Fundstück

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Nanu, eine Aufnahme von 1976 aus der nicht prominenten Abteikirche Marienfeld mit dem nicht prominenten Bachchor Gütersloh unter der Stabführung des ebenfalls nicht allzu prominenten, inzwischen verstorbenen Dirigenten Herman Kreutz auf einer nagelneuen CD?! Wie kann es dazu kommen? Die Deutsche Grammophon hat es sich mit dem neuen Label MDG Preziosa zur Aufgabe gemacht, bisher  nicht auf CD veröffentlichte Aufnahmen zugänglich zu machen, ohne klangverändernde Manipulationen. „Das Ziel ist die unverfälschte Wiedergabe mit genauer Tiefenstaffelung, originaler Dynamik und natürlichen Klangfarben.“ „Größte Natürlichkeit und Lebendigkeit“ soll damit erreicht werden und werden so auch Rossinis Petite Messe solennelle in beeindruckender Weise zuteil. Eigentlich hatte man im fernen Jahr 1976   nur an einen Testfall gedacht, war dann aber von dem Ergebnis so überzeugt und außerdem glücklich darüber, dass die Messe auf zwei Seiten einer Langspielplatte passte, die in der Presse auf große Zustimmung stieß. Auf eine CD allerdings passt das Werk mit 96 Minuten Länge nicht, und deswegen wurden auch alle diesbezüglichen Pläne zu den Akten gelegt.

Wie Verdis Requiem war auch Rossinis Stabat Mater dem Vorwurfe ausgesetzt gewesen, es klinge zu opernhaft, sei eigentlich keine geistliche Musik, umso weniger, wenn noch bereits aus Opern bekannte Melodien dafür recycelt wurden wie Almavivas „Ecco ridente il cielo“. Erst dreißig Jahre nach seiner letzten Oper, Guglielmo Tell, setzte sich Rossini noch einmal an das Klavier, um seine „leider letzte Todsünde seines Alters“ zu komponieren. Dies geschah 1863 innerhalb von nur zwei Monaten und war eigentlich nur für die Aufführung in einer Privatkapelle gedacht, in der nicht ein ganzes Orchester, sondern stattdessen nur zwei Klaviere und ein Harmonium sowie vier Solisten und acht Chormitglieder Platz hatten. Obwohl Rossini später noch eine Orchestrierung vornahm, schätzte er wohl weiterhin die erste Fassung seiner Messe mehr als die erweiterte, von der man annimmt, er habe sich die Mühe damit nur gemacht, um zu verhindern, dass sie durch andere Komponisten entstellt werden würde.

Die Pianisten Marie-Theres Englisch und Christian de Bruyn fangen etwas zögerlich an, werden aber zunehmend zupackender, ja erscheinen stellenweise etwas vorlaut, als wollten sie ein ganzes Orchester ersetzen, aber das ist nur der erste, schnell revidierte Eindruck. Der Chor klingt bereits im Kyrie sanfter und frommer als ein italienischer, zeichnet sich durch ein schönes Anschwellen des Klangs aus und klingt im Gloria einfach engelsgleich. Geläufig, mit instrumentalem Klang wird das Sanctus absolviert, machtvoll das Credo, und ein Amen, das akustisch die ganze Welt zu umarmen scheint, beschließt die Messe.

Bemerkenswert ist das Solistenquartett. Sanft und hell leuchtet der Sopran von Gerda Hagner, keusch und innig im Crucifixus und von schöner Reinheit. Ehe sie einer der führenden Wagnersoprane wurde, hatte Gabriele Schnaut bereits eine Mezzokarriere hinter sich. Warm, vollmundig und wie aus einem Guss und mit viel Entschlossenheit in der Stimme führt sie die Messe mit dem Agnus Dei zum Schluss- und Höhepunkt. Sehr jung starb der in Brasilien als Sohn italienischer Eltern geborene Tenor Aldo Baldin, der mit bemerkenswert schönem Timbre und viel Sinn für Dramatik das Domine Deus singt. Ebenfalls bereits verstorben ist inzwischen der Bass Karl Fäth, der mit kraftvoller Höhe, in der Tiefe etwas grummelig, ein nachdrückliches Sanctus zu Gehör bringt. Auf weitere Ausgrabungen von MDG Preziosa kann man gespannt sein (MDG 102 0003-2). Ingrid Wanja