Archiv des Autors: Geerd Heinsen

„Norma“: Musikwerdung des Wortes

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Gerade in letzter Zeit mehren sich wieder Aufführungen von Bellinis opus magnum, seiner Norma. Es fragt sich ob nun Marina Rebeka als Lokalmatadorin (zuletzt in Palermo) oder die unbestreitbar beeindruckende Sondra Radvanovsky an der Met Spuren hinterlassen haben. Ob Hasmik Papian oder Maria José Siri, Sonya Yoncheva, Dimitria Theodossiou, Maria Gresia (sehr beachtenswert in Pisa 2022), Pia Maria Piscitelli oder die irregeleitete Karine Deshayes in Aix (in der von Cecilia Bartoli erstmals vorgestellten, tiefer liegenden Malibran-Version) neben Michael Spyres und der bezaubernden, aber zu kleinstimmigen Amina Idriss: In den letzten Jahren ist die Zahl der Mutigen nicht zu unterschätzen, die sich an der großen Rolle und den wenigen großen Vorgängerinnen abgearbeitet haben.

Rosa Ponselle, legendäre Vorkriegs-Norma/ Wiki

(Über Frau Yoncheva an der Met 2023 schrieb zuletzt die New York Times: „Ohne einen kraftvollen, ausgeglichenen, flexiblen Gesang – „Schönheit des Tons und korrekte Emission“, wie Lilli Lehmann, eine große Norma, es ausdrückte – empfinden wir nicht die nötige Ehrfurcht für die Figur. So verlieren sowohl ihr Sündenfall als auch die von ihr beherrschte Oper ihren Sinn. Yoncheva verrät Bellinis Partitur zwar nicht, aber sie füllt auch nicht die Segel, und das Schiff stagniert…. Das Ergebnis ist eine Art Bleistiftskizze von „Norma“ – nicht unpräzise, aber farblos. Yoncheva verfügt über eine Koloraturgewandtheit, die sie sich aus ihren frühen Tagen als Barockspezialistin bewahrt hat, und vereinzelte hohe Töne treten deutlich hervor. Aber wenn diese Töne die Höhepunkte von geschwungenen Linien sind, sind sie dünn. Sie ist temperamentvoll und gewissenhaft, und ihre Stimme ist nicht hässlich, aber sie ist für diese Musik unzureichend, denn sie verliert weder die Kontrolle noch übernimmt sie das Kommando. Und es ist nicht nur Stärke, die man nicht vermitteln kann, wenn man die Norma stimmlich nicht beherrscht; es ist auch Schwäche. Yoncheva verbringt die meiste Zeit damit, in kleinem Maßstab auf dieser hochfliegenden Leinwand Trübsal zu blasen.)

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Ein erneutes Hören der Norma meiner ungeteilten Adoration, Anita Cerquetti, brachte mich zu grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle und zu den Interpretinnen unserer Zeit, bzw. auf erreichbaren Dokumenten. Von der bedeutenden Norma der Vorkriegszeit, Rosa Ponselle (die Tullio Serafin bemerkenswerter Weise über die von ihm oft begleitete Maria Callas stellte), gibt es nur die wenigen RCA-Schellack-Echos (aufregend und irritierend, weil man das gerne ganz und in besserer Technik gehört hätte, vor allem auch das himmlische Duett mit Marion Telva). Aber wie meine kluge Großmutter einst meinte: Sehnsucht ist besser als Erfüllung. Oder auch: Man kann nicht alles haben, wie wahr.

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Zwei Szenen aus Norma, wie man sie auf einer Briefmarke sieht, die San Marino 1999 herausgegeben hat/ hei

Vincenzo Bellini, 1801 in Catania geboren, wird mit Rossini und Donizetti zu den drei Großen der italienischen Oper bis 1850 gerechnet. Seine langen, elegisch getönten und sich lyrisch übersteigerden Melodien gaben den Anstoß für eine neue Klangsinnlichkeit, die in besonderer Weise die romantische italienische Oper beeinflussten und prägten. Dieses Schwelgen im Klang ist eines der wesentlichsten Kriterien im Bellini-Stil, zugleich aber auch das eigentlich Neue in der italienischen Oper auf dem Weg zur Romantik.

La sonnambula, uraufgeführt am Teatro Carcano, Mailand 1831 und sein Hauptwerk, Norma, für die Scala in Mailand ebenfalls 1831, stellen im Nachhinein den Gipfel seines Schaffens dar. Bellinis Norma, eine tragedia lirica in zwei Akten auf das bemerkenswerte Libretto von Felice Romani, ist sicherlich neben Donizettis Lucia di Lammermoor das zentrale Werk der italienischen Opernromantik. Norma wurde zu Recht zum absoluten Inbegriff der hochromantischen Gesangsoper, in der sich Beherrschung des italienischen Belcanto und dramatische Interpretationskunst verbinden, wodurch sich das Werk als die italienische Primadonnen-Oper par excellence durchsetzte.

Zu „Norma“: der originale Cast mit Domenico Donzelli, Giuditta Pasta und Guilia Grisi/ zeitgen. Illustration/ Wiki

Obwohl die Uraufführung mit Giuditta Pasta/ Norma (Abb. oben), Domenico Donzelli/Pollione und der Sopranistin Giulia Grisi /Adalgisa (beide Damen alternierten in der Titelrolel) aus manchen Gründen nicht sofort einschlug, hatten Musik und Libretto in der Folge ein Riesenerfolg. Schon zwei Jahre nach der Uraufführung wurde Norma 1833 in Wien in Deutsch aufgeführt und ging bis Ende der 1830er Jahre um die Welt.

Norma ist für Italien die wichtigste Oper vor Verdi, und sie ruht fest auf den von Rossini vorgelegten Traditionen mit dessen Verwurzelung im 18. Jahrhundert (eben Spontini,  Cherubini und der Gluck-Folge). Musikalisch war Bellini ein Neuerer nach Rossini, dem wichtigsten Komponisten im frühen neunzehnten Jahrhundert vor Verdi. Von Rossini und seinem Lehrer Mayr (mit deutscher Grundausbildung dann italianisiert) übernahm Bellini viele Strukturmerkmale. Und die Norma steht in der direkten Nachfolge der Semiramide Rossinis, die Rossini 1824 als letzte seiner Opern in Italien schrieb. Zudem ist Norma in vielen Zügen eine Vorläuferin späterer Verdi-Opern (ErnaniTrovatoreAida u.a.).

Norma ist aber auch die am wenigsten mit konventionellen Maßstäben zu messende Oper, vergleichbar Wagners Tristan. Ähnlich wie Isolde ist Norma eine überdimensionale Heroine aus dem Bereich des Mythischen, ist Überfrau und gefallene Madonna. Sie steht stimmlich und figürlich für das Ideal des Belcanto auch in Hinsicht auf Verdis Frauenfiguren, ist keine zimperliche Fragile wie viele ihrer Opern-Schwestern dieser Epoche (auch bei Bellini selbst), kein Opfer wie Lucia oder Imogene, sondern Aktive wie Semiramide und später Leonora, eine Herrschende, die leidenschaftlich (und in Sünde) liebt und selbstverständlich dafür bezahlt. Sie ist eben kein Opfer (mehr), sondern eine Handelnde und damit ein ganz neuer Frauentyp. Angelegt von Cherubini (Medée), Gluck (Alceste) und von Rossini, der starke Frauen liebte (und mit einer solchen verheiratet war) und sie zu seinen Opernheldinnen machte.

Zu „Norma“: Lilli Lehmann/ Wiki

Diese Bemerkungen zu einer der komplexesten Opernfiguren sollen von den Worten einer großen Norma-Sängerin ihrer Zeit, nämlich von Lilli Lehmann, begleitet werden: ,“Wenn ich an die wunderbare Zeit meiner ersten Norma in Wien denke und nun darüber grübele, mit einem wie großen Mangel an Wissen und Liebe diese Oper seitdem immer wieder behandelt wird, dann bedaure ich die Künstler, die sich eine so wunderbare und lohnende Aufgabe entgehen lassen, aber auch das Publikum, das damit das beflügelnde Vergnügen verliert, eines Werkes von so reicher Melodik, leidenschaftlicher Handlung und Menschlicher Größe verlustig zugehen. Norma, die so viel Liebe in sich trägt, kann man nichtgleichgültig vorbereiten oder nur als oberflächliches Schaustück vorzeigen. Die Oper muss mit geradezu fanatischer Hingabe gesungen und gespielt, dazu von einem perfekten Chor und Orchester mit künstlerischer Integrität vermittelt, von einem Dirigenten großer Autorität angeführt werden. Und jedem einzelnen Takt muss der musikalische Tribut gezollt werden, der ihm zusteht.“ (Dies ist nachzuerleben – trotz der Lontanisierung der alten Schellacks – auf ihren kratzigen Einspielungen, die sie erst als alte Frau aufnahm.)

Dazu ergänzt der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick: “Die Norma der Lehmann stand unter dem Zeichen der langsamen Kantilene mit dem wunderbarsten Portamento, der sichersten und edelsten Intonation und dem Schwellen der hohen Noten und der floriden Passagen einer reinsten und flüssigen Koloratur. Letztere diente nie einer koketten Wirkung, sondern blieb stets nobel, ernsthaft und der Situation untertan.“ Die nicht minder berühmte Norma-Sängerin in der jüngeren Zeit, Joan Sutherland, äußerte sich ebenfalls dazu: “Wahrscheinlich hat es eine vollkommene Norma nie gegeben. Die Oper verlangt zu viel von einer Sopranistin: die größte dramatische Fähigkeit, übermenschliche emotionale Ausdrucksmöglichkeiten, die beste Belcanto-Technik, die man sich vorstellen kann, zudem eine Stimme von besonderer Qualität und Größe sowie viele andere Attribute mehr.“ Jaja – ob das andere, spätere auch gelesen haben? Man hat da seine Zweifel: Ein Blick in ein Video von der Met mit Frau Yoncheva und einem unbeteiligten Tenor  lässt die Misere der heutigen Norma-Situation ahnen…

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„Norma“ Maria Callas und („Oh Giovinetta!“) Ebe Stignani in Covent Garden 1952/ Foto Roger Wood/ Warner

Musik und Text in Symbiose: Die Beziehung zwischen Musik und Text beherrschte Bellini vollkommen und beeindruckte damit seine Zeitgenossen, später auch Wagner. Es ist die Deklamation in ihrer Vollendung, die die Norma auszeichnet und die sich so schwer für heutige Interpreten realisieren lässt. Diese, also die Musikwerdung des gesprochenen Wortes, macht einen großen Teil der Wirkung in den Bellinischen Opern aus, deren wichtigstes Merkmal der nahtlose, unmerkliche Übergang von Deklamation in die Arie ist. Auch Verdi pries Bellinis lange, schwebende Melodien und Melodiebögen, wie sie vorher noch niemand erfunden hatte, auch Rossini so nicht (oder nur in Ansätzen). Bellini war in der Lage, aus kleinen Takteinheiten in der Wiederholung rhythmische Intervalle zu schaffen, die zu schweben scheinen. Dabei lässt er diese gleichsam pulsieren (auch dynamisch) und dadurch sich nach oben in symmetrischer Form aufbauen, hierin Rossini verpflichtet. Aber anders als bei Rossini schraubt sich die Klimax der Bellinianischen Linie zu einer mit großer Intensität vorgebrachten Explosion empor, in der das aufgestaute Gefühl und die melodische Linie ihre Erfüllung finden. Das Finale des 2. Aktes der Norma ist darin dem letzten Akt des Tristan nicht unähnlich. Der deutsche Komponist ist hierin seinem italienischen Kollegen durchaus verpflichtet. Bellini schuf diese klimaktischen Momente mit strahlenden Farben im Orchester, während die musikalische Vorbereitung darauf eine magische, mesmerisierende Klang-Wirkung hat. Diese Üppigkeit des Explodierenden nach langer Gefühlsschraube kennzeichnet viele der Passagen in der Norma. Ein anderes Wirkungsmoment ist die dynamische, akzellerierende Behandlung von Parallelstimmen, der Führung etwa in den Koloraturbögen der beiden Frauen – auch dies eine Meisterschaft Bellinis in der Folge Rossinis (etwa in Semiramide), die in der beschriebenen Klang-Ekstase mündet.

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„Norma“ Renata Scotto an der Met/Publicity Photo/ Norman Mitchel/ Met Opera Archive

Einige Studio- und Live-Dokumente: So – nun aber endlich ein Blick auf wichtige Interpretationen und Tondokumente. Anlässlich der neueren Decca-Aufnahme mit Cecilia Bartoli, die wegen ihrer „Originalinstrumente“ (und der Malibran-Fassung mit interessantern Wendungen und tiefer gelegten Tessitura) und ihres beharrlichen Rekurierens auf die Interpretation der Seelenfreundin in vieler Hinsicht aus dem Rahmen fällt, hatte ich beim Ersterscheinen noch große Zweifel gehabt. Ut desint vires… und so.

Aber ich stehe nicht an zu sagen, ich habe mich geirrt!  Die Bartoli, mehr noch als ihre etwas dünnen Mitstreitenden, schafft eine Norma hors concours, die sich nicht mit anderen Einspielungen vergleichen lässt. Dies ist eine tiefseriöse, faszinierend durchdachte Interpretation auf dem Boden der Musik vielleicht vor der Creation des Werkes, zum Früheren neigend, Barockes und die neapolitanische Entwicklung ebenso wie Gluck und Rossini  berücksichtigend. Das durchsichtige Orchester und die ungewohnt schlanken Stimmen (Osborn, Jo) vermitteln eine Kammer-Norma, eine Oper für kleine Holz-und Gips-Theater mit eingeschränktem Orchester voller Holzbläser und limitierter Geigen. Absolut nicht 19. Jahrhundert und grande chose für Riesenhäuser á la Met oder Sidney, kein Primadonnenvehikel vor allem. Die Bartoli kostet Feinheiten aus, die ich woanders so nicht gehört habe. Die finali bringen sie natürlich in Bedrängnis, da gibt ihr Medium mehr als es hat, und „In mia man“ endet im klug umschifften Schrei. Vielleicht möchte man das so nicht immer hören, aber als herausragendes Dokument hat dies seine absolute Gültigkeit, ein gelungenes Experiment. Ich hörte sie neulich, als ich im TV den Film „Cecilia Bertoli and friends sah und über ihre klugen, musikhistorischen Bemerkungen zur Rolle neu nachdachte. Was zeigt, dass man (ich) seine Ansichten von Zeit zu Zeit neu bewerten muss …

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„Norma“: Joan Sutherland mit Marilyn Horne und Carlo Bergonzi/ Met Opera Archive

Die Liste der illustren klang-dokumentierten Interpretinnen für die Titel-Partie ist eine ebenso glanzvolle wie relativ kurze, wenn man zwischen dem lauten Applaus der Welt und der Einschätzung der Kenner unterscheiden will – eigene Begeisterung für diese oder jene sind extrem subjektiv und gebaut auf der Vorliebe für ein spefisches Timbre, die Diktion, die Erscheinung und viele extramusikalische Momente mehr. Anders als für die anderen Opern des Belcanto (und Bellinis!) – eben jene kurze Blüte des virtuosen und in engen Stil-Grenzen leidenschaftlichen Gesanges in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – nahmen (und nehmen bis heute) nur wenige Vertreterinnen die geforderten Hürden: Giuditta Pasta, Giulia Grisi, Maria Malibran waren herausragende Normas mehr oder weniger der Entstehungszeit. Blanche Marchisio,Therese Tietjens und Jenny Lind später, Lilli Lehmann, Ester Mazzoleni, Rosa Raisa, Claudia Muzio und Rosa Ponselle galten als  die “klassischen“ Sängerinnen vor und nach dem 1. Weltkrieg. Während dann die Partie in die eisernen Kehlen von Damen wie Maria Caniglia oder Gina Cigna und zur Schwester der Turandot geriet, dem faschistischen Frauen-Ideal verpflichtet. Eine Ausnahme macht die heute kaum noch bekannte und hinreißende, kultivierte und machtvolle  Maria Pedrini (bei ehemals Melodram oder Gala), die ganz in einer damals (1940) vergessenen italienischen Belcanto-Tradition bei der RAI -Vorläuferin unter Ugo Tansini eine gekürzte Version einsang und die wie ein Leuchtfeuer in wüster Landschaft dasteht.

Norma wurde danach – wie von der Metropolitan-Säule Zinka Milanov oder der Caballé interpretiert – zu einer im Dauer-Pianissisimo verharrenden Schwester der Leonora oder Amelia Verdis verallgemeinert. Spätestens gegen Ende der Vierziger war die Kenntnis von der Belcanto(!)-Heldin Norma verloren gegangen, wie überhaupt das Wissen um das Spezifische an Bellini und dem Belcanto hinter einer global-robusten, dem hochexplosiven Verismo verpflichteten Musikalität zurückgetreten war. Riesenhäuser, Riesen-Events und der schnöde Opernalltag hatten Norma plattgemacht.

Die Auswirkungen darauf erstrecken sich über die fünfziger Jahre des vor-vorigen Jahrhunderts bis heute. Denn die Geschichte der Norma-Interpretation ist zugleich auch die Geschichte der Unzulänglichkeit und verwegenen Ambitionen der vielen Ehrgeizigen, die sich dieser Partie und dieses Repertoires bemächtigt haben, nachdem die Pionierinnen wie Callas oder Sutherland das Repertoire geöffnet hatten.

Norma: Maria Dragoni/ NE

Einschub: Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch einmal ein Wort über die Bedingungen für die Partie verlieren. Da die Norma zwischen den heroischen und vor allem dunkel timbrierten Heldinnen Rossinis (in der mezzogefärbten Interpretation oft durch seine Frau Isabella Colbran, die u.a. die Semiramide, aber natürlich nicht die Norma gesungen hatte) und den Frauenfiguren der frühen bis mittleren Verdi-Opern steht (also eine Masnadieri-, Oberto- oder Trovatore-Leonora in Richtung auf Aida), ist mit Kanarienvogelstimmen (Sills, Deutekom, Nielsen, Gruberova, Devia, Pratt und andere Unglückliche) nichts gewonnen. Die Norma braucht eine (immer im Rahmen der Belcanto-Anforderungen) machtvolle, unbedingt kontrollierte und dunkle Sopranstimme mit bester Koloratur, mit heroischer Farbe im durchgehenden Register ohne ordinären Brustton und mit eben jener Majestät, wie sie auch die eher übermenschlichen Heldinnen Rossinis zeigen. Norma – ein wirklicher soprano drammatico d agilità – ist der Gipfel des canto di bravura. Norma braucht, wie Bellini selbst sagte, eine voce da carattere enciclopedico – es ist die einzige wirklich dramatische Partie Bellinis. Sie hat ein Finale, das an Wagner erinnert, einfach herrlich!

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Norma: Maria Callas in Paris/ Roger-pic/Warner

Nun also Maria Callas: Zwischen1948 und 1960 sang die Callas diese Partie unangefochten und weltweit von Buenos Aires bis Epidauros und erweckte Norma wieder zum Leben in der Belcanto-Tradition vergessener Tage, die auf Ihre Zeit (und auf uns!) wie eine Offenbarung wirkte und immer noch wirkt. Sie ist und bleibt für meine heutigen Ohren die einzige, die so viele Aspekte der Figur und der Musik, der musikalischen wie charaktermäßigen Anlagen erfüllt. Sicher, ihre Stimme und später die Höhe an sich, ihr manchmal saures Timbre ist Geschmackssache. Aber nach einer Minute vergisst man mögliche Irritationen, zumal die frühen Aufnahmen aus der Zeit von 1952-1955 die Sinnlichkeit und vor allem auch die Üppigkeit der stimmlichen Mittel belegen. Und sie zeigen ihre große Kunst der Deklamation, der „Cornerstone“ jeglicher Belcanto-Oper. Die halbe Arbeit steckt darin, in der Kommunikation der Sängerin mit der Figur und mit dem Publikum.

Die Dokumente aus Mexico von 1950 lassen bereits ahnen, was man 1952 in London (mit einer ganz jungen Joan Sutherland als Clotilde/ Warner) und dann 1955 beim italienischen Rundfunk (meine absolute Lieblingsaufnahme mit einem diesmal nicht stentoralen Del Monacco/Cetra und viele andere) und im selben Jahr an der Scala hören kann – ein stimmlicher und interpretatorischer Idealtyp, geschult dank der Lehrerin Hidalgo und des Dirigenten Serafin im Geiste des Belcanto, mit einer voluminösen Stimme, die in zwar auch ihren Anfängen Turandot, die Walküre Wagners und dessen Isolde sowie Kundry ebenso durchmaß wie die Gioconda Ponchiellis. Dies also ist keine heute übliche Mini-Stimme, sondern die üppige, reife, geheimnisvoll-dunkle einer späteren Lady Macbeth oder einer Nabucco-Abigaille und eben einer Trovatore– und Forza-Leonora, eine Iphigenie Glucks ebenso wie seine Alceste. Klanggewordenes Mysterium. Selbst auf der späte EMI/Warner-Aufnahme neben der fehlgeleiteten präpotenten Christa Ludwig und dem herrlichen Franco Corelli – was für eine Kunst und welches Wissen.

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Maria Pedrini: ihre Norma (hier in Neapel) ist ein Leuchtturm in düsterer Zeit des Belcanto/nachzuhören auf dem Melodram-Doppelalbum (vergr.)/ priv. coll.

