platonisch-freundschaftlicher Natur ist das 1789er Capriccio Albertines von Grün an Ludwig Friedrich Höpfner. Mit Cherubino a cavallo greift Sutermeister überraschenderweise den Kavalier von 1935 neuerlich auf und somit das Abschiedsschreiben des preußischen Kronprinzen Friedrich an Frau von Wreech. Tatsächlich steht diesmal nicht der Verfasser, sondern die Empfängerin des Briefes im Mittelpunkt.

Die Neuerscheinung enthält einen formidablen Einführungstext von Christian Heindl, der neben Deutsch auch auf Englisch vorliegt. Dies gilt auch für die sämtlichen Liedertexte, wobei im Falle der Consolatio philosophiae erfreulicherweise auch das lateinische Original mit abgedruckt wurde. Künstlerisch und klanglich (Aufnahme: Philharmonie, Ludwigshafen, 31. Jänner bis 4. Februar 2022) ist Toccata abermals eine herausragende Ausgabe gelungen, so dass guten Gewissens eine volle Empfehlung ausgesprochen werden darf. Daniel Hauser

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Der österreichische Geiger Heinrich Wilhelm Ernst (1812-1865), in Brünn geboren und in Nizza gestorben, galt zu Lebzeiten als der liebenswürdige Antagonist zum „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini. Joseph Joachim meinte über Ernst: „Ähnliches habe ich niemals wieder gehört; wie denn Ernst der Geiger war, der turmhoch über allen anderen stand, denen ich im Leben begegnet bin.“ Die Wertschätzung des Geigenvirtuosen war also grenzenlos. Doch wie sieht es mit dem Komponisten aus? Tatsächlich gibt es immerhin 26 nummerierte Werke aus der Feder Ernsts, darunter eine Vertonung von Goethes Erlkönig und ein technisch beinahe haarsträubend schwieriges Violinkonzert in fis-Moll. Die verdienstvolle Edition der kompletten Werke, welche Toccata Classics vorlegt, ist mittlerweile bei Vol. 6 (TOCC 0311) angelangt. Das Herz dieser gerade 54-minütigen CD machen besagter Erlkönig – mit vollem Titel Grand Caprice. Solo pour Violin sur Le Roi des Aulnes de F. Schubert, Op. 26 (1842) – sowie die Études pour le Violin à plusieurs parties (Sechs mehrstimmige Studien für Violine. Gruß an Freunde und Kunstbrüder) (1864) aus, zwei hoch virtuose Violinwerke, das eine gerade vierminütig, das andere über eine halbe Stunde dauernd. Mit dem rumänischen Geiger Sherban Lupu konnte ein tadelloser Interpret gewonnen werden, der den höchsten Anforderungen gerecht wird, aber auch den langen Atem hat, um insbesondere in dem langen Spätwerk zu bestehen. Im hochexpressiven Erlkönig – stellenweise schon Bernard Herrmanns Psycho-Soundtrack vorwegnehmend – kommt Ernst Paganini am nächsten. Den Rest der CD machen an Schubert erinnernde Klavierwerke aus, darunter drei frühe Walzer von etwa 1838, eine Clara Schumann gewidmete Romanze von 1842 sowie eine spät entstandene Nocturne Posthume von 1864. Für diese zeichnet der englische Pianist Ian Hobson verantwortlich und fungiert zudem als Begleiter in den beiden Goethe-Liedern Lebet wohl (vor 1843) und Der Fischer (um 1830). Den Vokalpart übernimmt die amerikanische Sopranistin Yvonne Redman mit angenehmem Timbre.  Abgesehen vom dritten Walzer sind alle Werke mit Klavier Weltersteinspielungen. Das Beiheft wird bereichert durch einen klugen Essay des Ernst-Biographen Mark Rowe. Die Klangqualität der 2014 bzw. 2017 entstandenen Einspielungen unterstreicht das hohe Niveau dieser Produktion. Daniel Hauser

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Der polnische Komponist Moritz Moszkowski (1854-1925) ist heutzutage vermutlich noch am bekanntesten aufgrund einiger seiner virtuosen Klavierstücke, war er doch auch selbst Pianist. Dass er sich auch der großen Sinfonik und gar der Oper (Boabdil, der letzte Maurenkönig, 1888-1892) widmete, ist gleichsam der Vergessenheit anheimgefallen. Johanna d’Arc. Symphonische Dichtung in vier Abtheilungen nach Schiller’s Jungfrau von Orleans für grosses Orchester – so der volle Titel des seinem etwas älteren Komponistenkollegen Philipp Scharwenka gewidmeten Opus 19 – entstand in den Jahren 1875/76, ist also ein Frühwerk des Komponisten, welches nunmehr seine Weltersteinspielung erfährt (Toccata TOCC 0523). Es handelt sich um ein gewaltiges, einstündiges Werk im Stile ausgereifter Spätromantik, dessen vier Sätze wie folgt sehr detailliert bezeichnet sind: I. Johannes Hirtenleben. Eine Vision bringt sie zum Bewusstsein ihrer hohen Stellung; II. Innere Zerwürfnisse – Rückerinnerungen; III. Einzug der Sieger zur Krönung in Reims; IV. Johanna in der Gefangenschaft. Sieg, Tod und Verklärung. Es ist also möglich, die Intention des Komponisten zu verfolgen, der sich ganz in der Nachfolge von Franz Liszt und César Franck im Genre der Tondichtung bewegt. Bereits der pastorale, lyrisch angelegte Kopfsatz könnte mit seinen 23 Minuten ein Vertreter dieser Gattung sein. Er vermittelt tatsächlich sehr bildhaft die Idylle der unbeschwerten Jugend der späteren Jungfrau. Moszkowski wählte wohl ganz bewusst die Schiller’sche Vorlage, die ja bereits für sich genommen eine Abstraktion der historischen Wirklichkeit des kurzen, aber ereignisreichen Lebens der Jeanne d’Arc (1412-1431) darstellt. Erst im letzten Drittel dieses ersten Satzes kommt durch das erstmalige Auftreten der Pauken eine gewisse Unruhe ins scheinbare Paradies. Die ambitionierte Orchesterbesetzung mit Schlagwerk und Harfe erinnert ganz allgemein auch nicht unbedingt an ein sinfonisches Erstlingswerk. Die Solovioline (Jakub Haufa), die Vision versinnbildlichend, kommt ebenfalls zum Zuge. Der zweite Satz (12:49) mit der Tempobezeichnung Andante malinconico ist erwartungsgemäß von düsterer, eben melancholischer Grundstimmung und übernimmt gewissermaßen den Platz eines langsamen Satzes. Spätestens jetzt wird man des unzweifelhaften Talents Moszkowskis gewahr. Das ist alles andere als irgendeine durchschnittliche Orchesterkomposition, die zurecht vergessen wurde. Zwar behauptet der Beschreibungstext, Moszkowski habe sich an Wagner orientiert, doch erscheint die ebenfalls in den Raum gestellte Anlehnung an Joachim Raff noch naheliegender. Alles in allem aber  handelt es sich um einen durchaus erkennbaren Personalstil, der stellenweise herrlich schwelgerisch daherkommt. Im marschartigen dritten Satz (10:07) gelingt es Moszkowski, den höfisch-zeremoniellen Charakter zu betonen. Hier überwiegt wieder ganz offenkundig der Optimismus. Sehr festlich der Ausklang. Gute Filmmusik klingt ähnlich. Im Finalsatz (13:30) kehrt Moszkowski zum Anfang zurück, was sich schon im Wiederauftreten der Solovioline zeigt. Trotz des traurigen persönlichen irdischen Ausgangs für die Heldin triumphiert sie letzten Endes, indem sie standhaft bleibt, nicht widerruft und dadurch zur Märtyrerin wird. Eine fulminante Apotheose beschließt die Tondichtung. Freilich könnte man dieses Werk im Sinne absoluter Musik auch als eine gewöhnliche viersätzige Sinfonie der Spätromantik begreifen. In jedem Falle steht am Ende das Gefühl, ein anregendes Hörerlebnis erfahren und die Stunde des Hörens nicht vergeudet zu haben. Die Darbietung der Sinfonia Varsovia unter Ian Hobson ist sowohl Orchester als auch Dirigent erkennbar eine Herzensangelegenheit. Klanglich gibt es ebenfalls Grund zum Lob für die 2018 im Witold Lutoslawski Concert Studio in Warschau entstandene Einspielung. Ein feuriges Plädoyer für den „anderen“ Moritz Moszkowski. Daniel Hauser