Und nach der Callas – eigentlich nur die Cerquetti und die Scotto! „Gäste kamen und Gäste gingen“ – und nur sehr wenige waren ausersehen. Zwar öffnete die Callas das Repertoire für unsere Zeit neu, sang mit derselben Stimme auch die Sonnambula, Lucia und die Verdi-Partien. Aber andere scheiterten beim Versuch und blieben weniger prägnant, selbst wenn mir nun viele (!!!) Musikfans gellend widersprechen und mich beschimpfen werden: die schmalstimige, säuerliche Leyla Gencer als wichtige Zeitgenossin der Callas und immer in deren Schatten, die deutsch-veristisch klindende Marion Lippert, die robuste Monika Pick-Hieronimi, die Griechin Elena Suliotis als glottierende und undisziplinierte Callas-Epigonin, die Amerikanerin Beverly Sills mit willensstarker, drahtiger Soubrettenstimme (deren Mut man mehr bewundert als den Klang ihres schartigen Organs), die trillernde Cristina Deutekom (huhhhhhhh), die Spanierin Montserrat Caballé mit klangschöner Dauer-Pianoleistung ohne viel Charakterisierung (dafür mit sssssspanischem Glottis und einem absolut geilem Videoauftritt in Orange neben einem ungeeigneten Vickers und dto. Veasey) wie auch die nichtssagende Katia Ricciarelli („Ma che corragio“, sagte Renata Tebaldi dazu…), die schumann-seelige Margaret Price, die Afro-Amerikanerinnen Shirley Verrett und Grace Bumbry ohne irgend ein Echo, Sternschnuppen wie die Russin Maria Bieshu (Genossin General), die in Berlin optisch dokumentierte Eleanor Ross, Anna de Cavallieri oder die unterschätzte und von mir sehr geliebte Italienerin Maria Vitale. Die große Renata Tebaldi hat sich weise der Norma enthalten nachdem sie die Callas gehört hatte – welche Einsicht! Zum Zeitpunkt unseres Interviews hatte sich gerade Katia Ricciarelli der Norma bemächtigt. An den Hauswänden von Triest prankten Protest-Plakate „E morta la Norma“. „La povera„, sagte die Tebaldi. Und von Lucia Aliberti hatte sie noch nie gehört …

Anita Cerquetti als Norma mit Widmung/ OBA

Andere Interpretinnen der Partie streife ich jetzt mal – keine von ihnen hat mich über das Sportliche hinaus interessiert. Und da gestehe ich, habe ich weitgehend aufgegeben zu hören, weil mich diese diese hochgehypten, glamourösen Damen nicht mehr interessieren.  Weder die blande Rebeka, die veristische Dessì, die brüllende Dimitrova, die amerikanisch-robuste Goerke, die blasse Bertaglioni, die als Norma absurden Damen Dussmann oder Inga Nielsen, die von mir so geliebte, undisziplinierte  Michele Lagrange mit ihren Caballé-ähnlichen Glottis, Brigitte Hahn somnambul trotz schöner dunkler Stimme, die wüste Negri, die dto. unruhige Orlandi-Malaspina, die sehr russische Penchikova, die hochindividuelle Stapp, nicht die irregeleitete Tomowa, schon gar nicht die Crider und auch nicht Lina Tettriani, die nach dem fulminanten Auftritt 2010 in Paris verschwand und hoffentlich gut geheiratet hat. Maria Gresia  hoffnungsvoll in Parma jüngst hatte ich schon erwähnt (youtube). Vorher gab´s sogar Yasiko Hayashi. Mara Zampieri gab es auch mal, Nelly Miricdioiu machte damit Amsterdam und Bukarest unsicher, Mariana Nicolesco (resta in pace) letzteres ebenfalls, Mariella Devia erlebte einen flopp ebenso wie „Grubsi“ (giammai.) und viele andere. Die Liste ist lang, Sammler schwärmen von der einen oder anderen (die von mir noch als Sopran geschätzte Rosalind Plowright hatte das Geheimnis in der gaumig-dunklen Stimme, aber nicht die Voraussetzungen, schon gar nicht im Tandem mit der Ulrica-gleichen Ewa Podles als Adalgisa.)

Denn natürlich gibt es noch unendliche viele andere, die sich wagten. In Erinnerung ist die wirklich tapfere und sich nicht schonende Sondra Radvanovsky an der Met, sensationell in den lyrischen Tönen und dem leidenschaftlichen Engagement, aber wie ihre Kollegin Joyce Di Donato (ein Fehler als Adalgisa) verbal undeutlich und eher bewundernswert denn überzeugend. Verena Dimidieva will ich übergehen, Karine Deshayes ebenfalls (wenngleich Michael Spyres und die etwas kleindimensionierte Dimina Edris neben ihr in Aix 2022 hohen Posten sind).

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Man findet unter den zahllosen Rollen-Vertreterinnen bis heute nur eine einzige mit einer wirklich üppigen, sogar noch voluminöseren und vor allem schöneren Stimme als die Callas:  Die Italienerin Anita Cerquetti, die der graeco-amerikanischen Kollegin die Norma nachsang (der berühmte Skandal 1958). Ihr römisches Zeugnis der Norma mit einem virilen (wirklich einzigartigen) Franco Corelli und der säuerlichen Miriam Pirazzini ist ein erhebendes Dokument wunderbaren Gesangs, wie es ihn heute nicht mehr gibt und wie er mir automatisch in den Kopf kommt, wenn ich mich durch die vielen (für mich) Lässlichen durchhöre. Vielleicht erreicht die Cerquetti nicht die letzte, zu hart erarbeitete intellektuelle Tiefe der Interpretation der Callas (die ja später unaufhörlich darüber redete, als die Stimme weg war), aber sie erreicht ihre unverkennbar eigene und absolut überzeugende Charakterisierung durch ihre menschliche Würde und stimmliche Vollkommenheit. Sie wird ja bei operalounge.de genügend gewürdigt. Natürlich ist es ein Jammer, dass es keine Studio- oder eine bessere Rundfunkaufnahme von ihr als Norma gibt. Freund Stefan Felderer (der Ton-Techniker für ehemals Melodram) hat aus dem GOP-Mitschnitt-Dokument alles rausgeholt, was möglich ist. Das muss genügen.

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Bedeutend: Szene und großes Duett aus „Norma“ mit Renata Scotto und Mirella Freni bei Decca

Drei weitere Namen ragen aus dem Aufgebot heraus, alle nicht vollkommen, aber doch eindringlich auf ihre eigene Weise. Joan Sutherland war die eher stimmbetonte  Alternative zur Callas ohne deren Wortausdeutung und dramatische Gabe, dafür mit einer technisch makellosen und vor allem fachspezifischen Belcanto (!)-Stimmführung (dank Ehemann Bonynge). Sie machte nach der Callas mit der Norma Furore und zwei Studio-Gesamteinspielungen, deren zweite das Absurde streift dank Caballé als Adalgisa und deren erste sie im Verein mit der bedeutenden Mezzosospranistin Marilyn Horne in unerhört harmonischen, überirdisch-schwebenden Duetten zeigt (auch wenn die Horne eher als Treckerfahrer denn als eine keusche, errötende Jungfrau auftritt). Außerdem singt die Sutherland als einne der ganz wenigen ihre Arie und die Duette in der originalen Tonlage (in C-Dur und F-Dur), während meistens eine Transposition nach moll üblich ist (die Callas allerdings, die sonst nicht die wackelfesteste Kandidatin in der Höhe war, singt 1952 in Covent Garden in der Originaltonart und über der Adalgisa-Linie!).

Die andere bedeutende Norma meines Opernlebens war für mich Renata Scotto, die 1978 unter Riccardo Mutis temperamentvoller Leitung in Florenz eine hochdurchdachte, intelligente und in der Absicht ehrenvolle Druidenpriesterin abgibt, deren Stärken natürlich angesichts ihrer schmaleren Stimmittel eher in der packenden Deklamation und Textausdeutung liegen als in der fulminanten Power, besonders effektvoll im letzten Akt mit Normas Drohung „In mia man“ in der Konfrontation mit dem milde-sauren  Ermanno Mauro. Und da darf man auch die bezaubernde Margherita Rinaldi als Adalgisa nicht vergessen, denn Muti besetzte die beiden Frauenpartien richtig mit einer gewichtigen und einer lyrischen Stimme. Die Scotto hat die Norma zwar ohne Gewinn mit James Levine industriell verewigt (Sony), aber mit Gewinn die große Szene Norma/Adalgisa in A2 (bei 3-Akt-Zählung) mit Mirella Freni bei Decca aufgenommen, hinreißend und habenswert.

Ebenfalls bedeutend: die Decca-Aufnahme der „Norma“ mit Cecilia Bartoli hors concours

Wie kaum eine andere, die Cerquetti ausgenommen, erinnert bei den Jüngeren Maria Dragoni (bei Kikko DVD 2000 Savona, mit bereits drohende Zustandsmanki am Horizont) an die Callas, ohne diese zu kopieren. Beide haben diesen technischen Tick in fiasca zu singen: dieser merkwürdig hohle Klang in der mittleren Tiefe. Beide haben das Glottis im passaggio, ganz eigenwillig.

Es ist die Art, wie sie das Rezitativ gestaltet, wie sie Pathos und Individualität aufkommen lässt. Diese üppige, große Stimme hat durchaus ihre problematischen Momente, aber im Ganzen war dies in jüngerer Zeit die für mich überzeugendste Verkörperung, die engagierteste Auslegung und die beseelteste Stimme für diese Partie.

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Adalgisa als zweiter Stolperstein: Nun singt ja Norma nicht alleine auf der Bühne, wenngleich sie dreiviertel des Abends bestreitet. Da gibt es noch neben dem störenden Papa Oroveso die junge Adalgisa und den strammen Römer Pollione (über Corelli geht da nichts). Um das Kriegsende herum war das neben einer Cigna oder der Callas fast immer die hochgelegene Mezzosopranistin Ebe Stignani, für damalige Zeiten eine Idealbesetzung. Selbst wenn sich das Publikum hörbar das Lachen nicht verkneifen konnte, wenn die junge Callas die säuerliche, aber eben sopranige Veteranin mit „O giovinetta“ adressierte (London 1952/Warner; die Stignani selber mit einer fulminanten Auftrittsarie Normas konserviert – sie hatte die Tessitura/Cetra).

Zu „Norma“: die bezaubernde Margherita Rinaldi, leuchtender Sopran in so vielen Partien, hier als Mozarts Ilia, singt die Adalgisa neben der Scotto in Florenz/ Hob

Traditionell wird diese Partie mit einem klassischen Mezzo verdianischer (oder sogar bizet-scher) Ausmaße besetzt – was ebenso monströs wie falsch ist, denn die Adalgisa sollte ebenfalls ein soprano lirico sein oder zumindest sopranig klingen, zumal ihre Partie im Duett in die höhere Lage führt und die Norma übersingt. Die originale Giulia Grisi war das gegenüber Giuditta Pasta, aber später selber eine bedeutende Norma. Die Rollenbezeichnung Mezzosopran kommt ja erst mit Verdi, vorher gab es die prima donna und die seconda donna. Das gilt auch für Maria Malibran, von der Bartoli bei Decca und in Aix 2022 Karine Deshayes als Vorlage zitiert, die die hochgelegene Amina Bellinis ebenso wie Rossinis tragische Desdemona gab, eben eine dunkle Sopranstimme großen Umfangs. Shirley Verrett und Fiorenza Cossotto sind da in den Dokumenten noch die fähigsten, Fedora Barbieri, Giulietta Simionato, Agnes Baltsa, Stefania Toczycka, Christa Ludwig, Marilyn Horne oder Tatyana Troyanos eher monströs – wenngleich für den Opernfreak ausserordentlich vergnüglich. Eine Quickly ist eben keine Adalgisa, für die man einen Sopranton braucht, nicht Urmutter Erda oder Klytämnestra. So sehr ich die robuste Cossotto in anderen Partien schätze halte ich auch sie für eine Fehlbesetzung ebenso wie die präpotente, total unitalienische Christa Ludwig, beide bei der Callas und die Stimmverhältnisse umkehrend. Und auch die von mir sehr geschätzte Joyce DiDonato, eine kluge und von mir bewunderte Künstlerin, tat sich mit ihrer Adalgisa an der Met keinen Gefallen, das Timbre ist nicht richtig, und sie war auch nicht in guter Form, peccato.

Der Klang und auch die Mischung zwischen der schwereren, dramatischen Stimme der Norma und der helleren (weil jüngeren, unschuldigen) der Adalgisa ist hier wichtig. 1978 verpflichtete Riccardo Muti für Florenz die Scotto erstmals zusammen mit der bezaubernden, mädchenhaften Margherita Rinaldi, und erzielte ein leuchtendes Ergebnis (Legato und andere). Nicht ganz so glücklich war die ein Jahr früher liegende Bemühung in Martina Franca (nun auf Dynamic), als Grace Bumbry (brrrr) neben der etwas kneifigen Lella Cuberli auftrat, auch weil die Bumbry so absolut gar nichts für die Titelpartie mitbrachte. Aber der Gedanke als solcher ist richtig und bis heute selten wiederholt worden (zuletzt eben mit Bartoli/ Jo oder Deshayes/Idriss).

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Die zweite Norma der Callas bei EMI/Warner; trotz Christa Luwig und auch wegen Franco Corelli mehr oder weniger die beste Aufnahme von ihr.

Was bleibt? Ist es kulturpessimistisch, so streng zu sein? Verletze ich viele, die ihre Geliebten hier mies gemacht sehen? Niemand ist im Besitz der Wahrheit, und meine Meinung ist ja nur eine sehr persönliche auf der Grundlage vielen Hörens und Erlebens. Gerade Sondra Radvanovsky (die arme Vielzitierte!) mit ihrer sicher soliden Leistung an der Met hat mir bewusst gemacht, dass solide einfach nicht für Norma (oder für die Isolde) reicht (Frau Yoncheva wird erfrischend vom Kollegen der New York Times niedergemacht, wie oben zu lesen ist.). Solide ist nur die Grundlage, die Basis, der Autopilot.

Aber gilt das nicht auch für fast jede andere Opernpartie? Für Violetta, Leonora oder Alceste? Das Besondere, das den Abend ausmacht? Die Spannung, die Kommunikation, eben das seltene Glück, zu vergessen, dass dort gesungen wird und dass man wieder am Ende des Abends auftaucht wie aus einem tiefen Wasser.

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Und nicht vergessen: Anita Cerquetti als Norma, live 1957 auf diversen Labels, hier die Erstausgabe bei gop, für mich die ultimative Norma. G. H.

Ich lese mich gerade erneut durch Janet Bakers Autobiographie „Full Circle“ hindurch und falle immer wieder über eben diese Begriffe wie Persönlichkeit, Kunst, Integrität, keine Routine, „Dedication“. Auch Dienen an der Kunst (was inzwischen so abgegriffen klingt, aber von tiefer Bedeutung ist). Vieles, was die Baker in Retrospekt  schreibt, ist so wahr und kann für das Singen überhaupt gelten. Dieses bedingungslose, uneitle sich Öffnen für eine Partie ist das, was uns als Publikum erreicht. Und für mich sind das in puncto Norma die zwei oder drei genannten Sängerinnen: Maria Callas, in einer Rolle, in der sie wie in kaum einer anderen Magie schafft, sie ausfüllt, sie mit Leben versieht. Egal in welcher Kombination der zahlreichen Live-Mitschnitte und zwei Studioaufnahmen:  Über allem triumphieren der Genius Bellinis und der von Maria Callas. Und dann ist da neben der Scotto noch Anita Cerquetti in ihrer majestätischen Würde und fast unschuldigen Menschlichkeit. Was sind wir reich! Geerd Heinsen

Alfredo Keils „Serrana“

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„Heróis do mar, nobre povo, // (…) Levantai hoje de novo // O esplendor de Portugal! – Helden der See, edles Volk, (…) //Erhebet heute aufs Neue, //Die Pracht Portugals!“ – Ausgerechnet ein Portugiese mit deutschen Wurzeln ist für diese Nationalhymne verantwortlich: Alfredo Keil. Der kommt nur deshalb in Portugal auf die Welt, weil es seinen Vater, Hans-Christian Keil, als Schneider an den portugiesischen Hof verschlägt. Den Sohn, Alfredo, reizt es weniger, für die Fernandos, Carlos‘ und Manuels dieser Welt Nähnadeln durch erlesene Samtstoffe zu triezen; er studiert Malerei und Musik und setzt sich energisch daran, die portugiesische Oper endlich portugiesisch zu machen. Mit Serrana, im Untertitel Die Frau aus den Bergen, vertont er wagemutig ein portugiesisches Libretto – bei so viel nationaler Bewegung muss die Zeit ja endlich mal reif sein für ein Werk in der Muttersprache, oder? Doch ehe das Stück 1899 mit großem Erfolg am Teatro São de Carlos aufgeführt wird, muss es, man braucht es eigentlich schon nicht mehr zu sagen, erst ins Italienische übersetzt werden.

Sein Lied A Portuguesa komponiert Keil bereits 1891, im Schwung der Empörung über die britische Afrikapolitik. Dass daraus dann zwanzig Jahre später die portugiesische Nationalhymne gezaubert wird, versehen mit einem Text des Dichters Henrique Lopes de Mendonça, erlebt er gar nicht mehr – und glücklicherweise auch nicht, dass das leider das einzige ist, was von seinem Werk überhaupt noch gespielt wird.

Alfredo Keil, Gemälde von Félix da Costa 1909 (Museu de Lisboa, Palácio Pimenta)

Hymne hin oder her, die junge Republik kämpft – und versinkt zugleich im Chaos. Der 1. Weltkrieg destabilisiert nachhaltig, Attentate, Korruption, Inflation, höhlen das System aus, alle paar Monate wechselt die Regierung. Der Ruf nach einem starken Mann wird immer lauter, Portugal schlingert Richtung Diktatur. Ein dunkles Kapitel der portugiesischen Geschichte. …  (soweit Sylvia Roth im SWR 2017 in ihrer vierten Folge der Kleinen Musikgeschichte Portugals).

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Alfredo Keil? Wer war Alfredo Keil? Ein Portugiese, zumal ein patriotischer mit deutschem Namen? Alfredo Keil wurde am 3. Juli 1850 in Lissabon geboren und war väterlicherseits deutscher und mütterlicherseits elsässischer Abstammung.  Sein Vater, João Cristiano (Johann Christian) Keil, ließ sich 1838 als Schneider in Lissabon nieder und konnte den König zu seinen Kunden zählen; seine Mutter, Maria Josefina Stellpflug, gehörte zu einer Familie, die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert in Portugal ansässig war.

Im Jahr 1868, noch nicht 18 Jahre alt, geht er nach Bayern, um in München und Nürnberg zu studieren, wo Kaulbach und Keeling seine Lehrer an der Akademie der Bildenden Künste sind. Von dort aus schickte er seine ersten Bilder für eine Ausstellung der Sociedade Promotora das Belas Artes (Gesellschaft zur Förderung der schönen Künste).

1870 zwang ihn der Deutsch-Französische Krieg zur Rückkehr nach Portugal, wo er sein Studium der Malerei bei Prieto und Miguel Lupi fortsetzte. In den Jahren 1874 und 1876 wurde er von der Sociedade Promotora mit einem Preis ausgezeichnet und nahm an mehreren internationalen Ausstellungen teil und wurde dort auch prämiert.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Aquarell vom Künstler mit einer Widmung für Jules Massenet/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

In der Zwischenzeit wurde er in den eleganten Salons als Komponist von Walzern und Polkas immer beliebter. Seine musikalischen Lehrer waren der Ungar Oscar de Ia Cinna (Klavier) und die Portugiesen Ernesto Vieira (Harmonie) und António Soares (Grundlagen).

Im Jahr 1883 wurde seine einaktige komische Oper Susana nach einem Text von Higino Mendonça im Teatro da Trindade aufgeführt. Am 10. Juni des darauffolgenden Jahres, im Anschluss an das Camões-Jahresjubiläum (1880), wurde seine Kantate Patrie im alten Whitoyne Coliseum unter der Leitung von Filipe Duarte aufgeführt. 1885 und 1886 wurden seine symphonische Dichtung Uma Caçada na Corte und die Kantate As Orientais von der Academia dos Amadores de Música im Trindade-Saal uraufgeführt. Aber es war auch eine Zeit großer Aktivität als Maler, aus der die meisten seiner kleinen Gemälde von Colares stammen.

Dona Branca, sein „Drâme lyrique“ in einem Prolog und vier Akten, wurde am 10. März 1888 im Teatro de São Carlos uraufgeführt und war sein erstes wichtiges Werk. Nach einem Libretto von César Fereal, das auf dem gleichnamigen Gedicht von Almeida Garrett basiert, war es ein großer Erfolg und wurde dort dreißig Mal aufgeführt, bevor es an das Teatro Lírico in Rio de Janeiro weiterging.

Zwei Jahre später setzte das britische Ultimatum eine gewaltige Welle patriotischer Begeisterung in Gang. Um die Gefühle der Nation auf den Punkt zu bringen, komponierte Alfredo Keil den Marsch A Portuguesa, dem Henrique Lopes de Mendonça einen Text hinzufügte, der bald im ganzen Land gesungen wurde. Zu den Klängen von A Portuguesa brach am 31. Januar 1891 in Porto die republikanische Revolution aus, die dazu führte, dass dieser Marsch 20 Jahre lang nicht mehr öffentlich gesungen werden durfte. Bei der Revolution vom 5. Oktober 1910 wurde er vom Volk wieder aufgegriffen und schließlich von der Republik als Nationalhymne angenommen – ein Schicksal, das der inzwischen verstorbene Monarchist Alfredo Keil nicht vorausgesehen hatte.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Foto zu einer Aufführung 1909 im Teatro de la Trinidad, Portugal/ Wikipedia

Zurück ins Jahr 1890: In diesem Jahr führte das Teatro Nacional Dona Maria II. zum ersten Mal die historische Tragödie A Morta von Henrique Lopes de Mendonça auf, zu der Keil die Bühnenmusik komponierte. Im selben Jahr veranstaltete er eine Ausstellung, bei der er etwa 300 Gemälde verkaufte. Einer der Käufer war König Luís, der Alfredo Keil 1886 gebeten hatte, eine Kantate zur Feier der Hochzeit von Prinz Carlos mit Prinzessin Amélia von Orleans zu komponieren, woraus O Poema da Primavera entstand (erst 1930 posthum aufgeführt). König Luís widmete der Komponist die Partitur von Dona Branca, die in Paris veröffentlicht wurde.

Die vieraktige „Leggenda mistica“ Irene wurde am 20. März 1893 am Teatro Regio in Turin uraufgeführt. Ebenfalls nach einem Text von César Fereal wurde es zwei Jahre später in Leipzig veröffentlicht und 1896 im São Carlos aufgeführt.

Etwa zur gleichen Zeit vollendete Keil A Serrana nach einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, das auf der Erzählung Como ela o amava („Wie sie ihn liebte“) von Camilo Castelo Branco basiert. Die Uraufführung fand am 13. März 1899 im São Carlos statt. Ein Auszug für Gesang und Klavier wurde in Rio de Janeiro von einer großen Gruppe von Bewunderern veröffentlicht (ähnlich wie bei der Symphonie „A Pátria“ („Das Vaterland“) von Viana da Mota), mit Illustrationen von Roque Gameiro, Columbano Bordalo Pinheiro und anderen.