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Der schweizerische Komponist Heinrich Sutermeister (1910-1995) erlangte insbesondere durch seine Opern Bekanntheit. Der Durchbruch gelang ihm 1940 mit Romeo und Julia, die an der Semperoper in Dresden von Karl Böhm uraufgeführt wurde. Die Premiere seines wichtigsten Chorwerkes, der Missa da Requiem, leitete 1952 Herbert von Karajan in Rom. Und noch 1985 war es Wolfgang Sawallisch, der Sutermeisters letzte Oper König Bérenger I in München uraufführte. An prominenten Fürsprechern mangelte es also mitnichten, so dass Sutermeister zu den bedeutendsten Komponisten seines Landes in der Generation nach Bloch, Honegger, Martin und Schoeck gezählt werden muss. Toccata Classics (TOCC 0420) präsentiert in Vol. 1 der Sutermeister’schen Orchesterwerke nun auf einer 87-minütigen (!) CD die Sinfonische Suite zu Romeo und Julia für großes Orchester (1940), die Suite Aubade pour Morges (1978/79), das Divertimento Nr. 2 (1959/60) sowie Die Alpen. Fantasie auf schweizerische Volkslieder für Orchester und Sprecher (1946-1948).

Bei der gut 20-minütigen Romeo und Julia-Suite handelt es sich freilich um eine sinfonische Umarbeitung der gleichnamigen Oper für den Konzertgebrauch. Der Vergleich mit Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre und Prokofjews Ballett drängt sich auf. Sutermeister widmet sich weniger den dramatischen als eher den lyrischen Momenten. So gerät der der längste Satz, die siebenminütige Sarabande mit der Tempobezeichnung Andante molto sostenuto, zum Höhepunkt. Die Tonsprache ist hier durchaus noch der Spät(est)romantik zuzuordnen und erscheint gerade im Vergleich zu Prokofjew geradezu auf Schönklang bedacht.
Aubade pour Morges, wörtlich: Das Morgenständchen für Morges, den Hauptort des gleichnamigen Distrikts im Schweizer Kanton Waadt, offeriert in seinen knapp 13 Minuten einen gewissen Tonfall, den man wohl durchaus als schweizerisch klassifizieren könnte. Sutermeister gelingt es in den fünf Sätzen, ein prächtiges Landschaftsbild vor dem eigenen geistigen Auge auferstehen zu lassen, so insbesondere im vorletzten Satz Clair de lune sur le lac. Man würde das sehr tonale Werk schwerlich auf die späten 1970er Jahre datieren und könnte es (im besten Sinne) für Filmmusik halten. Das schweizerische Idiom findet sich nicht wirklich im neoklassizistischen zweiten Divertimento, klassisch viersätzig und insgesamt wohl mit der gewagtesten Tonsprache, dafür vor allem aber in den Alpen, beide knapp halbstündig.