Alfredo Keil „A Serrana“ scene II, Act 2, Júlia Coelho, soprano,  Taylor Burkhardt pianist Whitmore recital Hall Columbia, Missouri 2015/ youtube

Während dieser Zeit widmete sich Alfredo Keil weiterhin der Malerei. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem seinen Sammlungen von Kunstwerken, insbesondere seiner berühmten Musikinstrumentensammlung. Diese umfasste bis zu 400 verschiedene Stücke und ist heute Teil der Sammlung des Museu de Música in Lissabon. Zu seiner wertvollen Gemäldesammlung gehörten ein Goya, ein Luca Giordano, ein Bruegel und zahlreiche portugiesische alte Meister. Seine prächtige Bibliothek umfasste eine Reihe seltener Werke, darunter Manuskripte, einige mit Buchmalerei. Er selbst veröffentlichte die Bände Breve Notícia da Colecção Keil – Instrumentos de música (1904) und Colecções e Museus de Arte de Lisboa (1905).

Alfredo Keil war ein Mann, der die Zuneigung und Wertschätzung von Institutionen und einfachen Menschen gleichermaßen genoss. Diese Universalität, die von allen Schichten des Landes in Anspruch genommen wurde, führte zur Komposition einer Reihe von Gelegenheitswerken, wie dem Hino do Infante Dom Henrique und dem Marcha de Gualdim Pais. Die lyrische symphonische Dichtung A Índia (ursprünglich als Oper gedacht, die jedoch nie vollendet wurde) wurde von der Geographischen Gesellschaft in Auftrag gegeben, um den vierhundertsten Jahrestag der Entdeckung Indiens durch Vasco da Gama im Jahr 1898 zu begehen (die Komposition wurde wegen fehlender finanzieller Mittel eingestellt).

Bei seinem frühen Tod am 4. Oktober 1907 hinterließ Alfredo Keil ein unveröffentlichtes Buch mit Versen, Zeichnungen und Liedern, die er alle selbst angefertigt hatte und die ein Jahr später unter dem Titel Tojos e Rosmaninhos („Ginster und Rosmarin“) veröffentlicht wurden. Ansonsten hinterließ er Skizzen für eine weitere Oper, Simão, o Ruivo, und eine große Anzahl kleiner Vokal- und Instrumentalstücke. (Quelle Wikipedia Poirtugal).

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Roque Gameiro/Denise Pereira & Gerald Luckhurst, “Alfredo Keil e Luigi Manini: Os sons e os tons da didascália operática” in Alfredo Keil em Sintra: 100 anos depois, Câmara Municipal de Sintra, (Exhibition catalog), 2007

Soweit die Bio. Nun aber endlich zur Oper selbst: Am  13. März 1899 wurde also  im S. Carlos Theater in Lissabon A Serrana, ein lyrisches Drama in drei Akten mit einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, basierend auf dem Roman Como Ela o Amava, von Camilo Castelo Branco Real Teatro de São Carlos uraufgeführt.  Es ist die erste moderne Oper mit einem Libretto in portugiesischer Sprache, die auch populäre Melodien enthält. Es wurde Keils bekannteste Oper sowie ein „echt nationales“ Repertoire-Stück. Obwohl das Libretto ursprünglich in portugiesischer Sprache verfasst war und Keil angedeutet hat, dass er die Musik auf der Grundlage des Textes in dieser Sprache geschrieben hat, wurde die Oper, wie alle ihre Gegenstücke von portugiesischen Komponisten, die im 19. ein Ensemble, dem einige berühmte Sänger der damaligen Zeit angehörten, darunter die Sopranistin Eva Tetrazzini, Ehefrau des Orchesterdirektors Cleofonte Campanini, und der Bariton Mario Ancona, eben – de rigeur –  in Italienisch gegeben.

In der Widmung an Massenet (einen Freund des Komponisten), die am Anfang der Partitur steht, erwähnt Keil Serrana als die erste Oper, die mit einem portugiesischen Text gedruckt wurde, und die 90 Subskribenten, die die Ausgabe finanziert haben, bezeichnen sie als „die erste moderne Oper, mit der die ‚Vulgarização da Musica Portugueza‘ beginnt“. Nach der Tradition des 19. Jahrhunderts ist dies die Partitur, die in der Öffentlichkeit das Bild der Oper prägt und sicherlich zu ihrer Identifizierung als Nationaloper beigetragen hat.

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Columbano Bordalo-Pinheiro/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Es dauerte jedoch bis 1909, ein Jahrzehnt nach der Uraufführung und zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten, bis der Impresario Afonso Taveira die Oper in der Sprache, in der sie ursprünglich geschrieben wurde, auf die Bühne des Theaters von Trindade brachte.  Zu dieser Zeit erkannte A Illustração Portuguesa die Oper als Keils populärste an (was sich sicherlich auf die Tatsache bezog, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt fünf Mal aufgeführt worden war) und auch als „echt national“. Diese Popularität wird sich im 20. Jahrhundert widerspiegeln, denn Serrana war sicherlich die meistgesungene portugiesische Oper. Zwischen 1900 und 1979 gab es neun Spielzeiten im Teatro de S. Carlos, vier Spielzeiten im Coliseu bis 1965, im Teatro de S. João do Porto im Februar 1901, im Teatro da Trindade 1909 und dann, in den sechziger Jahren, durch die Companhia Portuguesa de Opera, die es in der portugiesischen Fassung zu einem ihrer Repertoirewerke wählte, sowie 1979 im Teatro Rivoli in Porto. Eine semi-konzertante Aufführung findet sich zudem 2015 im amerikanischen Columbia/Missouri.

2002 und 2019 erfolgten zwei weitere Aufführungen in Lissabon (in portugiesich), letztere ist bei youtube nachzuerleben (in halligem Sound, Maria Pia Jonata singt die Titelpartie, Donato Renzetti dirigiert am Teatro Nacional de São Carlos). Gleich nach der Uraufführung in Lissabon brachte das tüchtige Hamburger Opernhaus eine deutsche heraus. Eine im Netz erwähnte erste und einzige deutschsprachige konzertante Nachkriegs-Aufführung (stark gekürzt in der Originalsprache) vom WDR stammt vom 15. 5. 2005 (wie der Bonner Generalanzeiger am 17. 5. 2005 titelt: Konzertante WDR-Produktion von Alfredo Keils „Serrana“ im!!! Bonner Opernhaus.“; so die Info der Radiozeitung Hör Zu, wie unser Leser Carl Meffert herausgefunden hat: Günter Lamprecht und Claudia Amm sind die Sprecher, und es singen Laura de Souza, Ricardo Tamura sowie Juan-Carlos Mera-Euler mit Helmuth Froschauer am Pult des Rundfunk-Orchesters und -Chores, s. die Buldunterschrift zum Flyer der Bonner Aufführung nachstehend). Der Musikverlag Schott, bei dem  bei der Hamburger Erstaufführung die deutschen Rechte lagen, findet nichts im Archiv.  (G. H.)

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Alfredo Keil: „Serrana“/ Bühnenbildentwurf von Manuel Macedo für Alfredo Keil/ TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Im Gegensatz zu den früheren Opern Dona Branca und Irene, die beide ein historisches Thema behandeln und von den Vorbildern der Grand Opéra beeinflusst sind, behandelt Serrana Probleme, die mit dem Leben der Bauern eines Dorfes in der Umgebung von Serra da Estrela verbunden sind.

Wie ihre Vorbilder aus dem späten 19. Jahrhundert verbindet Serrana Elemente, die von der romantischen Oper übernommen wurden, mit anderen, die für die literarischen Strömungen des italienischen Naturalismus charakteristisch sind – verista oder Realisten -, die den meisten dramatischen Werken ab 1870 ihren Stempel aufdrückten.

Romantische Stereotypen werden besonders deutlich in der Organisation des dramatischen Raums: Akt I spielt im Freien, während des Morgens, in einer Taverne mit Tischen; Akt II spielt im Inneren eines wohlhabenden Hauses, während einer stürmischen Nacht, und Akt III spielt am Morgen des nächsten Tages, ebenfalls im Freien. Wir beobachten also eine Entwicklung vom offenen und bukolischen Raum des ersten Aktes zum geschlossenen und intimen Raum des zweiten Aktes und eine Rückkehr zum offenen Raum im dritten Akt, der nun beunruhigend und bedrohlich ist.

Die Dialoge zwischen dem Chor und den verschiedenen Figuren im ersten Akt repräsentieren das Gefühl der Feindschaft zwischen den beiden rivalisierenden Dörfern, während Peter und Zabel im zweiten Akt in einer intimeren Atmosphäre ihre Liebesgefühle zueinander ausdrücken.

Alfredo Keils „Serrana“ in der konzertanten Aufführung des WDR im Opernhaus Bonn – unser Leser Carl Meffert fand den Flyer für die Aufführung beim Rheinischen Musikfest 2005. Danke! Das Konzert im Bonner Opernhaus war am 14. 5. 2005, und zwei Tage später (am Montag) reisten die Mitwirkenden zum Dresdener Musikfest – Motto: „Lissabon – Kulturhauptstadt Europas“ – und führten in der Semperoper das Werk noch einmal (konzertant) auf. Der MDR nahm es – im Auftrag des ‚WDR‘ ? – auf, und dieser sendete es lt. Rundfunkzeitung am 12. 6. 2005 in seinem Dritten Programm. 

In der Beziehung zwischen den drei Akten von Serrana finden wir auch andere der in der italienischen romantischen Oper üblichen Strukturen: Akt I als racconto, die Schilderung der Vergangenheit, aus der die in der Gegenwart erlebte Situation entstanden ist – hier die alte Feindschaft zwischen den Dörfern, Pedro, Zabels erste Leidenschaft, dessen Eifersucht, als er erfährt, dass Zabel mit Marcelo nach Brasilien geht, und das Versprechen, das Lager zu boykottieren – der zweite und dritte Akt sind die eigentliche Entfaltung des Dramas, wobei das charakteristische Liebesduett im zweiten Akt zu finden ist.

In der engen Verbindung zwischen den raphaelischen Elementen der äußeren Natur und der Entfaltung des Dramas wird der Einfluss der französischen Oper besonders deutlich. Ein Beispiel dafür ist das Erscheinen einer Höhle und des Grabes von Petrus auf der Bühne, das von Nabor mit einem groben Holzkreuz markiert wird (III). Der Sturm (II),26 ein allgemeines Symbol für das Herannahen der Tragödie, ist auch eine Projektion der Gemütszustände und der gequälten Leidenschaften, die die Figuren beleben und die aufgrund ihres spektakulären Charakters auf der Bühne ein sehr häufiges dramatisches Mittel im gesamten neunzehnten Jahrhundert darstellen. Es handelt sich im Grunde um eine „Rhetorik der dramatischen Räume“.

Einige der aufgezeigten Merkmale finden sich auch in einer Reihe von Opern aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – insbesondere in Bizets Carmen und Puccinis Manon Lescaut.  Die dramatischen Themen der tinte forti, die in der Literatur und im Theater der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts präsent waren, leiteten den Übergang von einer romantischen zu einer realistischen Ästhetik ein, was sich unmittelbar in der Oper jener Zeit niederschlug. Eines der Werke, die am meisten zum Erscheinen dieses neuen Genres beitrugen, war Bizets Carmen, in der die Heldin zum ersten Mal eine Frau von niedrigem sozialen Status ist und in der die Gewalttätigkeit von D. Josés Verbrechen aus Leidenschaft auf der Bühne zu sehen ist.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Szene Aufführung 1909 am Teatro de la Trinidade/ Wikipedia

In Serrana sind das Thema der Auswanderung aus dem portugiesischen ländlichen Umfeld nach Brasilien, auf das im ersten Akt Bezug genommen wird, die Anwesenheit des Dorfältesten von Malhada (die typische Figur des weisen Dorfältesten – Nabor), die Tatsache, dass die Hauptfiguren dem ländlichen Umfeld angehören, die Verwendung einer für die Region Beira Baixa typischen Sprache und der Gebrauch von Sprichwörtern, die versuchte Vergewaltigung, die Präsenz traditioneller portugiesischer Instrumente wie der Adufe und der Gitarre auf der Bühne oder auch die Bezugnahme auf Aspekte, die mit dem täglichen Leben eines portugiesischen Dorfes verbunden sind, wie die Schafzucht, die Arbeit der Spinnerinnen  oder die Adlerjagd , sind alles Elemente, die es dieser neuen Ästhetik näher bringen.

Aus symphonischer Sicht ist der interessanteste Aspekt in Serrana das Vorhandensein eines symphonischen Intermezzos, mit dem der 3. Akt beginnt und das dazu dient, den Tod von Peter zu beschreiben. Diese Art von Stücken taucht in den Opern der Komponisten der Giovane Scuola als Antwort auf den Symphonismus in Wagners Werken auf und steht auch im Zusammenhang mit dem Aufkommen deskriptiver musikalischer Elemente in der italienischen Oper. Abgesehen von kleineren Bemühungen von Komponisten wie Smareglia (La Falena, 1897-1905) oder Franchetti (Germania, 1902) um eine Wiederbelebung der Wagnerschen Tradition sind bedeutendsten Werke unter diesem Gesichtspunkt  die von Komponisten, die mit dem Verismo verbunden sind – L’amico Fritz (1891), Guglielmo Ratcliff (1895) und Cavalleria rusticana, (1890) von Mascagni oder auch Le Villi (1884) und Manon Lescaut (1893) von Puccini. Die beiden Orchesterintermezzi in Le Villi werden von Texten begleitet, die den Verrat von Roberto, den Tod von Anne bzw. die Legende von Villi beschreiben, und in Manon Lescaut beschreibt das Intermezzo im dritten Akt die Verhaftung von Manon und ihre Reise zum Hafen von Le Havre.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Postkarte/ priv coll.

Das Sturm-Intermezzo in Serrana ist ein programmatisches Stück, das sich anhand der Didaskalien, die die Partitur begleiten, in mehrere Momente unterteilen lässt. Zu diesen gehören chromatische Skalen, meist absteigend, sowie eine Reihe von Akkorden, die mit punktierten Rhythmen artikuliert werden, von denen einige diminutiv sind. Dieser Moment erinnert an Wind, Donner und sintflutartigen Regen, Elemente, die bereits im zweiten Akt zu spüren waren.

Um dem Zuschauer ein größeres Gefühl der Authentizität zu vermitteln, verwendet die realistische Oper eine Reihe von Referenzen, die zu einem Bewusstsein der Umgebungen führen, die das Werk darstellen will: Volkstänze und Lieder einer bestimmten Region, dionysische Gesänge (Marcelos Lied „Eva lá no paraíso“, ein Beispiel für das typisch französische chanson à boire), sowie Litaneien, religiöse Hymnen, Prozessionen und malerische Chöre. Die Prozession von Serrana, ein religiöses Element am Ende des ersten Aktes (mit dem ein Choral verbunden ist), erfüllt nicht nur eine dramatische Funktion – den Gegensatz zwischen dem Kampf der Kriegsparteien und der anschließenden Vereinigung durch die Religion -, sondern bringt auch ein starkes Element des Lokalkolorits ein. 

Zum Inhalt/Personen: Zabel, Serrana (dramatischer Sopran) PEDRO, Bauer von Alfatema (Tenor); MARCELO, Bauer von Malhada (Bariton); NABOR, alter Major (Bass); MANUEL Dorfbewohner von Malhada (Bass); ANDRÉ, Sänger (Tenor); UM PASTOR (Tenor).

Alfredo Keil/ Illustration zu seiner Oper „Donna Branca“/Wikipedia

Akt I – Die Handlung spielt im Jahr 1820 in dem kleinen Dorf Malhada, das in der Serra da Estrela liegt. Die Männer streiten sich heftig über alte Rivalitäten zwischen den Dörfern, die nun wieder aufleben, da Pedro, aus dem Dorf Alfatema und erste Liebe von Zabel (der Serrana), geschworen hatte, das Fest zu ruinieren, das an diesem Tag anlässlich des Festes von S. Silvestre, dem Schutzheiligen von Malhada, stattfinden sollte. Auslöser für Pedros Revolte war die Nachricht, dass Marcelo, Zabels derzeitiger Lebensgefährte, aus Eifersucht und dem Wunsch, sein Vermögen zu vergrößern, beschlossen hatte, nach Brasilien auszuwandern und das Mädchen mitzunehmen. Obwohl der alte Nabor zur Ruhe mahnt, gelingt es Marcelo, eine Gruppe von Bauern davon zu überzeugen, Pedro und seine Gefährten gewaltsam an der Ausführung ihres Vorhabens zu hindern. Um die Gemüter zu beruhigen, bietet Nabor Marcelo ein Glas Wein an und er stimmt das dionysische Lied „Eva im Paradies“ an. In der Zwischenzeit nähert sich eine Gruppe von Sängern, angeführt von Zabel, und auf Wunsch aller singt sie gemeinsam mit André das Aufforderungslied „Sie nennen mich Rosa nos Montes“.

Dann erscheinen die Bauern aus dem rivalisierenden Dorf Alfatema, angeführt von Pedro. Marcelo und seine Männer gehen zu der Brücke, die die beiden Dörfer trennt, während Pedro, der sich nähert, Marcelo herausfordert. Die beiden Rivalen stehen sich mit vorgehaltener Waffe gegenüber, als Zabel eingreift und sich zwischen die beiden Männer stellt. Mit netten Worten gelingt es ihr, Marcelo zu beruhigen.

Er vereinbarte heimlich ein Treffen mit Pedro für diese Nacht. In der Zwischenzeit geht der Kampf wieder los, der nun von Nabor unterbrochen wird, der die rivalisierenden Gruppen trennt. Die Glocken rufen zur Prozession und alle stimmen ein Loblied auf den heiligen Schutzpatron an.

Alfredo Keil/ „A Portugueza“, die spätere Nationalhymne Portugals/ Wikipedia

Akt 2 – Nachts, im Haus von Marcelo, gehen Zabel und die Spinnerinnen ihrer Arbeit nach, während in den Bergen ein Sturm aufzieht. Verängstigt durch den Sturm verschwinden die Spinner und lassen Zabel allein zurück. Sie fragt sich, was sie für Pedro empfindet, als er auftaucht. Das Mädchen läuft ihm in die Arme, gesteht ihm ihre Liebe und bereut den Moment, als sie sich von Marcelos Reichtum verführen ließ. Die beiden beschließen, wegzulaufen und weit weg von diesem Ort zu leben, als Marcelos Stimme in der Ferne zu hören ist. Zabel beeilt sich, das Gold in ihre Tasche zu packen, wird aber von Pedro ermahnt, der ihr sagt, dass sie dafür keine Zeit hat. Als er durch das Fenster flieht, um nicht von Marcelo überrascht zu werden, schlägt Pedro mit dem Kopf auf einen Stein, was seinen Tod zur Folge hat. Der betrunkene Marcelo bricht die Tür auf, dringt in das Haus ein und versucht, Zabel zu vergewaltigen, die ihn mit einem Messer bedroht und entkommen kann.

Alfredo Keil: „Serrana“/ der Musikwissenschaftler Luís Raimundo hat zu der Oper geforscht und den nachstehend erwähnten Artikel von 2002 verfasst/ link

Akt 3 – Am Morgen findet Nabor die Leiche von Pedro. Verärgert begräbt er ihn in der Nähe einer Höhle und stellt ein grobes Holzkreuz auf. Der alte Mann fragt die Hirten, was passiert ist, aber sie können ihm nichts sagen. Von einer tiefen Traurigkeit geplagt, stimmt Nabor ein Vaterunser an. Zum Erstaunen aller erscheint Zabel auf den Felsen und sieht dement aus. Sie erkennt Nabor nicht, der sie stützt und tröstet und sie an die glücklichen Zeiten mit Pedro erinnert.

Angesichts des Entsetzens von Nabor und Zabel kommt Marcelo mit der Waffe in der Hand, bereit, das Mädchen zu töten, das er des Ehebruchs und des Diebstahls beschuldigt. In einem kurzen Moment der Reue bittet er Zabel jedoch, es sich noch einmal zu überlegen und sagt ihr, dass er sie immer noch liebt. Aber die Serrana wirft ihm hasserfüllt die Goldkette vor die Füße und ruft: „Ich widere dich an“. Um das Schlimmste zu verhindern, versucht Nabor, das Mädchen zu schützen, aber Marcelo stößt ihn gewaltsam weg und schießt. Die tödlich verwundete Zabel kriecht zum Grab von Pedro, küsst die Erde und stirbt. Als Marcelo erkennt, welches Verbrechen er begangen hat, flieht er entsetzt.

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Der portugiesische Musikwissenschaftler Luís Raimundo hat sich in der Revista Portuguesa de Musicologia 2000 mit der Oper beschäftigt, der vorstehende Artikel beruht auf seinem Beitrag ebendort; (Raimundo, Luís: «Für eine dramaturgische und stilistische Lektüre von Serrana von Alfredo Keil». Lissabon. Portugiesisches Journal für Musikwissenschaft: 227-274.  Wir danken für seine außerordentlich liebenswürdige Hilfe, die auch die Bereitstellung einiger  Illustrationen umfasst.  Übersetzungen aus dem Portugiesischen: Luísa Ferreira.

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Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier

Materialien zu einer Ikone

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Höchsten Respekt nötigt der mehr als tausend Seiten umfassende Band über Leben und Werk von Hans Swarowsky ab, nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Umfangs, sondern vor allem wegen der Vielfalt der Themen, die von unterschiedlichen Verfassern zu unterschiedlichen Zeiten ( Einige sind inzwischen verstorben.)  geschrieben wurden oder als Referate bei Symposien gehalten wurden. Der Titel Der Dirigent Hans Swarowsky (18991975) allerdings spricht nur eine Seite der schillernden Persönlichkeit an, die vor allem als Lehrer berühmter Dirigenten bekannt ist. Schüler von Hans Swarowsky gewesen zu sein, entspricht schließlich in Musikerkreisen beinahe einem Adelsprädikat, und das Buch spart zum Glück auch nicht aus, was den österreichischen Musiker vor allen anderen und ganz besonders ausmachte.

Portrait Hans Swarowsky/ This is one of several photos taken by Swarosky’s son Anton/ https://hansswarowsky.com/

Die meisten, insbesondere die einer chronologischen Gliederung unterworfenen Beiträge stammen von Erika Horvath, die beiden Herausgeber Markus Grassl und  Reinhard Knapp sind ebenfalls mit einigen Kapiteln vertreten und betonen in ihrem Vorwort, dass eine der Schwierigkeiten bei der Herausgabe des Buches das dichte Nebeneinanderliegen von Dichtung und Wahrheit war, in der dem Vorwort folgenden Einleitung weisen sie darauf hin, dass der Gegenstand ihrer Bemühungen zugleich, und das betrifft die Nazizeit, Gefährdeter und Belasteter war, also quasi über eine „doppelte Vergangenheit“ zu berichten ist. Künstlerisch sehen sie Swarowsky als sich auf einer Kreuzung von Traditionslinien bewegend, weisen auf den Einfluss von Schönberg, Webern und Mahler hin, auf die Beziehungen zu Strauss und Weingartner, sehen ihn in der Konfrontation Toscanini-Furtwängler auf der Seite des Italieners stehend. In vielem greifen die Herausgeber den folgenden Artikeln vor, so wenn sie davon schreiben, wie Swarowsky   Maßstäbe setzte in der Interpretation, wie er für die Akademiesierung der Musikerausbildung sorgte und wie ihm gerade dies das Prädikat einbrachte, zwar ein guter Lehrer, aber kein besonders guter Dirigent zu sein. Schillernder könnte kaum eine Persönlichkeit sein als die im Buch dargestellte, wobei die uneheliche Geburt, die Tatsache eines jüdischen Vaters und das enge Verhältnis zu Hans Frank ebenso wie wahrscheinliche Spionagetätigkeit für die Alliierten und der Verdacht monarchistischer Gesinnung wie der einer Mitgliedschaft in der KPÖ dazu beitragen, dass man von einer „Ambivalenz von Verstrickung und Distanz“ sprechen kann. Sogar mit dem Gedanken, in die DDR überzusiedeln, soll der in vielen Facetten Schillernde gespielt haben.

Was in der Einleitung bereits angeschnitten wurde, wird von Erika Horvath und anderen anschließend in schöner und kompetenter Ausführlichkeit  dargestellt, wobei das Wissen des Lesers nicht nur um eine Fülle von Fakten über Leben und Werk Swarowskys bereichert wird, sondern auch ein tiefer Einblick in das kulturelle Leben nicht nur im Habsburgerreich, sondern später, als Swarowsky auch in Stuttgart, Gera, Hamburg und Berlin, in Zürich und schließlich in Krakau tätig ist, in das der jeweils betroffenen Region, gewährt wird. Dazu kann der Leser Bekanntschaft machen mit so ziemlich allen maßgeblich die Kultur Mitteleuropas Gestaltenden, sei es Clemens Krauss, Richard Strauss, man kann sie nicht alle aufzählen und wird in den Kampf um die Gestaltungshoheit an vielen bedeutenden Kulturinstitutionen wie der Berliner Staatsoper mit hineingezogen. Immer wieder gibt es Hinweise auf die blühende Phantasie Swarowskys, was zum Beispiel seinen Vater betrifft, wofür sogar ein Erzherzog herhalten muss, weniger lustig ist, dass er seine Haut nur retten kann, indem die Mutter anstelle des tatsächlichen einen Vater aus der Verwandtschaft herbei zaubert, um den Sohn zum Arier zu machen.

In mehreren Beiträgen wird der Leser darüber informiert, dass Swarowsky nicht nur Dirigent und Lehrer vieler späterer Dirigenten (Zubin Mehta meldet sich in dieser Hinsicht und das nicht immer schmeichelhaft zu Wort.) sondern auch Übersetzer von vor allem italienischen, aber auch französischen Libretti war, Mitwirkender beim Capriccio-Libretto und Entdecker von Sängern wie HiIde Güden und, wenn man seinen Feinden Glauben schenken darf, auch Führer eines nicht immer tadellosen Lebenswandels.  Der spielt allerdings beim auch für ihn notwendigen Entnazifizierungsverfahren keine Rolle, anders als seine Schutzbehauptung, er sei ein heimlicher österreichischer Nationalsozialist gewesen. Strauss und Krauss halten ihre schützenden Hände über ihn, in den Machtkampf zwischen Tietjen und Krauss gerät er, eine Anstellung im Reichspropagandaministerium wird ihm nach 45 fast zum Verhängnis. Nur durch ein gefälschtes Attest kann er sich  dem Einsatz für den Endsieg entziehen.

Durchweg lesen sich die einzelnen Kapitel wie ein Abenteuerroman, ohne jemals den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufzugeben.  So wird denn auch nicht unnütz darüber spekuliert, ob Swarowsky das Versteck seines Gönners Hans Frank nach dem Krieg verraten hat. Ob so vorsichtig formuliert  auch die psychologischen Gutachten der Amerikaner bei den Entnazifizierungsverfahren waren, daran sollte man keine strengen Maßstäbe anlegen.

Im 3. Teil des Buches, der von den Jahren 1945 bis 1975, also bis zu des Dirigenten Tod, handelt, wird zunächst chronologisch und zwar weitgehend von Erika Horvath vorangeschritten, es gibt aber zugleich eine thematische Gliederung, so wenn Wilfried Koch sich der Nürnberger Ring-Aufnahme, Juri Giannini und Herbert Handt (selber Sänger, Künstler und Dirigent) sich den Opernübersetzungen oder Martin Elste sich dem Schallplattendirigenten widmen. Und das ist längst nicht alles, was dem neugierigen Leser geboten wird, der gut daran tut, ohne den Ehrgeiz, das Buch in einem Atemzug verschlingen zu wollen, sich etappenweise darin voran zu arbeiten. Immer wieder wird er dabei auf das Hauptanliegen Swarowskys stoßen, schlampige Aufführungen zu bekämpfen, den Kampf um die Reinheit der Partitur zu führen. Eine „authentische Aufführungspraxis“, ab 1953 in einer Stilkommission zum Ziel erhoben, ist sein Bestreben, das sich auch in seinen ab 1958 regelmäßig an wechselnden Orten abgehaltenen Meisterkursen äußert.

Waren  in der ersten Lebenshälfte die uneheliche Geburt und die jüdische Abstammung für eine unterbrochene Karriere  und eine späte internationale  Anerkennung verantwortlich, so sind die von Manfred Huss im Epilog beschworenen „Mächte der Finsternis“ in der zweiten Lebenshälfte mehrere Krebserkrankungen.  Ob als solche der Dirigent selbst auch die von Reinhard Kapp in Der (Wiener) Swarowsky-Diskurs angeführten Negativurteile über ihn angesehen hätte, muss reine Spekulation bleiben. Das schlimmste davon dürfte ein „etwas Entscheidendes hat gefehlt“ sein, auch Mehtas :“Er ließ nicht musizieren“, dürfte ihn schmerzen. Aber selbst wenn der umfangreiche Band einiges Unerfreuliche über den Gegenstand seiner Betrachtungen zu berichten weiß, ist er doch ein gelungener Versuch, dem bisher von der Wissenschaft Vernachlässigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Nach 918 so spannenden wie Erkenntnisse vermittelnden Seiten wird man in einen Anhang von noch einmal weit über hundert Seiten entlassen, Verzeichnis der Aufnahmen, der Übersetzungen Swarowskys, der Editionen und Bearbeitungen Swarowskys, der Absolventen, Studenten und Hörer des Symposiumprogramms, ein Quellenverzeichnis, eine Bibliographie, ein Verzeichnis der Abkürzungen und ein Personen- und Werkregister enthaltend (Der Dirigent Hans Swarowsky (1899 – 1975); Musik, Kultur und Politik im 20.Jahrhundert; Hg. : Markus Grassl und Reinhard Kapp; Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 15; 1052 Seiten; Böhlau Verlag ISBN 978-3-205-78497-5; 2022). Ingrid Wanja

Ein Digest-de-luxe  

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Als die originale Opera-Rara-Ausgabe des Offenbachschen Robinsoe Crusoe herauskam (um 1980 und noch als LPs) lachte ich mich blau beim Hören, denn so lustig und klug hatte ich Offenbach nur in der alten Soundtrack-LP der Vie Parisienne von Barrault erlebt (jetzt sogar bei youtube mit der bezaubernden Suzy Delair, dazu Madelaine Renaud und Jean-Philippe Barrault, einfach umwerfend). Die irrwitzig-kluge Übersetzung des unvergessenen Don White, Mitbegründer und Ankermann von Opera Rara, trug Ihrige dazu bei, diese aberwitzige Operette unter der genialen Hand von Alun Francis zum Leuchten und Explodieren zu bringen. Und die tolle Besetzung mit Yvonne Kenny als resolute Edwige und John Brecknock als schüchterner Robinson tat das Ihrige zum Erfolg. Auf was für Einfälle sind die Librettisten Cormon, Crémieux und natürlich Don White bloß gekommen! Allein der 5-o´clock-tea vor der Abfahrt Robinsons ist eine Sternstunde gesungenen Humors. Das wird nur von dem dto. wunderbaren Christopher Columbus (ebenfalls very english bei Opera Rara, aber nicht in der neuen Box, also bitte den auch noch!) getoppt. Britischer Humor paart sich mit französischem Esprit, unvergleichlich.

Offenbach reitet auf seinem Cello; Karikatur von André Gille/ Wikipedia

Diese meine frühen Offenbach-Offenbarungen finden sich in der nun wieder neu herausgegebenen 2 + 1 Opern-Box bei Opera Rara, Celebrating Offenbach (ORB3). Neben Robinson Crusoe von 1980 gibt es den Vert-vert von 2008 unter David Parry (für mich kein Vergleich mit Alun Francis und deshalb beileibe nicht so rasant wie der Robinson Crusoe, zumal Titelsänger Toby Spence  bei europäischen Nachbarn nicht so ganz zu Hause ist und die polyglotte Besetzung – immerhin Jennifer Larmore als die Sängerin La Corilla  – nicht so wirklich vom Boden hochkommt). Aber immerhin, es ist die einzige Aufnahme bislang. Angekoppelt ist ein köstlicher Offenbach-Abend auf 2 CDs, Entre nous, von 2006, den Michael Haas erfolgreich produzierte und der auf einem gelungenen Londoner Konzert beruht. Hier finden sich die Goodies aus Offenbachs Repertoire, von den Sängern wie Cassandre Berthon, Diana Montague, Mark LeBroq, Elisabeth Vidal und anderen charmant serviert – ein Offenbach Digest-de-luxe (Libretti  gibt es online). Dennoch empfehlenswert, wie die ganze Box als solche. Den erhellende Booklet-Beiltrag schrieb Marcco Ladd, und wir danken Opera- Rara (besonders Moe Faulkner) dafür, diesen Text in unserer eigenen deutschen Übersetzung übernehmen zu dürfen. Die folgt nun nachstehend. G. H.

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Marco Ladd: Die meisten Opernbesucher sind heute mit der Musik von Jacques Offenbach (1819-1880) nur durch zwei seiner Werke vertraut, die an entgegengesetzten Enden seiner Karriere entstanden sind. Das erste ist Orphee aux enfers, die erste abendfüllende Operette, die der Komponist für seine bahnbrechende komische Operntruppe, die Bouffes-Parisiens, schrieb. Obwohl Offenbach bereits vor der Uraufführung des Orphee im Jahr 1858 beim Pariser Publikum beliebt war, da er zu diesem Zeitpunkt bereits etwa dreißig Einakter für die Bouffes geschrieben hatte, prägte der triumphale Erfolg der Operette seinen Ruf für den Rest seines Arbeitslebens. Eine lange kritische Tradition tendiert dazu, Offenbachs kritisches Schicksal mit dem Hof von Napoleon III. zu verbinden, dem letzten Kaiser der Franzosen, dessen halb-autoritäres Zweites Kaiserreich (1852-1870) zu einem Synonym für Dekadenz und Frivolität wurde. In den 1860er Jahren, als sein Ruhm auf dem Höhepunkt war, waren Offenbachs populärste Werke diejenigen, die – wie Orphee – das Regime Napoleons auf die Schippe nahmen, sei es durch respektlose Anspielungen auf Mythen und Legenden (wie in Genevieve de Brabant oder La belle Helene) oder durch köstliche Satiren auf die zeitgenössische Gesellschaft (wie in La Vie parisienne und La Grande-Duchesse de Gerolstein).

Das zweite Werk, auf dem Offenbachs heutiger Ruf beruht, ist zugleich sein letztes: Les Contes d’Hoffmann, eine fünfaktige Opéra fantastique nach drei Kurzgeschichten des deutschen Romantikers E.T.A. Hoffmann, die noch unvollendet war, als der Komponist 1880 starb. Nach dem Sturz Napoleons III. im Jahr 1870, dem demütigenden Ende des Deutsch-Französischen Krieges, ging es für den in Deutschland geborenen Offenbach in dem Land, das er seit seiner Jugend als Heimat bezeichnet hatte, bergab. In diesem ersten Jahrzehnt der Dritten Französischen Republik feierte er in Paris zwar einige Erfolge, doch die Zuneigung des Publikums konnte er nie wieder so stark auf sich ziehen wie zuvor, wie in seiner Blütezeit im Zweiten Kaiserreich. Aus diesem Grund wurde Les Contes d’Hoffmann, eine seriöse Oper, das für eines der wichtigsten Pariser Opernhäuser, die Opéra Comique, geschrieben wurde, oft als ein Versuch Offenbachs interpretiert, sich Respekt zu verschaffen, indem er die komischen Stile, die ihn berühmt gemacht hatten, zugunsten von etwas weniger Frivolem aufgab.

Orphee aux enfers und Les Contes d’Hoffmann gehören zu den einzigen Opern des Komponisten, die nach seinem Tod nie aus dem aktiven Repertoire verschwunden sind, auch wenn die meisten seiner anderen Werke in Vergessenheit geraten sind. Dennoch gibt es vieles, das wir nicht vollständig würdigen können, wenn unser Wissen über seine Musik nur von zwei Werken geprägt ist, so wichtig sie auch sein mögen. Immerhin hat dieser Mann rund hundert komische Opern geschrieben; von seinem Debüt bis zu seinem Tod hatte er ständig zwei oder drei Projekte in Arbeit. Ein frenetisches Tempo, das die Herausforderung widerspiegelt, mit dem sich ständig wandelnden Publikumsgeschmack Schritt zu halten, und dass die Schlüsselrolle unterstreicht, die Offenbachs Operetten und Opéra bouffes standen nicht nur in direktem Zusammenhang mit den Wiener Operetten des frühen 20. Jahrhunderts und dem Broadway-Musical, sondern die immergrünen Tanznummern seiner Werke – vor allem die Walzer – verbreiteten sich auch über die Bühne hinaus in verschiedenen Formen und trugen zu dem bei, was Wissenschaftler als Revolution in der Populärmusik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnen.

Offenbachs Muse: Hortense Schneider/ Wikipedia

Die Opera-Rara-Box „Celebrating Offenbach“ bietet eine einzigartige Gelegenheit, Offenbachs Werk zu würdigen. Genauer gesagt liegt der Wert dieser Opera Rara-Sammlung darin, dass sie uns sowohl einen Überblick über Offenbachs Schaffen in den dreißig Jahren seines öffentlichen Wirkens gibt als auch auf einen ganz bestimmten Moment in der Karriere des Komponisten einstimmt – die späten 1860er Jahre – als er versuchte, die Gunst eines anderen, etwas gehobeneren Teils des Pariser Publikums zu gewinnen. Die Vielfalt der einundvierzig Auszüge aus Offenbachs weniger bekannten Werken, die auf der Kompilationsaufnahme Entre Nous versammelt sind – sie repräsentieren nicht weniger als dreiundzwanzig seiner komischen Opern, wenn auch nicht die vollen hundert -, gibt uns einen breiten Überblick über den Stil des Komponisten und eine Auswahl seiner erfolgreichsten Nummern. Die beiden Gesamtaufnahmen der Opern Robinson Crusoe und Vert-Vert, die 1867 bzw. 1869 entstanden sind, ermöglichen es uns, die Bemühungen des Komponisten in einem bestimmten Subgenre eingehend zu hören.

Entre Nous (eine eigens für Opera Rara erstellte Sammlung) erinnert uns daran, dass Offenbach mit vielen Spielarten des komischen Musiktheaters arbeitete, auch wenn wir heute dazu neigen, die englischen Begriffe Operette oder komische Oper etwas undifferenziert auf seine Werke anzuwenden. Der Komponist selbst verwendete eine Vielzahl von Gattungsbezeichnungen, von denen die bekanntesten opéra bouffe, opéra comique, opérette und opéra-ferie („Märchenoper“ oder „phantastische Oper“) sind. Alle vier Gattungen – die Unterscheidungen zwischen ihnen sind nicht immer eindeutig – sind in dieser Sammlung vertreten, von frühen Werken, die Offenbach noch als Direktor der Bouffes-Parisiens schrieb, bis hin zur komischen Oper Belle Lurette, die, wie Les Contes d’Hoffmann, bei seinem Tod 1880 unvollendet blieb.

Die ersten Auszüge aus den Einaktern Une Nuit blanche (1855, Opera comique) und Les Deux Pecheurs (1857, Operette) versetzen uns in eine Zeit, in der die Anzahl der auf der Komödienbühne erlaubten Figuren durch die Lizenzgesetze streng begrenzt war (erst die Lockerung dieser Vorschriften ermöglichte es Offenbach, die Orphee aux enfers in voller Länge zu schreiben). ´“Allons, Fanchette, allons“, ein Trinklied mit Bass, Tenor und Sopran, ist in der Tat eine Nummer für das gesamte Ensemble von Une Nuit blanche. Dennoch ist der Stil Offenbachs aus seinen bekannteren späteren Werken bereits erkennbar. Die Musik ist spritzig, die Stimmen deklamieren rhythmisch über einer leichten, stakkatoartigen Streicherbegleitung. Die Orchestrierung  (relativ unkompliziert und leicht an wechselnde Aufführungsbedingungen anpassbar) ist in leuchtenden Farben gehalten, mit schnatternden Holzbläsern, die die Gesangspartien umspielen; die Piccoloflöte steht stark im Vordergrund. Gioachino Rossini soll Offenbach als den „Mozart der Champs-Elysees“ bezeichnet haben, aber in Bezug auf den Orchesterklang sind die Opern von Rossini selbst vielleicht ein besserer Bezugspunkt. Auch in dramatischer Hinsicht haben viele von Offenbachs Werken etwas von Rossini an sich, denn die Figuren bewegen sich fast gegen ihren Willen durch die Possen der absurden Handlungen.

Ein weiteres stilistisches Merkmal von Offenbachs Opern ist seine Vorliebe für leichte, flexible Sopranstimmen, die zu präzisem und virtuosem Gesang in hohen Lagen fähig sind. Eine der berühmtesten Passagen in Les Contes d’Hoffmann ist die Paradearie des Automaten Olympia, dessen mechanistische Koloraturen immer wieder zusammenbrechen, um die darunter liegende Maschine zu enthüllen. Aber Offenbach spielte mit koloraturreichen Kadenzen lange vor Hoffmann. Man höre sich zum Beispiel „Je suis nerveuse, je suis fievreuse“ aus Le Voyage dans la lune (1875) an, einem Opernmärchen, das auf Jules Vernes bahnbrechendem Science-Fiction-Roman basiert, oder „Dansons la chaconne“ aus Monsieur et Madame Denis (1862, opéra comique), in dessen Kadenz ein Sopran wortlos mit einer Soloflöte duettiert, möglicherweise eine Parodie auf Donizettis Lucia di Lammermoor. „Je suis nerveuse“ ist ebenfalls ein Walzer, der wiederum ein wesentliches Merkmal von Offenbachs Stil ist. Walzerlieder waren ein Schlüsselelement für die Attraktivität komischer Opern: Es überrascht daher nicht, dass in Entre Nous immer wieder Walzer auftauchen – von „Salut, salut, noble assemblee“, einem Lied, das eine wundersame Fleischpastete in Genevieve de Brabant (1857, überarbeitet 1867, Opéra bouffe) preist, bis zu „Chez nous la vie est si douce“, dem Finale des zweiten Akts von La Diva (1869, Opéra bouffe), dessen gesamter Schlussteil ein Walzer ist.

Bringt Offenbachs „Robinson Crosoe“ rasant zum Leben: der Dirigent Alun Francis/ Wikipedia

Abgesehen von der tänzerischen Energie entspringt der Humor in Offenbachs Musik aus verschiedenen Quellen. La Diva, eine Oper, die das Verhalten einer kapriziösen Sängerin persifliert, hätte das metatheatralische Vergnügen geboten, Offenbachs Hauptdarstellerin in den 1860er Jahren, Hortense Schneider, eine Version ihrer selbst spielen zu sehen. Die meiste Zeit sind die Lacher jedoch einfacher, in Albernheiten und Farcen, in unerwarteten oder unpassenden Zitaten verwurzelt. In „Prince doux et fort debonnaire“ aus L’lle de Tulipatan (1868, opéra bouffe) quakt der Chor die Begleitung. In „Ce fut a Londres“ aus Belle Lurette (1880, opéra comique) – ebenfalls ein Walzer – wird die schräge Begleitung zu den Silben „bing! bing!“ gesungen, ein unverkennbares Zitat von „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauß dem Jüngeren.

Offenbach hatte zwar eine unbestreitbare Begabung für das komödiantische Schreiben, aber er pflegte auch andere Gattungen und Stimmungen. 1864 schrieb er eine romantische Oper, Die Rheinnixen, für die Wiener Bühne. Und in Paris schrieb er vier Werke für eine der Säulen des Pariser Opernbetriebs, die Opera-Comique. Im Gegensatz zur Opéra – der Heimat der ernsten, tragischen Oper in Paris – waren die Werke, die an der Opéra-Comique aufgeführt wurden, im Allgemeinen von leichterem Charakter. Leicht bedeutete jedoch nicht unbedingt lustig und schon gar nicht gewagt. Das Publikum der Opéra-Comique, das sich in der Regel aus angesehenen Bürgern und ihren Familien zusammensetzte, wollte sentimentale Werke mit einem starken moralischen Kern und einer aufrichtigen Darstellung der Gefühle hören.

Angesichts des Rufs Offenbachs als Schürzenjäger wären nur wenige seiner früheren Werke, selbst jene, die als Opéra comique bezeichnet wurden, für dieses besondere Opernhaus geeignet gewesen. Tatsächlich war sein erster Versuch, für die Opera Comique zu schreiben, Barkouf (1861), ein solcher Misserfolg, dass es nach nur sieben Aufführungen zurückgezogen wurde. In den späten 1860er Jahren war die Offenbach-Manie in der französischen Hauptstadt jedoch auf ihrem Höhepunkt, und seine Operetten waren ein Kassenschlager.