Diese in sechs Abschnitte unterteilte Fantasie über schweizerische Volkslieder, im Grunde genommen eine Tondichtung mit Sprecher, darf als eigentlicher Höhepunkt der Neuerscheinung betrachtet werden. Stellenweise fühlt man sich an Richard Strauss erinnert. Mehr noch als in Aubade our Morges huldigt Sutermeister seinem Heimatland. Der vorzügliche Sprecher Bruno Cathomas trägt fraglos seinen Teil zum Gelingen bei, auch wenn seine Wortdeutlichkeit durch die Kunstgriffe einer Studioproduktion erzielt wurde. Live hätte ein Rezitator wohl stellenweise seine Not, sich gegen die Klangmassen eines großen Sinfonieorchesters durchzusetzen. Der deutsche Text ist samt englischer Übersetzung glücklicherweise im Booklet abgedruckt. Dank des stellenweisen regelrecht poetischen Textes ist die genaue Intention des Komponisten, wie mittels einer Regieanweisung, nachvollziehbar.

Durchgängig ausgezeichnet in allen Werken die orchestrale Begleitung durch das Royal Philharmonic Orchestra unter Rainer Held, was durch eine vorbildliche Klangqualität unterstrichen wird (Aufnahme: London, 2018). Von daher bleibt, an Freunde einer sehr gemäßigten klassischen Moderne gerichtet, nichts anderes übrig, als eine Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

Rettungsversuch

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Lange schien es so, als würde sein Wirken für die Firma seines Stiefvaters sein Schaffen als Komponist bei weitem überstrahlen, ist doch Hans Sommer, dem das Musikstudium verwehrt wurde und der stattdessen Mathematik und Physik studieren musste, nicht nur ein Musiker, sondern auch ein Erfinder, der für viele Produkte von Voigtländer verantwortlich ist. Die Firma erfreut sich noch immer eines vorzüglichen Rufs, die Musik von Hans Sommer, der auch mehrere Opern komponierte, ist so gut wie vergessen. Zwar betätigte sich Sommer stets auch als Musiker, dazu noch als Agent und Kritiker, seine Kompositionen wurden von Richard Strauss geschätzt, der seine Oper Lorelei 1892 in Weimar uraufführte, und Bayreuth verdankte ihm eine intensive Förderung, aber zwischen den ersten Liedern und einer Wiederaufnahme der Tätigkeit als Liederkomponist liegen immerhin zwanzig liederlose Jahre, und die 1983 entstandenen ersten Lieder wurden erst 1900 mit einer orchestralen Begleitung versehen.

Unter dem Titel Orchestral Songs sind nun bei Pentatone endlich 22 Lieder erschienen, nur eines davon, nämlich Wanderers Nachtlied II, wurde schon einmal aufgenommen, alle anderen erscheinen zum ersten Mal auf dem Markt und das in durchaus prominenter Besetzung, seien es die Vokalsolisten, sei es das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin. Der Einfluss Wagners lässt sich nicht verleugnen, die Stücke atmen durchweg spätromantischen Geist, die Instrumentierung ist raffiniert, das Opernschaffen Sommers lässt sich oft nicht verleugnen, am ehesten noch in den schlicht gehaltenen Lieder der Lorelei, die nun ausgerechnet aus der gleichnamigen Oper stammen. Die letzten fünf Lieder, vier davon stammen aus  dem Zyklus Hunold Singuf, sind für ein Kammerensemble aus Klarinette und Streicher komponiert.

Die meisten Lieder werden vom Bariton Benjamin Appl gesungen, der mit Freisinn beginnt, zunächst etwas verquollen klingt, sich dann in der Höhe freisingt und den Schluss mit Aplomb bewältigt. Auch Sommer vertonte den König von Thule, lässt einen bemerkenswerten Kontrast zwischen dem schlichten Volksliedtext und der aufwändigen Melodieführung sowie dem reichen Orchesterklang feststellen. Besonders gefallen kann der Säger in der Ballade Sir Aethelbert, er kann eine Geschichte aufbauen und zeigt hier besondere Timbrequalitäten. Die beiden Goethe-Wanderlieder werden weniger im Bemühen um das Schaffen einer Gesamtstimmung als in dem um die Herausarbeitung von Einzelheiten gestaltet. Das ist jedoch vom Komponisten so angelegt, beim zweiten Lied fällt der Kontrast zwischen dem schlichten Text und der raffinierten Instrumentierung auf. Ehe der Bariton sich mit den anderen drei Sängern zum Istud Vinum vereint, singt er noch drei Lieder aus Hunold Singuf und das mit viel Sinn gleichermaßen für den schalkhaften, sich volkstümlich gebenden Text wie für die anspruchsvolle Musik.

Die Sopranistin Mojca Erdmann ist mit zwei Liedern auf Goethe-Texte vertreten, hat für Beherzigung II ein schönes Aufblühen der Stimme auf „frei“ und „Götter“ und für die Rastlose Liebe bei mächtig auftrumpfendem Orchester eine auf der Strecke bleibende Diktion.  Der Sängerin sind auch die Lieder der Lorelei anvertraut, ihr Sopran kann im besungenen „Abendgold“ glänzen, schwebt schön über dem Orchester und umgaukelt es und hat für Auf dem Felsen eine sichere Höhe. Anke Vondung erfreut mit einer guten Diktion, mit einer blühenden Mezzostimme und in Mignons Heimath mit viel Sinn für die Kontraste. Von schöner Leichtigkeit und Beschwingtheit kann Im Dorfe blüht die Linde profitieren. Mauro Peter ist der Tenor, der mit schönem Timbre und ausgesprochen textverständlich und mit viel Elan Nachts in der Kajüte aufwertet.

Das RSB unter Guillermo Garcia Calvo tut alles, um Hans Sommer doch noch zu spätem Ruhm zu verhelfen. Rühmenswert ist das gehaltvolle, informationsreiche Booklet (Pentatone PTC 5187 023). Ingrid Wanja  

Fund- und Schatzgrube

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Nur häppchenweise und nicht etwa in einem Zuge sollte man sich den umfangreichen Band  mit dem Titel  Voices zu Gemüte führen, in dem nicht mehr und nicht weniger als knapp siebzig mit der Oper oder zumindest mit der klassischen Musik verbundene Künstler sich zu dem Thema äußern, warum sie sich ihrem anspruchsvollen und risikoeichen Beruf, der fast allen Berufung ist, zugewandt haben, welches das auslösende Erlebnis für die Wahl desselben war und welche Erlebnisse prägend für ihr Verhältnis zur Musik waren und sind. Ein kleinerer Teil der Beiträge wurde speziell für den umfangreichen Band verfasst, ein größerer wurde von Christine Cerletti (nicht zu verwechseln mit dem Opernpapst Rodolfo Celletti) und von Thomas Voigt erfragt und aufgeschrieben, und auch wenn der Titel nur Sänger vermuten lässt, kommen auch Dirigenten, Pianisten, Regisseure, Stimmkenner und sogar mit Ion Holender ein Agent/Operndirektor zu Wort, übrigens zur Überraschung des Lesers mit dem befremdenden Bekenntnis, so recht gefallen habe ihm lediglich der Rosenkavalier unter Carlos Kleiber– ein rechtes Armutszeugnis für einen, der schließlich für die Qualität der Wiener Opernereignisse zumindest mitverantwortlich war. Seltsam mutet auch seine Kritik am Singen in Originalsprache an, wo doch die Wiener Staatsoper schon früh mit Übersetzungen für das Publikum arbeitete.

Jedes Kapitel enthält neben dem Bekenntnis des jeweiligen Künstlers eine Reihe von Fotografien, dazu kleingedruckt den Lebenslauf und Karriereverlauf. Die rund 700 Fotos sind nicht nur Rollenportraits, sondern zeigen zum Beispiel auch die im jeweiligen Artikel erwähnten Persönlichkeiten oder Plattencover.

Ab und zu taucht eine längst verstorbene und so nicht mehr befragbare  Persönlichkeit auf, die mit einem attraktiven Foto und einem meist von Bescheidenheit sprechenden Eigenzitat und einem rühmenden Urteil gewürdigt wird.