So kam es, dass Offenbach eingeladen wurde, in relativ kurzer Folge zwei weitere Werke für die Opéra-Comique zu schreiben. Robinson Crusoe wurde im November 1867 uraufgeführt und erlebte zweiunddreißig Aufführungen. Im März 1869 kehrte Offenbach mit Vert-Vert zurück, das sogar noch erfolgreicher war: achtundfünfzig Aufführungen, eine warme, wenn auch nicht gerade enthusiastische Aufnahme (es sei daran erinnert, dass Orphee aux enfers allein bei seiner ersten Aufführung 228 Mal gespielt wurde).

Die beiden Opern weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Robinson Crusoe (hier in der englischen Adaption des unvergessenen und leider verstorbenen Don White/ G. H.) ist eine lose Adaption des berühmten Romans von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719, der so berühmt war, dass er längst in die Populärkultur übergegangen war. Die unmittelbare Vorlage für Offenbachs Librettisten, Eugene Cormon und Hector-Jonathan Cremieux, war eine britische Pantomime, in der der Roman als Abenteuerroman mit einer Liebesgeschichte im Mittelpunkt neu interpretiert wurde: In dieser Erzählung sticht Robinsons mutige Geliebte Edwige selbst in See, um ihren gestrandeten Geliebten zu suchen. Auch Vert-Vert geht auf ein bekanntes didaktisches Gedicht aus dem Jahr 1734 zurück, ist aber eher eine Adaption einer Vaudeville-Komödie aus dem Jahr 1832. In dem Gedicht geht es um den Papagei Vert-Vert, der in einem Kloster aufgewachsen ist und sich auf einer Reise in ein anderes Kloster zahlreiche schlechte Angewohnheiten wie das Fluchen angewöhnt hat; er kehrt zu seinen ursprünglichen Besitzern zurück, kämpft um seine Besserung und stirbt. Die Librettisten Henri Meilhac und Charles Nuitter übertrugen den Namen Vert-Vert auf die Hauptrolle des Tenors, dessen Reise ins Ausland als eine Reise der Selbstfindung und des sexuellen Erwachens dargestellt wird. Vert-Verts neu erworbene „schlechte Angewohnheiten“ erlauben es ihm, sich seine Liebe zu dem Konventsmädchen Mimi, der Sopranistin, einzugestehen.

In beiden Werken passte sich Offenbach dem Zielpublikum und dem Genre an, indem er die gesprochenen Dialoge zwischen den musikalischen Nummern deutlich reduzierte und den Hauptdarstellern gehaltvollere Stücke – echte Arien – zum Singen gab. Dennoch gibt es auch einige Passagen, die von Offenbachs üblichem Stil in auffälliger Weise abweichen. So beginnt der zweite Akt von Robinson Crusoe mit einem achtminütigen Entr’acte, in dem das Meer dargestellt wird: Diese Meeressymphonie“, die über einem stattlichen Dreiertakt an- und abschwillt, besitzt eine verhaltene Größe, die nur in wenigen anderen Werken des Komponisten zu finden ist. In Vert-Vert zieht die hinreißende Arie „Le bateau marchait lentement“ der Titelfigur, die an die verführerische Sängerin La Corilla gerichtet ist, mit ihrer langen, lyrischen Gesangslinie, die sich über einer gedämpften, murmelnden Streicherbegleitung entfaltet, in einen ähnlichen Bann.

Und noch eine Einspielung, die Spass macht: „Offenbach Fantastique: Symphonic Music by Jacques Offenbach“/ Leipziger Symphonieorchester unter Nicolas Krüger/ Genuin GEN20698 erschienen 2020/ das große Foto oben ist dem Cover entlehnt/ Danke!

An anderer Stelle sind die Opern jedoch stärker von Offenbachs Markenzeichen, dem Witz, geprägt, wenn auch ohne den begleitenden Zynismus. Der Beginn von Robinson Crusoe ist eine Komödie der Sitten, in der die bibelzitierende Heiligkeit von Robinsons Vater den verzweifelten Bitten seiner Mutter um eine Tasse Tee gegenübergestellt wird, während die zweite Hälfte des zweiten Aktes direkt komödiantisch ist. Das zweite Paar, Toby und Suzanne, wird von Kannibalen gefangen genommen und tritt in einem Eintopflied auf, das stark an Gilbert und Sullivan erinnert. Und der Versuch der Kannibalen, die blonde Edwige ihrem Gott Saranha zu opfern (mit Anklängen an King Kong), entlockt unserer Heldin weder Schrecken noch Wut, sondern vielmehr ein opulentes Walzerlied, „Take me away to the one I adore“. Nur Man Friday, Robinsons „einheimischer“ Begleiter, scheint sich sowohl in den komödiantischen als auch in den ernsten Rollen völlig wohl zu fühlen. Im Gegensatz dazu ist die Komödie in Vert-Vert zahmer, aber die sentimentalen Elemente der Geschichte sind insgesamt besser integriert; vielleicht wurde sie aus diesem Grund von den beiden Opern besser aufgenommen.

Letzten Endes mag der Wechsel des Tons sowohl in Robinson Crusoe als auch in Vert-Vert dem heutigen Hörer verwirrend erscheinen, denn die weichere Komödie unterscheidet sich überraschend von dem vertrauten Offenbach des Can-Can und der Chorgruppe. Doch die größere Vertrautheit mit dem Stil des Komponisten, die diese Sammlung ermöglicht, macht deutlich, dass diese Opern eine andere Seite von Offenbachs musikalischer Persönlichkeit darstellen. Unerforschtes Terrain, gewiss: aber die Entdeckungsreise lohnt sich. Marco Ladd,. 2022 Opera Rara/ Deutsche Übersetzung Geerd Heinsen 

Spass mit Offenbach

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1855 hatte die erste Pariser Weltausstellung stattgefunden, und man hatte feststellen müssen, dass sich das internationale Publikum zwar tagsüber von den prachtvollen Pavillons und dem, was in ihnen ausgestellt wurde, fesseln ließ, dass es aber für den Abend und die Nacht ebenfalls nach Sensationen verlangte, vor allem solchen, die dem Ruf von Paris als Stadt der Liebe gerecht sein würden. In dieser Hinsicht wollte man für die Zweite Pariser Weltausstellung von 1866 vorsorgen und gab dazu Jacques Offenbach den Auftrag für die Komposition einer Operette mit Pariser Flair, aber auch der Einbeziehung von Personal aus den Ländern, aus denen die Gäste der Weltausstellung stammten. La Vie Parisienne nannte sich das Werk, das bereits ein Jahr vor Beginn der Weltausstellung fertiggestellt war und im Theatre du  Palais-Royal uraufgeführt wurde. Einen Skandal wegen der Frivolität der Handlung hatte man befürchtet, zu einem Triumph wurde die Uraufführung, der eine lange Reihe von weiteren Vorstellungen folgte. Dabei ist die Handlung mit unendlich vielen Personen, allein drei weibliche Hauptrollen, mit unendlich vielen Verkleidungen und Maskierungen reichlich kompliziert, obwohl es eigentlich nur um die eine Sache geht: Wie finde ich einen Partner für die nächste Nacht. Damit sich recht viele Besucher angesprochen fühlen, gibt es Dänen (eigentlich Schweden), Brasilianer, Tiroler, Preußen, viele Damen aus Marseille, und so vielseitig wie die Nationalitäten sind auch die Professionen u.a. der drei Diven: Gräfin, Handschuhmacherin und Prostituierte.

In französischer Originalsprache gibt es viele Aufnahmen, maßstäblich die von 1959 mit Jean-Louis Barrault und 1976 mit Regine Crespin und Michael Sénéchal, in deutscher Sprache mit Dallapozza, Holm und Rothenberg oder mit Schramm, della Casa. Hallstein, Schock, Unger und de Kowa, was zeigt, dass das Werk sowohl mit Opernsängern wie mit Schauspielern, oder besser noch, mit Angehörigen beider Berufe aufgeführt werden kann.

Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um den gelungenen Versuch des verdienstvollen Venezianer Palazzetto Bru Zane, die Version, die dem französischen Zensor 1866 vorgelegt worden war, wieder herzustellen. Die besteht aus fünf Akten, die Aufführung dauert immerhin drei volle Stunden. Die Produktion trat in den letzten Jahren zunächst ihren Siegeszug durch französische Häuser an, wurde aber auch bereits auf Arte gezeigt und ist nun bei Naxos als Blu-ray erschienen.

Nicht verwunderlich ist bei einem Ausstatter namens Christian Lacroix, dass besonders die Kostüme Aufmerksamkeit erregen. Für sie wird ein ungeheurer Aufwand betrieben, was Stoffmassen, in denen die Damen fast ertrinken, was Farbigkeit, in der Herren fast als blasse Schemen erscheinen, betrifft, wahre Wunderwerke der Kostümbildnerei und  einem seltsamen Hang zu Kariertem frönend. Auch das Bühnenbild ist bemerkenswert, vor allem durch einen Fahrstuhl, der die Bühne um eine Dimension erweitert, aber auch durch kostbar erscheinende Gobelins oder eine phantasievolle Möblierung. Die Figuren, weiß geschminkt, scheinen Stummfilmen entsprungen zu sein, sind liebenswert bleibende Karikaturen, und nicht nur in der Komischen Oper Berlin gibt es Balletttänzer in Korsett und Tutu. Für Diverses ist also auch gesorgt. Urkomisch ist es, wenn sich in der turbulenten Nacht entstehende Menschenknäuel am nächsten Morgen mühsam zu entwirren versuchen, oft noch im letzten entscheidenden Moment entsteht nicht befürchteter Klamauk, sondern es wandelt sich alles ins sympathisch Komische.

 Romain Dumas führt Les Musiciens du Louvre souverän durch die Vorstellung, besonders die Vorspiele vereinen Eleganz und Esprit miteinander. Mit hübschem Soubrettenstimmchen und darstellerischer Souveränität ist Sandrine Buendia die Baronin, urkomisch als Ungetüm von Fell und Haaren und mit präsentem Bariton Franck Leguérinel ihr Gatte. Die Lebemänner Gardefeu und Bobinet werden von Rodolphe Briand mit schmalem, aber prägnantem Tenor und Marc Mauillon mit präsentem Bariton rollendeckend auf die Bühne gebracht. Jodie Devos hat einen spritzigen Koloratursopran für die muntere Gabrielle, Aude Extrémo  einen aparten Mezzo und eine charmante Erscheinung für die Métella, urkomisch ist Ingrid Perruche als Madame de Quimper-Karadec, der Tenor Éric Huchet ist nicht nur Brasilianer, sondern auch Frick und Gontran. Deftig-charmant sind die drei Zofen Elena Galitzkaya, Louise Pingeot und Marie Kalinine. Die tiefen Töne wissen sich mit denen von Laurent Kubla zu behaupten (Urbain, Alfred), die hohen mit Carl Ghazarossian ( Joseph, Alphonse, Prosper). Der Choeur de chambre de Namur tobt sich darstellerisch und musikalisch aus. Eine französische Fledermaus empfiehlt sich für amüsante Silvestervorstellungen (Naxos BD01633). Ingrid Wanja   

Rossini-Feuerwerk

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Das Dramma giocoso L’Italiana in Algeri vom 19. Februar 2022 von Glossa stammt live aus dem Concertgebouw Amsterdam (GCD 921132, 2 CDs). Die Aufnahme bezieht ihren Stellenwert vor allem aus der Mitwirkung des Orchestra of the Eighteenth Century unter Leitung von Giancarlo Andretta. Das Klangbild des Mitschnitts ist sensationell, denn der Dirigent feuert das Orchester zu Atem beraubenden Tempi an. Lange hat man die Ensembles und Finali nicht derart sprühend und mitreißend gehört. Und das Orchester begeistert schon in der Sinfonia mit federndem Spiel und spannender Steigerung. Alle Sänger haben hohen Anteil an dieser faszinierenden Deutung, indem sie die Tempovorgaben des Dirigenten übernehmen und perfekt umsetzen. Ein Paradebeispiel ist das Settimino mit Stretta im 1. Finale, das sich von pianissimo getupften Tönen zu einem konfusen Wirbel und grotesken Nonsens-Lauten steigert, dabei Fahrt in prestissimo-Dimensionen aufnimmt.

In der Besetzung gibt es einen prominenten Namen – Vasilisa Berzhanskaya als Isabella, also der Titelrolle. Die Sängerin hat sich als Rossini-Interpretin bereits international einen Namen gemacht, und so waren an ihren Auftritt hohe Erwartungen geknüpft. Nach meinem Ermessen erfüllt sie diese nicht, klingt zu verhalten in der Tongebung und kann Vergleichen mit ihren illustren Rollenvorgängerinnen Marilyn Horne, Agnes Baltsa, Lucia Valentini Terrani und Ewa Podles nicht standhalten. Schon ihrer Auftrittskavatine, „Cruda sorte!“, fehlt es an Energie. Der Gesang ist delikat, das dunkle, herbe Timbre durchaus reizvoll – Vorzüge, die der Kavatine im 2. Akt, „Per lui che adoro“, gut anstehen würden, aber auch diese klingt wie vieles einfach nur markiert. Den besten Eindruck im Rahmen ihrer eigenen Interpretation hinterlässt sie mit bravouröser Koloratur in ihrem finalen Rondo ,Pensa alla patria“, dennoch hat man auch diese Nummer von anderen Sängerinnen noch weit eindrucksvoller gehört.

Eine Überraschung ist dagegen der junge Tenor Alasdair Kent als Lindoro, der schon in seiner Auftrittskavatine „Languir per una bella“ mit schmeichelndem Klang und zärtlicher Empfindung auf sich aufmerksam macht. Den schnelle Schlussteil der Nummer singt er mit Verve, geschmackvollen Verzierungen und auftrumpfenden Spitzentönen. In die Extremhöhe führt ihn die Kavatine „Oh, come il cor di giubilo“ und ist zudem höchst anspruchsvoll durch das vertrackte Zierwerk. Kent bewältigt diese Herausforderungen bravourös. Überzeugend besetzt ist auch der Mustafa, die andere zentrale Partie des Werkes, mit dem Bassbariton Ricardo Segel. Das köstlich sprudelnde Duettino mit Lindoro „Se inclinassi a prender moglie“ macht er gemeinsam mit dem Tenor zu einem hinreißenden Geschwindmarsch. Seiner Aria „Già d’insolito ardore nel petto“ gibt er mit prägnanter Koloratur und resoluter Stimmführung markantes Profil.

Auch in den beiden Baritonrollen der Oper, Haly und Taddeo, sind mit José Coca Lola und Pablo Ruiz solide  Interpreten zu hören. Letzterer kann in Taddeos Arie „Ho un gran peso sulla testa“ durch buffoneske Tonmalerei brillieren, ersterer in der Aria „Le femmine d’Italia“ gekonnt mit den hüpfenden Tönen jonglieren. Und er macht gemeinsam mit Lindoro und Mustafa das Terzett „Pappataci!“ zu einem großen Vergnügen.

Die Besetzung komplettieren die Sopranistin Lilian Farahani als Elvira und die Mezzosopranistin Esther Kuiper als Zulma. Sie und der Chor (La Cetra Vokalensemble Basel unter Leitung von Federico Sepúlveda) geben den Introduzioni zum 1. und 2. Akt markante Kontur. Und sie führen gemeinsam mit allen Interpreten das Finale II zu einem turbulenten Abschluss des singulären Werkes (14. 03. 23). Bernd Hoppe

Ein ténor de grace à la française

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So romantique! heißt das neue Recital des Tenors Cyrille Dubois bei ALPHA-CLASSICS (924). Aufgenommen in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane im Juli 2021 in Lille, enthält es französische Opernarien, die zwischen 1820 und 1900 entstanden und für einen ganz bestimmten Stimmtyp geschrieben wurden. Es ist der ténor de grace, die französische Variante des italienischen tenore di grazia.  Sänger dieser Gattung bedienten vor allem das Repertoire der Opéra comique. Ihre Stimmen zeichnen sich durch ein helles, geschmeidiges Timbre und eine leichte, strahlende Höhe aus. Diese Merkmale charakterisieren auch den Solisten des Recitals. Er singt Händel, Mozart und Belcanto-Partien, spezialisiert sich aber vor allem auf das französische Fach. Einfühlsam begleitet wird er vom Orchestre National de Lille unter Leitung von Pierre Dumoussaud.

Älteste Komposition der Anthologie ist die Cavatine des Georges, „Viens, gentille dame“, aus François-Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825). Der Tenor beginnt sie verträumt, um sie dann überschwänglich zu steigern und ganz entrückt enden zu lassen. Boieldieus Modell führte Daniel-François-Esprit Auber weiter. Das Air des Fabio „Asile où règne le silence“ aus dessen La Barcarolle (1845) eröffnet das Programm. Mit Rezitativ, Cantabile und schnellem, rhythmischem Schluss, der italienischen stretta vergleichbar, ist diese Nummer typisch für ein romantisches grand air. Die Stimme des Tenors klingt hier besonders weich und schmeichelnd, trumpft am Ende bei den Spitzennoten gehörig auf.

Verdienstvoll ist die Zusammenstellung der CD, welche viele Raritäten enthält, so die Romance des Alvar, „Combien de fois j’ai revé d’elle“ aus Benjamin Godars Pedro de Zalamea (1884), die Romance du sommeil, „Revons qu’un plus beau jour“, des Titelhelden aus Louis Clapissons Gibby la cornemuse (1846) oder das Air des Haydn, „Viens, o mélodie“, aus Charles Luce-Varlets L’élève de Presbourg (1840). Da hört man schwärmerische, elegische, melancholische, zärtliche, sehnsuchtsvolle Klänge und feine Kopftöne.

Natürlich finden sich auch bekannte Namen auf der Liste der Komponisten, nicht immer aber Ausschnitte aus dessen populären Werken. So ist von Ambroise Thomas nicht nur die bekannte Mélodie des Wilhelm, „Adieu, Mignon“, aus der nach Goethe entstandenen Mignon (1866) in einer sanften, traumversunkenen Wiedergabe zu hören, sondern es ergibt sich auch die Bekanntschaft mit seiner Komposition Le roman d’Elvire (1860), aus der das emphatische und exponiert notierte Air des Gennaro, „Supreme puissance“, erklingt, und mit seinem Raymond von 1851, aus dem die Cavatine des verzweifelten Titelhelden, „Point de pitié“, zu hören ist. Auch bei Charles Gounod wählte der Sänger nicht dessen Faust, sondern Le médecin malgré lui (1858) und daraus das narrative  Fabliau des Léandre „Je portais dans une cage“. Da die dramatischen Tenorpartien des Eléazar in Fromental Halévys La Juive und die des männlichen Titelhelden in Camille Saint-Saëns’ Samson et Dalila einen ganz anderen Tenortyp verlangen würden, wählte Dubois von Halévy Les mousquetaires de la reine (1846) mit dem inbrünstigen  Couplet des Olivier, „Enfin un jour plus doux se lève“, und von Saint-Saëns Le timbre d’argent (1864) mit der Mélodie des Bénédict, „Demande à l’oiseau“.

Von Georges Bizet findet sich die nicht ganz unbekannte Oper La jolie fille de Perth (1867) mit dem erregten Air des Smith „O cruelle!“, von Léo Delibes seine populäre Lakmé (1883) mit dem  ekstatischen Air des Gérald „Fantaisie aux divins mensonges“. Ein wirklicher Hit ist dagegen die Cavatine des Tonio, „Ah! mes amis“, aus Gaetano Donizettis La fille du régiment (1840) mit ihrer Serie von hohen C’s. Hier muss sich der Interpret großer Konkurrenz stellen, macht aber gute Figur mit einem leidenschaftlichen Entrée, dem schwelgerischen „Pour mon ame“ und sicheren Topnoten. Zum Schluss nochmals eine Rarität mit der Romance  des Donatien, „Adieu, toi ma pauvre mère!“ aus Louis Clapissons Le code noir (1842), mit der dieses bemerkenswerte Recital noch einmal die Vorzüge der Stimme herausstellt und wirkungsvoll endet (10. 02. 23). Bernd Hoppe

Ersteinspielung

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Als Weltpremiere veröffentlicht DYNAMIC als Blu-ray Disc Nicola Porporas Serenata L’Angelica (57936). Die Aufnahme stammt vom Festival della Valle d’Itria in Martina Franca und wurde Ende Juli/Anfang August 2021 im Palazzo Ducale produziert. Gianluca  Falaschi verantwortete die Produktion als Regisseur und Ausstatter, unterstützt vom Choreografen Mattia Agatiello.

Mit Federico Maria Sardelli steht ein Spezialist für Alte Musik am Pult des auf historischen Instrumenten musizierenden Ensembles La Lira di Orfeo. Das garantiert einen authentischen Klang, der schon in der Sinfonia zu vernehmen ist. Sie tönt zunächst gravitätisch und dann lebhaft. Leider wird sie vom Regisseur in Szene gesetzt – an einer festlich gedeckten Tafel nehmen die Personen der Handlung Platz und heben das Glas auf das Wohl aller Anwesenden. Hinter der Tafel, an der sich bis zum Schluss das Geschehen abspielt, befindet sich eine mattierte Glaswand, hinter der Tänzer in erotischen Szenen zu sehen sind. In Tiermasken agieren sie halbnackt später auch auf der Szene in sexuellen Spielarten aller Art.

Das Libretto von Pietro Metastasio erzählt die Geschichte von Angelica und Medoro, in die der Dichter Passagen aus dem Orlando furioso eingebunden hat, endend mit dessen Wahnsinnsszene. Zu diesen Charakteren gesellen sich noch der Schäfer Titiro, seine Tochter Licori und ihr Geliebter Tirsi.

Prominenteste Vertreterin der von Sängerinnen dominierten Besetzung ist die italienische Mezzosopranistin Teresa Iervolino – Festival erprobt in Salzburg und Pesaro – als Orlando. Mit dem Rezitativ „Pur ti raggiungero“ hat sie im roten Anzug einen fulminanten Auftritt mit einer Stimme von maskuliner Energie und starkem Nachdruck.  Mir der folgenden Aria „Dal mio bel sol lontano“ kann sie die samtene Beschaffenheit ihrer Stimme besonders  heraus stellen. „La bella mia nemica“ im zweiten Teil imponiert durch den resoluten Vortrag. Mit „Mi provera spietato“ hat sie dann auch ein (leider nur kurzes) Bravourstück. Ihr gehören zudem die beiden letzten Soli des Werkes: das erregte, konfuse „Da me che volete“ und – verbunden durch ein verwirrtes Rezitativ – das entrückte „Aurette, leggiere“, welches in seinen Stimmungen jäh umschlägt. Iervolino wird diesem differenzierten Anspruch imponierend gerecht. Ekaterina Bakanova ist die Titelheldin. Ihr fällt mit der Aria „Mentre rendo a te la vita“ das erste Solo des Werkes zu – ein getragenes Stück von reicher Empfindung. Sie singt es mit lyrischem, obertonreichem Sopran. Durch koketten Ausdruck fällt ihr „Costante e fedele“ auf. Mit „Quel cauto nocchiero“ hat sie im zweiten Teil eine virtuose Gleichnisarie vom bedrohten Steuermann, was die Tänzer mit Quallengebilden in den Händen illustrieren. Ihr folgt Paola Valentina Molinari als Medoro mit „La tortura innocente“. Es ist die erste Arie in der typisch virtuosen Manier Porporas und die Sängerin absolviert sie mit resolutem Sopran angemessen. Auch ihre nächste Aria, „Sopra il suo stelo“, fällt in diese Kategorie und wird gleichfalls überzeugend bewältigt. Den ersten Teil des Werkes beschließen Angelica und Medoro mit dem Duett „Se infida tu mi chiami“, in welchem sich die beiden Stimmen ausgewogen verbinden. Nach einer stürmischen Sinfonia, die den zweiten Teil einleitet, hat Medoro mit „Quell’umidetto ciglio“ auch dessen erstes Solo und kann mit tiefer Empfindung aufwarten.

Mit dem Bariton Sergio Foresti als Titiro findet sich in der übrigen Besetzung noch ein bekannter Name. In seiner Auftrittsarie „Folle chi sa sperar“ trumpft er mit reifer, gelegentlich auch dumpfer Stimme auf. Reicher Hörnerklang begleitet seine Aria „Non cerchi innamorati“, in welcher er mit starker Autorität aufwartet. Die Sopranistin Barbara Massaro ist seine Tirsi mit heller Stimme und die Mezzosopranistin Gala Petrone seine Tochter Licori. Ihr Auftritt mit dem verschatteten „Ombre amene“ ertönt gebührend verhalten, das „Se i rai del giorno“ im zweiten Teil klangreicher. Am Ende werden die Sänger in ihrem Mix aus Rokoko-Kostümen und moderner Alltagskleidung vom Publikum herzlich gefeiert. Bernd Hoppe

Aus der Komischen Oper Berlin

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Fast auf den Tag genau 87 Jahre nach ihrer Uraufführung im Berliner Admiralspalast wurde in einer rekonstruierten und neu arrangierten Fassung, denn die Orchestrierung ging in den Kriegswirren verloren, Jaromir Weinbergers Operette Frühlingsstürme in der Komischen Oper aufgeführt. Am 20. Januar 1933 war das Stück erfolgreich uraufgeführt worden, das dem Tenor Richard Tauber auf die Stimmbänder komponiert worden war, der nach der Vorstellung vor dem Hotel Kempinski am Kurfürstendamm von SA-Schlägern niedergeschlagen wurde. Der Komponist und sein Star verließen Deutschland, auch Weinbergers Oper Schwanda der Dudelsackpfeifer, in der Spielzeit 29/30 die noch vor Carmen oder Zauberflöte meistgespielte Oper in Deutschland, verschwand von den Spielplänen, Frühlingsstürme wurde noch einige Male in tschechischer Sprache aufgeführt, zum letzen Mal 1947 in Ostrava.  Aus dem Jahr 1933 gibt es einige Aufnahmen von Arien und Duetten, allerdings hat hier Tauber nicht seine Bühnenpartnerin Jarmila Novotná zur Seite und diese an seiner Stelle den Tenor Marcel Wittrich.

Das Libretto von Gustav Beer ist der Nachwelt überliefert worden, weist allerdings die genreüblichen Schwächen mit Herz-Schmerz-Reimen auf wie „sollst mein Leben hold umschweben“ oder Holprigem wie „darf ich sie nicht begehren, wozu wär‘ solches gut“, ansonsten neigt sich das Werk eher dem Genre tragische Operette zu, denn es gibt kein happy end zwischen den Komponenten des Hohen, sondern nur des  Buffo-Paars, stattdessen ein Sichfügen in die Gegebenheiten, eine aus einem Irrtum entstandene Ehe für den Tenor, für die Diva das Bündnis mit dem alternden General, dem sie einst das (falsche) Lösungswort „Frühlingsstürme“ entlockte, um ihrem Geliebten die Flucht aus dem feindlichen Lager zu ermöglichen. Die Darstellung der Handlung nahm im Programmheft der Komischen Oper zwei volle Seiten in Anspruch, was für eine Operette bedenklich ist, auch damit zusammenhängt, dass sie auf tatsächliche historische Ereignisse, den japanisch-russischen Krieg von 1905 und die darauf folgenden Friedensverhandlungen, zurückgreift.

Trotz all dieser nicht gerade optimalen Voraussetzungen war der Komischen Oper wieder ein zumindest in großen Teilen praller Operettenabend gelungen, den Naxos jetzt als DVD vorstellt. Da ist ein Wehrmutstropfen nur, dass ausgerechnet der  Beginn sich mit einer langen Sprechszene für die Lagebesprechung im russischen Hauptquartier in der Mandschurei ungewöhnlich zäh dahinzieht.  Einen Kontrast dazu bieten die frech-fetzigen, manchmal zu klamaukhaften Szenen des Buffopaars, der aufmüpfigen Generalstochter Tatjana und des deutschen Skandaljournalisten Roderich Zirbitz, der sich auch als Koch oder Zauberkünstler verkleidet, um an seine Stories zu gelangen. So richtig in die Operettengänge kommt die Geschichte, wo sie sich fein über die Gattung lustig macht mit Damenballett (Choreographie Otto Pichler) mit riesigen Schwanenfederfächern, Revuetreppe in rosigen Farben und einem Starkregen von roten Papierherzchen. Nicht nur die Tänzerinnen bekamen in vielen ganz unterschiedlichen Funktionen, Chinapüppchen oder blasierte Hotelgäste, die allerschönsten Kostüme von Dinah Ehm verpasst. Der andere große Pluspunkt ist der Darsteller der reinen Sprechrolle des heiratslustigen, wenn auch bereits von Altmännerproblemen geplagten Generals Katschalow, Stefan Kurt, für den sich Regisseur Barrie Kosky eine Fülle herrlicher Szenen ausgedacht hatte, so das Musizieren auf dem verführerisch ausgestreckten Bein der angebeteten Lydia, den Streit zwischen hochfliegenden Liebesgedanken und viel tiefer liegenden Misshelligkeiten, den inneren Kampf zwischen Erzieherstrenge und Vaterliebe. Ihm galt dann auch, trotz eines schlimmen eingelegen „Kuda, kuda“ der herzlichste Beifall des Publikums.

Auf leerer schwarzer Bühne  (Klaus Grünberg) ist ein riesiger wandelnder Kubus zu bestaunen, der sich zu Schauplätzen wie Vorzimmer zum Ballsaal oder Hotelhalle öffnen kann und durch eine Unzahl von Türen Auftritts-, Flucht- und Versteckmöglichkeiten ohne Zahl bietet. Da bedarf es dann nur weniger Requisiten wie zweier auch als Versteck dienender Palmen, um die passende Atmosphäre zu schaffen.

Die Komische Oper kann auch eine Operette bestens mit Kräften aus dem eigenen Ensemble besetzen. So die zwielichtige Lydia mit der bildschönen, mit leichtem, aber farbigem, in der Höhe reich aufblühendem Sopran bedachten Vera- Lotte Boecker, mit Alma Sadé, die die flippige Tatjana hinreißend spielt und deren Sopran an Frische nichts einbüßt, obwohl sie häufig fürchterlich kreischen muss. Eine kurze und dazu gesangslose Rolle hat Martina Borroni als Gattin des Helden und kann trotzdem berühren. Dieser ist mit Tansel Akzeybek rollengerecht besetzt, bringt das exotische Element als Ito und dazu einen timbreschönen, mitreißend höhensicheren Tenor in die Produktion. Dominik Köninger windet sich schlangengleich durch seine Partie als newssüchtiger Roderich und singt dazu hinreißend mit markigem Bariton. Tino Lindenberg und Luca Schaub lassen als russische Offiziere in schmucker Uniform weibliche Herzen für das Militär schlagen. Ihr unrühmliches Ende zwölf Jahre später blendet man besser aus.

Viel Verdienstvolles ist  Norbert Biermann zu verdanken, der aus Klavierauszügen, Schlagerheftchen, wenigen originalen Orchesterstimmen und Platten-Aufnahmen und nach dem Studieren des Schwanda eine Rekonstruktion und Arrangements schuf, die in ihrer Raffiniertheit, Klangschönheit und ihrem musikalischen Reichtum vom Orchester der Komischen Oper unter Jordan de Souza voll zur Geltungsgebracht wurden und damals Appetit machten auf die Premiere von „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ im folgenden März. Die erhoffte generelle Renaissance der Werke des Komponisten allerdings blieb aus (Naxos 2.110677-78). Ingrid Wanja  

Kenneth Montgomery

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Mit großem Bedauern lasen wir vom Tode des britischen Dirigenten Kenneth Montgomery OBE (28. Oktober 1943 – 5. März 2023). Viele seiner Aufnahmen, ob nun offizielle oder (überwiegend) inoffizielle vom Radio zieren die Sammlungen der Musikfreunde, vor allem die Früchte seiner Arbeit in Amsterdam, wo er lange Jahre für herausragende Aufführungen sorgte. Ob nun Johann Christian Bach (sein Amadis gehört zu meinen absolute Lieblingsaufnahmen) oder Händel, Donizetti et al: Seine energische, dichte Orchesterbehandlung, sein Drive und sein Verständnis für die Musik zeichnen alle seine Dokumente aus. Mit seinem Tod ist die Musiklandschaft ärmer geworden. G. H.

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Dazu nun die englische Wikipedia: Als einziges Kind von Lily und Tom Montgomery wuchs er in Wandsworth Parade, Belfast, auf und besuchte die Royal Belfast Academical Institution. Sein Musikstudium absolvierte er am Royal College of Music. Er studierte bei Adrian Boult und setzte später seine Dirigierstudien bei Hans Schmidt-Isserstedt, Sergiu Celibidache und Sir John Pritchard fort. Zu seinen ersten Engagements als Dirigent gehörte die Arbeit an der Glyndebourne Festival Opera, wo er als Assistenzdirigent, Assistenz-Chorleiter und Probenpianist tätig war. Später gehörte er dem Dirigentenstab der Sadler’s Wells Opera an.

Im Jahr 1973 wurde Montgomery Musikdirektor der Bournemouth Sinfonietta. Von 1975 bis 1976 war er Musikdirektor der Glyndebourne Touring Opera und blieb dem Ensemble als Gastdirigent erhalten. 1985 wurde er sowohl künstlerischer als auch musikalischer Leiter der Opera Northern Ireland. Beim Ulster Orchestra war Montgomery als erster Gastdirigent tätig, und im September 2006 ernannte ihn das Orchester mit Wirkung vom September 2007 zu seinem Chefdirigenten – der erste in Belfast geborene Musiker, der zum Chefdirigenten des Orchesters ernannt wurde. Er beendete seine Tätigkeit als Chefdirigent des Ulster Orchestra am Ende seines Dreijahresvertrags im Jahr 2010.

Außerhalb des Vereinigten Königreichs wurde Montgomery 1975 zum Chefdirigenten des Niederländischen Radio-Sinfonieorchesters ernannt und bekleidete dieses Amt von 1985 bis 1989 auch unter dem neuen Namen Netherlands Radio Symphony. Später wurde er zum Leiter des Niederländischen Rundfunkchors (Groot Omroepkoor) ernannt. Im Jahr 1991 wurde er Leiter der Opernstudien am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Er lebte weiterhin in den Niederlanden, wo er im Jahr 2023 starb.

Ab 1982 war Montgomery regelmäßiger Gastdirigent an der Santa Fe Opera (SFO).  Im Mai 2007 ernannte die Santa Fe Opera Montgomery zu ihrem Interims-Musikdirektor als Nachfolger von Alan Gilbert. Montgomerys Amtszeit als Interims-Musikdirektor endete nach der Spielzeit 2007 mit der Ernennung von Edo de Waart zum Chefdirigenten der SFO mit Wirkung vom 1. Oktober 2007. Im April 2013 wurde Montgomery zum Ehrendirigenten der SFO für die Spielzeit 2013 ernannt.

Montgomery wurde bei den Neujahrsehrungen 2010 zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt. Er starb am 5. März 2023 im Alter von 79 Jahren. (Foto kennethmontgomery.net)

Schlammschlacht bei Wagners

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Ist es ein Zufall, dass in so kurzer Zeit gleich zwei Biographien über zwei Wagner-Frauen erschiene? Über Cosima W. (wenngleich diese nun mehr als vielfach in Biographien porträtiert wurde) und ihre Tochter Isolde. Es macht nach unserer Meinung Sinn, die beiden Bücher in einer Präsentation zu besprechen, war doch die Beziehung zwischen beiden problematisch. G. H.

So schreibt der herausgebende Suhrkamp Verlag mundig:(…) „Cosima wollte für ihre Tochter nur das Beste – nämlich eine gute Partie. Die war der Musiker und Dirigent Franz Beidler, den Isolde im Dezember 1900 heiratete, nicht. Ihm fehle die »vornehme Gesinnung« – so Cosima, die ihn vom Bayreuther Hügel verbannte. Isolde rächte sich, als sie der Mutter zukommen ließ, ihr geliebter Sohn Siegfried sei homosexuell – damals ein schweres Vergehen. Die Folge: Isolde wurde die Herkunft als Tochter Richard Wagners aberkannt und ihr Sohn damit enterbt. Eine beispiellose Schlammschlacht begann.“ 

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Vor zehn Jahren befasste Eva Rieger sich mit dem Schicksal der Wagner-Enkelin Friedelind, nun ist ihr neuestes Buch erschienen und ist der Wagner-Tochter Isolde gewidmet (Isolde – Richard Wagners Tochter im Insel Verlag). Beiden Nachkommen gemeinsam ist der ihr gesamtes Leben überschattende Zwist mit den in Wahnfried ansässigen und die Festspiele leitenden Wagners, beiden gemeinsam ist aber auch die offensichtliche künstlerische Begabung, die Isolde nie ausbilden, geschweige denn vor den Augen der Welt offensichtlich machen konnte, während Friedelind, eine Generation weiter, eher an ihrer Unfähigkeit , mit Geld umzugehen, scheiterte. Während Friedelind um ihr Erbe kämpfte, stritt Isolde um den Namen Wagner. Während sie gezeugt wurde, war ihre Mutter Cosima bereits die Geliebte Wagners, lebte aber noch, wenigstens zeitweise, mit ihrem Gatten, dem Dirigenten Hans von Bülow, unter einem Dach. Auch ihre Geschwister Eva und Siegfried wurden geboren, ehe Cosima und Richard einander heiraten konnten, die Eintragung Siegfrieds beim Standesamt wurde erst nach der Scheidung und Wiederverheiratung Cosimas vorgenommen.

Das Buch von Eva Rieger liest sich wie ein spannender Roman, genügt aber streng wissenschaftlichen Ansprüchen, indem er im Wesentlichen aus Briefen, Zeitungsartikeln, Bekenntnissen besteht, die geschickt zu einer fortlaufenden Handlung miteinander verknüpft werden und so das Werk zu „Eine(r ) unversöhnliche(n) Familiengeschichte“ machen. Geht es einmal ins Reich der Spekulation, dann wird das auch mit einem „vielleicht“ betont. Da gerät der Leser immer wieder ins Staunen darüber, wie viel Schriftliches die damalige Generation verfasste, aufbewahrte und damit der Nachwelt zukommen ließ. Bewundernswert ist auch die Beherrschung der Sprache, die manchen Brief geradezu zu einem literarischen Kunstwerk werden lässt. Genauso bemerkenswert ist aber auch die Gefühlsseligkeit, ist das Pathos, das aus den Briefen zum heutigen Leser spricht, so dass er fast beschämt darüber ist, so tief in das Gefühlsleben fremder Menschen einzudringen, die ihm mit zunehmender gelesener Seitenzahl immer vertrauter werden.

Für Isolde scheint das Leben zunächst nur Positives bereit zu stellen, sie gilt als „Lieblingstochter“, als „wunderliches Wunderkind“, nach zwei Halbschwestern, deren Vater der ungeliebte von Bülow ist, als erstes in Leidenschaft empfangenes und mit Freude geborenes Kind Cosimas, wenn auch „nur“ ein Mädchen. Und so wird auch nur für den nach vier Mädchen geborenen Siegfried Wert darauf gelegt, dass er auch für das Standesamtsregister als Kind Wagners gilt.

Nicht nur die Wagner-Familie wird portraitiert oder portraitiert sich durch die überlieferten Zeugnisse selbst, auch viele berühmte Zeitgenossen wie natürlich der Großvater Franz Liszt oder Malwida von Meysenbug begegnen dem Leser, der natürlich, was die frühen Lebensjahre Isoldes betrifft, nur das akribisch aus Zeitzeugenberichten Herausgefilterte zur Kenntnis nehmen kann, der aber gerade darin die Redlichkeit der Verfasserin erkennt, die sich nicht in Spekulationen ergeht. Wenn sie einmal mutmaßt, Isolde habe eine Aufführung besonders genossen, dann lässt sich das durch die Zeichnungen, die die Wagner-Tochter Jahre später davon anfertigte, schon fast beweisen. Ein kleiner Exkurs, der nicht von der Autorin zu verantworten ist, stellt Siegfried über Brünnhilde, eine fragwürdige Parallele zum Verhältnis des Wagner-Sohnes zu seinen Schwestern ziehend.             

Die Autorin Eva Rieger/ Wikipedia

Erfreulich ist auch der umfangreiche Bildteil, in dem auch Isoldes Kostümentwürfe für die Blumenmädchen in Parsifal zu sehen sind und der beweist, dass sie nicht nur die begabteste, sondern auch die attraktivste der vier Cosima-Töchter war. Ein bisschen dünn ist die Beweislage für die Behauptung, Isolde „blieb… unbeirrt in ihrer Suche nach einem Lebensinhalt“, und deutet sich bereits das nächste Buch von Rieger mit folgendem Absatz an:“Die schwärmerische Idealisierung von Diven durch homosexuelle Männer ist ein Phänomen, das bislang wissenschaftlich nicht eindeutig erklärt werden kann“?

Sehr bald taucht am Horizont mit Houston Chamberlain eine verhängnisvolle Figur auf, der nacheinander der verwitweten Cosima, Isolde und, schließlich mit Erfolg, Eva den Hof macht und einen extremen Antisemitismus in das ohnehin nie den Juden zugetane Wahnfried bringt. Noch ist das Verhältnis zwischen Cosima und Isolde gut, bittet die Tochter die Mutter, ihr bei der „Wegfindung“ zu helfen. Sie heiratet den Dirigenten Franz Beidler, der, selbst hochbegabt, dem angeblichen Genie Siegfried, weder dem Komponisten noch dem Dirigenten, angemessen huldigen mag und deshalb aus dem Festspielhaus verbannt wird, in Russland, England oder Spanien sein Auskommen suchen muss. Da ihm Isolde dorthin nur selten folgt, gibt es einen interessanten Briefwechsel zwischen den beiden Gatten, von dem das Buch profitieren kann. Zum endgültigen Bruch und um einen Prozess um den Namen Isoldes kommt es, nachdem die Homosexualität Siegfrieds ins Spiel gebracht wurde, ihre Gegner Isolde am liebsten in eine Nervenklinik einweisen lassen würden. Das empört die Autorin so sehr, dass sie sich zu einem unbewiesenen „Das (die Offenlegung der Homosexualität Siegfrieds) hätte Isolde niemals zugelassen“, hinreißen lässt. In diesem Konflikt sieht die Verfasserin und sie belegt es eindrucksvoll, entgegen der bisherigen Meinung nicht nur ein „erbrechtliches Kalkül“, sondern den Versuch, den Sohn Isoldes generell von der Erbfolge auszuschließen. Schließlich war er bis zur späten Ehe Siegfrieds und der Geburt Wielands der einzige Enkel Wagners.

Was am Schluss des Buches die Zuordnung von Kaiserreich und Nazizeit zum Männlichen, der Weimarer Republik zum Weiblichen soll, ist nicht ganz auszumachen und eigentlich überflüssig, mindert aber den Wert des Werks nur geringfügig. Bibliographie, Abkürzungsverzeichnis, Bildnachweise, Personenregister, Stammtafel und Bilderverzeichnis vervollständigen den Band (Eva Rieger: Isolde – Richard Wagners Tochter, Insel Verlag 2022, 345 Seiten, ISBN 978 3 458 64292 3). Ingrid Wanja 

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Dazu aber auch Achim Bahr von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft:  Ignoranz und Unwissenheit –  ein Beispiel dafür, wie durch Ignoranz und Unwissenheit gerade in Bezug auf Siegfried Wagner Fehler erzeugt und kolportiert werden, gibt Eva Rieger in ihrem neuen Buch: Isolde. Richard Wagners Tochter. Eine unversöhnliche Familiengeschichte. Darin zitiert sie aus einem Brief Isolde Beidlers an ihre Schwester Eva Chamberlain: »›Das war ein Müssen‹, war ›Herzensgebot‹!« und erläutert die Zitate [Plural!] in Fußnote 46: »Zitat [Singular!] aus Meistersinger, III. Akt.« Dies bezieht sich freilich nur auf das erste Zitat in dieser Briefstelle, das zweite erkennt sie gar nicht und verwechselt es anscheinend sowieso mit einer Stelle aus dem II. [!] Akt Meistersinger (»Lenzes Gebot, die süße Not …«). Sie weiß ganz offensichtlich nicht, dass es sich hierbei eindeutig um ein Zitat aus einer Oper von Siegfried Wagner handelt: STERNENGEBOT (op. 5, 1906), Schluss des 3. Aktes: Höher als aller Sterne Gebot waltet ein Zweites: Des Herzens Gebot! Der Kontext dieses zweiten Zitats würde Eva Rieger einen zusätzlichen Aspekt der Situation ermöglichen, die sie an dieser Stelle ihres Buches beschreibt, so aber weder verstehen noch einordnen kann. Achim Bahr (in Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft e.V., Bayreuth)

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Und nun die Rezension zu Sabine Zurmühls Buch Cosima Wagner-Ein widersprüchliches Leben im Böhlau-Verlag: Widersprüchlich ist das Wort im Untertitel von Sabine Zurmühls Cosima-Wagner-Biographie, das das Interesse an seiner Lektüre wachruft, und es ist dasjenige, dem man widersprechen möchte, wenn man seine Lektüre beendet hat. Nachvollziehbar ist immerhin, dass als Widerspruch zur  bedingungslosen Anbetung des musikalischen Genies die Emanzipation der  von einer hochadligen Mutter abstammenden Katholikin, die aus einer Ehe ohne Liebe ausbricht und Jahre lang in wilder Ehe mit einem Bürgerlichen lebt, gesehen wird. Auch ihre souveräne Leitung der Bayreuther Festspiele nach Richard Wagners Tod spricht für ihre tatsächliche Emanzipation, wobei das Widersprüchliche immerhin darin gesehen werden könnte, dass sie die Emanzipationsbestrebungen der Frauen in ihrer Zeit eher ironisch kommentierte, statt sie zu unterstützen.