Das Vorwort stammt von Elke Heidenreich, die in gewohnt gefühliger Art, aber auch ungenau ihre Liebe zur Musik bekundet. Nicht weil Orpheus nicht an die Macht seiner Musik glaubte, sondern weil er die Klagen der Gattin nicht ertrug, drehte er sich trotz des Verbots nach ihr um.

Christine Cerletti erläutert, warum Musik gerade in unserer Zeit ungemein wichtig ist. An ihre Ausführungen schließt sich eine „Chronik“, beginnend mit 1945, an, die bis in unsere Tage reicht, also endend mit der Berufung Kyrill Petrenkos als Chef der Berliner Philharmoniker, der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine.

„Momente unendlichen Glücksgefühls“ schildert anschließend Thomas Voigt, zu welchen offensichtlich neben Opernerlebnissen auch ein Gespräch mit Christa Ludwig kurz vor ihrem Tod, aber auch emsiger Plattentausch mit Jochen Kowalski gehörte.

Den Reigen der Bekenntnisse eröffnet Christa Ludwig, und ihre Aussagen könnten fast wörtlich auch für gut zwei Drittel aller Befragten gelten, die allesamt wie die berühmte Mezzosopranistin in einem Elternhaus aufwuchsen, in dem Musik zumindest regelmäßig konsumiert, wenn nicht sogar praktiziert wurde und das sogar professionell. Ganz selten trifft der Leser auf Musiker, deren Familie die klassische Musik fremd war oder die gar eine feindselige Haltung ihr und dem Wunsch des Kindes nach einem musischen Beruf gegenüber einnahm. Da ist viel von Kindern die Rede, die unter dem Flügel hockten, wenn der Vater seine Opernpartien einstudierte, von Schallplattensammlungen der Eltern, die durchforstet wurden, von einer Gilda Erna Bergers, die zu Tränen rührte, von der Magie des Verdi-Ortes Busseto, und gar nicht so selten gibt es, vor allem bei amerikanischen Sängern, den Umweg über die U-Musik. Einige Jahrzehnte zuvor wurde noch der Kirchenchor als Einstiegsdroge in das Reich der Musik angegeben, zumindest von italienischen Sängern. Im vorliegenden Buch bekennt sich allerdings noch Marlis Petersen dazu.

Und selbst ein Stimmenkenner wie Jürgen Kesting sieht sich zu peinlichen Bekenntnissen gezwungen, wenn er als Dreizehnjähriger Rudolf Schock für das non plus ultra des Tenorgesangs hielt. Da hatte sicherlich Ferruccio Furlanetto mit seiner Vorliebe für Boris Christoff als Zaren, die er mit Ludovic Tézier teilt,  eher ins Schwarze getroffen. Ambrogio Maestri wiederum glaubt man gern, dass seine Mutter in der Nähe der Mailänder Scala ein Restaurant hatte, Christian Thielemann ebenso, dass er über die Orgelplatten der Eltern zur Musik kam. Brian Large, verantwortlich für unzählige Videoaufnahmen von Opernaufführungen, kam über die Tierliebe zur Oper, als er zwar nicht Aida mit Elefanten, dafür aber Die Walküre mit Pferden im Kino sehen durfte.

Darf bei Stimmen-Beschreibungen nicht fehlen: Thomas Voigt, unangefochtener Kenner mit vielen Publikationen/ OBA

Als Verführer zur Oper trifft der Leser immer wieder auf Birgit Nilsson, natürlich auf die Callas, auf Janet Baker und auf Fritz Wunderlich. Zu Tränen und in der Folge zum Sängerberuf rührt und führt auffallend häufig Verdis La Traviata. Zu denen, die Violettas Schicksal besonders rührte, gehört auch Diana Damrau.  Aber auch Der Freischütz übte eine ähnliche Sogwirkung aus. Anne Sophie von Otter allerdings bekennt sich dazu, dass der attraktive Musiklehrer sie für die klassische Musik zu interessieren wusste, und auch Anja Harteros verdankt dem Musiklehrer am Gymnasium, an dem sie bereits mit dreizehn Jahren die Zerlina sang,  das Interesse an Oper.

Das letzte Kapitel wird von Judith Williams, präsent in so ziemlich allen TV-Formaten, bestritten, die auch hier noch einmal ihre traurige Geschichte von der durch Hormone, die sie wegen einer Krebserkrankung nehmen musste, beschädigten Stimme berichtet. Neben Furtwängler, Caballé und Kosky wirkt  das doch etwas seltsam. Ansonsten aber ist das Buch eine Fund- und Schatzgrube für alle Opernfreunde (336 Seiten, Abbildungen/Fotos, Verlag für moderne Kunst , Wien 2022; ISBN   978 3 903439 44 3.) Ingrid Wanja

Zuwachs im Lully-Regal

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Seinem reichen Katalog von Lully-Einspielungen fügt Christophe Rousset mit der Tragédie lyrique Psyché eine weitere Perle hinzu. In seiner Collection Chateau de Versailles bringt das französische Label VERSAILLES die im Januar 2022 in der Opéra Royal de Versailles entstandene Aufnahme auf zwei CDs heraus (CVS086). Die mythologische Fabel ist Lullys sechstes Werk im Genre der Tragédie lyrique und erzählt von den Prüfungen, die der jungen Psyché durch den Gott Amour auferlegt werden, den die Göttin Vénus aus Eifersucht der schönen Sterblichen gesandt hat.

1678 wurde das Stück uraufgeführt als Umarbeitung einer Tragikomödie gleichen Titels von 1671. Es beginnt in barocker Manier mit einem Prologue, in welchem Vénus, erzürnt über Psyché, Amour befiehlt, diese in den unwürdigsten aller Männer verliebt zu machen. Die Titelheldin erscheint 1. Akt, bereit, sich den Göttern zu opfern, um das Land von einer Schlange zu befreien, die Vénus den Menschen geschickt hat, um sie zu bestrafen – haben sie es doch gewagt, Psychés Schönheit mit jener der Göttin zu vergleichen. Ambroisine Bré, aufsteigender Stern am französischen Sopran-Himmel, singt mit feinen Valeurs und großer Empfindsamkeit.

Auch Vénus ist mit einem Sopran besetzt und wird von Bénédicte Tauran wahrgenommen. Sie tritt bereits im Prologue auf und formuliert mit strengem Ton der Göttin Zorn. Die Sopranriege komplettiert Deborah Cachet als Amour. Im 2. Akt hat sie mehrere Szenen mit Psyché und gefällt mit lieblicher Stimme. Der bekannte Barock-Interpret Cyril Auvity gibt den Mercure, der im 5. Akt auf Befehl Jupiters (resolut der Bassist Philippe Estèphe) Psychés Leiden beendet, hatte sie doch durch das Einatmen giftiger Dämpfe aus einem Kästchen Proserpinas den Tod gefunden. Der Göttervater selbst steigt in einer Glorie herab, verleiht Psyché Unsterblichkeit und vereint sie mit Amour. Ein Divertissement mit Göttern, Musen und Satyrn sorgt für einen festlichen Schluss.

Mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques fächert Christophe Rousset die Musik in ihrer Vielfalt mit einem reichen dynamischen Spektrum auf. Gravitätisch die Ouverture, munter die Ritournelles, ernst die Plainte italienne, feierlich die Airs, wild die Airs des démons. Mit der ausgedehnten Scène dernière entfaltet der Dirigent noch einmal den ganzen Glanz und Pomp des Genres. Hier werden Bacchus, Mars und Apollon gefeiert, werden die Musen besungen. Der Choeur ist solistisch besetzt und von hoher Klangqualität. Wenn er zuletzt „Chantons les plaisirs charmants“ anstimmt, ist das Vergnügen tatsächlich groß (24. 01. 23). Bernd Hoppe