Das Buch erweckt zunächst den Anschein, wie eine Oper gegliedert zu sein, beginnend mit der Ouvertüre,  aus den Kosenamen Wagners für seine zweite Frau bestehend. Das wird aber nicht durchgehalten, es folgen Kapitelüberschriften, meistens nur aus einem Wort bestehend, so „Schreiben“, „Kindersorge“ oder „Gesundheit“, innerhalb derer chronologisch vorgegangen wird. Souverän werden umfangreiche Zitate aus Briefen, Tagebüchern, Aussagen von Zeit- und Weggenossen mit den Kommentaren der Verfasserin ineinander verschränkt. Und auch Träume sind es wert, von Cosima dargestellt und von der Verfasserin in ihren Text aufgenommen zu werden. Das „atemlose Leben“ der Cosima scheint über weite Strecken eine Atemlosigkeit der Sprache der Autorin zu provozieren, ein Aufeinandertürmen von Gegensätzen, leidenschaftliche Formulierungen wie „ja, sie war“- und es folgen die Vorwürfe, die man der unehelich geborenen, gar nicht hübschen, später zu Karikaturen provozierenden Liszt-Tochter machte.

Einfühlsam beschreibt Zurmühl die Zerrissenheit zwischen Französisch- und Deutschsein, später eine bedingungslose Hinwendung zum eigentlich „nur“ zweiten Heimatland. Nicht ganz verleugnet wird die feministische Grundstimmung der Verfasserin, aber diese führt nie dazu, die bedingungslose Hingabe, ja Selbstaufopferung ihres Forschungsgegenstands ins Lächerliche zu ziehen. Man gewinnt stattdessen zunehmend mit dem Fortschreiten in der Lektüre den Eindruck, noch nie zuvor habe sich eine Biographin Cosima Wagners ihrem Forschungsgegenstand gegenüber so fair verhalten, so fern von Schönfärberei wie von Verunglimpfung. Sympathisch müssen der Autorin die vielen Freundschaften gewesen sein, die Cosima (Nach einigen Skrupeln nennt sie sie durchgehend so und nicht, wie es den Männern zugestanden wird, mit ihrem Familiennamen.) in einem reichen Briefwechsel pflegte.

Zwei Wagner-Partien spielten für Cosima und damit auch für Zurmühl eine besondere Rolle: Fricka und Kundry. Einmal war es die Faszination des Gegensatzes zwischen Regelbruch, wie ihn Wotan verkörpert, und Prinzipientreue, für die Fricka steht, der Cosima interessierte und nicht minder die Autorin, zum anderen der Weg Kundrys, der im Dienen Ziel und Ende findet.

Die Autorin Sabine Zurmühl/ Wikipedia

Anschaulich berichtet Zurmühl von der Gestaltung von Festen, so des Cosima-Geburtstags mit Aufführung des Siegfried-Idylls, der Selbstinszenierung, in der auch die Kleidung eine wichtige Rolle spielt. Es bleibt nicht bei einer Darstellung, einer Beschreibung, sondern es werden Schlüsse gezogen wie der, dass Cosima das apollinische, Richard das dionysische Prinzip verkörpere.

An anderer Stelle kommt Zurmühl zum überzeugenden Fazit:“Cosima gehört damit zu den nicht seltenen Frauen der Oberschicht, die tagespolitisches Engagement für  Frauenfragen strikt ablehnen, in ihrer Lebensrealität aber das Rollenmodell selbst verkörperten, das die Frauenbewegung für die Masse der Frauen erst fordern musste“. Wenn Cosima Rechte wahrnahm, so waren noch viel  zahlreicher die Pflichten, denen sie sich freiwillig unterwarf und die die Autorin eindrucksvoll schildert. Dazu gehörte die Erziehung und Bildung der fünf Kinder, die Führung des Haushalts, die Beherbergung zahlreicher Gäste, darunter auch des Vaters Franz Liszt, die Vorbereitung von häufigen Reisen und Umzügen, das Notenschreiben , die Pflege von Verwandten und Gästen, das Heranschaffen von Sponsoren und vieles mehr. Nach Wagners Tod kam noch die Führung der Bayreuther Festspiele dazu, wo sie Regie führte, sich um Bühnenbilder, Technik und alles weitere kümmerte.

Ambivalent ist ihr Verhältnis zu den Juden. Tendenziell ist sie Antisemitin, bedauert aber die Schrift Wagners gegen das Judentum, pflegt durchaus auch herzliche, vorbehaltlose Kontakte mit einzelnen Juden. „Ich habe die besten Freunde unter Juden“, ist von ihr überliefert. Besonders interessant und von Zurmühl detail- und kenntnisreich dargestellt ist die Beziehung zum Parsifal-Dirigenten Levi, ausführlicher Betrachtung wert die zum Schwiegersohn Chamberlain. 

Natürlich muss der Zorn Zurmühls Felix Weingartner treffen, der sich in hässlicher Überheblichkeit über Cosima äußert. Der Verfasserin hingegen kann man bescheinigen, dass ihr völlig das Bestreben abgeht, Cosima von der hohen Warte der besserwissenden Spätgeborenen her zu beurteilen. So enthält sie sich auch im Unterschied zu anderen Biographen jeglicher Spekulation darüber, wie Cosima zu Hitler stand.  Und so kann es geschehen, dass man nach dem Lesen des Buches, das von Fakten und Quellen ausgeht und nicht von einer vorgefassten, zu bestätigenden Meinung,  zu einem sehr viel positiveren Urteil über die Heldin des Werks bereit ist, als es vorher der Fall war.       

Ein Nachwort von Monika Beer, dazu ein nochmal 55 Seiten umfassender Anhang vervollständigen neben vielen interessanten Fotos das Buch (360 Seiten, 2022 Böhlau Verlag Wien, ISBN 978 3 205 21501 1). Ingrid Wanja (Foto oben Bernd Meyer Stiftung mit Dank)

Pluspunkt lange Fassung

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Aus Kostengründen entstehen immer seltener Aufnahmen kompletter Opern im Studio – WARNER CLASSICS bildet da eine rühmenswerte Aufnahme. Denn nicht nur die zahlreichen Aktivitäten auf dem Barocksektor beim Label Erato ragen da heraus, auch italienische Standardwerke werden produziert, wovon die Aida von 2015 mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann zeugt. Sie wurde mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom unter Antonio Pappano aufgenommen.

An diesem Ort entstand genau vor einem Jahr die Einspielung von Puccinis Dramma lirico Turandot, die nun auf zwei CDs veröffentlicht wurde (5054197406591). Wieder wirken das aus der Aida-Aufnahme bekannte Orchester und sein Dirigent mit. Ihre Besonderheit bezieht die Ausgabe aus Pappanos Entscheidung, das originale Finale des Komponisten Franco Alfano komplett aufzunehmen. Nach Puccinis Tod 1924 hatte er das Schlussduett zwischen Turandot und Calaf auf der Grundlage von Puccinis Skizzen vollendet. Dirigent Arturo Toscanini allerdings veranlasste ihn zu Änderungen und Kürzungen. In dieser amputierten Fassung wird die Oper heute zumeist aufgeführt. 1999 gab es einen Versuch des italienischen Komponisten Luciano Berio für eine neue Finallösung, die 2002 uraufgeführt wurde, sich aber nicht durchsetzen konnte.

Die prominente Besetzung der Neuaufnahme führt die Amerikanerin Sondra Radvanovsky an, die derzeit die Lady Macbeth am Liceu in Barcelona singt. Nach ihren Donizetti-Königinnen, der Norma, Medea, Manon Lescaut und Tosca erarbeitet sich die Sopranistin zielstrebig ein Repertoire, das ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit belegt. Sie legt die Prinzessin im Rahmen ihrer stimmlichen Möglichkeiten an, also nicht als hochdramatischer Sopran, sondern eher in der Nachfolge einer Sutherland und Caballé. Ihr Auftritt mit der fordernden Arie „In questa Reggia“ ist reich differenziert – von dunkler Glut, aber auch introvertierter Wehmut – und bestechend in der stimmlichen Fülle. In der Rätselszene, „Straniero, ascolta!“, klingt der Sopran zunächst geschärfter, nimmt aber zunehmend Töne der Verunsicherung an, gipfelnd in der inständigen und betörend gesungenen Bitte an ihren Vater, sie nicht diesem Fremden auszusetzen. Das Schlussduett „Principessa di morte!“ in der vollständigen Fassung Alfanos dauert nun fast zwanzig Minuten und ist eine vokale Herausforderung an die beiden Interpreten, gibt vor allem dem Kuss Calafs mehr musikalische Entfaltung. Radvanovsky lässt hier flirrende lyrische Töne vernehmen, welche die Verwirrung der Figur eindrücklich zeigen, muss aber dann eine hohe Tessitura bewältigen, was ihr gleichfalls souverän gelingt.

Wieder ist Jonas Kaufmann mit von der Partie, nach seinem Radamès nun als Calaf. Der Tenor singt mit zumeist wuchtiger Stimmgebung, klingt allerdings oft sehr guttural und gelegentlich auch erstickt. Das erste Solo, „Non piangere, Liù“, nimmt er anfangs sehr zurück und lässt erst am Ende starken Einsatz erkennen. Vehement ertönen seine Antworten auf Turandots Rätsel, doch der Spitzenton im Finale des 2. Aktes kann allenfalls als Angstschrei gewertet werden. Auch der populäre Hit „Nessun dorma!“ wirkt etwas forciert und könnte mehr Glanz haben. Das Schlussduett beginnt er in äußerster Erregung, offenbart auftrumpfend seinen Namen und singt gemeinsam mit der Titelheldin noch ein exponiertes  „Amore!“.

Antonio Pappano und Jonas Kaufmann bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ Warner/ youtube

Ein Trumpf der Besetzung ist die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als Liù. Bekannt für ihre expressiven Rollenporträts der Violetta, Angelica und Butterfly, bietet sie auch als unglückliche junge Sklavin ergreifende Momente von innigen, flehentlichen Gesängen. Ihre erste Arie, „Signore, ascolta!“, besticht durch den feinen Schimmer und wunderbar aufblühenden Schluss. Zu Herzen gehend und exquisit gesungen sind ihre Soli im letzten Akt („Tanto amore“ und „Tu, che di gel sei cinta“).

Bekannte Namen finden sich auch für die Nebenrollen – Michele Pertusi als reifer Timur und als große Überraschung Michael Spyres als Altoum. Der amerikanische Tenor, auf dem Höhepunkt seines Könnens und selbst ein potentieller Vertreter für den Calaf, ist eine Luxus-Besetzung für den alten Kaiser. Er verstellt seine Stimme bis zur Unkenntlichkeit und suggeriert mit ihr trefflich den schütteren Greis.

Mit gebührend schneidenden Akkorden eröffnet Pappano mit dem Orchester die Handlung. Michael Mofidian singt den Mandarino mit etwas dumpfem Bariton. Das charaktervolle Terzett der Minister bilden die Tenöre Gregory Bonfatti als Pang und Siyabonga Maqungo als Pong sowie der Bariton Mattia Olivieri als Ping. Mit starkem Einsatz und klangvollem Gesang bringt sich der Coro dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia (Piero Monti) ein. Pappano scheut nicht den Pomp und Bombast des monumentalen Werkes, bringt aber auch dessen musikalisches Raffinement und die reiche Farbpalette zu angemessener Wirkung. Bernd Hoppe

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PS: Nun gibt es kaum etwas zum ersten Mal. Und es wäre eine Unterlassung, erwähnte man nicht frühere Bemühungen um den originalen, ungekürzten Alfano-Schluss der Turandot. Denn die 1990 Aufsehen erregende CD von Josephine Barstow (Opera Finales bei Decca) enthielt unter Mitwirkung des italienischen Tenors Landon Bartolini eben diesen, sehr wirkungsvoll und Tenor wie Sopran in Bestform (für meinen Geschmack überzeugender als hier nun die Kollegen auf der neuen Warner-Aufnahme, aber de gustibus …).

Und unbekannt war Sammlern das Alfano-Finale nicht. Außer der Oper Bonn in den Neunzigern (Sophia Larson alternierte mit Linda Kelm) gab es die lange Fassung in Amsterdam 1993 (Linda Kelm und Nicola Martinucci, bei Sammlern), in Buenos Aires bereits 1983 (mit der unerschrockenen Adelaide Negri und Vincenzo di Bella, bei Sammlern), 1985 in Rom (mit Gwyneth Jones und Nicola Martinucci, bei Sammlern),  Athen ebenfalls 1983 (mit Giovanna Casolla und Alberto Cupido, bei Sammlern), 1985 in New York (City Opera, erneut Linda Kelm und John Frederic West, bei Sammlern), 1987 in Wien mit Gwyneth Jones und Giuliano Ciannella), 1997 in Bologna mit Jane Eaglen und Nicola Martinucci), 1989 an der Met (mit Eva Marton und Placido Domingo, auch als DVD), 2014 in Cagliari (Cristina Piperno und Frank Porretta), 2015 in Novara (mit Maria Billieri und Walter Fraccaro,  bei Sammlern), 2018 in Odessa (mit Tatjana Zakharchuk und Oleg Zlakoman,  bei Sammlern), und die Finnische Nationaloper schließlich 2019 (mit Satu-Kristina Vesa und Petri Vesa, Calàf Jukka Nykänen).

Sondra Radvanovsky bei den Aufnahmen zur „Turandot“/ youtbube/ Warner

Aber die neue Warner-Einspielung in für mich wattigem Sound ist in der Tat die erste Studio-Einspielung mit dem Alfano-Ende. Wenngleich unter schwierigsten Umständen eingespielt, was den unbefriedigenden Klang erklärt. Wie Dirigent Pappano im Booklet andeutet, ist diese Turandot in  der Tiefe der Corona-Krise in Italien entstanden. Italien war ja besonders betroffen, und die Leichen stapelten sich auch in Rom. Die Aufnahme in der großen Halle von Santa Cecilia war geplant und konnte (oder wollte? aus Kostengründen?) nicht abgesagt werden. Es gab Masken auf den Gesichtern (bei youtube gibt´s einen clip dazu), der Chor sang in einem getrennten Raum, die Solisten in Teilen ebenfalls. Was die Aufnahme umso schwieriger machte und den mulschigen Klang erklärt. Man kann sich fragen, ob die kommerziellen (und vertraglichen) Erwägungen dieser Aufnahme den Markt nicht unnötig verstopfen, denn so schnell wird keine weitere Firma einen Alfano-Schluss aufnehmen, der ja das eigentliche Verdienst dieser hochbesetzten Turandot ist…  G. H. 

Deutsch-Russisches von 1710

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Aus welchen Gründen die 1710 komponierte Oper Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron von Johann Mattheson in der Hamburger Oper am Gänsemarkt nicht aufgeführt wurde, ist ungeklärt. Gemutmaßt wird, dass der Komponist das Werk zurückgezogen habe oder dass die Aufführungsbedingungen im Opernhaus unzulänglich gewesen seien. So kam es erst am 29. Januar 2005 im Bucerius Kunst Forum Hamburg zur Uraufführung, von der ein Mitschnitt bei der Edition Musik Landschaften Hamburg auf drei CDs vorliegt. Rudolf Kelber leitete das auf historischen Instrumenten musizierende Cythara-Ensemble.

Jetzt bringt cpo eine Neuaufnahme des in Deutsch und Italienisch komponierten Werkes auf zwei CDs heraus (555 502-2), bei der ebenfalls ein historisch orientierter Klangkörper musiziert – das 2012 gegründete Jugendorchester THERESIA unter Andrea Marchiol. In der Ouvertüre und mehreren Instrumentalteilen  – Entrées, Sinfonie (von Reinhard Keiser), Bourrée (von Georg Philipp Telemann),  Menuett, Passepied –  zeigt er sein Gespür für den delikaten und spritzigen Stil der Musik Die Besetzung weist keine bekannten Sängernamen auf, ist aber von solider Qualität. Angeführt wird sie von dem Bassisten Olivier Gourdy in der Titelpartie. Seine  Auftrittsarie „Empor!“ stattet er mit energischem Aplomb aus und erweist sich auch als souverän in der Bewältigung der Koloraturläufe. Das zeichnet auch sein letztes Solo im 3. Akt, „Mi prepara il Ciel contento“, aus. Julie Goussot gibt seine Tochter Axinia mit gefälligem, leichtem Sopran. In der Aria „Son più dolci“ im 3. Akt gewinnt er noch an lyrischer Substanz. Auch Theodorus Iwanowitz, Großfürst von Moskau, ist eine Basspartie und Yevhen Rakhmanin singt sie mit profunder Stimme von weichem Klang. Davon profitiert auch die gewichtige Aria „Wer vergnüget herrschen will“ im 2. Akt.

Seine Gemahlin Irina ist die Sopranistin Flore Van Meerssche, der mit der Aria col Coro, „Hochbeglückte Zeiten“,  das erste Solo des Werkes zufällt. Sie singt es mit heller Stimme und intensivem Vortrag. Auch ihre wiegende Aria „Der Neigung widerspricht“ im 1. und die Aria „Per seguire vano piacere“ im 2. Akt überzeugen in Tongebung und Musikalität.

Den in Irina verliebten Bojaren Fedro singt Sreten Manojlovic mit etwas verquollen klingendem Bass. In der munteren Aria „Ein heimliches Hoffen“ am Ende des 1. Aktes hinterlässt er einen günstigeren Eindruck.

Die Besetzung wird komplettiert von der Mezzosopranistin Alice Lackner als russische Fürstin Olga sowie den Tenören Eric Price als Prinz Josennah und Joan Folqué als Prinz Gavurst. Sie vereinen ihre Stimmen harmonisch in zwei Arias à 3Wer die geliebten Augen siehet“ und „O Glücke, wer dir folgt“.  Die Sängerin kann zudem in ihrer empfindsamen Aria „Vorrei scordami“ und der Arietta im 3. Akt, „Wer Liebe recht ansieht“, gefallen und der Tenor Folqué in der stürmischen Aria „Will sich die Liebe rächen“ energisch auftrumpfen. Und alle Mitwirkenden singen gemeinsam die finale Ciacona „Auf Bestand muss Liebe sich gründen“, mit der das Werk feierlich endet, denn Boris wird zum neuen Zaren gekrönt. Bernd Hoppe

Repertoirewürdig

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Ein ganz harmloses, idyllisches Libretto wünschte sich Pietro Mascagni nach seinem Sensationserfolg mit Cavalleria Rusticana, denn das auf dem Roman von Giovanni Verga basierende hatte seiner Meinung nach zu viel Aufmerksamkeit bei Kritik und Publikum gefunden und seine Musik in den Schatten gestellt. Das Booklet zur Blu ray von L’amico Fritz von Dynamic berichtet davon und stellt damit einen bemerkenswerten Kontrast zu Giuseppe Verdi her, der immer darauf versessen war, ein noch leidenschaftlicherisches, noch dramatischeres Sujet als das gerade verarbeitete von seinen Librettisten geliefert zu bekommen. L’amico Fritz erfüllte die Wünsche seines Komponisten in idealer Weise, in ländlichem Milieu spielend und mit einer Heirat endend, ohne dass die Wogen der Leidenschaften allzu hoch hätten gehen können. In nur zwölf Tagen war das Libretto von Pierre Suardon fertiggestellt, einiges noch von Mascagni und Freunden hinzugefügt, und 1891 konnte die neue Oper im Teatro Costanzo von Rom uraufgeführt werden, wo die Musik gefiel, die vom Komponisten mit einem „la mia musica è per i cuori buoni“ klassifiziert worden war. Zwei berühmte Sänger, Emma Calvè, auch die erste Santuzza, und Fernando De Luca waren ebenfalls Garanten des Erfolgs, der allerdings ein im Vergleich zur Cavalleria recht kurzlebiger war, und nur das Kirschenduett erlangte eine dauerhaftere Popularität. In gewisser Weise bedeutet L’amico Fritz durch die Wiedereinführung einer Rolle en travestie und die Gliederung in einzelne Gesangsnummern einen Schritt zurück in der Musikgeschichte.

Während des Maggio Musicale Fiorentino des Jahres 2022 wurde trotz Corona das Stück mit Chor und sogar reichlich zusätzlichem Personal aufgeführt, der Kinderchor mit durchsichtigen Masken ausgestattet. Das Bühnenbild von Gary McCann weicht etwas von den Angaben des Librettos ab, zeigt für den ersten Akt ein Café mit französischem Flair, für den zweiten das Arbeits- und Lagerzimmer von Fritz Kobus und kehrt dann ins Bistro zurück. Nicht mehr ein Rabbiner ist der hochzeitsstiftende Freund David, kein Zigeuner der fiedelnde Beppe, obwohl dieser mit einem „Viva lo zingaro“ empfangen wird. Die Regie von Rosetta Cucchi hat die Handlung in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verlegt, Suzel trägt Jeans und hämmert als Bürokraft auf einer Schreibmaschine herum, zur ihrer Romanze trägt sie Kopfhörer auf den Ohren.

Wie in Cavalleria ist die rein orchestrale Musik, so das Vorspiel zum 3. Akt, besonders den Ohren schmeichelnd, ein weiterer Höhepunkt ist das Violinsolo, das mit dem Erscheinen des Beppe verbunden ist, und auch die Oboe hat einen besonders schönen Auftritt.

Die Titelpartie singt Charles Castronovo mit dunkler gewordenem Tenor, der im Duett mit Suzel aufblühen kann und insgesamt metallischer erscheint als erinnerlich. Die bekannten Plattenaufnahmen lassen zum größten Teil einen mehr im Lyrischen angesiedelten Tenor vernehmen. Die erst im Verlauf der Handlung Angebetete, Salome Jicia,  tut trotz der modernen Jeans recht gschamig, verfügt über einen dunklen, weichen Sopran, der sich im „Non mi resta che il pianto“ schön entfaltet und eigentlich nicht so recht zur blonden Perücke passt. Teresa Iervolino ist der Beppe mit geschmeidigem Mezzosopran, Massimo Cavaletti der würdige David mit samtweichem Piano des sonoren Baritons, der überzeugend trösten kann. Riccardo Frizza leitet souverän das Orchester des Maggio Fiorentino.

Zum Schlussapplaus erscheinen alle Solisten mit gelb-blauer Schleife am Revers, es war schließlich nicht nur Corona-, sondern dazu auch noch Kriegszeit (Dynamic 57960). Ingrid Wanja

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“

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Mehr als der Titel seiner Oper Der Trompeter von Säckingen und vielleicht noch daraus der früher im Radio-Wunschkonzert gespielte Dauerbrenner „Behüt´ dich Gott, es wär so schön gewesen“ ist vom Werk des Komponisten Victor Nessler nichts übrig geblieben. Dabei war gerade diese Oper bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts ungemein erfolgreich. Im letzten sorgten noch Sänger wie Hermann Prey oder Wolfgang Anheisser für den Fortbestand zumindest dieses Stückes. Aber wie Opern des jüngere Kollegen Lortzing oder Brüll,  Flotow und andere mehr  werden diese deutschen Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet  (oder werden in Ignoranz dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung (!) und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden.

Der Komponist Victor E. Nessler/ Wikipedia

Aber schade ist´s, die schöne Musik, diese eben typisch deutschen Melodien nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es uns ein Anliegen, diese Lücke zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Rattenfänger von Hameln von Victor Nessler etwas zu scließen.

Dem Regisseur Ingolf Huhn habe ich ja schon dicke Kränze geflochten. Als Fan des heutigen Operndirektors in Annaberg reiste ich nach der Wende zu dessen damaligen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist für mich der Champion für die Deutsche romantische Oper. Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Vendig und viele andere vergessene Werke des vorletzten Jahrhunderts erblickten durch ihn erneutes Leben, immer im Rahmen und der Möglichkeiten der kleinen Theater wie Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Nesslers noch viel unbekannterer Oper Der Rattenfänger von Hameln auf den Vorstellungen an den Theatern Freiberg und Döbeln 2004 und auf dem Programmheft vom Dramaturgen Christoph Nieder.

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Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Am 19. März 1879 wurde im Leipziger Stadttheater eine Oper uraufgeführt, die in den nächsten Jahrzehnten ihren Weg durch Europa machte: Der Rattenfänger von Hameln von Victor E. Nessler. Grundlage der „Großen romantischen Oper“ war natürlich die berühmte Sage, die Geschichte vom Rattenfänger, der im Auftrag der Hamelner Bürger das Ungeziefer vertreibt und dann, als ihm der versprochene Lohn vorenthalten wird, mit den Kindern der Stadt davonzieht. Damit die operntypischen Liebesgeschichten nicht fehlen, ist der Titelheld, wie schon in der Goethe-Ballade vom Rattenfänger, auch ein „Mädchenfänger“, der dem Damenchor ebenso den Kopf verdreht wie der Fischer- und der Bürgermeistertochter.

Der Rattenfänger war nicht die erste, wohl aber die bis dahin erfolgreichste Oper Nesslers, die in Leipzig auf die Bühne kam. Wie sehr damals in Leipzig das Musikleben blühte, zeigt schon die Tatsache, dass mindestens vier einschlägige Zeitschriften nebeneinander existierten: Die „Allgemeine musikalische Zeitschrift“, die von Robert Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik“, die „Signale für die musikalische Welt“ und das „Musikalische Wochenblatt“ informierten wöchentlich oder monatlich Leipzig und die „musikalische Welt“ über Aufführungen klassischer Werke, vor allem aber auch über Novitäten, über Ur- und Erstaufführungen, die ganz anders als heute das Musikleben bestimmten.

So hatte sich der elsässische Komponist Victor E. Nessler 1864 nicht etwa nach Paris, sondern nach Leipzig gewandt, um seine musikalische Karriere voranzubringen; und auch den Librettisten Friedrich Hofmann, der aus Thüringen stammte, zog es 1858 in die „geistige Metropole Sachsens“.

Die „Signale für die musikalische Welt“ begannen ihre Besprechung der Rattenfänger-Uraufführung mit leiser Ironie: „Die beiden Verfasser der Oper haben ihren Wohnsitz – wie zuvörderst bemerkt sein soll – in Leipzig: der Librettist als Mitarbeiter der „Gartenlaube“, der Componist als Chordirektor am Stadttheater. Beide Männer sind auch in weiteren Kreisen nicht unbekannt: Herr Hofmann besonders durch seine gemütvollen poetischen und prosaischen Beiträge in dem genannten Weltblatt, Herr Nessler durch seine Bestrebungen auf dem Gebiete der Männergesang-Composition.“

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Zu diesem Zeitpunkt allerdings war Nessler nicht mehr Chordirektor, sondern bereits als Kapellmeister ans Carola-Theater gewechselt; sein Nachfolger wurde der später weltberühmte Dirigent Arthur Nikisch. Direktor des Stadttheaters war damals Angelo Neumann, der gerade mit der Aufführung von Wagners Ring, mit der er dann auch auf Europa-Tournee ging, Aufsehen erregt hatte. Neumann erkannte schnell die Qualitäten Nikischs und machte ihn zum Kapellmeister; in dieser Funktion dirigierte er die Uraufführung des Rattenfänger wie 1884 auch die des Trompeter von Säckingen, ehe er seine Karriere in den USA und Budapest fortsetzte, um schließlich als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig zurückzukehren.

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Drei Deutsch-Nationale: Victor E. Nessler, 1841 im Elsass geboren, stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus. Er studierte zunächst Theologie, der Erfolg seines Erstlings Fleurette in Straßburg ließ ihn jedoch zum Komponisten werden – die Quellen widersprechen sich, ob er wegen des „Fehltritts“ exmatrikuliert wurde oder aber freiwillig von der Theologie zur Musik wechselte. Nessler ging nach Leipzig und sammelte vielfältige musikalische Erfahrungen, komponierte Gelegenheitswerke und leitete Männerchöre. 1870 wurde er Chordirektor am Stadttheater, später Kapellmeister am Carola-Theater. Einige frühere Opern wie Dornröschens Brautfahrt (1867) oder Irmingard (1876), mit denen sich der junge Komponist ausprobiert hatte, waren über Leipzig nicht hin-ausgekommen; der Rattenfänger aber wurde ein Riesenerfolg, nachgespielt nicht nur an den Hofopern in Berlin, Stuttgart oder München und vielen anderen deutschen Bühnen, sondern auch in London. Danach konnte er sich zur Ruhe setzen, versuchte 1881 mit dem gleichen „Team“ – Librettist Friedrich Hofmann bearbeitete eine Vorlage von Julius Wolff: Der wilde Jäger – vergeblich an den Erfolg anzuknüpfen, bis 1884 Der Trompeter von Säckingen so einschlug, dass auch der Rattenfänger langsam in Vergessenheit geriet. Nessler kehrte wieder in das inzwischen deutsch gewordene Straßburg zurück, wo er bereits 1890 starb.

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Der Librettist Friedrich Hofmann/ Wiki

Der Librettist Friedrich Hofmann wurde am 18. April 1813, im selben Jahr wie Giuseppe Verdi und Richard Wagner, Georg Büchner und Friedrich Hebbel, in Coburg geboren. Seine Mutter war als junges Mädchen Dienstmagd bei Jean Paul gewesen; sein Vater, während der napoleonischen Kriege 1813 bis 1815 Feldtrompeter, wurde später Hofmusikus. Als Gymnasiast dichtete Hofmann „Freiheitslieder“ für den „Vaterlandsverein“ und wurde daraufhin für alle Zukunft vom Staats-dienst ausgeschlossen. In Jena studierte er Literatur und Geschichte; erste Veröffentlichungen beschäftigten sich mit der Geschichte seiner Coburger Heimat, und 1841 zog er als Mitarbeiter von Meyers „Großem Konversationslexikon“ nach Hildburghausen. 1854 erhielt er für seine Verdienste um die Volksbildung die Doktorwürde der Universität Jena und ging bald darauf als Hauslehrer eines Verwandten der Coburger Fürsten nach Venedig. Nach Hildburghausen zurückgekehrt, wurde er zum Begründer der Coburger Mundartdichtung, ehe es ihn 1858 nach Leipzig, in die geistige Metropole Sachsens, zog. Nachdem er an verschiedenen Zeitschriften mitgearbeitet hatte, wurde er 1861 Redakteur der „Gartenlaube“. 1871 war er in deren Auftrag einer der ersten Deutschen, die das belagerte Paris besuchten. Nach dem Krieg war er mit Kriegs- und Vaterlandsgedichten erfolgreich, baute aber auch einen Suchdienst für Vermisste und Verschollene auf und setzte damit sein soziales Engagement fort, das in den 40er Jahren mit dem „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ – der Erlös seiner Gedichte finanzierte Weihnachtsgeschenke für bedürftige Kinder – begonnen hatte. 1883 wurde er Chefredakteur der Gartenlaube, und im Januar 1888 ernannte ihn die Gabelbachgemeinde auf dem Kickelhahn bei Ilmenau zum „Gemeindepoeten“ – als Nachfolger des verstorbenen Joseph Victor von Scheffel, dessen Trompeter von Säckingen Julius Wolff wesentlich beeinflusst hatte und der zur Vorlage der zweiten Erfolgsoper Nesslers wurde. Während eines Urlaubs in Ilmenau starb Hofmann im August desselben Jahres.

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Der Gelegenheitsdichter Friedrich Wolf/ OBA

Die Vorlage: Julius Wolff, 1830 in Quedlinburg geboren, übernahm zunächst die elterliche Textilfabrik. Nach deren Bankrott wurde er Journalist. 1870/71 zog er in den Krieg und arbeitete anschließend als Angestellter in Berlin. Ersten Schriftstellerruhm erntete er mit einer Kriegsliedersammlung „Aus dem Felde“. In der Tradition von Scheffels ungemein populärem Trompeter von Säckingen erschien 1876 Der Rattenfänger von Hameln – eine „Aventiure“, ein Erfolg, der Wolff finanziell unabhängig machte und ihm auch die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hameln eintrug. In den nächsten Jahren verfasste er epische Dichtungen wie Tannhäuser. Ein Minnesang oder Der fliegende Holländer. Seemannssage. Er wurde zu einem Protagonisten der „Butzenscheibenromantik“ und erfüllte den Wunsch des wilhelminischen Publikums nach einem nostalgischen Rückblick in die „gute alte Zeit“. Noch nach seinem Tod 1910 erschien eine knapp zwanzigbändige Gesamtausgabe seiner Werke.

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Die Komposition: Nesslers Musik im Rattenfänger von Hameln umfasst eine weite Spanne. Sie ist harmonisch und in der Verarbeitung durchaus auf der Höhe ihrer Zeit und reicht vom leichten Singspieltonfall (2. Bild) über das sentimentale Strophenlied bis zur großen Verfluchungs-Szene, vom Buffo-Terzett (Beginn 3. Akt) bis zum sechsstimmigen, kanonartig aufgebauten Ensemble (Finale des 1. Aktes: „Nun reiche mir die Hand“), vom schlichten Volkschor bis zum komponierten Chaos im Streit der Ratsherren gleich zu Beginn. Immer ist die Musik dramatisch, theater-praktisch gedacht, immer im Dienst der Szene. Nessler verwendet einige prägnante Motive, die in der Oper häufig wiederkehren, aber nicht als Wagnersches Leitmotiv, sondern eher als Erinnerungsmotiv, z. B. ein sich um sich selbst windendes, schleichendes chromatisches Motiv als Symbol für die Ratten, das gleich zu Beginn der Ouvertüre eingeführt wird, oder eine marschartige Melodie für die Rats- und Bürgermeister-welt. Auffällig sind die zahlreichen Zitate in Nesslers Musik. Mal handelt es sich um ein Detail der Instrumentation, wenn z. B. die Solobratsche das Duett zwischen Regina und Dorothea im zweiten Bild maßgeblich begleitet, ist das Vorbild klar: die zweite Ännchen-Arie aus dem Freischütz.

Nesslers „Rattenfänger von Hameln“ in Döbeln/ Szene/ MTDF

Manchmal sind es Motivfetzen (Wotans Speermotiv in der Gerichtsszene des 5. Aktes, das „Auf Wiedersehen“ aus dem ersten Quintett der Zauberflöte), manchmal auch reizt die Parallelität der Situationen Neßler zum Zitat: Wenn im 4. Akt der steinerne Roland zu sprechen beginnt, erklingt umgehend eine kurze Phrase Leporellos aus dem Finale des Don Giovanni, der Nachtwächter scheint direkt den Meistersingern entsprungen zu sein, und ob bei der Wahl des „tragischen“ c-Moll Beethovens für den Streit der Ratsherren ein Schuss Ironie im Spiel ist, sei dem Zuhörer anheimgestellt… Die Häufigkeit und Auffälligkeit der Zitate lassen jedenfalls eher auf eine Hommage an die Vorbilder schließen denn auf billiges „Klauen“. Besonders kunstvoll arbeitet Neßler im großen Duett zwischen Gertrud und Hunold zum Schluss des zweiten Aktes. Jeder Figur ist ein Soloinstrument zur Seite gestellt, Gertrud die Bratsche und Hunold das Violoncello, die die Melodielinien mitspielen. Nach Hunolds „Dich zu erringen“ in A-Dur zweifelt Gertrud „Lieber Zaubrer, sag mirs ehrlich, bist du wahr und wirklich mein“ harmonisch weit entfernt in F-Dur, stößt dann aber bei „du bist mein, ich bin die deine“ mit E-Dur über Hunolds Harmonie hinaus. In einem Zwischenspiel verschlingen sich die Melodielinien der Soloinstrumente symbolisch für die Figuren auf der Bühne. Nach einem längeren zweistimmigen Teil schließen die Sänger in hymnischer Ein-stimmigkeit in A-Dur – beide sind vereint, musikalisch wie szenisch, und Gertrud ist in Hunolds Welt angekommen.

Das Mittelsächsische Theater in Döbeln/ Wikipedia

Neuland betritt Nessler im Mittelteil der Ouvertüre, wo er ein Melodram einführt, das die Ouvertüre gleich zu einem Teil der Handlung werden lässt. Erst sehr viel später sollten Leoncavallo und Mascagni auf ähnliche (dann aber gesungene) Modelle bei I Pagliacci und bei Cavalleria rusticana zurückgreifen. Der Trauermarsch des 5. Aktes weist schon voraus bis zu Gustav Mahler, manche Finesse der Harmonie im Lied „Wenn dem Wächter das Horn einfriert“ zu Beginn des 3. Aktes zu Hugo Wolf. Und auch vor kräftigen Dissonanzen scheut Neßler in der Ouvertüre nicht zurück, um gleich zu Beginn klarzustellen, dass dieser Rattenfänger von Hameln weit mehr bietet als brave Butzenscheibenromantik. Martin Bargel

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Verbreitung und Dokumente: Kaum eine Note Nesslers ist – außer einem dürftigen Querschnitt des Trompeter von Säckingen mit Hermann Prey bei Electrola und einer diskutablen Gesamtaufnahme des WDR (leider ohne Dialoge) als Nachklang der Aufführungen beim Festlichen Herbst Bad Urach bei Capriccio (noch bei jpc erhältlich) – auf Tonträger dokumentiert. Historische Einzelaufnahmen der eingangs erwähnten Arie finden sich von Prey, Tauber, Schlusnus, Melchior, Muench, vom Montanara Chor und in Blasorchesterfassung.

Dabei ist der Trompeter nicht etwa sein eigentlicher Erfolg gewesen, sondern eben der Rattenfänger. Aber die Aufführungen des damals scheidenden Intendanten des Mittelsächsischen Theaters, Ingolf Huhn, in den Theatern von Freiberg und Döbeln im Frühjahr 2004, wurden leider nicht beim MDR aufgezeichnet. Das Mittelsächsische Theater gastierte mit dem Werk bei den Musikfestspielen Dresden im Sommer 2004 und nahm es in der neuen Saison noch einmal auf, wo  auch  Lortzings Oper Rolands Knappen ebendort dort im Mai 2005 zur Aufführung kam.

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Das Mittelsächsische Theater in Freiberg/ Wikipedia

Der Rattenfänger von Hameln, Große romantische Oper in fünf Akten von Victor E. Nessler; Libretto von Friedrich Hofmann nach dem Gedicht von Julius Wolff UA: 19. März 1879 Leipzig (1. Aufführung in moderner Zeit 2004 am Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln).

Inhalt: Die deutsche Sage tritt auf und spricht einen Prolog. Erster Akt: Rathaussaal Streit im Hamelner Stadtrat: Die Stadtkasse ist leer, die Bürger klagen über die hohen Steuern. Der Bürgermeister weist darauf hin, dass es ein noch größeres Problem gebe: die Rattenplage. Aber er hat auch schon eine Lösung parat: Ein fremder Spielmann, Hunold Singuf, hat sich angeboten, die Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Dafür fordert er 100 Mark und eine später zu benennende zusätzliche „Spende“. Trotz der hohen Forderungen nimmt der Stadtrat schließlich das Angebot des Rattenfängers an. Hausgarten des Bürgermeisters Regina, die Tochter des Bürgermeisters, erwartet ihren Bräutigam Heribert, den Sohn des Stadtschultheißen. Als der von einem Studienaufenthalt Heimgekehrte erscheint, sind alle zufrieden – außer dem Stadtschreiber Ethelerus, der sich selbst vergeblich um Regina bemüht hatte.

Zweiter Akt: Im Wirtshaus zum „Braunen Hirsch“. Hunold unterhält die Gäste mit seinen Liedern; insbesondere die Frauen sind von ihm fasziniert. Ethelerus lädt ihn zu einem abendlichen Treffen im Weinkeller gemeinsam mit seinem Freund, dem Kanonikus Rhynperg, ein. Da erscheint Gertrud; Hunold und sie erkennen im jeweils anderen den lange Erträumten. Die übrigen Gäste sind verwundert; Wulf, der Schmied, Gertruds Verlobter, schwört Rache. Beim Fischerhaus am Strom Gertrud und Hunold haben ein Stelldichein; Wulf versucht vergeblich, Gertrud zurückzugewinnen.

Oskar Herfurth/ Der Rattenfänger von Hameln/ OBA

Dritter Akt: Vor dem Ratskeller. Der Schreiber und der Kanonikus wetten mit dem Rattenfänger, dass auch er, der sich seines Erfolgs bei Frauen rühmt, Regina keinen Kuss abgewinnen könne.

An der Weser: Wulf beklagt sich bei seinen Nachbarn über Gertruds Untreue. Des Nachts lockt der Rattenfänger Ratten und Mäuse in die Weser; Wulf lauert Hunold auf, wird aber von diesem besiegt. Vierter Akt Offene Ratshalle Die Frauen sind glücklich darüber, dass die Ratten fort sind. Von Wulf aufgestachelt, wollen die Bürger dem Rattenfänger dennoch den versprochenen Lohn nicht zahlen. Regina, Dorothea und Heribert bezeugen, dass im Keller des Bürgermeisters noch ein „Rattenkönig“, fünf zusammengewachsene Ratten, die nicht fortlaufen konnten, geblieben, der Vertrag also nicht erfüllt sei. Hunold klagt nun Wulff an, der entgegen den Bedingungen nachts auf der Straße geblieben sei: Deshalb habe der Zauber nicht vollständig funktioniert. Außerdem fordert er nun die zusätzlich zum Geld vereinbarte Spende – einen Kuss der Bürgermeistertochter. Die Frauen finden diese Zusatzforderung apart, die Männer sind empört. Hunold will mit seinem Zauber auch Regina berücken. Die Roland-Statue auf dem Markt warnt ihn: „Recht verbürg‘ ich! Missethat würg‘ ich!“

Vierter Akt: Der Rathhaussaal als Festsaal. Die Verlobung von Heribert und Regina wird gefeiert. Regina wird unruhig, als Hunold erscheint, und fällt ihm um den Hals, nachdem er ihr ein Lied gesungen hat. Hunold wird des bösen Zaubers angeklagt.

Der Autor: Der Musiker, Dirigent, Pianist und Komponist Martin Bargel/ LIN

Fünfter Akt. Vor der Stadt Hameln. Gertrud beklagt den Verrat Hunolds an ihr. Die Richter verurteilen Hunold zum Tode. Gertrud beruft sich auf ein altes Gesetz, demzufolge das Leben eines Verurteilten einer Jungfrau geschenkt werden kann, die dann mit ihm fortziehen muss. So befreit sie Hunold, stürzt sich dann aber verzweifelt in die Weser. Vor der Kirche: An der Brücke. Aus der Kirche, wo die Hochzeit Heriberts und Reginas gefeiert wird, tönt der Gesang der Bürger. Hunold tritt auf, lockt mit Schalmeienspiel und Gesang die Kinder der Stadt herbei und führt sie über die Brücke davon. Seine Rache schreit er in die Kirche hinein; die herauseilenden Bürger müssen mit ansehen, wie die Brücke einstürzt und ihre Kinder im Berg verschwinden.

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Die vorliegenden Texte übernahmen wir – mit leichten Modifikationen – dem informativen Programmheft zur Aufführung in Freiberg-Döbeln 2004, wobei wir dem dortigen Dramaturgen Christoph Nieder sehr zu Dank verpflichtet sind. Der Autor Martin Bargel war damals Dirigent am Mittelsächsischen Theater, während er in dieser Zeit und auch danach immer wieder in spannenden musikalischen Projekten in Erscheinung trat, auch mit Eigenkompositionen. Redaktion und ergänzende Texte G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier