Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Saverio Mercadantes „Proscritto“

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„Verdienstvoll“ ist das Wort, dass dem Opernfan bei dem hochspannenden Programm von Opera Rara einfällt. Immer wieder hat sich die englische Firma um die Lücken (weitgehend) im Kanon des Belcanto gekümmert und seit rund 30 Jahren viele, viele Opern aus dieser Epoche zum Leben erweckt, deren Titel nur die erbitterten Sammler kannten, oft nicht einmal diese. Deshalb muss man die Firma immer wieder hervorheben und loben ob ihrer vielfältigen Initiativen.

So auch nun, wenn nach dem erfolgreichen Konzert von Saverio Mercadantes Oper Il proscritto 2022 in London diese Oper mit schönem Booklet und einem wie stets hochinformativen Aufsatz des eminenten Musikwissenschaftler Roger Parker auf 2 CDs herausgekommen ist. Nachstehend erst einmal ein Auszug aus der Einleitung zur Oper von Roger Parker aus dem umfangreichen Booklet zur CD-Ausgabe, dann der dertailfreudige Konzerteindruck von Alan Jackson, Schatzmeister der ehrwürdigen Londoner Donizetti-Gesellschaft und danach eine kurze Einschätzung der Aufnahme selbst. G. H.

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Roger Parker: Saverio Mercadante (1795-1870), der erfolgreichste italienische Opernkomponist des 19. Jahrhunderts außerhalb der „großen Vier“ (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi) (Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi), hatte eine wechselvolle Karriere. Unehelich geboren (sein adeliger Vater und seine Hausangestellte als Mutter hätten selbst eine Opernhandlung bevölkern können), gelang es ihm, eine Ausbildung am Konservatorium von Neapel zu erhalten und um 1820 schlug er eine Opernkarriere ein, zwangsläufig als Nachfolger und Nachahmer Rossinis. Sein größter früher Erfolg war die komische Oper Elisa e Claudio, deren Triumph an der Mailänder Scala 1821 zu zahlreichen neuen Aufträgen führte. Der internationale Erfolg schien schien gesichert, als der neapolitanische Impresario Domenico Barbaja ihn für eine Saison am Wiener Kärtnerthortheater engagierte 1824. Aber das ging schief (die von Rossini besessenen Wiener waren noch nicht bereit, einen italienischen Nachfolger in Erwägung zu ziehen), und als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, war er bereits wieder auf dem Weg nach Italien.

Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Als Mercadante nach Neapel zurückkehrte, hatte sich dort ein rivalisierender Komponist, Giovanni Pacini, etabliert. Und so ging die Achterbahn weiter. Erfolgreiche Aufenthalte auf der iberischen Halbinsel erhöhten seinen Einsatz erneut, und 1833 wurde er zum Maestro di cappella am Dom von Novara ernannt, eine Position, die zwar eindeutig die Produktion von religiöser Musik erforderte, die ihm aber auch die Möglichkeit gab, regelmäßig zu verreisen, um seine seine Opernkarriere fortzusetzen. Ein weiterer Wendepunkt war das Jahr 1836: Rossini, inzwischen im Ruhestand und die „éminence grise“ am
Théâtre Italien in Paris, arrangierte für ihn eine Uraufführung in diesem prestigeträchtigen Theater (wie schon Bellini und Donizetti im Jahr zuvor). Aber die Wirkung der von ihm produzierten Oper I briganti war nur bescheiden.
1840, an einem anderen Wendepunkt, wurde Mercadante zum Direktor des Konservatoriums von Neapel ernannt (eine Position, für die sich Donizetti lange eingesetzt hatte). für die sich Donizetti seit langem eingesetzt hatte) und begann, sich verstärkt pädagogischen Aufgaben und der Komposition von Instrumentalmusik zu widmen. Er spielte mit dem Gedanken, die Opernkomposition ganz aufzugeben, kehrte aber schließlich zum Komponieren für die Bühne zurück, wenn auch in einem viel langsameren Tempo. Il proscritto, das am 4. Januar 1842 im Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt wurde, war die erste Oper, die in dieser neuen Phase des von Mercadantes Leben und wurde deshalb mit Spannung erwartet. Sie war vielversprechend, nicht zuletzt wegen des schönen Libretto von Salvadore Cammarano, das (wie im vorangegangenen Aufsatz besprochen) auf einem neueren französischen Melodram mit dem Titel Le Proscrit basiert, das von Soulié und Dehay geschrieben und 1839 in Paris uraufgeführt wurde.

Mercadante: „Il proscritto“: Elisabetta Buccini und Antonietta Ranieri Marini, Malvina und Odoardo der Uraufführung 1842/ Opera Rara

Im Mittelpunkt des Dramas steht eine klassische Dreiecksbeziehung, die sich – bei Soulié und Dehay – in die napoleonische Zeit verlegt, spielt es im „exotischen“ Schottland zur Zeit von Oliver Cromwell. Herrschaft von Oliver Cromwell. Die gequälte Heldin Malvina ist zwischen zwei politischen Gegnern hin- und hergerissen: Giorgio, ihr erster Ehemann und leidenschaftlicher Royalist, wird auf See totgeglaubt; Arturo, ihr Verlobter, ist – natürlich – ein überzeugter Cromwellianer. Der vierte Hauptdarsteller ist eine sogenannte „Hosenrolle“, Malvinas jüngerer Bruder Odoardo. Die für die Verkörperung dieser gegensätzlichen Charaktere ausgewählten Darsteller war in der Tat erstklassig. Die Malvina wurde von der Mezzosopranistin Antonietta Ranieri Marini gesungen, die in den Jahren zuvor die weibliche Hauptrolle in Verdis ersten beiden Opern, Oberto, conte di San Bonifacio und Un giorno di regno. Giorgio wurde von dem baritonalen Tenor Giovanni Basadonna gesungen, der einige Jahre zuvor die Titelrolle in Donizettis Roberto Devereux verkörpert hatte; Arturo war ein weiterer Tenor, Gaetano Fraschini, der damals am Anfang einer bedeutenden Karriere stand, die ihn zu einem imposanten tenore di forza werden ließ (er sang die Titelrolle in Verdis Stiffelio und war der erste Riccardo in Un ballo in maschera). Die vierte Hauptrolle sang Eloisa Buccini, eine Altistin der ersten Stunde, die in dieser Zeit an vielen bedeutenden Opernhäusern auftrat. (…)
Was ist von Il proscritto zu halten, wie es jetzt, nach fast 200 Jahren völliger Vergessenheit, auftaucht? Ein Punkt muss hervorgehoben werden. Die Tatsache, dass die Oper nach ihrer Uraufführung nicht wieder aufgenommen wurde, ist keineswegs ungewöhnlich und sollte nicht überbewertet werden. Dieses Schicksal ereilte schließlich die meisten dramatischen Werke im Italien des frühen 19. In einer Kulturwirtschaft in der (ähnlich wie heute im Kino) das größte Interesse stets neuen Schöpfungen galt, den eigens für den Anlass geschriebenen Werken, mussten viele mussten viele Opern verdrängt werden, um Platz für den ständigen Zustrom von Neuem zu schaffen. Auf der anderen Seite geht aus den Rezensionen und Berichten über die Reaktion des Publikums geht hervor, dass Mercadantes Idiom ungewöhnlich war und als etwas schwierig galt.

Mercadanrtes Oper „Il proscritto“: Giovanni Basadonna und Gaetano Fraschini, Giorgio und Arturo 1842/ Opera Rara

Das Schlimmste von allem, zu einer Zeit, als die große neapolitanische Opernschule offensichtlich im Niedergang begriffen war, wurde dem Komponisten vorgeworfen, mit dieser Oper seine Heimat zu verraten und zu versuchen, „nördlichen“ Einflüssen nachzueifern. Warum dieser Vorwurf gerade an Il proscritto angehängt wurde, bleibt ein Rätsel, aber wie dem auch sei, wir haben es hier mit eindeutig lokalen Belangen zu tun; die neapolitanischen Urteile von 1842 dürften uns 180 Jahre später kaum noch berühren, da uns die Geschichte all dessen, was sich seither auf dem Gebiet der Oper ereignet hat, noch in den Ohren klingt. Wir müssen versuchen, neu zu denken.
In diesem Zusammenhang ist es auffällig und paradox, dass Mercadante mit seiner neuen Oper zumindest in gewisser Hinsicht seine „Reform“-Agenda des vorangegangenen Jahrzehnts zurück. So sind zum Beispiel die Solonummern (vor allem die von Arturo und Giorgio im ersten Akt) sind voller lyrischer Inspiration, und obwohl sie in der Tat einige auffällige harmonische und orchestrale Ablenkungen aufweisen, dienen diese dazu die melodischen Ergüsse eher zu unterstützen als zu untergraben. Darüber hinaus hat die Oper, entgegen dem oben zitierten Manifest von Mercadante Oper ihren Anteil an überschwänglichen Cabalettas, beginnt mit einem markanten Krach der Banda und ist (wenn es die Stimmung erfordert) großzügig mit der großen Trommel und den Becken. Es stimmt aber auch, dass eine der größten Stärken der Partitur die Abfolge der Duette ist, und hier wird die „Reform“-Agenda deutlicher sichtbar.

Mercadante Oper „Il Proscritto“: Seite aus der ersten gedruckten Klavierfassung bei Ricordi/ Opera Rara

Es gäbe noch so viel mehr über diese bemerkenswerte Oper zu sagen. Darüber, wie die ungewöhnliche Mischung der führenden Sänger, die beiden sich bekriegenden Tenöre und die Konzentration auf die tieferen Lagen der Frauenstimme mit einer konsequenten Vorliebe für „dunkle“ Tonarten einhergeht (bis hin zu d-Moll im Finale des zweiten Akts). Was die schiere Kühnheit einiger harmonischer Exkursionen angeht: Achten Sie auf dezente harmonische Akzente in vielen Orchesterpassagen, in einem Fall sogar ein Verweilen auf dem Tristan-Akkord; oder die außerordentlich stimmungsvolle orchestrale Eröffnung des Duetts zwischen Malvina und Giorgio im zweiten Akt, die Giorgios unruhigen Schlaf illustriert. Über den den ständigen Erfindungsreichtum von Mercadantes „Brücken“-Passagen zwischen den lyrischen Abschnitten, die nie in Routine verfallen und oft ein unter solchen Umständen völlig ungewöhnliches Maß an musikalischer Originalität. Vielleicht vor allem die Art und Weise, wie die Musik auf die ungewöhnliche psychologische Komplexität der Hauptfiguren eingeht. Malvina, Giorgio und Arturo beginnen die Oper in einem Situationen, die man als klassisch melodramatisch bezeichnen könnte; aber in jedem Fall werden ihre Überzeugungen in Frage gestellt, was zu seltsamen Umkehrungen und schaffen Situationen, in denen sie eine psychologische Tiefe zeigen, die in dieser Opernperiode wirklich selten ist. Mercadante reagiert auf die Herausforderung dieser Komplexität, insbesondere durch seine Fähigkeit, lange Momente der freien Deklamation aufrechtzuerhalten Deklamation aufrechtzuerhalten, in denen die emotionalen Haltungen der Figuren im Fluss sind. Das Ergebnis ist eine Oper, die, obwohl sie fast unmittelbar nach ihrer Entstehung von der Bildfläche verschwunden ist, dennoch eine starke Wirkung auf das Publikum des 21. Jahrhunderts zu vermitteln und vielleicht sogar ein Umdenken in der historischen Landschaft zu bewirken, die so viel von unserem Standard-Opernrepertoire hervorgebracht hat. © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

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Mercadantes Oper „Il proscritto“: Das Konzert 2022/ Foto Russell Duncan/ OR

Alan Jackson zum Konzert 2022: Als  Opera Rara ihre konzertante Aufführung von Donizettis Les Martyrs kurz nach den Aufnahmesitzungen im Jahr 2014 vorstellte, gab es einen Moment, in dem das die konzertante Aufführung Feuer fing. Die erste Hälfte war schon beeindruckend, die Größe, Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit von Donizettis Partitur wurde gut eingefangen. Dann, kurz nach der Pause, begann Michael Spyres seine Cabaletta „Oui, j’irai dans leurs temple“, und irgendwie wurde das Publikum stärker einbezogen als vorher. Als er die Cabaletta mit einem hohen E beendete, war die Atmosphäre elektrisierend, und wir Zuhörer brachen in frenetischen Beifall aus.

Etwas Ähnliches geschah 2023 im (Konzertsaal des) Barbican. Der erste Akt von Il proscritto enthält eine wunderschöne Kavatine für den zweiten Tenor, ein reizendes Duett für Mezzosopran und Alt und ein imposantes concertato, die alle großartig vorgetragen wurden. Gleich nach der Pause folgt ein Duett für die beiden Tenöre, und die Funken sprühen nur so. Nicht, dass es irgendwelche stratosphärischen Höhen gäbe (in der Tat liegt keiner der beiden Tenöre besonders hoch), aber ihre Konfrontation ergriff uns zutiefst, das Publikum explodierte und der Beifall nahm kein Ende. Und genau wie bei Les Martyrs wurde diese neue Intensität bis zum Ende des Abends beibehalten. Sie steigerte sich sogar noch, als die Altistin uns in ihrer Arie mit ihren weit ausholenden und extrem schnellen Koloraturen verblüffte.

Die Handlung von Il proscritto, die im Schottland des 17. Jahrhunderts mit seinen Spannungen zwischen Royalisten und Cromwells spielt, dreht sich um die Heldin Malvina. Ihr erster Ehemann Giorgio, ein Royalist, wird seit langem bei einem Schiffsunglück für tot gehalten. Ihre Familie will, dass sie Arturo, einen Cromwellianer, heiratet, und Malvina hat sich in Arturo verliebt, obwohl sie sich schuldig fühlt, wenn sie an ihren ersten Mann denkt. Da es sich um ein romantisches Melodrama handelt, ist Giorgio natürlich noch am Leben und taucht am Hochzeitstag von Malvina und Arturo auf. Die beiden Tenöre schwanken zwischen antagonistischer Rivalität und Verständnis für Malvinas Notlage; sie löst das Dilemma der Wahl, indem sie am Ende der Oper Gift nimmt. Der vierte Hauptdarsteller ist Odoardo, Malvinas Bruder, dessen dramatische Funktion darin besteht, Malvina zu trösten und zu beschützen. Das Libretto von Salvadore Cammarano setzt gekonnt eine Reihe von Duetten und großen Ensembles ein. Ungewöhnlich ist die Verteilung der Stimmlagen. Giorgio und Arturo sind beide Tenöre, Malvina ist ein Mezzosopran und Odoardo ist ein Alt, eine späte Blüte der Musico-Tradition. Die Duette von Malvina mit Giorgio und Arturo sind dramatisch und konfrontativ, ebenso wie das von Giorgio und Arturo. Malvinas Duett mit Odoardo steht in der Tradition des Ottocento mit Duetten für zwei Frauenstimmen – man denke an Anna Bolena, Norma, Il giuramento, Pia De’Tolomei.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Gruppenbild/ Foto Russell Duncan/ OR

Die Sänger, alle wirklich ausgezeichnet, waren Irene Roberts (berührend als Malvina), Elizabeth DeShong (sensationell in Odoardos großer Arie), Ramón Vargas und Iván Ayón-Rivas (ebenfalls sensationell in ihrem großen Duett als Giorgio bzw. Arturo). Kleinere Rollen, die sehr stark besetzt waren, wurden von Sally Matthews, Goderdzi Janelidze, Susanna Gaspar, Alessandro Fisher und Niall Anderson übernommen. Der Opera Rara Chor und die Britten Sinfonia waren beide großartig, und der wunderbare Dirigent war der künstlerische Leiter von Opera Rara, Carlo Rizzi. All dies zusammen machte den Abend zu einem großartigen Erlebnis. Dieser Aufführung gingen einwöchige Aufnahmesitzungen voraus, und ich freue mich schon auf die Veröffentlichung der CDs.

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Und was ist mit der Oper selbst? Carlo Rizzi und Roger Parker (Repertoireberater von Opera Rara und Autor des Programmheftes des Abends) haben über die Freude geschrieben, die sie bei der Arbeit an der Partitur empfanden, nachdem sie das autographe Manuskript im Archiv des Konservatoriums von Neapel gefunden hatten. Sie verweisen auf den melodischen Erfindungsreichtum, die harmonischen Feinheiten und die reiche Instrumentation sowie auf Mercadantes Fähigkeit, große konzertante Sätze und Duette zu konstruieren, die die übliche Aufteilung in einzelne Sätze zugunsten psychologischer Einsichten und Wahrheiten verwischen. Einiges davon folgt den Reformen, die er fünf Jahre vor Il proscritto in seinem Manifest niederschrieb. Hier sagte er: Mit Il giuramento [habe ich] die Formen variiert, triviale Cabaletten abgeschafft, die crescendi verbannt; Prägnanz, weniger Wiederholungen, etwas Neues in den Kadenzen; die dramatische Seite gebührend berücksichtigt; die Orchestrierung reicher, ohne die Stimmen zu überschwemmen; lange Soli in den Ensemblenummern vermieden, da sie die anderen Stimmen zwangen, kalt daneben zu stehen, zum Nachteil der dramatischen Handlung; nicht viel große Trommel und Becken, und sehr wenig Banda [Bühnenbanda].

Man kann darüber diskutieren, wie sehr Mercadante sich in Il proscritto an dieses Credo hält. Ich werde darauf vertrauen, dass die Formen in den Duetten variiert werden – ich war zu sehr mit dem Fortgang des Dramas beschäftigt, um es an diesem Abend zu bemerken. Sicherlich gibt es noch viele cabalettas, aber ich gebe zu, dass ich cabalettas selten trivial finde! Prägnanz? Nicht in den großen Ensembles; darauf werde ich weiter unten zurückkommen. Es gibt reichlich große Trommeln und Becken. Was die Banda anbelangt, so wird die Oper mit einem Chor eröffnet, der mit riesigen und unerwarteten Banda-Unterbrechungen versehen ist, die noch deutlicher hervortreten, da die Musiker im Kreis und nicht außerhalb der Bühne positioniert sind: wenn schon nicht „Reform“, so doch auffallend und neuartig. Mercadantes Orchestrierung ist dichter und reichhaltiger als in mehr oder weniger zeitgenössischen Opern von Donizetti (was sie nicht per se besser macht) und viel dichter als in Bellinis Opern ein paar Jahre zuvor. Abgesehen von Odoardos Arie gibt es wenig oder gar keine fioritura in den Gesangslinien. Aber vielleicht spielt das alles keine Rolle. Ich habe die Musik geliebt und fand sie bei einmaligem Hören sehr beeindruckend; ich verließ den Saal mit einem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Team der Opera Rara und allen Musikern, die diese Wiederbelebung einer 180 Jahre lang ungehörten Oper möglich gemacht haben. Die nächste Etappe sollte eine Theateraufführung sein.

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Ramon Vargas und Dirigent Carlo Rizzi/ Foto Russell Duncan/ OR

Aber hier habe ich zwei Vorbehalte. Der erste ist, dass ich trotz des melodischen Reichtums nicht finde, dass sie in meinem Gedächtnis haften bleibt, und ich verlasse den Saal (entweder in der Pause oder am Ende des Abends) gerne mit einer Melodie, die in meinem Kopf schwirrt, etwas, das immer beim ersten Hören einer Verdi-Oper passiert ist und fast immer bei Donizetti. Bei Mercadante war das nur bei Il giuramento (das Duett für Bianca und Elaisa gegen Ende der Oper – 2002 live in Wexford gehört) und Orazi e Curiazi (eine Phrase im concertato des 1. Aktes, wie sie auf der Opera Rara-Aufnahme zu hören ist – und letzteres ist ein (vielleicht unbeabsichtigter) Kopie von Rossinis La donna del lago! (Siehe meinen Artikel im Newsletter 140).

Mein zweiter Vorbehalt betrifft den schieren Umfang dieser wunderbaren konzertanten Sätze. Ich habe sie im Konzert nicht gemessen, aber sie schienen ähnlich lang zu sein wie der im Finale des 1. In der Opera Rara-Aufnahme dauert es über 8 Minuten. Vergleichen Sie dies mit dem concertato in Donizettis Lucia, dem berühmten Sextett, das weniger als 4 Minuten dauert. Ich fürchte, dass 8+ Minuten einfach zu lang sind, um die Bühnenhandlung aufrechtzuerhalten, während Donizetti die Balance zwischen Aktion und Reflexion genau richtig hinbekommt. Übrigens ist die Struktur beider Sätze im Grunde die gleiche: A1A2B1B2C1C2, gefolgt von einer Kadenz und einer coda (obwohl die coda vielleicht eine etwas zu große Bezeichnung für die beiden Akkorde ist, die das Lucia-Sextett beenden). Jeder Teil des Orazi-Stücks ist doppelt so lang wie sein Gegenstück in Lucia. Das macht es zu einem wunderbaren Hörerlebnis, ob im Konzertsaal oder zu Hause auf CD, aber ich habe meine Zweifel, ob es auf der Bühne dramaturgisch sinnvoll ist.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein wunderbarer Abend war. Il proscritto reiht sich in eine lange Liste von Opera Rara-Wiederentdeckungen ein und schien mir schon beim ersten Hören ein vollwertiges Beispiel dafür zu sein, was Opera Rara ausmacht. Ich freue mich sehr auf die CD-Veröffentlichung und darauf, die Oper besser kennen zu lernen. Und ich freue mich darauf, den Tristan-Akkord zu entdecken, den Roger Parker uns verspricht, auch wenn ich ihn an diesem Abend verpasst habe. Alan Jackson/ Übersetzung G. H.

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Mercadantes Oper „Il proscritto“: der französische Dramatiker Fréderic Soulier (1800 – 1847)/ Opera Rara

Alas, nun ist hinterlässt ja ein Konzert als einmaliges und emotional befeuertes Hör-Erlebnis einen ganz anderen Eindruck als das wiederholte Abhören einer Studio-CD im eigenen Wohnzimmer mit Lautsprechern, Gardienen und Topfblumen. Es gibt einen akustisch exzellenten privaten Mitschnitt der oben erwähnten Aufführung aus dem Londoner Barbican von 2022, der Alan Jacksons Begeisterung nachvollziehen lässt, weil ganz offensichtlich der Abend alle Beteiligten zu großem, absolut nachvollziebarem Engagement geführt hat. Ich hab ihn oft und mit viel Vergnügen  abgehört. Sowohl Carlo Rizzi mit superben, flotten Tempi und einer gut aufgefächerten Dynamik wie auch die Sänger zeigen sich in Bestform. Die Saal-Akustik tut neben der ganz offensichtlichen Begeisterung der Zuhörer das Ihre zu einem rasanten Erlebnis, das auch den Hörer enthusiasmiert mit dem Fuß wippen lässt.

Alas, würde der Engländer sagen, live ist eben nicht Studio. Nun – kalt aufgenommen und sicher auch dem Regiment des Tonmeisters/ Produzenten unterworfen – wirkt die neue Aufnahme auf mich eher unbelebt, weniger spontan, vielleicht in einzelnen takes zu oft zur gewünschten Perfektion wiederholt, wie das bei Studioaufnahmen leider üblich ist, wo der letzte Ton bis zur Erschöpfung wiederholt wird, bis er „sitzt“ – auf Kosten von Spontanität und Ausdruck. Wie bei jpc (die auch keine Live-Mitschnitte präferieren) ist dies eine No-public-Studioeinspielung der getragenen, etwas rumsigen Tempi, die die Defizite der Sänger greller beleuchtet als sie in einem schmissigen Konzert auffallen, wo das mitreißende Engagement des Moments über weniger Perfektes hinwegträgt (Nicolais Rückkehr des Verdammten aus Chemnitz oder Meyerbeers Vasco da Gama bei jpc sind hier die besten Beispiele, wo die Live-Konzerte viel überzeugender waren als die „kalten“ Aufnahmen zwischen den Aufführungen im leeren Saal).

Mercadantes Oper „Il proscritto“: Der Librettist Salvatore Cammarano (1801 – 1852/ Opera Rara

Das betrifft vor allen den Tenor, dessen Mittel doch viel fortgeschrittener sind als erinnert, und die Mikros im Studio tun ihm (bei recht steifer Höhe) absolut keinen Gefallen. Auch Irene Roberts „(berührend als Malvina)“ und  Elizabeth DeShong „(sensationell in Odoardos großer Arie)“ unterscheiden sich im dunklen Timbre für mich zu wenig, um sie ohne Libretto in der Hand auseinander zu halten (zumal die Handlung auch gelinde gesagt etwas verwirrend ist). Irene Robert ist mir viel zu unitalienisch-gauming, zu unruhig im Ton und beide zu wenig dem Wort verpflichtet. Für Miss DeShong gilt nämliches. Auch wurden meine alten Vorurteilen gegen Sally Mathews auf dieser Einspielung nicht widerlegt: gaumig-quallig. Allerdings schlägt sich Iván Ayón-Rivas als Giorgio recht tapfer und bringt eine solide dunkle Note ins Geschehen bringt. Aber die Besetzung bis auf Vargas und Ayón-Rivas ist mir zu cis-alpin, zu insular, zu blutarm, zu wenig Neapel oder Palermo. Das ist natürlich Geschmackssache und für mich oft bei den Besetzungen von Opera Rara zu bemängeln. Bei allem Maulen ist dies dennoch eine außerordentlich lobenswerte Ergänzung zum immer umfangreicher werdenden Katalog der Mercadante-Opern. Und man muss schon deshalb wieder einmal Opera Rara für die Initiative selbst und die wie stets tolle Ausstattung des CD-Klappmanns (ganz ökologisch keine dicke Box mehr) loben. Ecco. G. H.

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Die Handlung: Die Oper spielt in der Mitte des 17. Jahrhunderts, während der Herrschaft Oliver Cromwells, in einem Schloss in der Nähe von Edinburgh sowie dessen Umgebung. Einige Zeit vor Beginn der Handlung hatte Malvina Douglas den für die Sache der Royalisten einstehenden Giorgio Argyll geheiratet, der jedoch in einen Schiffbruch geriet und totgeglaubt ist. Malvinas Mutter Anna sowie deren
Sohn aus einer früheren Ehe, Guglielmo Ruthven (ein Unterstützer Cromwells), drängen sie nun, Arturo Murray zu ehelichen (der ebenfalls auf der Seite Cromwells steht). Die Handlung beginnt am Tag von Malvinas und Arturos geplanter Hochzeit.

Zu Mercadantes „Proscritto“: Oliver Cromwell, Gemälde von Samuel Cooper 1656/ Wikipedia

1. Akt Festlich erleuchtete Gärten. Auf einer Seite führt eine prächtige Treppe zum Schloss hinauf, vor dem eine Bühne aufgebaut ist; darauf hat ein Orchester Platz genommen. Im Hintergrund liegt ein See, man sieht zahlreiche Boote, aus denen Damen, Ritter und Verwandte der Familie Murray steigen. Die Familie Ruthven begibt sich vom Schloss herab, um die Gäste feierlich willkommen zu heißen. Osvaldo gehört zu den Wachposten, die die Szene umgeben. Die versammelte Menge feiert die Hochzeit, die Malvina und Arturo gleich begehen werden (Chor: „D’amistàle soavi catene“). Guglielmo drängt Osvaldo jedoch zu Wachsamkeit, da in der Umgebung royalistische Rebellen entdeckt wurden. Arturo tritt auf und besingt seine Liebe zu Malvina (Cavatine: „Son del tuo volto immagine“). Ein großer Raum in den Gemächern Malvinas. Rechterhand eine Tür, die zu den inneren Räumen führt, auf der anderen Seite ein Eingang, der auf einen Korridor hinausgeht.
Die Szene beginnt mit einem Gespräch zwischen Clara, einer einstigen Bediensteten Giorgios und jetzigen Zofe Malvinas, und Odoardo, Malvinas jüngerem Bruder, der zu ihrer bevorstehenden Hochzeit aus London herbeigeeilt ist. Malvina tritt ein und schildert Odoardo den Schiffbruch, bei dem Giorgio ums Leben gekommen ist. Dann berichtet sie ihm von den Plänen ihrer Mutter und Guglielmos, sie mit dem
Cromwell-Unterstützer Arturo zu verheiraten. Zunächst habe sie ob dieses Ansinnens Gift nehmen wollen, doch im Laufe mehrerer Begegnungen mit Arturo sei zwischen ihnen ein Gefühl von Liebe entstanden. Allerdings wird Malvina beim Gedanken an ihren früheren Mann von Schuldgefühlen gequält. Odoardo versucht, sie zu trösten (Duett: „Il mar che freme“). Frauen kommen hinzu und führen Malvina zu ihrer Hochzeit. Giorgio trifft ein, Osvaldo begrüßt ihn. Giorgio bittet, mit Clara sprechen zu dürfen, weigert sich aber, seinen Namen zunennen. Osvaldos Verdacht ist geweckt, er geht davon. Giorgio ist voll Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner geliebten Malvina (Romanze: „L’aura ch’io spiro“), er ist überzeugt, dass ihn nach allem, was er durchgemacht hat, keiner der Gäste erkennen wird. Malvina kommt nach der Hochzeitszeremonie hinzu. Vor Entsetzen, so unvermittelt Giorgio gegenüberzustehen, schreit sie auf,
doch dann hört sie sich nähernde Schritte und bringt ihn, um seine Sicherheit fürchtend, in ihre Gemächer. Die Hochzeitsgesellschaft kommt, Osvaldo erzählt Guglielmo im Flüsterton, dass sich der unbekannte Gast wohl in Malvinas Räumen aufhalten müsse. Malvina will ihre offensichtliche Erregung leugnen, sinkt aber halb ohnmächtig in die Arme der sie umgebenden Frauen. Alle auf der Bühne Versammelten schildern ihre widerstreitenden Gefühle – Verzweiflung (Malvina), Bestürzung (Odoardo, Arturo), Verdacht (Guglielmo, Osvaldo) und Sorge (Anna, Clara) (Concertato: „Omai l’arcan terribile“). Guglielmo und Osvaldo beauftragen Bewaffnete, Malvinas Räume zu durchsuchen, doch Odoardo stellt sich schützend vor die Tür. Schwerter werden gezogen, da erscheint unvermittelt Giorgio. Er gibt seine Identität nicht preis, sagt aber, die Witwe Giorgio Argylls könne die Wahrheit über ihn offenbaren. Guglielmo befiehlt, den Fremden festzunehmen, wogegen Giorgio sich zunächst wehrt, doch dann händigt er Odoardo sein Schwert aus und fordert seine Widersacher auf, ihn zu töten und seinen Kopf vor das Brautpaar zu legen. Der Akt endet in allgemeinem Durcheinander („Il cor ne avvampa“).

Zu Mercadantes Oper „Il proscritto“: Titelblat zum Drama in 5 Akten, „Le proscrit“ von Fréderic Soulié und Thimothée Dehay/ Opera Rara

2. Akt Später am selben Tag. Ein Raum in den Gemächern, die Arturo überlassen wurden; er sitzt an einem Tisch, auf dem ein Schriftstück liegt. Osvaldo sagt Arturo, dass Guglielmo nach Edinburgh aufgebrochen sei, er wolle eine Truppe zusammenstellen, die den Fremden dorthin bringen solle. Als Osvaldo gegangen ist, liest Arturo einen Brief, den er von Malvina erhalten hat. Sie bittet ihn, dem Fremden zu helfen, der ein Freund ihres verstorbenen Ehemannes sei. Giorgio wird hereingebracht, und als sie allein sind, bietet Arturo ihm an, ihn freizulassen. Das aber weist Giorgio wütend von sich und offenbart zugleich, dass Malvina ihn früher geliebt habe. Damit bricht ein offener Konflikt zwischen den beiden Männern auf (Duett: „Ah! perché rovente acciaro“). Arturo verspricht Giorgio, ihm ein Schwert zu geben, damit sie bei Tagesanbruch ein Duell auf den Tod führen können. Mächtige Klippen, die zum Teil über das Meer hinausragen. Es ist Nacht, der Mond ist von Wolken bedeckt. Aus einer Höhle, deren Eingang hinter Dickicht verborgen liegt, treten Männer ins Freie, sie sind in Umhänge gehüllt: Dies sind die Verbannten, Giorgios Gefährten.Die Männer beschwören die dunkle Nacht und ihr Wanderdasein (Chor: „Ha steso la notte“). In der Ferne hören sie Dudelsäcke spielen, die stetig näherkommen. Odoardo trifft ein und sagt, dass er ihnen helfen könne, Giorgio zu retten. Zum Beweis seiner Vertrauenswürdigkeit berichtet er ihnen, dass Giorgio seinem und Malvinas Vater zu Hilfe gekommen sei, ihn vor den Henkern des Königs gerettet und um dessen Leben gefleht habe (Arie: „Ahi! del giorno sanguinoso“). Die Verbannten billigen Odoardos Rettungsplan und brechen zum Schloss auf. Im Inneren eines Turms. Rückwärts ein Balkon, seitlich eine Tür. Giorgio schläft, er träumt unruhig von Malvina, als sie und Odoardo hinzukommen. Odoardo wirft eine Strickleiter vom Balkon hinunter, sagt Malvina warnend, dass bald der Morgen graut, und geht davon. Giorgio erwacht, und Malvina teilt ihm mit, dass seine Gefährten auf ihn warten. In einem leidenschaftlichen Duett („Stretto agli avanzi fragili“) schildert Giorgio seine Verzweiflung nach dem Schiffbruch und seinen Schmerz, sie jetzt zu sehen. Als sie ihm jedoch sagt, dass sie mit ihm fliehen werde, bittet er sie, bei ihrem jetzigen Gemahl zu bleiben, anstatt mit ihm das Leben eines Vagabunden zu führen. Sie weigert sich und tritt auf den Balkon, und in dem Moment treffen Arturo und Guglielmo mit ihrem Gefolge ein. Arturo wirft seiner Braut Verrat vor, doch Giorgio verteidigt ihre Ehre und sagt, sie habe mit ihrem Gemahl fliehen wollen. Diese Offenbarung seiner Identität führt zu einem weiteren großartigen Ensemble (Concertato: „Tutta in lui piombò del fato“). Dann händigt ein Offizier Arturo einen Brief von Cromwell aus, der ihm das Verhör des Gefangenen überträgt und, sofern dieser schuldig sei, auch dessen Hinrichtung. Malvina, Odoardo und der Chor flehen Arturo an, Gnade walten zu lassen, doch sowohl er als auch Giorgio stehen sich unverändert feindlich gegenüber.

Zu Mercadantes „Proscritto“: The Battle of Naseby 1645, die entscheidende Schlacht zwischen Royalisten und Cromwellianern, Gemälde von Charles Landseer (1799 – 1879)/ Wikipedia

3. Akt Früh am nächsten Tag. Ein großer Raum neben dem Turm, hinten eine Tür. Giorgio sitzt, Malvina steht in großer Erregung in der Nähe der Türschwelle. Jenseits davon patrouillieren zwei Wachposten. Giorgio und Malvina warten auf Arturos Entscheidung. Giorgio wünscht sich den Tod, doch Malvina nimmt ihm das Versprechen ab, dass er sich zu leben entscheidet, wenn sie ihm zeigen kann, dass seine Befürchtungen wegen ihrer Zukunft mit Arturo unbegründet sind. Odoardo tritt ein und sagt, dass Arturo nach Giorgio geschickt habe. Giorgio geht mit Odoardo ab. Allein zurückgelassen, beschließt Malvina, dass sie sich töten muss, wird aber von Arturo unterbrochen, der ihr sagt, es stünde ihr frei, mit Giorgio fortzugehen. Malvina lehnt das Angebot ab und gesteht schließlich, dass sie Arturo trotz Giorgios Rückkehr nach wie vor liebe. Arturo ist überglücklich, doch Malvina sagt ihm ernst, nur im Himmel könnten sie vereint sein (Duett: „Vanne dunque“).Malvina tritt ab, und Giorgio stürmt herein, er hat den letzten Teil von Malvinas Gespräch mit Arturo gehört. Wieder fordert er seinen Rivalen heraus, der ihn zu beschwichtigen versucht, sich aber schließlich doch zu einem Duell bis auf den Tod aufstacheln lässt. Gerade wollen sie aufbrechen, als Malvina leichenblass hereintaumelt. Sie sagt, sie habe Gift genommen, und fleht beide an, ihre Versprechen ihr, Malvina, gegenüber zu erfüllen. Als sie zu Boden sinkt, eilt Giorgio zu ihr und bedeutet Arturo zu gehen. Seine letzten Worte lauten: „Spenta o viva è mia tuttor!“ (Ob tot oder lebendig, sie ist auf ewig mein!). © Roger Parker, 2023 – Übersetzung: Ursula Wulfekamp/Opera Rara

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Saverio Merrcadante: Il proscritto; Melodramma tragico in three acts, Libretto by Salvadore Cammarano, Premiered on 4 January 1842, Teatro San Carlo, Naples; Carlo Rizzi dirigiert die Britten Sinfonia und den Opera Rara Chorus; Ramón Vargas Giorgio Argyll, Iván Ayón-Rivas Arturo Murray, Irene Roberts Malvina Douglas, Elizabeth DeShong Odoardo Douglas Sally Matthews Anna Ruthven, Goderdzi Janelidze Guglielmo Ruthven, Susana Gaspar Clara, Alessandro Fisher Osvaldo, Niall Anderson An official of Cromwell; Recorded in studio conditions at Henry Wood Hall, June 2022, Opera Rara, 2 CD ORC62; 

Dank vor allem an Roger Parker für seine großzügige Genehmigung, Teile seines Artikels und die Inhaltsangabe aus dem Booklet der neuen Aufnahme in unserer Übersetzung zu übernehmen; Dank auch an Alan Jackson, seine auf der website der Londoner Donizetti Gesellschaft veröffentlichte Kritik des Konzertes 2022 in ebenfalls unserer Übersetzung übernehmen zu dürfen. Foto oben: Tyrone Power und Maureen O´Hara in „The black swan“/ Henry King 1957/ Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.

Solo Strauss

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Ihre erste CD bei Sony war noch ein wildes Mit- und Durcheinander von italienischer, deutscher, slawischer Musik, und sogar ein bisschen Operette war auch dabei nebst einem Puccini-Duett mit Jonas Kaufmann. Auf der zweiten CD nun gibt es keinen Star-Kollegen als schmückendes Beiwerk dafür aber ein so nachvollziehbares wie sinnvolles Programm mit Richard Strauss‘ Vier letzten Liedern und der Mondscheinmusik plus anschließendem Monolog der Gräfin aus Capriccio. Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen der CD sollte eigentlich an der Deutschen Oper Berlin Arabella mit dem Sopran in der Titelpartie Premiere feiern. Diese aber sagte Rachel Willis-Sørensen ab, und peu à peu trat sie auch von allen weiteren Vorstellungen zurück.

Dabei beweist ihre Strauss-CD, dass die amerikanische Sängerin das Rüstzeug für den bajuwarischen Komponisten hat, sie sang bereits mehrfach die Marschallin und  2021 in Paris die Vier letzten Lieder, die sie zudem zur Geburtstagsfeier von damals noch Prince Charles im Buckingham Palace zu Gehör brachte.

Nicht nur die Lieder sind die letzten die Strauss komponierte, auch die Oper Capriccio ist sein letztes Bühnenwerk, 1942, ein Jahr vor  der Bombardierung der Münchner Staatsoper, entstanden, während die Lieder nach Kriegsende in den Jahren 1946 bis 1948 komponiert  und erst posthum von Kirsten Flagstad im Jahre 1950 uraufgeführt wurden. Fassungslos hatte der Komponist vor den Trümmern des Opernhauses gestanden, dessen Verlust er als den erschütterndsten seines Lebens empfand, das Schicksal Dresdens und Weimars beklagte er später, und man kann darüber spekulieren, wie viel von diesen Empfindungen in sein letztes Werk eingeflossen ist.

Es beginnt mit dem fast zwei Oktaven umfassenden Frühling, in dem der Sopran beweisen kann, dass er über die notwendigen Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit Strauss verfügt, über eine sichere Höhe, die ein A im Pianissimo nicht scheuen muss, ein reiches Farbspektrum, eine Reife und Fülle, die es mit einem robusten Orchesterklang aufnahmen können, das feine Umspielen von „selige“. Unüberhörbar ist aber leider auch die verwaschene Diktion, die man einem Strauss-Sopran notgedrungen in einer der berüchtigten Opernpartien noch verzeihen muss, nicht aber im Liedgesang, vor allem wenn der Dirigent Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig keinerlei Anlass dafür geben. In September erfreuen die weitgespannten Bögen und Klanggirlanden, das verhangene „trauert“ und das matte „leise“. Eine gute Mittellage und eine aufblühende Höhe werden für Beim Schlafengehen eingesetzt, während das Orchester zwischen der zweiten und dritten Strophe seine hervorragenden Qualitäten unter Beweis stellt. Das getragene Im Abendrot schließlich beeindruckt besonders durch das schöne Legato, den Schwellton auf „Freude“.

Wunderbar wie in Capriccio der Mondschein den Raum zu überfluten scheint, ehe der Haushofmeister mit der schlanken Stimme von Sebastian Pilgrim das Wort ergreift. Willis-Sorensen unterscheidet fein zwischen Sonettvortrag und Reflektion, hat im Konversationston auch immer eine leichte Melancholie und lässt die Stimme in der Höhe aufblühen. Vom beiläufig Plaudernden bis hin zur Emphase werden viele Möglichkeiten der Darstellung klug ausgeschöpft bis hin zum Fahlwerden des Soprans auf „Tod“. Alles in allem lässt die CD bedauern, dass man die Arabella von Rachel Willis-Sørensen (noch) nicht in Berlin erleben durfte (Sony 19439921722). Ingrid Wanja

Auf barocken Abwegen

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Verwundert nimmt man den Titel der neuen CD von Michael Spyres bei seiner Stammfirma ERATO zur Kenntnis: Contra-Tenor? Schon bei seiner letzten Platte Baritenor hatte der amerikanische Tenor zwei Stimmfächer bedient, sollte er sich nun noch in einem dritten versuchen? Wörtlich übersetzt, bedeutet Contra-Tenor allerdings die Gegenstimme zum Tenor, wie sie in der Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Einsatz kam. In seinem Einführungstext im Booklet spricht der Sänger über die Kategorisierungen der männlichen Stimmen im Barock: Tenor, Contre-Tenor, HauteContre, Baritenor… Sänger dieser Gattung wurden bald als tenori assoluti zu den Konkurrenten der gefeierten Kastraten. Komponisten schrieben für sie Partien von Königen und Göttern, welche diese Sänger mit Schönheit, Technik, Virtuosität und Kraft interpretierten. Legendäre Vertreter dieses Stimmtyps waren beispielsweise Francesco Borosini, Annibale Pio Fabri, Angelo Maria Amorevoli und der Deutsche Anton Raaff, der im höheren Alter von 65 Jahren noch die Titelrolle in Mozarts Idomeneo kreierte. Die Kunst dieser divi wollte Spyres mit seinem Album (5054197293467) wieder zum Leben erwecken. Zweifellos ist das ein verdienstvolles Unterfangen, doch erklärt das nicht die Wahl der Stimmgattung im Titel der CD. Denn Spyres singt fasst nur Tenorpartien und keine von Kastraten, welche in unserer Zeit von Sopranisten,  Countertenören oder Altisten wahrgenommen werden.

Das Programm umfasst 15 Titel von 15 verschiedenen Komponisten, darunter drei Weltersteinspielungen, beginnend mit zwei kurzen Ausschnitten aus Jean-Baptiste Lullys Persée. Im zweiten, einer Passacaille, hat das begleitende Ensemble Il Pomo d’Oro unter Francesco Corti Gelegenheit für ein animiertes Musizieren. Auch vom anderen großen Vertreter des französischen Barock, Jean-Philippe Rameau, findet sich ein Tonbeispiel mit dem sanften Air des Neptune, „Cessez de ravager la terre“, aus Naïs, in welchem Spyres die Stimme schweben lassen kann und sie raffiniert moduliert.

Aus dem Schaffen von George Frideric Handel wurde die Szene des Bajazet, „Empio, per farti guerra“, aus Tamerlano ausgewählt.

Hier klingt die Stimme des Interpreten heroisch und mächtig, wird mit vehementem Einsatz geführt – der Ausschnitt wirkt besonders gelungen. Es folgt aus Antonio Vivaldis Artabano, re de´ parti die Arie des Titelhelden „Cada pur sol capo audace“, in der Spyres seine resonante Mittellage wirkungsvoll einsetzen kann. Besonders virtuose Musik komponierte Leonardo Vinci, wovon die Arie des Titelhelden aus Catone in Utica, „Si sgomenti alle sue pene“, zeugt, welche dem Sänger bravouröse Koloraturgirlanden abverlangt. Spyres absolviert sie mit Glanz. Ähnlich anspruchsvoll für den Sänger sind die Opern von Nicola Porpora, von denen Segestos „Nocchier, che mai non vide“ aus Germanico in Germania ausgewählt wurde. Es ist eine Gleichnis-Arie vom Steuermann in hüpfendem Melos, mit virtuosen staccati und extrem hohen Noten, die Spyres lustvoll vorträgt. Einen schönen Kontrast bringt das wiegende „Fra l’ombre“ des Ulisse aus Domenico Sarros Achille in Sciro, dessen Melismen der Tenor genüsslich auskostet, in der exponierten Höhe allerdings einige forcierte Töne nicht vermeiden kann.  Solche finden sich auch in der schwärmerischen Arie des Titelhelden „Vil trofeo d´un´alma imbelle“ aus Baldassare Galuppis Alessandro nell´Indie.

Weniger bekannt ist der Komponist Gaetano Latilla, doch stammt das Libretto zu seiner Oper Siroe, re di Persia immerhin von Pietro Metastasio. Daraus erklingt als eine der Weltpremieren die stürmische Arie des Cosroe „Se il mio paterno amore“, die das Orchester mit Vehemenz einleitet. Spyres singt sie mit höchster Bravour und totalem gestalterischem  Engagement. Von Johann Adolf Hasse ist die Arie des Segesto „Solcar pensar un mar sicuro“ aus Arminio zu hören – auch diese ein Gleichnis von Himmel und Meer, nur weniger dramatisch, doch dafür mit höchster Tessitura. Auch Antonio Maria Mazzoni zählt zu den weniger populären Barockmeistern. Aus seiner Oper Antigono ist die Arie des Titelhelden „Tu m´involasti un regno“ zu hören, der darin energisch auftrumpft, allerdings auch einen schmerzenden Extremton absolvieren muss (die frühere Gesamtaufnahme aus Martina Franca mit Spyres ist bei Dynamic noch im Programm).

Bekanntester Titel der Anthologie ist Orphées „J’ai perdu mon Euridice“ aus Christoph Willibald Glucks Oper. Die empfindsame Gestaltung des Sängers reiht sich würdig ein in die zahllosen Modell-Interpretationen dieser Nummer. Mozarts Frühwerk Mitridate, re di Ponto erlebte in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Wiederbelebung. Spyres selbst hat die Titelrolle Ende 2020 in einer Gesamtaufnahme von ERATO interpretiert und stellt auf diesem Recital noch einmal Mitridate Arie „Se di lauri“ vor. Sie spiegelt im Vortrag des Sängers Größe und Würde des Herrschers wider. Das Programm endet mit Médors „En butte aux fureurs de l’orage“ aus Niccolò Piccinnis Roland. Es ist eine Partie, welche bei der  Uraufführung tatsächlich von einem Haute-Contre, dem bekannten Joseph Legros, verkörpert wurde. Dieses Gleichnis vom tobenden Sturm ist ein effektvoller Abschluss, in welchem auch das begleitende Ensemble mit Bravour aufspielt. Und der Solist kann noch einmal mit virtuosen Koloraturläufen und gestalterischer Verve glänzen. Bernd Hoppe

Bis zum Frühstück ist alles erledigt

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Im Gegensatz zu der wegen ihrer politischen Sprengkraft ursprünglich wenig genehmen Halka, die heute als polnische Nationaloper gilt, war Stanislaw Moniuszkos Idyllen, die das Polen des 18. Jahrhunderts auf die Opernbühne zauberten, von Anfang ein großer Erfolg beschieden. Dazu gehört auch der 1861 an dem von ihm seit 1858 geleiteten Teatr Wielki in Warschau uraufgeführte Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort). Bereits die leichtfüßige Allegro vivo-Ouvertüre illustriert auf charmierende Weise den anbrechenden Morgen auf dem Landgut des Pan Serwacy, wo der Diener Bartholomiej die jungen Leute zu Ehren von Serwacys Tochter Zuzia zu einem Huldigungschor aufstellt. Wie ein Sonnenstrahl über einer altpolnischen Ideallandschaft verströmt diese Genreszene eine wohlige Gemütlichkeit, so dass sich die kleinen Turbulenzen während Zuzias Namenstag im Lauf des gut einstündigen Einakters bis zum Frühstück bequem klären lassen und im Polka-Quintett der fünf Protagonisten mit Chor die zunächst aussichtslos scheinende Heirat des jungen Paares gefeiert werden kann. Zuzia hat sich in Stanislaw verliebt, den sie durch einen Kutschunfall kennenlernte. Beide gestehen sich walzerselig ihre Liebe, werden aber vom Serwacy daran erinnert, dass er einst seinem Freund Pan Marcin sein Ehrenwort gegeben habe, dass Zuzia dereinst dessen Sohn heiraten werde. Das Ehrenwort ist heilig. Da hilft keinen Weinen. Stanislaw versteht das. Zuzia jammert. Nun erscheint Pan Marcin und preist in höchsten Tönen die Verzüge seines Sohns Michal, der in einer Woche ankommen werde, worauf sofort die Hochzeit stattfinden könne. Kurz zerstreiten sich Serwacy und Martin, als Serwacy erzählt, seine Tochter habe Gefühle für einen Fremden entwickelt, der ihr bei einem Unfall zu Seite gestanden habe. Rechtzeitig klärt Stanislaw alles auf. Er ist Martins Sohn Michal, der sich nach dem Unfall im Hause des Nachbar Serwacy mit anderem Namen einführte, damit sein Vater nichts von dem Unfall erfahre. Das Libretto stammt von Jan Checinski, der darin eine Rückbesinnung auf nationale Tugenden und Identität beschwört, wie sie später auch im Gespensterschloss eine Rolle spielt, und Landadel und Bauern als große Familie zeigt. Zum Motor werden polnische Traditionen, wie Mazurka und Polonaise, die Moniuszko gekonnt mit westlichen Einflüssen mischte, man denke an Auber, ein wenig auch an südliche Buffolaune, die ihm als versiertem Kapellmeister natürlich vertraut waren.

Alles ist passgenau, keine Nummer zu lang, dazu gehören das nette Terzett der jungen Liebenden mit dem Brautvater, der aufschneiderische Vortrag des Marcin oder das Duett der Väter. Das Werk ist hübsch und würde, wie manche Einakter von Lortzing, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy oder Weber, auf Minibühnen Beachtung verdienen.

Es ist ja nicht so, dass dieses hübsche Opernchen unbekannt ist, das sich in einigen nationalen LP-CD-Ausgaben bei Muza und anderen polnischen Labels findet (vergl. ein Blick zu Discogs), das uns zuletzt auf der DUX-Aufnahme aus Szczecin von 2010 begegnete; bereits 1969 spielte Robert Satanowski den Einakter in Posen ein. Kurze internationale Aufmerksamkeit auf CD sichert nun dem Ehrenwort der geradezu bravourös auffahrende Fabio Biondi, dessen Herz seit Jahren für Moniuszko schlägt – zuletzt bei der 2020 im Teatr Wielki entstandenen Hrabina. Im Rahmen des Chopin and his Europe-Festivals setzte Biondi sich im August 2021 für Verbum nobile ein, Mit dabei im Teatr Wielki waren, wie stets, Biondis Orchester Europa Galante und der Podlasie Opera and Philharmonic Choir. Adam Palka, vor allem durch seine Auftritte in Stuttgart (u.a. Leporello, Boris, Mefistofele), bekannt, ist als Bartolomiej das rund plappernde Bass-Faktotum, das seine Buffoarie elegant ausformt. Jan Martiník und Stanislav Kuflyuk sind als Serwacy und Marcin die gemütlich tiefstimmigen Gutsherren Serwacy und Marcin. Mit dunklem Sopran und elegischem Ton verleiht Olga Pasiecznik der Zuzia ein Gesicht, die bei Biondi erstmals ihre Dumka (Track 15) in der Version singen kann, die Moniuszko am Neujahrstag 1861 dirigierte. Mariusz Godlewski, wie Martiník bereits auf der Hrabina zu hören, klingt als Liebhaber Stanislaw/ Michal in seinem Couplet fast italienisch schwungvoll, allerdings nicht mehr so jugendlich, wie man ihn Zuzia wünschen würde. Die Ausstattung ist, wie immer in dieser Reihe, prachtvoll (1 CD NIFCCD09). Ich frage mich nur, wer sich noch so großzügig dimensionierte CD-Ausgaben ins Regal stellen will (07.04.23).  Rolf Fath

 

Flotte Nummer

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Eine Rarität legt OPUS ARTE auf Blu-ray Disc vor (OABD7309D). Damit ist natürlich nicht Handels Oratorio Semele gemeint, welches auf dem Musikmarkt vielfach vertreten ist, sondern dessen Aufführungsort – die New Zealand Opera. In der Holy Trinity Cathedral von Auckland haben Thomas de Mallet Burgess und Jacqueline Coats das Werk als Musical Drama inszeniert. Die Aufführung fand am 29. September 2021 statt. Die Ouverture wird mit Filmaufnahmen bebildert, welche Angehörige der britischen High Society bei den Vorbereitungen zur Hochzeit von Semele und Athamas zeigen. Das bietet dem Ausstatter Tracy Grant Lord Gelegenheit für eine opulente Kostümierung mit upper class-Roben samt extravaganten Hüten. Der New Zealand Opera Chorus und der Holy Trinity Cathedral Choir können gleich im feierlichen „Lucky omens bless our rites“ mit machtvollem Gesang aufwarten. „Hail Cadmus“ am Ende des 1. Aktes ist dagegen klanglich unausgewogen. Aber am Schluss können beide Ensembles mit dem jauchzenden „Happy, happy shall we be“ wieder punkten.

Prominent besetzt ist die Titelrolle mit Emma Pearson, die gleich zu Beginn im weißen Brautkleid ihr Los beklagt, soll sie doch Athamas heiraten und ist noch ganz erfüllt von ihrer vorherigen Begegnung mit Zeus. Dieser kommt in Ledermontur auf einem Motorrad herbei geprescht und stört nicht nur die Hochzeit empfindlich, sondern entführt gar die Braut. Am Ende des 1. Aktes fällt ihr der Hit „Endless pleasure“ zu, den sie wie eine Schlagersängerin ins Mikrofon singt und dabei auch strenge Töne hören lässt. Im 2. Akt hat sie mit „O sleep, why dost thou leave me?“ gleichfalls eine berühmte Nummer, die sie, auf einer großen Liege gebettet, mit recht larmoyantem Klang  absolviert. Ihr Glanzstück im 3. Akt ist „Myself I shall adore“, das ihr – wieder mit dem Handmikrofon – beachtlich gelingt. Sehr expressiv gezeichnet ist das Accompagnato „Ah me! too late“ bei ihrem Tod.

Die weiteren Interpreten sind hierzulande weniger bekannt, bieten aber ein solides Niveau. Amitai Pati ist der Jupiter und Apollo in bester britischer Oratorientenor-Tradition, was sein „Where’er you walk“ zum stimmlichen Fest werden lässt, Sarah Castle mit resolutem Mezzo die Göttergattin Juno und gefühlvollem Semeles Schwester Ino. Letztere liebt den Prinzen Athamas, den Stephen Diaz mit klangvollem Alt und starker Empfindung singt. Nach dem Willen des Königs Cadmus (Paul Whelan, der mit sonorem Bass auch den Somnus gibt) soll er Semele heiraten. Chelsea Dolman singt bemerkenswert die Iris mit substanzreichem. leuchtendem Sopran.

Mit Peter Walls steht ein kompetenter Dirigent am Pult des New Zealand Opera Baroque Orchestra, der die Dynamik der Musik, ihre Farben und Tempi zu optimaler Wirkung bringt. Der Titel des Klangkörpers sagt schon viel aus über seine Affinität zu diesem besonderen Musikstil und das authentische Klangbild hält dem  Vergleich mit renommierten Ensembles der Alten Musik durchaus stand. Bernd Hoppe

Goldmarks „Götz von Berlichingen“

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Mehr als die in jüngster Zeit gelegentlich in Freiburg und Budapest aufgeführte Oper Die Königin von Saba (und vielleicht noch daraus die früher in Radio-Wunschkonzerten gern gespielte Tenor-Arie„Magische Töne“ und gelegentlich die Tondichtung „Ländliche Hochzeit“) ist von Carl Goldmark nicht übrig geblieben. Dabei war gerade die Saba im frühen 20. Jahrhundert ungemein erfolgreich. Immerhin sorgen heute Sänger wie Roberto Alagna (naja), Peter Seiffert, Siegfried Jerusalem (mit Gesamtaufnahme), Jonas Kaufmann und manche andere für den Fortbestand zumindest dieses Stückes aus der Oper, von den Großen der Schellackzeit ganz zu schweigen.

Aber wie der jüngere Kollege Lortzing, oder Brüll, Flotow, Nessler und andere mehr werden deren Opern-Stoffe nicht mehr als zeitgemäß erachtet (oder werden ignorant dafür gehalten). Und vielleicht ist das angesichts der Bedenkenlosigkeit heutiger Regisseure auch gut so, dass sie diese zerbrechlichen und außerordentlich an ihre Zeit und deren Geschmack, Bildung und Tradition gebundenen Stoffe nicht in die Finger bekommen. Man mag sich nicht ausmalen, wie heutige Aufführungen davon aussehen würden (und da machte die indiskutable Freiburger Inszenierung der Saba keine Ausnahme, die Budapester zumindest blieb angenehm konventionell, wie sich das gehört).

Johann Hofer: „Carl Goldmark, Komponist der Ringstraßenzeit“/ Edition Steinbauer

Aber schade ist´s, die schöne Musik und diese eben typischen  Melodien des deutschsprachigen Raums nicht mehr hören zu können. Nur wir Älteren können das ermessen. Und so ist es mir ein Anliegen, dieses Fehlen zumindest in unserem online-Rahmen mit einem Opernführer zum Götz von Berlichingen Carl Goldmarks  etwas zu korrigieren,. Denn der hat nicht nur die Saba geschrieben.

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Wir haben dem Theatermann Ingolf Huhn ja schon viele dicke Kränze geflochten. Als Fan des nun heutigen Operndirektors im erzgebirgischen  Annaberg-Buchholz  reiste ich zu dessen Produktionen an den kleineren Bühnen Ost-Deutschlands, denn Huhn war und ist der Champion für die Deutsche Romantische Oper(wobei schon das Wort deutsch Stirnrunzeln der jungen Grünen hervorrufen wird, man ist heute nicht gerne deutsch …). Lortzings Weihnachtsabend, Der Pole und sein Kind, Rolands Knappen  und Andreas Hofer, Dorns Nibelungen, Goldmarks Götz von Berlichingen, Gasts Löwe von Venedig (folgt demnächste bei operalounge.de), jüngst Hahns Hochzeit des Job und viele andere vergessene Opern kamen durch Ingolf Huhn erneut zum Leben, immer im Rahmen der Möglichkeiten der kleinen Theater in Döbeln, Freiberg, Plauen oder zuletzt eben nun Annaberg. Und so beruht der nachstehende Artikel über Goldmarks vergessene Oper, Szenen aus dem Leben Götz von Berlichingen, auf den Vorstellungen am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg 2012 und auf dem Programmheft der Dramaturgin Annalen Hasselwarder.

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Jason-Nandor Tomory sang die Titelrolle am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz; in weiteren Partien hörte man Tatjana Conrad / Nadine Dobbriner, Juliane Roscher-Zücker, Madelaine Vogt, László Varga, Michael Junge, Frank Unger, Bettina Grothkopf, Bettina Corthy-Hildebrandt u. a.; Extrachor unter 
Naoshi Takahashi am Pult der Erzgebirgische Philharmonie Aue und des Chores des Eduard-von-Winterstein-Theaters/ Eduard-von-Winterstein-Theater

Der Theaterbesuch: Nur mit Mühen erreicht der interessierte Hauptstadt-Besucher das Berlin-ferne Annaberg (eigentlich Annaberg-Buchholz) im Erzgebirge, unweit der tschechischen Grenze. Im bezaubernden kleinen Eduard-von-Winterstein-Theater aus der Mitte des letzten Jahrhunderts residiert Ingolf Huhn als Intendant und gräbt, wie bereits auf seinen Stationen in Döbeln, Freiberg, Zwickau und Plauen, Ungehörtes aus der Wende des vor-vergangenen Jahrhunderts aus. Nach solchen Trouvaillen wie den Nibelungen von Dorn, Einaktern von Lortzing, Nesslers Rattenfänger, Schillings Pfeifertag und ähnlichem reizte diesmal der Götz von Berlichingen Goldmarks von 1902, den wirklich niemand nach 1930 mehr gehört hat, schon weil Goldmark Sohn eines jüdischen Kantors in Budapest war.

.Der Besuch in Annaberg war in vielerlei Hinsicht eine Reise in die nahe und ferne Vergangenheit. Schon die Anfahrt mit ihren Teilstrecken via Chemnitz – zweimal umsteigen und dann mit dem Bus – abenteuerlich! Die schmucke Erzgebirgsbahn für die letzte Etappe versetzte mich in Rübezahl-Stimmung angesichts der dicht bewaldeten Täler und naherückenden Berge mit ihren steilen Hängen, mit Wasserfällen und Schluchten.

Der Ort selbst wie geleckt und am Sonntag menschenleer, der hübsche Marktplatz und die trutzige St. Annenkirche eindrucksvoll-verlassen. Mengenweise Handarbeits- und Andenkenläden, die vom Tourismus sprechen, der wohl überwiegend im Winter bei Schifahrern anläuft. “Der Wilde Mann”, das Hotel am Platze, altmodisch-würdig-dunkel – all dies versetzt den Westbesucher in die sechziger Jahre eines DDR-Ferienortes der Nachsaison. Grimms-Märchen-Atmosphäre mit schwieriger Versorgungslage – natürlich sonntags nix zu essen, da blieben nur die Nüsse auf dem Zimmer

Goldmarks „Götz von Berlichingen“ am Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz/ Foto Eduard-von-Winterstein-Theater

Und in diese rückwärtsgewandte Stimmung passt auch der Götz von Berlichingen (eigentlich “Szenen aus…”) im Theater (reizende Eisensäulen stützen den Balkon), wo eine solide Rechts-Links-Mitte-Regie des Hausherrn mit realistischen Anklängen in Stil-Kostümen und Dreh-Kulisse (Annabel von Berlichingen, Chemnitzer Event-Künstlerin aus einer Nebenlinie) das Geschehen wie ein Schwindtsches Mammutgemälde ausbreitet: Szenen nach Goethes Dichtung mit abenteuerlichem Stabreim, aber auch mit dem berühmten Originalzitat („Leckt mich am A…“), mehr als ansprechend, zum Teil überraschend toll gesungen, nur die Geigen/Hörner der Erzgebirgischen Philharmonie Aue wiesen auf die begrenzten Mittel des Institutes hin. Aber wir waren ja auch in Annaberg und nicht an der Met (und was man da manchmal hört…). Und alles buchstäblich mit Hauskräften besetzt – eine große Tat!

Vielleicht hatte sich der Ausflug (für mich) eher wegen der musikhistorischen Informationen gelohnt als wegen eines lukullischen Erlebnisses, denn Goldmarks Musik ist eine späte, sehr und zu späte. Sie bot dem Premieren-Publikum der Opernhäuser Budapests und Frankfurts, danach Wiens und anderer Metropolen (wo das Werk einen Siegeszug antrat, den wir uns heute kaum vorstellen können), wie in einem Digest die Highlights aus dem bis dahin beliebten Repertoire. Meterweise, absolut unverstellt, wird aus der Königin von Saba, Goldmarks internationalem und einzig nachgekommenem Erfolgswerk von 1875, zitiert, die Anlagen ganzer Szenen (etwa Adelheids großes Solo im 4.Akt) beruhen darauf in orientalisierter Melodik wie auch in der Figurenzeichnung. Leider sind (nicht nur mir) die übrigen Werke Goldmarks zu wenig im Ohr (es gibt Dokumente, s. nachstehend!), sonst hörte man sicher Ähnlichkeiten/ Zitate zu/aus Merlin, Briseis oder dem Heimchen am Herd. Unüberhörbar ist die Musiksprache Humperdincks und des Wagnernachfolgers Cornelius, aber auch Wagner selbst kommt mit Siegfried und Walküre zu Worte, vom Tannhäuser ganz zu schweigen.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Hilde Greiff-Andriesen (hier als Königin von Saba) sang Adelheid in Frankfurt/ Foto Luther

Das erinnert an Leoncavallos Roland mit seinen opportunistischen Wagner-Einstreuungen, um Wilhelm I. zu gefallen.  Goldmark, dessen Götz ein Riesenerfolg vor allem in Deutschland, war und der  allein bei der Frankfurter Premiere 40 Vorhänge erhielt, bediente eben die Erwartungen eines konservativen Deutschlands in der ersten Kaiserzeit, und die Oper wirkt so restaurativ wie die Fassaden vieler Gründerzeit-Häuser in Annaberg, eine merkwürdige Parallele.

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In der Folge finden sich zeitgenössische Kritiken, die sich überraschend klar zu Aufbau und musikalischen Meriten/Defekten äußern, namentlich der Vater des Komponisten Korngold, Julius Korngold, macht da besonders gute Figur.

Im Bühnentelegraf schreibt der Kritiker zur Uraufführung in Budapest 1902: „In der Wahl seiner Stoffe liebte Goldmark von jeher Überraschungen. Aus der schwülen Farbenpracht des Orients zog er plötzlich nach den nordischen Gestaden zu König Artus und von hier nach der schlichten Dorfhütte, in der das Heimchen zirpte, um dann mit einem Male auf hohem Kothurn in den strengen Säulenbau Trojas einzutreten (Briseis). Immer aber ruhte sein Auge auf der freundlichen Bergschroffe, von welcher Burg Jaxthausen (sic !!) in deutsche Gaue blickte. Der durch langer Jahre Flucht gehegte Herzenswunsch des alten, doch nicht greisen Tondichters, den knorrigen, doch edlen Ritter Götz auf die Opernbühne zu stellen, all das markig schreitende Heldentum, das glühende Minnespiel, das Toben entzügelter Volksmassen, das Grauen des geheimen Femegerichts im Goetheschen Jugendwerk in Noten zu bannen, ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun ist nun zur That geworden. Ein wichtiges, festgefügtes Drama ist nun freilich der also vertonte Götz noch weit weniger als Goethes Stück (…). Und Herr Willner, der, dem Drängen des Komponisten gehorchend, die leidige Aufnahme übernahm, das Werk zum Libretto zurechtzustutzen, erinnert lebhaft an den Mann, der einen Goldklumpen gefunden und ihn nicht heben kann, ohne ihn in Stücke zu schlagen. Auch er schlägt Goetz in Stücke, die er, ungleich im Werte wie sie sind, mit all ihren Sprüngen und Rissen dem Komponisten überlässt – diesen hierdurch zu einer musikalischen Kurzatmigkeit zwingend, die mit dem natürlichen Bedürfnis jeder Musik, sich auszu- breiten, stellenweise bald zu retardieren, bald zu ruhen, im peinlichsten Widerspruch steht. In neun Bilder gezwängt, drängt die Handlung mit Eilzugstempo nach vorn, und Goldmark musste sich, auf Stileinheit ebenso Verzicht leistend wie auf jeglichen psychologischen Zusammenhang, darauf beschränken, jede einzelne der Scenen aus Götz von Berlichingen (…) für sich zu vertonen. Und was das fahrige Hin und Her, den kaleidoskopartigen Wechsel der zahlreichen Scenen noch erhöht, ist das fortwährende Ineinandergreifen der gewisser- massen rivalisierenden zwei Handlungen, die auch im Schauspiel Goethes parallel nebenein- anderlaufen und deren erste und für die Oper zumindest wichtigere Adelheid und Franz zum Mittelpunkt hat. Götz selbst ist nur scheinbar der ‚Held des Stückes’ und steht an der Spitze von Ereignissen, die nicht er herbeigeführt hat. Im Vordergrund bleibt einzig Adelheids und Franz’ sündige und gesühnte Liebe, und erst dort, wo diese zu Worte kommt, weicht auch die fast teilnahmslose Kühle, mit der das Orchester anfangs die Bühnenvorgänge beglei- tet, voller reich strömender Herzenswärme.

Carl Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Heinrich Hensel (1894 – 1935 hier als Lohengrin), sang den Franz in Frankfurt/Foto Luther

Fordert das Textbuch mehr als einmal unsere Spottlust heraus, so muss man mit umso ehrlicher Achtung und Bewunderung vom musikalischen Theil jugendliche Frische des Goldmark der Saba, vielleicht auch die klassische Formenreinheit des Briseis-Komponisten mangeln. In der malenden Pracht seiner Farben, in der Schärfe seiner Charakteristik und der staunenden Man- nigfaltigkeit der wiederholt auch aus dem Born des deutschen Volkslieds geschöpften Stimmungen ist auch diese Partitur ein echter, voller Goldmark. (…) In der orchestralen Untermalung der Bühnenvorgänge zieht Goldmark diesmal eine ganze Reihe neuer, bunter Register auf, er- geht sich in einer Unzahl reizend illustrierender Wendungen, fügt Triolen für die lockende Adel- heid hinzu, untermalt Treuebruch und Klage mit entsprechenden Klangfolgen…”

Und Vater Julius Korngold schreibt in der Neuen Freien Presse Wien über Budapest 1902: „… Einfaches Rezitieren über durchsichtigster Orchesterbegleitung scheidet sich bewusst von der merklich gekürzten, dramatischen Melodie, und die Charakteristik hat etwas Schrittweises. Wo die Situation Lyrik zulässt, knospt ein Arioso auf; neben diesen Blumenbeetlein des Gesangs schaffen sich Sträuchergrüppchen orchestraler Vor- und Zwischenspiele Raum. (…) Im Götz scheint oft der schichte volkstümliche Ton des Schauspiels ein Spiegelbild finden zu wollen in einer schlichten, volkstümlichen Musik. Und die Königin von Saba scheint auch das mittelalterliche Deutschland im Inkognito einer Adelheid von Walldorf aufzusuchen…“

Und im Pester Lloyd, 1902 schreibt August Beer (immerhin!): „Als interessantes Gegenstück zu dem knorrigen Titelhelden erscheint die andere Hauptfigur, die schöne gleisnerische Verführerin Adelheid. Die Liebesszenen ins- besondere mit ihrem großen Crescendo von zarter Schwärmerei bis zu lodernder Gluth sind geradehin Prachtstücke erotischer Lyrik. Geschickt wird das heitere, volkstümliche Element eingeflochten. Die grotesk-zierliche Musik in der Pagenszene, melodiöse Strophengesänge von populärer Fassung blitzen wie helle Glanzlichter in die immer tragischer sich zuspitzende Handlung. Farbiges Leben bringen dazwischen auch Ensembles und Chöre, letztere zumeist im Dienste dramatischer Steigerungen. (Das Orchester dient) dem unablässigen Untermalen der Szene in zahllosen, gleichsam nur der Momentaufnahme dienenden Details…”

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: zeitgenössische Illustration zu Goethes Dichtung/ DW-Sonstiges-Frankfurt-Archiv

Jetzt ganz schnell nocdh die nötigen Angaben zu Goldmark nach Seegers Opernlexikon/Berlin 1978: Goldmark, Karl, geb. 18.5.1830 Keszthely/ Ungarn, gest. 2.1.1915 Wien; ung.-österr. Kom- ponist. Stud. Wien/privat bei L. Jansa und Kons.; wurde Geiger und Kl-Lehrer in Ödenburg, Budapest und Wien; schrieb neben Instrumentalmusik die Opern Die Königin von Saba/1875; Merlin/1886; Das Heimchen am Herd/1896, Die Kriegsgefangene/ i. e. Briseis, 1899; Götz von Berlichingen/1902; Ein Wintermärchen/1907.

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An Operndokumenten gibt´s – außer der Königin von Saba in manchen Mitschnitten und drei Gesamtaufnahmen (Ponto/ Hungaroton/ zuletzt die sehr ordentliche aus Freiburg 2016 bei Naxos) – wenig. Von Briseis keine Spur. Ein Wintermärchen wurde in Wexford 2021 gegeben und gesendet, 2015 wurde diese Oper an der Budapester Staatsoper gespielt (mit einem Ausflug ans New Yorker Koch Theater), beide sind auf youtube zu erleben. Eine weitere Aufführung findet sich bei der jüdischen Gemeinde in Budapest in der nämlichen Zeit . Merlin wurde von Gerd Schaller nach den Aufführungen in Bad Kissingen 2009 bei Hänssler Profil herausgegeben. Das Heimchen am Herd existiert in einer stark beschnittenen Aufnahme vom Reichsrundfunk. Die erwähnte dritte Aufnahme der Königin von Saba stammt aus New York (LP-BJR/ Gala/ Ponto) mit der absolut erregend singenden Teresa Kubiak als Sulamith (die Auftrittsarie ist eine unerreichte Wucht, nicht einmal die von mir stets sehr geschätzte Dagmar Schellenberger im Amsterdamer Konzert 1997 neben dem eindrucksvollen Wólfgang Milram unter dem hochsinnlichen Daniel Nazareth kommt daran) und mit  Wolfgang Anheisser als sonorer König Salomon, der Rest ist gerade mal passable, Gala hats zuletzt herausgegeben. Tondichtungen und Ouvertüren zu weiteren Opern etc. finden sich bei jpc und youtube. G. H,

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Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Zeitungsnotiz in der New York Times zur Aufführung in Frankfurt 1903/ Archiv Luther

Zum Inhalt: Götz von Berlichingen, der Held mit der eisernen Hand, kämpft für das alte Recht und für das gute Recht – für das alte Recht der freien Reichsritter, die sich von keinem Fürsten regieren lassen wollen und für das gute Recht der Fehde, die allen Streit mit der Gewalt des Stärkeren löst und manchmal dabei auch den Schwachen weiterhilft. Er weiß, daß er im Recht ist – und da das viele andere nicht wissen, muß er selbst zum Schwert greifen: der Selbsthelfer in einer verderb- ten Welt. Ein Held für Generationen.

Mit seinem alten Freund Weislingen ist er über Kreuz: als Kinder, als Knappen, hatten sie alles gemeinsam, aber nun ist Weislingen ein Höfling geworden, weichlich und elegant, ein Freund der Frauen und des bequemen Hoflebens. Mehr aus Zufall hat Götz ihn neulich gefangen genommen, und jetzt sitzt er bei ihm auf Jagsthausen und langweilt sich. Es geht ihm gut und keineswegs wie einem Gefangenen – Götz wirbt um die alte Freundschaft – und schließlich verlobt er sich mit Götzens Schwester Maria. Gleich darauf kommt sein Diener Franz vom Hof des Bamberger Bischofs, der inständig um Weislingens Rückkehr bäte. Und der lockende Stern an diesem Hof ist Adelheid von Walldorf – jung verwitwet und so schön, dass Franz kaum noch sprechen kann vor Begeisterung. Dass sich sein Herr soeben hier verlobt hat, ist ihm Vergeudung. Im selben Moment aber kommt auch ein Brief, der Götz vor ein Gericht nach Heilbronn fordert. Götz will sich natürlich keinem Gericht unterwerfen und unseligerweise schlägt jetzt Franz vor, Weislingen könne ja in Bamberg für Götz vermitteln.

Goldmarks „Götz von Berlichingen“: Goethes Drama in der Aufführung der Burgfestspiele Jagsthausen

Vor dem Gericht in Heilbronn: Der bürgerliche Rath Heilbronns soll Götz das Urteil des Kaisers verkünden: Er solle den Raubzügen und kleinen Privatkriegen für immer abschwören, auf seiner Burg sich still verhalten, bis der Kai- ser ihn für die Türkenkriege brauche. Das will Götz nicht und als man auch nur ihn freilässt und nicht auch seine Leute, ist ihm klar, das kann nicht des Kaisers Wille sein. Den Kaiser liebt er, und der Kaiser ist im Herzen ein Ritter wie er und nur durch Fürstenintrigen zu bewe- gen, solch ein Urteil zu sprechen. Der Rat von Heilbronn hatte sich für Konflikte gewappnet – die stärksten Handwerker sollten notfalls eingreifen, aber im Angesicht des wütenden Götz wollen sie sich alle lieber verstecken. Als nun auch noch Franz von Sickingen mit einem kleinen Trupp die Stadt besetzt und droht, sie anzuzünden, bleibt ihnen nichts, als Götz zu huldigen und ihn um Milde zu bitten.

Am Hofe des Bischofs von Bamberg: Adelheid von Walldorf, deren Schönheit in aller Munde ist, tändelt mit dem kurz an den Hof zurückgekehrten Weislingen. Und sie verspricht auch Weislingens Diener Franz viel – oder alles. Franz ist gar nicht mehr bei sich selbst vor Aufregung, Verliebtheit, Hoffnung. Weislingen aber will wieder fort. Götz hat sein Freundeswort und wartet auf ihn in Jagsthau- sen, und dort ist er ja auch verlobt. Als ihn der Bischof kühl verabschiedet, braucht Adelheid nur drei Worte, um ihn zu fesseln und zu halten. Der Bischof und der Hof feiern seine Heimkehr als politischen Erfolg – und Götzens Knappe Georg, der gekommen ist, um ihn zu fragen, wo er bleibe, bekommt eine böse Abfuhr.

Im Wald: Götz allein. Bei einem kleinen Raubzug auf ein paar Heilbronner Kaufleute wird Götz schwermütig: Vieles fällt ihm auf´s Gemüt, und als der langerwartete Georg von Bamberg zu ihnen stößt und von Weislingens Verrat erzählt, wütet er – auch gegen die gefangenen Kaufleute. Georg und Selbitz holen ihn zurück, aber er spürt, dass es jetzt schwerer wird.

Am Hofe des Kaisers in Augsburg: Adelheid und Weislingen sind verheiratet, aber sie wirbt um den Sohn des Kaisers. Am Rande eines Maskenfestes ordnet Weislingen an, dass sie den Hof verlassen und auf das heimische einsame Schloss zurückkehren soll. Nichts hat sie weniger im Sinn zu tun als dies. Weislingens Diener Franz, der ihr eigentlicher heimlicher Geliebter ist, soll ihren Mann vergiften.

Im Bauernkrieg: Aufständische Bauern ziehen planlos und unorganisiert durchs Land. Eine Truppe versucht Götz als Hauptmann zu gewinnen und der sagt zu, weil er glaubt, so das Geschehen steuern zu können. Das misslingt. Hinter seinem Rücken geht das wilde Sengen und Brennen weiter und als er fort  ist wird sein Lieblingsknappe Georg von den Bauern erstochen.

Bei der Feme: Beim Laiengericht der Feme wird Adelheid verklagt, ihren Mann durch ihren Geliebten vergiften lassen zu haben. Die Feme beschließt ihren Tod und schickt einen Mörder.

Auf Adelheids Schloss: In einer schönen Mondnacht erwartet Adelheid ihren letzten Geliebten Franz. Sie sieht ihn weither kommen, den Berg hinauf, bis an das Tor – und merkt schließlich, dass dies jemand anderes ist; der Mörder der Feme. Sie verschließt alle Türen, aber der Mörder ist dennoch plötzlich da und erwürgt sie.

Am Ende: Götzens Wurzeln sind abgehauen. Er ist allein mit seiner Frau und dem Freund Lerse: Der Kaiser ist tot, Selbitz – und sein Lieblingsknappe Georg. Das Urteil über ihn ist aufgehoben und er ist eigentlich frei. Aber sein Durst nach Freiheit ist ungestillt. Der bleibt.

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(Die Inhaltsangabe folgt dem Programmheft der Aufführung am 29. April 2012 in Annaberg von Annelen Hasselwander, Dramaturgin. Dank geht an Matthias Käther und Einhard Luther für die Auffindung der zeitgenössischen Kritiken und Fotos. Das Foto oben haben wir der Spiele-website Age of Empires kurzfristig entliehen. G. H). Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier.

Bröckelnde Hinterlassenschaft

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Mit dem Glamour und der Grandeur, die jedem ihrer minutiös ausgetüftelten Auftritte die Aura des Einzigartigen verliehen, scheint der Nachruhm nicht Schritt zu halten. Freilich hat Jessye Norman ein umfangreiches, von Purcell bis Schönberg reichendes Erbe auf CD hinterlassen, aber man muss sie live erlebt haben, um das Gesamtkunstwerk Jessye Norman zu erfassen.

Mit einer drei Alben umfassenden Ausgabe von Aufnahmen, zu deren Freigabe sie sich bis zu ihrem Tod 2019 nicht entschließen konnte und die jetzt durch Unterstützung der Familie möglich wurde, wobei Jessye Normans Haltung dazu im Lauf der Jahrzehnte offenbar nachsichtiger wurde, erinnert Decca, die das Philips Classics-Erbe der Norman übernommen hat, an die Sängerin, für die der Begriff Diva wie gemacht schien. Entstanden sind The Unreleased Masters zwischen 1989 und 1998.

Norman bewegt sich mit Wagner, Strauss, Berlioz und Haydn – sie hatte bereits in den 1970er Jahren im Rahmen der Haydn-Edition der Philips bei zwei Opern mitgewirkt – auf bekanntem Terrain; einzig Benjamin Brittens Phaedra fällt als Novität auf. Vertraut sind auch die Mitstreiter: James Levine, Seiji Ozawa und Kurt Masur. Mit Masur und dem Gewandhausorchester hatte sie eine ihrer maßstabsetzenden Aufnahmen realisiert, die 1983 veröffentlichten Vier letzten Lieder, woran sich – ebenfalls mit Masur in Leipzig – die ebenfalls sehr gute Ariadne auf Naxos anschloss.

Alle, die nun The Unreleased Masters in Händen halten, werden sich vermutlich zunächst auf die erste CD stürzen, auf der Norman mit dem Erfolgsteam zwischen dem 19. März und 1. April 1998 im Leipziger Gewandhaus die Isolde anging, die ihr letztes Opern-Projekt bleiben sollte. Im Beiheft wird vorsichtig auf „Spannungen bei den Sitzungen“ hingewiesen. In den sieben Sitzungen wurde eine gute Stunde Musik aufgenommen, darunter ein Großteil des Liebesduetts und der Liebestod. Der Eindruck ist verhalten, oft quälend. Masur dirigiert wie ausbremst, obwohl vor allem Ian Bostridge in den ersten Szenen des ersten Aktes sehr apart den Jungen Seemann singt, aber Norman wirkt als Isolde anfangs („Entartet Geschlecht“) exaltiert, unstet und starr in Ton und fremdelnd im Ausdruck, manchmal hohl in der Mittellage, gespreizt und vage in der Höhe. Es gibt in den Szenen mit der hellstimmig kurzatmigen Brangäne der Hanna Schwarz erfüllte Momente, auch in Isoldes Erzählung „Wie lachend sie mir Lieder singen“ kreiert Norman magische Phrasen, doch sie verliert sich in Detailmalerei und der Fluch bleibt merkwürdig verquollen und erkämpft. Thomas Moser ist ein mehr als achtbarer Tristan, der den untertemperierten Eindruck zunächst zu korrigieren scheint und der Norman im Liebesduett ein sensibler Verführer ist; beider „O sink hernieder“, wo Normans edles Timbre gelegentlich seinen gewohnten Reiz entfaltet, gehört zu den gelungenen Momenten der Aufnahme, ebenso der „Liebestod“, zu dem Norman bereits Alternativen mit Davis, Tennstedt und von Karajan geliefert hatte. Verständlich, dass keine Versuche unternommen wurden, das Leipziger Tristan-Projekt zu komplettieren. „Trotz des Luxus von Aufnahmesitzungen mit großzügig bemessenen Pausen, bleiben die Einspielung bei denen, die dabei waren, als eine zunehmend immer weniger zufriedenstellende Angelegenheit in Erinnerung“, so Cyrus Meher-Momji im Beiheft.

Andere Opernprojekte, Meher-Homji erwähnt eine Elektra unter Abbado, blieben Phantome.
Ohne Scheu und Vorbehalt können die beiden weiteren CDs gehört werden. Die Vier letzten Lieder und die Wesendonck-Lieder profitieren von der herzlichen Live-Atmosphäre zweier Konzerte unter James Levine mit den Berliner Philharmonikern im Mai 1989 bzw. November 1992 in der Berliner Philharmonie, die Jessye Norman auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten zeigen. Normans Stimme thront königlich vor dem Orchester, farbenreich und rund, Norman singt mit der Fülle des Klangs und der Emotionen als seien die Lieder ihr ureigenster Ausdruck. Großartig, wie sie den „Zauberkreis der Nacht“ durchschreitet oder das „Abendrot“ umschattet. Pure Magie die opalisierenden Klangreize, die sie den Wesendonck-Liedern entlockt. Der Eindruck ist ein spontaner, leidenschaftlicher und mitreißender und der Applaus, mit dem die Sängerin vor den Strauss-Liedern begrüßt wird, mehr als verdient. In diesen klanglich ausgezeichneten Aufnahmen agieren die Berliner mit bestürzender Schönheit und großartiger Spielkultur.

Bei Strauss, war es offenbar nur eine Note, die der skrupulösen Jessye Norman missfiel, bei der Bostoner Konzerten, in denen sie im Februar 1994 mit Haydns Berenice, Brittens Phaedra und der Cléopâtre von Berlioz drei antike Königinnen porträtieren, dagegen der Audiomix bei Berlioz, der jetzt für die Veröffentlichung „zufriedenstellend“ remixed wurde. Die Scena di Berenice gehörte 1795 zu den großen Erfolgen während Haydns zweitem Besuch in London. Norman singt die vierteilige Konzertarie mit dem Text Metastasios, in dem Berenice den Verlust ihres Geliebten Demetrio betrauert, mit elegant fließendem Ton, geschliffenen Akzenten in den Rezitativen und klassischem Pathos in den Arien, klar und mitfühlend. Noch leidenschaftlicher ist die dramatische Kantate La morte de Cléopâtre des 26jährigen Berlioz. Mit perfekter Artikulation, zwischen Ekstatik und Resignation wuchtig ausbalanciertem Ausdruck und gloriosen Tönen, die den Seelenzustand der innerlich zerrissenen Königin beschreiben und der Wildheit von Berlioz‘ Kantate gerecht werden, ob derer Kühnheit er den Rom-Preis verfehlte, umreißt Norman die letzten Minuten der Kleopatra vor ihrem Selbstmord, nachdem zuvor Mark Anton in ihrem Armen gestorben ist. Zurück zu barocken Mustern mit einer Folge aus Rezitativen und ariosen Teilen ging Britten in seiner 1975 für Janet Baker komponierten Phaedra nach Racine, in der sich Phaedra an die Beteiligten der Tragödie richtet und von der Liebe zu ihrem Stiefsohn und ihrem Entschluss durch Gift zu sterben berichtet. Der Audiomix wirkt tatsächlich etwas hohl, was der Wirkung auch dieser von Norman nobel und packend, wenngleich ein wenig manieriert gestalteten Szene keinen Abbruch tut. Rolf Fath

Pedro Lavirgen

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Der spanische Tenor Pedro Lavirgen Gil (geboren am 31. Juli 1930 in Bujalance) starb am 2. April 2023 in Madrid. Lavirgen wurde zuerst Volksschullehrer, nahm dann aber Gesangsunterricht bei Miguel Barrosa und Carlota Dahmen. 1959 debütierte er in Zaragoza in der Zarzuela Marina von Emilio Arrieta. 1964 gewann er einen internationalen Gesangswettbewerb in Barcelona. Im selben Jahr erfolgte an der Oper von Mexiko-Stadt sein Operndebüt – als Radames in Verdis Aida. Kutsch/Riemens schreiben, dass damit „eine glänzende Karriere, vor allen an den großen Theatern in Spanien und Südamerika, ihren Anfang“ nahm.[2] Obwohl der Schwerpunkt seiner Rollen im Spinto-Fach lag (Radames, Casio, Rodolfo), reichte sein Repertoire von lyrischen Partien (Herzog, Edgardo) bis zum Heldenfach (Otello, Kalaf).

Langjährige Zusammenarbeit verband ihn mit dem Teatro Liceu von Barcelona, Lavirgen trat dort von 1966 bis 1982 auf – in zahlreichen Verdi-Partien und auch in Zarzuelas. 1968 gastierte er in Madrid. In Nordamerika kam es zu einem einzigen Auftritt an der Metropolitan Opera (als Cavaradossi in der Spielzeit 1968/69) sowie zu Vorstellungsserien an den Opernhäusern von Philadelphia (unter anderem als Pollione an der Seite von Joan Sutherland), Montreal (als Canio) und New Orleans (als Radames). In Lateinamerika war er in Santiago de Chile (als Cavaradossi) und in Buenos Aires (als Arrigo und Don Carlos) zu sehen und zu hören. In Tokio gastierte er zweimal, 1973 als Don José und 1985 mit einer Zarzuela-Truppe aus Spanien.

Im deutschen Sprachraum debütierte er bereits 1966 an der Wiener Staatsoper, an welcher er bis 1980 regelmäßig auftrat. Er sang in Wien zehn verschiedene Rollen, darunter siebenmal Don Carlos, neunmal Manrico und 16-mal Canio.[3] Er war auch Gast der Staatsopern von München und Hamburg. 1981 übernahm er die Titelpartie in Verdis Otello im Spiel am See bei den Bregenzer Festspielen. Die meisten Auftritte Pedro Lavirgens fanden in Italien statt. Er sang 1971 den Don José am Teatro Regio von Turin, 1972 den Kalaf am Teatro San Carlo von Neapel, 1974 Kalaf, Don José und Alvaro in der Arena di Verona, 1975 den Manrico im Teatro Margherita von Genua und den Don José im Teatro Comunale von Bologna. Im selben Jahr debütierte Lavirgen auch an der Mailänder Scala – als Radames und Don José. 1976 kehrte er als Radames in die Arena di Verona zurück, 1979 übernahm er den Don José beim Sferisterio Opera Festival von Macerata. 1970 war er als Andrea Chénier an der Oper von Dublin zu sehen. (Wikipedia)

Veramente un Mito dell’Opera

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Das überaus tüchtige und liebenswerte Bologneser Label Bongiovanni zeichnet sich von jeher dadurch aus, dass es mit der jeweiligen Aufnahme, in diesem Fall bisher Unveröffentlichtes des Baritons Ettore Bastianini, auch gleich die Kritik mitliefert in dem wie immer knapp gehaltenen, aber informationsreichen Booklet zur CD.

Die Aufnahmen stammen aus den Fünfzigern und zum größten Teil aus dem Opernhaus von Neapel und bieten nur mit Ausschnitten aus Aida das, wofür der früh verstorbene Sänger berühmt war, nämlich als Verdi-Sänger. Daneben gibt es Ausschnitte aus dem Barbier von Sevilla und aus den Verismoopern La Gioconda und Andrea Chénier.

Das Booklet weist den Leser darauf hin, dass Bastianinis Amonasro die tiefe Note auf „cercai“ im Unterschied zu anderen Sängern auf Grund seiner Vergangenheit als Bass genüsslich aussingen kann, aus dem gleichen Grund auch das „morir“ besonders ausdrucksvoll gelingt. Es kann natürlich auch nicht übersehen, dass der Text nicht durchgehend korrekt gesungen wird, während dem heutigen Hörer zunächst einmal die vorbildliche Diktion auffällt, dazu die Fermatenverliebtheit des Sängers, aber auch eine wacklige Intonation, was aufgewogen wird durch die hörbare Lust am Singen, die zutiefst berührt. Die Aida ist Maria Curtis Verna mit hochpräsentem, zu Schärfen neigendem Sopran. Und so hingebungsvoll die Sänger singen, so begeistert reagiert das Publikum auf sie.

Fern aller französischen Eleganz ist natürlich die italienisch gesungene Carmen, aus der das Torrerolied und der Schluss des 3. Akt auf der CD zu finden sind. Da ist auch neben dem Gesang viel los auf der Bühne, der Escamillo Bastianinis neigt zu willkürlicher Phrasierung und recht brutaler Kraftentfaltung. Das vokale Duell mit Don José geht eindeutig zugunsten des Baritons aus.

Viel mehr Freude bereiten die Auszüge aus Andrea Chénier, der Anfang und „Un di mi era di gioia“, in denen eine wunderbare Ausgewogenheit zwischen Schöngesang und Expression herrscht, viel Verachtung im zweiten Stück mitschwingt und die Stimme direkt zum Herzen des Hörers zu sprechen scheint. Wie auch die anderen Tracks vermittelt die Aufnahme den Eindruck, der Sänger stünde dicht neben dem Hörer, dieser sei in das Geschehen mit einbezogen.

Für den Barnaba hat Bastianini so wie auch sein Tenorkollege Gianni Poggi dezente colpi di glottide, grässlich böse und wie in Stein gemeißelt klingt das „O monumento“, raubeinig die Canzone aus dem zweiten Akt, und unbekümmert schmettert der Chor.

Außer dem „Largo al factotum“ gibt es aus dem Barbier noch das Duett mit dem Tenor Eugen Conley, dessen ätherische Stimme kaum zur Vollmundigkeit des Baritons passt, wohl aber besser zu Rossini als Bastianini.

Der Dirigent von Carmen, Gioconda und Andrea Chénier ist Oliviero de Fabritiis, ein Garant für Italianità und Sängerzugewandtheit. Wie ein Gruß aus alten, besseren Opernzeiten, als die Sänger und nicht die Regie Pausengesprächsstoff waren und die Oper zumindest in Italien eine Kunstform für alle, klingt diese in der Reihe Il Mito dell’Opera  erschienene CD (GB 1242-2). Ingrid Wanja         

Spätbarocke Sterne

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Amate stelle ist eine neue CD bei GLOSSA betitelt, welche  Arien für die gefeierte Barock-Primadonna Anna Maria Strada präsentiert (923536). Solistin ist die Sopranistin Marie Lys, spezialisiert im Barock- und Belcanto-Repertoire. Bekannt wurde sie in unseren Breiten durch ihre Mitwirkung in der Vivaldi-Edition von naïve. Die CD wurde im Oktober 2019 in Basel aufgenommen. Das Abchordis Ensemble musiziert unter Leitung von Andrea Buccarella mit starken Akzenten und inspirierenden Vorgaben.

Anna Maria Strada wurde 1703 in der Lombardei geboren und war in Venedig und Neapel engagiert, bevor sie Händel 1729 für seine Zweite Akademie in. London verpflichtete. Dort errang sie den Ruf, die beiden amtierenden und rivalisierenden Diven Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni sogar noch zu übertreffen. Ihre Virtuosität, die Stimmqualität und der lyrische Ausdruck waren legendär. 1737 kehrte sie nach Italien zurück und wurde am berühmten Teatro San Carlo in Neapel engagiert. Das Institut widmete seine Weihnachtsproduktion des Jahres 1740, Porporas Zenobia, Stradas Abschied von der Bühne. Erstmals übernahm die Diva in dieser Aufführung eine Rolle en travestie, dementsprechend wurde der Titel der Oper als Hommage an sie in Tiridate geändert. 1775 starb die Sängerin im Alter von 72 Jahren in Neapel.

In der Programmfolge von zwölf Arien finden sich einige bisher unveröffentlichte Titel. Den Beginnt markiert jene Vivaldi-Oper, welche die Strada in ihrer Karriere als erstes Werk dieses Komponisten interpretierte: La verità in cimento. Daraus erklingt eine Aria der Rosane, „Con più diletto il mio Cupido“, welche eine Alternative für ihr „Solo quella guancia bella“ darstellt. Mit ihren Koloraturkaskaden ist sie von hohem Anspruch und Marie Lys meistert diesen bewundernswert. Der Sopran ist kraftvoll, hell und klar, im Timbre vielleicht nicht unbedingt memorabel, aber sein virtuoses Vermögen ist außerordentlich. Die zweite Nummer stammt aus Domenico Sarros Tito Sempronio Gracco. Es ist die Eingangsarie der Erminia, „Se veglia, se dorme“, welche Strada 1725 in Neapel sang. Dies ist ein empfindsames Legato, das langen Atem und verinnerlichten Ausdruck verlangt. Der dritte Titel ist der erste aus der Feder von Händel, die Aria der Adelaide, „Scherza in mir navicella“, aus dem Lotario, welche Stradas Debütrolle in London markierte. In dieser stürmischen Aria di bravura kann die Solistin der CD erneut mit virtuosem Zierwerk glänzen.

Den Höhepunkt von Stradas Londoner Wirken stellt die Titelheldin in der Alcina dar (1735), aus der Marie Lys die Aria „Ah! Mio cor!“ Interpretiert. Sie verlangt im Gleichmaß Pathos und den Ausdruck seelischen Leids, was Lys beeindruckend gelingt. Dramatischen Aplomb erfordert die Aria der Tusnelda, „Scaglian amore e sangue“, aus Arminio, die Strada 1737 sang, bevor sie nach Italien zurückkehrte. Lys demonstriert hier leidenschaftlichen Zorn und stupende Sicherheit in den Spitzentönen.

Zu den großen Meistern der Italienischen Barockszene zählt Leonardo Vinci, in dessen Eraclea die Strada 1724 die Partie der Flavia sang.  Deren Aria im 1. Akt, „Il ruscelletto amante“, singt Lys bezaubernd kokett und rhythmisch sehr akzentuiert.

Ein anderer Vertreter des Barock ist Leonardo Leo, aus dessen Schaffen sogar drei Beispiele ausgewählt wurden. Aus Achille in Sciro (1740) erklingen zwei Arien – aufgewühlt „Non vedi tiranno“ und expressiv „No, ingrato, amor non senti“, aus Zenobia in Palmira (1725) Aspasias vehementes „Quando irato il ciel“. Es war diese die bedeutendste Partie der Strada in Neapel, wo sie an der Seite von Farinelli brillierte.

Ergänzt wird die Sammlung durch Emirenas mit Koloraturen gespicktes „Infelice in van mi lagno“ aus Baldassare Galuppis Adriano in Siria (1740) und deren empfindsames „Oh, Dio, mancar mi sento“ aus Giovanni Alberto Ristoris Vertonung des Stoffes (1739). Die letzte Nummer stammt aus Nicola Porporas Tiridate, jenem Werk, das die Strada 1740 bei ihrem Bühnenabschied in Neapel interpretierte. Die kantable Aria des Titelhelden, „Vi conosco amate stelle“, welche dem Album den Titel gab, zeugt noch einmal von der starken Ausdruckskraft und dem virtuosen Vermögen der legendären Sängerin und beweist auch die Meisterschaft der aktuellen Interpretin, die hier mit delikaten Trillern und kunstvollen Verzierungen aufwartet (14. 03. 23). Bernd Hoppe

Eitle Nabelschau

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Flüchtig und von weitem betrachtet scheint das Cover von Barrie Koskys Buch einen Markthändler bei der Anpreisung seiner Waren darzustellen, bei näherer Betrachtung allerdings stützt dieser seine ringegeschmückten Hände auf die Rückenlehne der Parkettreihe aus der Komischen Oper Berlin, von der aus er seine Anweisungen an die Bühne zu geben pflegt, und die ist im Hintergrund schattenhaft zu sehen. Und Vorhang auf, Hallo!“ ist der ebenfalls etwas marktschreierische Titel mit dem Untertitel Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.“, der auf Oper, Operette und Fernsehshow gleichermaßen hinweist. Der Co-Autor ist Rainer Simon.

Nicht nach Lebensabschnitten, sondern nach Opernfiguren ist das Buch gegliedert, zu denen sich außer denen im Titel genannten noch Tatjana, Hans Sachs, Tosca und Mackie Messer gesellen, allerdings prägen diese zugleich einzelne Entwicklungsschritte des aus Australien stammenden Künstlers.  Diesem fernen Erdteil und der dahin aus Europa verschlagenen Großmutter ist das erste Kapitel namens Mariza Down Under gewidmet, die nie ihre ungarischen Wurzeln und die damit verbundene Liebe zu Opern vergaß und sie schon dem Kind Barrie einzuimpfen verstand. Dieses hatte allerdings nicht nur ungarische, sondern durch andere Vorfahren auch weißrussische und polnische Wurzeln. Die Großmutter hatte eine besondere Liebe für die deutsche Sprache, die der Enkel unbedingt lernen sollte. Nicht die Welt osteuropäischer Schtetl allerdings lernte der Junge kennen, sondern die auch recht abgeschlossene der in Melbourne lebenden Juden und mit dreizehn Jahren die erste Operette, mit fünfzehn seinen ersten Tristan.     

Von Gräfin Mariza in Melbourne wird der Bogen zur Tätigkeit an der Komischen Oper geschlagen, dem früheren Metropoltheater, wo der dann Intendant und Regisseur nicht etwa die von ihm der „Spießigkeit“ verdächtigten Strauß und Léhar, sondern Kalman, Straus und Abraham aufführt. Auch Felsenstein, Rothenberger und Schwarzkopf finden keine Gnade vor seinen Augen und Ohren noch der Einsatz von Opernsägern in der Operette. Die Genugtuung, die es der „kleine(n) australische(n) jüdische(n) Schwuchtel“ bereitet, quasi nachträglich noch Hitler besiegt zu haben, „da wir diese  Stücke genießen“, durchzieht viele Kapitel. Daneben gibt es vieles anderes Nachdenkenswertes wie die Überzeugung, Regie solle nicht illustrieren, sondern einen Kontrast oder eine Zutat, die ergänzt, sein.

Der Großvater handelt in Australien mit Pelzen und besitzt als gebürtiger Russe eine reiche Sammlung russischer Musik, darunter viel Tschaikowski. „Jeder Takt seiner Musik….Queerness“, glaubt Kosky schon früh zu erkennen, nachdem er mit 16 seinen ersten Eugen Onegin erlebt hat. An der Komischen Oper wird er sein ganzes Augenmerk und seine Zuneigung auf Tatjana lenken und lässt den Leser an seinen Inszenierungsideen teilnehmen, die auch einen Orgasmus Tatjanas am Ende der Briefszene einschließen. Da verbindet sich das uneingeschränkte Lob für die Sopranistin Asmik Grigorian mit der Einsicht, Ausprobieren und Vertrauen zwischen Sänger und Regisseur seien wichtig, mit der rigorosen Ablehnung des „ganzen Müll, den wir schon hundertmal gesehen haben“, d.h. traditioneller Inszenierungen.

Fühlte sich der schwule Kosky besonders durch Tschaikowski angesprochen, so ist es der Jude Kosky, der Richard Wagner aus verständlichen Gründen eigentlich aus tiefstem Herzen hasst, seine Musik aber liebt, glaubt, ihn als Dubbek höhnisch auf seiner Schulter sitzend zu erleiden und erfährt, dass er ihn durch die Inszenierung der Meistersinger und ausgerechnet in Bayreuth überwinden und verscheuchen kann. Er macht aus dem Paar Sachs-Beckmesser das Wagner-Levi, aus der Handwerkerstadt Nürnberg des 16. Jahrhunderts die der Nürnberger Prozesse. Da selbst nicht mit den für einen Juden nachvollziehbaren Vorbehalten gegenüber den Meistersingern behaftet sein müssende Künstler unter Verkennung der historischen Situation die Ansprache des Sachs für “problematisch“ halten, kann man diese Position Barrie Kosky gewiss nicht nachtragen, wohl aber zweifeln an der Richtigkeit der Aussage, Wagner und andere „bereiteten mit ihrem deutschtümelnden, nationalistischen Schaffen…den Boden für die Reichsmusikkammer“. Die hätte es wohl leider auch ohne Meistersinger gegeben.

Miss Piggy, der drag-queen der Popkultur, die Nurejew zum Sex bewegen will, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auch auf Musicals wie Ein Käfig voller Narren eingegangen wird. An Wildes Salome, einem Text, der Queerness atmet, reizt ihn der Geruch eines „in Fäulnis verfallenden Pfirsichs, lässt Verwunderung darüber aufkommen, dass einer der spießbürgerlichsten Komponisten, den Kosky eigentlich nicht mag, „eine solche“, d.h. wunderbare Musik schreibt. Sicherlich haben viele Zuschauer sich wie Kosky selbst an dessen Regieideen, so der von ihm gesehenen Nekrophilie Salomes  berauscht, ob sie auch den Haarstrang, den sie sich aus der Vagina zieht, deuten konnten oder wie Kosky meinten: Sie bläst ihm einen, sei dahin gestellt. Aber immer noch nachvollziehbarer als die auch von Kosky verdammte Darstellung der Salome als die eines Kindesmissbrauchs.

Im Kapitel über Tosca setzt der Regisseur Puccinis Opern mit Hollywoods Melodramen in Beziehung, lässt den opernliebenden Leser aber über einige Ungenauigkeiten stolpern. Da ist einmal ein Foto von Corelli als Don Josè, das ihn angeblich als Cavaradossi darstellt, der aber nie eine spanische Uniform trug. Da wird behauptet, Scarpia wolle Tosca in ihrer Wohnung vergewaltigen und diese sei durchaus fasziniert von Scarpias Brutalität. Da wird Cavaradossi als „selbstverliebt“ und „eitel“, als Narzisst  diffamiert, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass Kosky in seiner Jugend viele ihm als Cavaradossi erscheinende Lehrer und Mitschüler anhimmelte und nie erhört, ja wohl nicht einmal wahrgenommen wurde. Auch wird nicht jeder Zuschauer wie Kosky in Tosca eine queere Oper sehen, nur weil „all die Körpersäfte, der Schweiß, die Tränen, das Sperma (!), die Tosca auszuscheiden scheint….Ingredienzien queeren Kulturschaffens sind“. Boleslav Barlog an der Deutschen Oper meinte, Cavaradossi glaube an seine Rettung, Kosky vertritt die Ansicht, er stelle sich im dritten Akt nur tot- „mit verheerenden Folgen“. Allerdings, denn wie soll es dann weitergehen? Schüttelt man hier und da den Kopf, überzeugt anderes wieder wie der Bericht über Vorarbeiten zu einer Inszenierung, die allmähliche Entwicklung derselben während der Probenarbeit.

Bereits in der Schule hatte Kosky Weill inszeniert, in der Dreigroschenoper sieht weder ein Meisterwerk „noch ein politisches Bühnenmanifest“, und diese Einsicht bestimmte auch seine Inszenierung am Berliner Ensemble.

Der Epilog ist noch einmal ein Bekenntnis zur Gattung Oper und zum Opernerleben, der Chance, „einen flüchtigen Blick in unser Innerstes zu erhaschen“. So endet ein sehr ehrliches, überschwängliches, nicht in allem und von jedem nachvollziehbares Bekenntnis zur Oper, die wir alle lieben( 250 Seiten Insel Verlag Berlin 2023; ISBN 978 3 458 64370 8). Ingrid Wanja

Was alles veröffentlicht wird …

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Was erwartet der Leser von einem Buch mit dem Titel Diva in violett glänzenden Lettern, das zudem nach den Untertitel Eine etwas andere Opernverführerin trägt? Dazu gibt es das Konterfei einer durch eine Maske lugenden Dame in festlicher Gewandung. Glamour, Erotik, Begeisterung, aber auch fundiertes Wissen um das, zu dem man verführen will, sollten sich doch wohl auf den 425 Seiten vereinen, doch zumindest nach einer kursorischen Lektüre dürfte das Ergebnis der Lektüre beim Opern-Nichtkenner Verwirrung breit gemacht haben, beim Kenner jedoch ein zunehmender Verdruss wegen der mal feministischen Einseitigkeit, mal der Fixiertheit aufs Religiöse und der mangelnden musikalischen Kenntnisse der Autorin Barbara Vinken.

Bereits beim Lesen der Einleitung stößt man auf geheimnisvolle Begriffe wie den der „Maria-Theresia-Klammer“, auf eine „nobilitierte Cavalleria rusticana“, die doch eigentlich nur „Bauernehre“ bedeutet, auf die Behauptung, Oper sei eine „raffiniert witzige Reflexion auf Geschlechterkonstellationen“, Kastraten stellten die „Ent-Naturalisierung der Geschlechterrolle“ dar, wo doch ihr bedauernswertes Schicksal zunächst einfach einmal Folge des Verbots weiblicher Mitwirkender im Kirchengesang war.

Ärgern kann man sich über Fehler und unbeweisbare Behauptungen wie die Zuordnung Cherubinos und Octavians zu den Sopranen, auch dadurch werden sie nicht „engelhaft“, es sei denn, man könne Engeln einen ausgeprägten erotischen Appetit nachsagen. „Selbstherrliche Dummheit“ wird den Tenorpartien nachgesagt, und so scheint es nur folgerichtig zu sein zu behaupten, „keinem wird so übel mitgespielt wie dem Tenor“, „Männlichkeit wird auf der Opernbühne fast durchgehend lächerlich gemacht“. Aber auch andere Stimmfächer bekommen etwas ab, wenn dem Conte Almaviva ein „rumbrüllender Bariton“ angedichtet wird. Hin und weg ist er Leser, wenn ihm mitgeteilt wird:“Die Oper arbeitet an der Re-Interpretation und Umbesetzung des Opfertodes Christi“.

Der Block  „Vorspiel“ ist drei Mozart-Opern gewidmet, beginnend mit Le Nozze di Figaro. Verstört nimmt der Leser zur Kenntnis, dass der brave Figaro „aristokratische Eleganz“ verkörpere, zudem ein „frivoler Strippenzieher“ sei, dass der Leser sich einer „Fehllektüre“ schuldig mache, wenn er annehme, Figaro sei ein Vorbereiter der Revolution. Dafür hat er aber Don Curzio ein „Kuckucksei ins Nest gelegt“, was natürlich bisher noch von niemandem bemerkt wurde. Es gibt ungeheuer viele Zitate aus zeitgenössischer Literatur, fast gar nichts über die Musik, die in einer Oper doch eine gewisse Rolle spielt. Über die des Figaro weiß die Autorin lediglich zu sagen,  Cherubino sei die Inkarnation der schmelzenden, weichen Musik“. Damit nicht genug. Mit Cherubino steht und fällt das Patriarchat und die  Geschlechtsidentität.“ Schließlich versteigt sich die Verfasserin noch zu der unbewiesenen und unbeweisbaren Behauptung, dass im Figaro weniger das Ancien régime kritisiert werde als das republikanische Bürgertum. Cherubino aber verkörpere die „Durchkreuzung der binären Geschlechtsidentität“. Wenn das nicht zur Oper verführt! Zumindest in diesem Kapitel wird nicht vom Werk ausgegangen, sondern diesem eine wohl nicht wenigen Lesern als recht seltsam anmutende Weltsicht übergestülpt. Zumindest zum Weiterlesen wird er damit nicht verführt.

Aber das Kapitel über Tosca soll einen zweiten Versuch, sich verführen zu lassen,  wert sein. Immerhin wird durch die Betitelung mit Nicht von dieser Welt: Göttliche Stimmen die Hoffnung geweckt, man würde nun etwas über den Zauber der Musik erfahren. Zufrieden stimmt erst einmal, dass die deutsche Übersetzung der Arien eine wörtliche ist und nicht wie im Kapitel über Cavalleria rusticana die unsägliche in deutschen Opernhäusern bis zur Umkehr zu Aufführungen in Originalsprache praktizierte.. Über viele Seiten hinweg beschränkt sich die Autorin auf eine ausführliche Paraphrase, gemischt mit Zitaten aus anderer Sekundärliteratur, mit vielen Rückgriffen auf die Geschichte bis hin zu Virginia und Lucrezia als anderen Beispielen für heroisch handelnde Römerinnen. Schon komisch ist der Hinweis darauf, dass Mario Cavaradossi sein Schicksal bereits in seinem Namen, dem cadavere verwandt, trägt. Cavare heißt Ziehen oder Herausnehmen, da wären der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Außer der Architekturgeschichte der drei Handlungsplätze spielt natürlich die Schlacht von Marengo eine Rolle, richtig erkannt, aber falsch ist, dass hier ein Sieg Napoleons über die Heilige Allianz gefeiert wurde. Die wurde erst 1815 nach dem Sieg über Napoleon gegründet. Neben solchen Ungenauigkeiten erschrecken auch immer wieder Sätze wie „Das römische Erbe der Bürgerkriege hat die verspätete Geburt einer geeinten Nation heimgesucht.“ 

Lange muss man auf kurze Bemerkungen zur Musik warten, findet man eine, dann ist auch die eher verstörend wie: „harmonisch verbindend ist auch die weichgefügte, strömende Melodieführung“, nicht weniger der den Seelen angedichtete „umschlungene(n), sphärische(n) Flug“.

Obwohl sicherlich die größte Sympathie Puccinis dem Freigeist Cavaradossi galt und nicht der frömmelnden Tosca, stellt Vinken das Tosca-Kapitel unter einen religiösen Überbau, wenn sie unter anderem im zweiten Akt die Perversion der eucharistischen Wandlung sieht, in der aus Wein Blut und aus Brot „gefoltertes Fleisch wird.

Dass dieses Buch den Leser dazu verführt, sich der Gattung Oper zuzuwenden, darf bezweifelt werden, dass er sich von der Oper abwendet, wenn er noch mehr davon liest, ist zu befürchten (Klett-Cotta 2023; ISBN 978 3 608 11938 1). Ingrid Wanja       

Eine Bedeutende des Belcanto

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Die rumänische Opernsängerin Virginia Zeani (geb. 21. Oktober 1925 in Solovăstru, Siebenbürgen) starb am 20. März 2023. Sie wurde wurde als Virginia Zehan in Solovastru geboren und studierte Literatur und Philosophie an der Universität von Bukarest, während sie ihre Stimme bei Lucia Anghel und Lydia Lipkowska ausbildete. Nach ihrem Umzug nach Italien erhielt sie Gesangsunterricht bei Aureliano Pertile. Ihr frühes Debüt gab sie 1948 als Violetta (!) am Teatro Duse Bologna, was sich als Triumph für die junge Sängerin erwies. Die Violetta wurde zu der Rolle, mit der sie eng verbunden war und die sie im Laufe ihrer Karriere Hunderte von Malen sang!

Virginia Zeani mit Gatten, dem Bassisten Nidola Rossi-Lemeni/ Wikipedia

Diese Rolle, die sie insgesamt 648 Mal sang, führte sie an die größten Theater der Welt, darunter das Palais Garnier in Paris, das Royal Opera House in London und das Metropolitan Opera House in New York. Mit einem Repertoire, das von der Barockoper bis zu zeitgenössischen Werken reicht, wurde sie 1957 von Francis Poulenc für die Rolle der Blanche de la Force in der Uraufführung der Dialoge der Carmelites an der Scala ausgewählt.

Mehr als zehn Jahre lang widmete sie sich den Rollen, die man allgemein als Koloraturen“ bezeichnet, und sang Lucia, Elvira, Amina und Gilda. Bald kamen Norina, Rosina und Fiorilla (unter anderem) hinzu. 1956 gab sie ihr Debüt als Cleopatra in Händels Giulio Cesare an der Scala. Bei der Premiere von Poulencs Dialogues des Carmélites sang sie die Rolle der Blanche. Ihre hervorragende Technik ermöglichte es ihr, die vier Rollen (Olympia, Giulietta, Antonia, Siebel) in Offenbachs Les Contes d’Hoffmann mit Bravour zu singen. Später nahm die Künstlerin weitere lyrisch-dramatische Rollen in ihr Repertoire auf: Aida, Desdemona, Tosca, Magda Sorel in Menottis Consul, Fedora, Cio-Cio-San, Manon Lescaut, Elsa und Senta in Italienisch, Adriana Lecouvreur, Thaïs, Marguerite usw. Als innovative Künstlerin nahm sie an vielen Wiederaufnahmen von Belcanto-Opern teil (z. B. Maria di Rohan, Le Comte Ory, Zelmira, Rossinis Otello, Alzira).  Zeani sang am Bolschoi-Theater in Barcelona, in der Arena di Verona, in Monte Carlo, Paris, St. Petersburg, Mexiko-Stadt, Belgrad, Houston, Budapest, Philadelphia, an der Met und in Wien (Volksoper und Staatsoper). Sie trat mehrmals in Dublin auf und ist dort noch immer in bester Erinnerung.

Ihr nordamerikanisches Debüt gab sie 1965 in Montréal, wiederum in der Rolle der Violetta. Nachdem sie fast 15 Jahre lang leichte Sopranpartien gesungen hatte, wurde sie von Zubin Mehta überredet, ihr Repertoire zu erweitern und schwerere Rollen wie Aida zu singen, die sie erstmals im Salle Wilfrid-Pelletier an der Seite von Jon Vickers, Lili Chookasian, Louis Quilico und Joseph Rouleau sang. 1968 kehrte sie für eine Produktion von Puccinis Manon Lescaut nach Montréal zurück. In ihrer außergewöhnlich langen Karriere, die insgesamt 34 Jahre dauerte, stand sie mit einigen der größten Stars des 20. Jahrhunderts auf der Bühne, von Beniamino Gigli, Giuseppe di Stefano und Franco Corelli bis Alfredo Kraus, Luciano Pavarotti und Plácido Domingo.

Virginia Zeani als Aida/ Zeani.com

1982 zog sie sich von der Bühne zurück und gab ihr wei8teres Debüt an der San Francisco Opera in den Carmelites, diesmal als Mutter Marie. Sie und ihr Ehemann, der Bass Nicola Rossi Lemeni, erhielten anschließend einen Lehrauftrag an der Jacobs School of Music der Indiana University, wo sie 1994 den Titel „Distinguished Professor of Music“ erhielt. Zu ihren zahlreichen Schülern gehören Ailyn Perez, Elizabeth Futral, Marilyn Mims und Vivica Genaux.

Virginia Zeani fiel sofort durch ihre seltene Fähigkeit auf, ihrer Musik einen präzisen Sinn zu geben, indem sie jene seltene Synthese von Belcanto und Ausdruck erreichte, die ihre Interpretationen sowohl für ihre dramatische Sensibilität und Intimität als auch für ihren strahlenden Gesang lobte. Unter all dem hatte Zeanis Timbre jedoch etwas, das direkt ins Herz ging: eine Aura verschleierter Melancholie, eine edel kontrollierte Leidenschaft, die sich vorzüglich mit der betörenden Farbe ihrer Stimme verband, die in der Mitte düster und in der Höhe strahlend war. Es war eine Stimme von faszinierender Weiblichkeit, die sowohl Zärtlichkeit als auch Sinnlichkeit, Elegie und Tragödie auszudrücken vermochte. G. H.

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In einem Interview mit dem kürzlich verstorbenen renommierten kanadischen Kritiker und Musikwissenschaftler Gérald Dubois sprach sie 2021 über Einzelaspekte ihrer Karriere:  Zum Beginn: Ich verließ Rumänien 1947, ich war 21, ich ging im Februar und mein Geburtstag ist im Oktober, also war ich genau 21 Jahre und 4 Monate alt. Hier habe ich sehr viel studiert, aber in Rumänien hatte ich keine Karriere. Ich hatte ein Konzert in der Dalles Hall, mit den anderen Schülern meiner Gesangslehrerin, Lydia Lipkowska, und das war alles, ich hatte keine Karriere. Mein erstes offizielles Konzert war vielleicht, als ich für den italienischen Konsul und Botschafter sang, die mich zu einem Abendessen eingeladen hatten. Aber ich hatte schon viel gelernt, als ich wegging, seit ich 12 war. 12 und ein halbes Jahr alt, um genau zu sein. Im Jahr ’38!

Ich hatte ein sehr seltsames Schicksal. Ich habe sehr jung angefangen, ich habe sehr hart studiert und ich habe nie etwas mehr geliebt als das Singen. Ich glaube, das ist etwas, das einem in die Wiege gelegt werden muss. Man weiß nie, was als Nächstes passiert, aber irgendetwas oder irgendjemand führt dich zu dem, was du liebst, aber nicht unbedingt verstehst, und das gibt dir die Kraft, Zeit und Energie zu investieren, um zu entdecken, was deine Berufung im Leben ist. Die Tatsache, dass man diesen Ehrgeiz hat, etwas zu lernen, ist ein Mysterium, aber gleichzeitig ist es eine Freude, etwas zu verfolgen, das man liebt und das letztendlich nicht wirklich erreichbar ist. Wie kann man Musik „erreichen“?

Ich habe schon als Kind gerne gesungen und alle Vögel und alles, was ich im Garten hörte, imitiert. Ich habe mit 13 Jahren angefangen, und man hielt mich für einen Mezzosopran, dann für einen lyrischen Sopran, dann für einen lyrischen mit Koloraturen. Das Ziel meines Wunsches war immer ein Geheimnis, aber die Anziehungskraft, die ich auf den Gesang ausübte, brachte mich dazu, diesem Wunsch jeden Tag nachzugehen. Ich wusste, dass es mein Schicksal war, zu singen.

Ratschlag zur Langlebigkeit der Stimme: Ich denke, das wichtigste ist, es von Tag zu Tag zu nehmen und nicht zu übertreiben. Danach muss man mit dem Talent, das man an dem Punkt hat, an dem man sich befindet, sein Bestes geben. Man kann nicht entscheiden, was man sein wird, bevor man dort ankommt, wenn man noch jung ist und sich ständig verändert. Selbst nach all den Jahren des Trainings wird sich deine Stimme verändern, und du musst die Geduld haben, dein wunderbares Naturtalent nicht durch zu schnelles Handeln zu ruinieren. Langsam und beständig gewinnt das Rennen.

Was man jedoch tun kann, ist, dass Sie, wenn Sie am Ziel sind, darauf vorbereitet sind, jede Herausforderung zu meistern, die sich Ihnen stellt. Ich glaube, das gefährlichste Verhalten, das ich bei jungen Sängern immer noch sehe, ist, dass sie keine Geduld zum Lernen haben. Sie machen sehr schnell das nach, was sie auf der Bühne oder auf Aufnahmen hören, und sie verändern die Farbe ihres Klangs, anstatt mit Ruhe und Geduld zu lernen.

Virginia Zeani mit Francis Poulenc bei den Proben zu dem „Dialogen der Carmeliterinnen“ an der Scala 1957 / Archivio storico del Teatro alla Scala

Regie gestern und heute: Der größte Unterschied auf den Bühnen heute im Gegensatz zu früher ist die Frage der Regie. Heutzutage ändern einige Regisseure alles: Sie lassen die Opern nicht so erzählen, wie die Komponisten sie wollten. Sie versuchen, das Thema zu modernisieren, was für mich absurd ist, weil ich denke, dass die Oper mit dem Komponisten, der Zeit, in der sie komponiert wurde, und dem Moment der Geschichte, der in dieser speziellen Geschichte eingefangen wurde, verbunden ist. Zu meiner Zeit waren wir diejenigen, die die Inszenierungen, in denen wir auftraten, meistens selbst inszenierten. Es war wirklich eine Teamleistung zwischen den Sängern, dem Dirigenten, dem Regisseur und der Arbeit, die uns aufgetragen wurde. Wir arbeiteten Hand in Hand, um herauszufinden, was der Komponist mit der Musik ausdrücken wollte, und nicht, um einen Weg zu finden, diese Meisterwerke „aufregend“ zu machen: Das sind sie schon, auf so viele Arten.

Die Stimme: Zunächst einmal bleibt das Instrument gleich, nichts ändert sich außer den Farben, je nach Gemütsverfassung der Figur. Das Geheimnis ist, die Richtung der Phrasierung und die Fragen der Oper zu finden. Wenn man die Werke von Poulenc nimmt, die ich gesungen habe, die Dialoge oder auch La voix humaine, die stilistisch nicht dem Belcanto nahe stehen, musste ich die sehr modernen Konzepte verstehen und sie dem Publikum mit einem guten Klang und einer großartigen Diktion erklären, um genau das auszudrücken, was der Komponist in seiner Partitur sagt, wie ich es bei jeder Oper tun würde.

Mit dem Publikum leben: Das Ziel bei jeder Art von Musik ist es, zu kommunizieren, zu teilen, und der Ansatz sollte für alle Arten von Repertoire derselbe sein. Man muss nach der Phrasierung suchen, die die Botschaft der Oper vermitteln soll. Man kann nicht die gleichen Farben für die Rolle der Alissa oder der Blanche verwenden, weil die Phrasen und die Komponisten unterschiedlich sind. Wenn man denkt, dass man einer neuen Rolle etwas geben kann, sollte man das unbedingt tun. Wie aufregend ist es für ein Publikum, jemanden zu hören und zu sehen, der etwas tut, was es noch nie zuvor gehört oder gesehen hat? Neue Geschichten zu haben, ist sehr wichtig.

Es geht darum, dem Publikum jedes schöne Gefühl zu erklären, das man in seinem Herzen hat. Ich mochte es nie, in meinem Gesang aggressiv zu sein, besonders im Belcanto-Repertoire. Ich mochte es immer, jedes Gefühl durch meine Augen und meine Stimme mit Schönheit, Ruhe und Leidenschaft zu vermitteln. Man muss sich mit dem Publikum austauschen, und wenn es die Gefühle, die man hat, versteht und mit ihnen übereinstimmt, bedeutet das, dass man in einer totalen Einheit und einem Austausch von Gefühlen ist. Aber jeder ist anders geboren, und man wird nie jemanden finden, der genau so ist wie man selbst oder der die Dinge genauso empfindet wie man selbst.

Virginia Zeani mit Alfredo Kraus in „La Traviata“ in Lissabon/ Romania.Muzical

Deshalb müssen wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen, indem wir dem Komponisten und dem Librettisten, aber vor allem uns selbst, unserem Hintergrund und unserem Geist treu bleiben. Das ist der Grund, warum manche Leute eine Interpretation einer anderen vorziehen, wir können Schönheit auf eine bestimmte Art und Weise empfinden, die jemand anderes nicht versteht, aber wenn wir das tun, kommen wir einander sehr nahe, und das ist eine der schönsten Sachen: unsere Seelen durch Musik zu vereinen.

Belcanto:  Vom technischen Standpunkt aus betrachtet, nenne ich mein System des Singens folgendermaßen: Auf Italienisch sagen wir „raccogliere i suoni“. Das bedeutet, dass man die Schwingungen, die „Töne“, in einem Punkt, der Maske, versammeln muss, der es der Stimme erlaubt, so viel wie möglich mit so wenig Anstrengung wie möglich zu glänzen, und dass man diese Schwingungen mit dem Zwerchfell unterstützen muss. Wenn man diese Schwingungen in diesem Punkt bündelt, wird man nie müde, im Gegensatz zu breitem, offenem oder lautem Singen, wie man es heute leider oft hört. Dann muss man mit diesen Klängen Emotionen vermitteln, ihnen Farbe geben und die Intention des Komponisten finden. Darüber hinaus muss jede Stimme alles können, vom Koloratursingen bis zum Vibrieren der Töne in Millionen von Farben, und man muss einen Weg finden, dies mit Leichtigkeit zu tun, sonst ermüdet man sich selbst enorm. Der Trick besteht darin, herauszufinden, was man wirklich gut kann, und es zu seinem Vorteil zu nutzen, während man an dem arbeitet, was verbessert werden muss. Belcanto ist letztendlich ein Weg, um jede einzelne Person in der Oper zu einem echten Star zu machen. (Übersetzung P. C.)

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Foto oben: Romania Muzical  

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„Norma“: Musikwerdung des Wortes

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Gerade in letzter Zeit mehren sich wieder Aufführungen von Bellinis opus magnum, seiner Norma. Es fragt sich ob nun Marina Rebeka als Lokalmatadorin (zuletzt in Palermo) oder die unbestreitbar beeindruckende Sondra Radvanovsky an der Met Spuren hinterlassen haben. Ob Hasmik Papian oder Maria José Siri, Sonya Yoncheva, Dimitria Theodossiou, Maria Gresia (sehr beachtenswert in Pisa 2022), Pia Maria Piscitelli oder die irregeleitete Karine Deshayes in Aix (in der von Cecilia Bartoli erstmals vorgestellten, tiefer liegenden Malibran-Version) neben Michael Spyres und der bezaubernden, aber zu kleinstimmigen Amina Idriss: In den letzten Jahren ist die Zahl der Mutigen nicht zu unterschätzen, die sich an der großen Rolle und den wenigen großen Vorgängerinnen abgearbeitet haben.

Rosa Ponselle, legendäre Vorkriegs-Norma/ Wiki

(Über Frau Yoncheva an der Met 2023 schrieb zuletzt die New York Times: „Ohne einen kraftvollen, ausgeglichenen, flexiblen Gesang – „Schönheit des Tons und korrekte Emission“, wie Lilli Lehmann, eine große Norma, es ausdrückte – empfinden wir nicht die nötige Ehrfurcht für die Figur. So verlieren sowohl ihr Sündenfall als auch die von ihr beherrschte Oper ihren Sinn. Yoncheva verrät Bellinis Partitur zwar nicht, aber sie füllt auch nicht die Segel, und das Schiff stagniert…. Das Ergebnis ist eine Art Bleistiftskizze von „Norma“ – nicht unpräzise, aber farblos. Yoncheva verfügt über eine Koloraturgewandtheit, die sie sich aus ihren frühen Tagen als Barockspezialistin bewahrt hat, und vereinzelte hohe Töne treten deutlich hervor. Aber wenn diese Töne die Höhepunkte von geschwungenen Linien sind, sind sie dünn. Sie ist temperamentvoll und gewissenhaft, und ihre Stimme ist nicht hässlich, aber sie ist für diese Musik unzureichend, denn sie verliert weder die Kontrolle noch übernimmt sie das Kommando. Und es ist nicht nur Stärke, die man nicht vermitteln kann, wenn man die Norma stimmlich nicht beherrscht; es ist auch Schwäche. Yoncheva verbringt die meiste Zeit damit, in kleinem Maßstab auf dieser hochfliegenden Leinwand Trübsal zu blasen.)

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Ein erneutes Hören der Norma meiner ungeteilten Adoration, Anita Cerquetti, brachte mich zu grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle und zu den Interpretinnen unserer Zeit, bzw. auf erreichbaren Dokumenten. Von der bedeutenden Norma der Vorkriegszeit, Rosa Ponselle (die Tullio Serafin bemerkenswerter Weise über die von ihm oft begleitete Maria Callas stellte), gibt es nur die wenigen RCA-Schellack-Echos (aufregend und irritierend, weil man das gerne ganz und in besserer Technik gehört hätte, vor allem auch das himmlische Duett mit Marion Telva). Aber wie meine kluge Großmutter einst meinte: Sehnsucht ist besser als Erfüllung. Oder auch: Man kann nicht alles haben, wie wahr.

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Zwei Szenen aus Norma, wie man sie auf einer Briefmarke sieht, die San Marino 1999 herausgegeben hat/ hei

Vincenzo Bellini, 1801 in Catania geboren, wird mit Rossini und Donizetti zu den drei Großen der italienischen Oper bis 1850 gerechnet. Seine langen, elegisch getönten und sich lyrisch übersteigerden Melodien gaben den Anstoß für eine neue Klangsinnlichkeit, die in besonderer Weise die romantische italienische Oper beeinflussten und prägten. Dieses Schwelgen im Klang ist eines der wesentlichsten Kriterien im Bellini-Stil, zugleich aber auch das eigentlich Neue in der italienischen Oper auf dem Weg zur Romantik.

La sonnambula, uraufgeführt am Teatro Carcano, Mailand 1831 und sein Hauptwerk, Norma, für die Scala in Mailand ebenfalls 1831, stellen im Nachhinein den Gipfel seines Schaffens dar. Bellinis Norma, eine tragedia lirica in zwei Akten auf das bemerkenswerte Libretto von Felice Romani, ist sicherlich neben Donizettis Lucia di Lammermoor das zentrale Werk der italienischen Opernromantik. Norma wurde zu Recht zum absoluten Inbegriff der hochromantischen Gesangsoper, in der sich Beherrschung des italienischen Belcanto und dramatische Interpretationskunst verbinden, wodurch sich das Werk als die italienische Primadonnen-Oper par excellence durchsetzte.

Zu „Norma“: der originale Cast mit Domenico Donzelli, Giuditta Pasta und Guilia Grisi/ zeitgen. Illustration/ Wiki

Obwohl die Uraufführung mit Giuditta Pasta/ Norma (Abb. oben), Domenico Donzelli/Pollione und der Sopranistin Giulia Grisi /Adalgisa (beide Damen alternierten in der Titelrolel) aus manchen Gründen nicht sofort einschlug, hatten Musik und Libretto in der Folge ein Riesenerfolg. Schon zwei Jahre nach der Uraufführung wurde Norma 1833 in Wien in Deutsch aufgeführt und ging bis Ende der 1830er Jahre um die Welt.

Norma ist für Italien die wichtigste Oper vor Verdi, und sie ruht fest auf den von Rossini vorgelegten Traditionen mit dessen Verwurzelung im 18. Jahrhundert (eben Spontini,  Cherubini und der Gluck-Folge). Musikalisch war Bellini ein Neuerer nach Rossini, dem wichtigsten Komponisten im frühen neunzehnten Jahrhundert vor Verdi. Von Rossini und seinem Lehrer Mayr (mit deutscher Grundausbildung dann italianisiert) übernahm Bellini viele Strukturmerkmale. Und die Norma steht in der direkten Nachfolge der Semiramide Rossinis, die Rossini 1824 als letzte seiner Opern in Italien schrieb. Zudem ist Norma in vielen Zügen eine Vorläuferin späterer Verdi-Opern (ErnaniTrovatoreAida u.a.).

Norma ist aber auch die am wenigsten mit konventionellen Maßstäben zu messende Oper, vergleichbar Wagners Tristan. Ähnlich wie Isolde ist Norma eine überdimensionale Heroine aus dem Bereich des Mythischen, ist Überfrau und gefallene Madonna. Sie steht stimmlich und figürlich für das Ideal des Belcanto auch in Hinsicht auf Verdis Frauenfiguren, ist keine zimperliche Fragile wie viele ihrer Opern-Schwestern dieser Epoche (auch bei Bellini selbst), kein Opfer wie Lucia oder Imogene, sondern Aktive wie Semiramide und später Leonora, eine Herrschende, die leidenschaftlich (und in Sünde) liebt und selbstverständlich dafür bezahlt. Sie ist eben kein Opfer (mehr), sondern eine Handelnde und damit ein ganz neuer Frauentyp. Angelegt von Cherubini (Medée), Gluck (Alceste) und von Rossini, der starke Frauen liebte (und mit einer solchen verheiratet war) und sie zu seinen Opernheldinnen machte.

Zu „Norma“: Lilli Lehmann/ Wiki

Diese Bemerkungen zu einer der komplexesten Opernfiguren sollen von den Worten einer großen Norma-Sängerin ihrer Zeit, nämlich von Lilli Lehmann, begleitet werden: ,“Wenn ich an die wunderbare Zeit meiner ersten Norma in Wien denke und nun darüber grübele, mit einem wie großen Mangel an Wissen und Liebe diese Oper seitdem immer wieder behandelt wird, dann bedaure ich die Künstler, die sich eine so wunderbare und lohnende Aufgabe entgehen lassen, aber auch das Publikum, das damit das beflügelnde Vergnügen verliert, eines Werkes von so reicher Melodik, leidenschaftlicher Handlung und Menschlicher Größe verlustig zugehen. Norma, die so viel Liebe in sich trägt, kann man nichtgleichgültig vorbereiten oder nur als oberflächliches Schaustück vorzeigen. Die Oper muss mit geradezu fanatischer Hingabe gesungen und gespielt, dazu von einem perfekten Chor und Orchester mit künstlerischer Integrität vermittelt, von einem Dirigenten großer Autorität angeführt werden. Und jedem einzelnen Takt muss der musikalische Tribut gezollt werden, der ihm zusteht.“ (Dies ist nachzuerleben – trotz der Lontanisierung der alten Schellacks – auf ihren kratzigen Einspielungen, die sie erst als alte Frau aufnahm.)

Dazu ergänzt der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick: “Die Norma der Lehmann stand unter dem Zeichen der langsamen Kantilene mit dem wunderbarsten Portamento, der sichersten und edelsten Intonation und dem Schwellen der hohen Noten und der floriden Passagen einer reinsten und flüssigen Koloratur. Letztere diente nie einer koketten Wirkung, sondern blieb stets nobel, ernsthaft und der Situation untertan.“ Die nicht minder berühmte Norma-Sängerin in der jüngeren Zeit, Joan Sutherland, äußerte sich ebenfalls dazu: “Wahrscheinlich hat es eine vollkommene Norma nie gegeben. Die Oper verlangt zu viel von einer Sopranistin: die größte dramatische Fähigkeit, übermenschliche emotionale Ausdrucksmöglichkeiten, die beste Belcanto-Technik, die man sich vorstellen kann, zudem eine Stimme von besonderer Qualität und Größe sowie viele andere Attribute mehr.“ Jaja – ob das andere, spätere auch gelesen haben? Man hat da seine Zweifel: Ein Blick in ein Video von der Met mit Frau Yoncheva und einem unbeteiligten Tenor  lässt die Misere der heutigen Norma-Situation ahnen…

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„Norma“ Maria Callas und („Oh Giovinetta!“) Ebe Stignani in Covent Garden 1952/ Foto Roger Wood/ Warner

Musik und Text in Symbiose: Die Beziehung zwischen Musik und Text beherrschte Bellini vollkommen und beeindruckte damit seine Zeitgenossen, später auch Wagner. Es ist die Deklamation in ihrer Vollendung, die die Norma auszeichnet und die sich so schwer für heutige Interpreten realisieren lässt. Diese, also die Musikwerdung des gesprochenen Wortes, macht einen großen Teil der Wirkung in den Bellinischen Opern aus, deren wichtigstes Merkmal der nahtlose, unmerkliche Übergang von Deklamation in die Arie ist. Auch Verdi pries Bellinis lange, schwebende Melodien und Melodiebögen, wie sie vorher noch niemand erfunden hatte, auch Rossini so nicht (oder nur in Ansätzen). Bellini war in der Lage, aus kleinen Takteinheiten in der Wiederholung rhythmische Intervalle zu schaffen, die zu schweben scheinen. Dabei lässt er diese gleichsam pulsieren (auch dynamisch) und dadurch sich nach oben in symmetrischer Form aufbauen, hierin Rossini verpflichtet. Aber anders als bei Rossini schraubt sich die Klimax der Bellinianischen Linie zu einer mit großer Intensität vorgebrachten Explosion empor, in der das aufgestaute Gefühl und die melodische Linie ihre Erfüllung finden. Das Finale des 2. Aktes der Norma ist darin dem letzten Akt des Tristan nicht unähnlich. Der deutsche Komponist ist hierin seinem italienischen Kollegen durchaus verpflichtet. Bellini schuf diese klimaktischen Momente mit strahlenden Farben im Orchester, während die musikalische Vorbereitung darauf eine magische, mesmerisierende Klang-Wirkung hat. Diese Üppigkeit des Explodierenden nach langer Gefühlsschraube kennzeichnet viele der Passagen in der Norma. Ein anderes Wirkungsmoment ist die dynamische, akzellerierende Behandlung von Parallelstimmen, der Führung etwa in den Koloraturbögen der beiden Frauen – auch dies eine Meisterschaft Bellinis in der Folge Rossinis (etwa in Semiramide), die in der beschriebenen Klang-Ekstase mündet.

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„Norma“ Renata Scotto an der Met/Publicity Photo/ Norman Mitchel/ Met Opera Archive

Einige Studio- und Live-Dokumente: So – nun aber endlich ein Blick auf wichtige Interpretationen und Tondokumente. Anlässlich der neueren Decca-Aufnahme mit Cecilia Bartoli, die wegen ihrer „Originalinstrumente“ (und der Malibran-Fassung mit interessantern Wendungen und tiefer gelegten Tessitura) und ihres beharrlichen Rekurierens auf die Interpretation der Seelenfreundin in vieler Hinsicht aus dem Rahmen fällt, hatte ich beim Ersterscheinen noch große Zweifel gehabt. Ut desint vires… und so.

Aber ich stehe nicht an zu sagen, ich habe mich geirrt!  Die Bartoli, mehr noch als ihre etwas dünnen Mitstreitenden, schafft eine Norma hors concours, die sich nicht mit anderen Einspielungen vergleichen lässt. Dies ist eine tiefseriöse, faszinierend durchdachte Interpretation auf dem Boden der Musik vielleicht vor der Creation des Werkes, zum Früheren neigend, Barockes und die neapolitanische Entwicklung ebenso wie Gluck und Rossini  berücksichtigend. Das durchsichtige Orchester und die ungewohnt schlanken Stimmen (Osborn, Jo) vermitteln eine Kammer-Norma, eine Oper für kleine Holz-und Gips-Theater mit eingeschränktem Orchester voller Holzbläser und limitierter Geigen. Absolut nicht 19. Jahrhundert und grande chose für Riesenhäuser á la Met oder Sidney, kein Primadonnenvehikel vor allem. Die Bartoli kostet Feinheiten aus, die ich woanders so nicht gehört habe. Die finali bringen sie natürlich in Bedrängnis, da gibt ihr Medium mehr als es hat, und „In mia man“ endet im klug umschifften Schrei. Vielleicht möchte man das so nicht immer hören, aber als herausragendes Dokument hat dies seine absolute Gültigkeit, ein gelungenes Experiment. Ich hörte sie neulich, als ich im TV den Film „Cecilia Bertoli and friends sah und über ihre klugen, musikhistorischen Bemerkungen zur Rolle neu nachdachte. Was zeigt, dass man (ich) seine Ansichten von Zeit zu Zeit neu bewerten muss …

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„Norma“: Joan Sutherland mit Marilyn Horne und Carlo Bergonzi/ Met Opera Archive

Die Liste der illustren klang-dokumentierten Interpretinnen für die Titel-Partie ist eine ebenso glanzvolle wie relativ kurze, wenn man zwischen dem lauten Applaus der Welt und der Einschätzung der Kenner unterscheiden will – eigene Begeisterung für diese oder jene sind extrem subjektiv und gebaut auf der Vorliebe für ein spefisches Timbre, die Diktion, die Erscheinung und viele extramusikalische Momente mehr. Anders als für die anderen Opern des Belcanto (und Bellinis!) – eben jene kurze Blüte des virtuosen und in engen Stil-Grenzen leidenschaftlichen Gesanges in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – nahmen (und nehmen bis heute) nur wenige Vertreterinnen die geforderten Hürden: Giuditta Pasta, Giulia Grisi, Maria Malibran waren herausragende Normas mehr oder weniger der Entstehungszeit. Blanche Marchisio,Therese Tietjens und Jenny Lind später, Lilli Lehmann, Ester Mazzoleni, Rosa Raisa, Claudia Muzio und Rosa Ponselle galten als  die “klassischen“ Sängerinnen vor und nach dem 1. Weltkrieg. Während dann die Partie in die eisernen Kehlen von Damen wie Maria Caniglia oder Gina Cigna und zur Schwester der Turandot geriet, dem faschistischen Frauen-Ideal verpflichtet. Eine Ausnahme macht die heute kaum noch bekannte und hinreißende, kultivierte und machtvolle  Maria Pedrini (bei ehemals Melodram oder Gala), die ganz in einer damals (1940) vergessenen italienischen Belcanto-Tradition bei der RAI -Vorläuferin unter Ugo Tansini eine gekürzte Version einsang und die wie ein Leuchtfeuer in wüster Landschaft dasteht.

Norma wurde danach – wie von der Metropolitan-Säule Zinka Milanov oder der Caballé interpretiert – zu einer im Dauer-Pianissisimo verharrenden Schwester der Leonora oder Amelia Verdis verallgemeinert. Spätestens gegen Ende der Vierziger war die Kenntnis von der Belcanto(!)-Heldin Norma verloren gegangen, wie überhaupt das Wissen um das Spezifische an Bellini und dem Belcanto hinter einer global-robusten, dem hochexplosiven Verismo verpflichteten Musikalität zurückgetreten war. Riesenhäuser, Riesen-Events und der schnöde Opernalltag hatten Norma plattgemacht.

Die Auswirkungen darauf erstrecken sich über die fünfziger Jahre des vor-vorigen Jahrhunderts bis heute. Denn die Geschichte der Norma-Interpretation ist zugleich auch die Geschichte der Unzulänglichkeit und verwegenen Ambitionen der vielen Ehrgeizigen, die sich dieser Partie und dieses Repertoires bemächtigt haben, nachdem die Pionierinnen wie Callas oder Sutherland das Repertoire geöffnet hatten.

Norma: Maria Dragoni/ NE

Einschub: Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch einmal ein Wort über die Bedingungen für die Partie verlieren. Da die Norma zwischen den heroischen und vor allem dunkel timbrierten Heldinnen Rossinis (in der mezzogefärbten Interpretation oft durch seine Frau Isabella Colbran, die u.a. die Semiramide, aber natürlich nicht die Norma gesungen hatte) und den Frauenfiguren der frühen bis mittleren Verdi-Opern steht (also eine Masnadieri-, Oberto- oder Trovatore-Leonora in Richtung auf Aida), ist mit Kanarienvogelstimmen (Sills, Deutekom, Nielsen, Gruberova, Devia, Pratt und andere Unglückliche) nichts gewonnen. Die Norma braucht eine (immer im Rahmen der Belcanto-Anforderungen) machtvolle, unbedingt kontrollierte und dunkle Sopranstimme mit bester Koloratur, mit heroischer Farbe im durchgehenden Register ohne ordinären Brustton und mit eben jener Majestät, wie sie auch die eher übermenschlichen Heldinnen Rossinis zeigen. Norma – ein wirklicher soprano drammatico d agilità – ist der Gipfel des canto di bravura. Norma braucht, wie Bellini selbst sagte, eine voce da carattere enciclopedico – es ist die einzige wirklich dramatische Partie Bellinis. Sie hat ein Finale, das an Wagner erinnert, einfach herrlich!

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Norma: Maria Callas in Paris/ Roger-pic/Warner

Nun also Maria Callas: Zwischen1948 und 1960 sang die Callas diese Partie unangefochten und weltweit von Buenos Aires bis Epidauros und erweckte Norma wieder zum Leben in der Belcanto-Tradition vergessener Tage, die auf Ihre Zeit (und auf uns!) wie eine Offenbarung wirkte und immer noch wirkt. Sie ist und bleibt für meine heutigen Ohren die einzige, die so viele Aspekte der Figur und der Musik, der musikalischen wie charaktermäßigen Anlagen erfüllt. Sicher, ihre Stimme und später die Höhe an sich, ihr manchmal saures Timbre ist Geschmackssache. Aber nach einer Minute vergisst man mögliche Irritationen, zumal die frühen Aufnahmen aus der Zeit von 1952-1955 die Sinnlichkeit und vor allem auch die Üppigkeit der stimmlichen Mittel belegen. Und sie zeigen ihre große Kunst der Deklamation, der „Cornerstone“ jeglicher Belcanto-Oper. Die halbe Arbeit steckt darin, in der Kommunikation der Sängerin mit der Figur und mit dem Publikum.

Die Dokumente aus Mexico von 1950 lassen bereits ahnen, was man 1952 in London (mit einer ganz jungen Joan Sutherland als Clotilde/ Warner) und dann 1955 beim italienischen Rundfunk (meine absolute Lieblingsaufnahme mit einem diesmal nicht stentoralen Del Monacco/Cetra und viele andere) und im selben Jahr an der Scala hören kann – ein stimmlicher und interpretatorischer Idealtyp, geschult dank der Lehrerin Hidalgo und des Dirigenten Serafin im Geiste des Belcanto, mit einer voluminösen Stimme, die in zwar auch ihren Anfängen Turandot, die Walküre Wagners und dessen Isolde sowie Kundry ebenso durchmaß wie die Gioconda Ponchiellis. Dies also ist keine heute übliche Mini-Stimme, sondern die üppige, reife, geheimnisvoll-dunkle einer späteren Lady Macbeth oder einer Nabucco-Abigaille und eben einer Trovatore– und Forza-Leonora, eine Iphigenie Glucks ebenso wie seine Alceste. Klanggewordenes Mysterium. Selbst auf der späte EMI/Warner-Aufnahme neben der fehlgeleiteten präpotenten Christa Ludwig und dem herrlichen Franco Corelli – was für eine Kunst und welches Wissen.

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Maria Pedrini: ihre Norma (hier in Neapel) ist ein Leuchtturm in düsterer Zeit des Belcanto/nachzuhören auf dem Melodram-Doppelalbum (vergr.)/ priv. coll.

Und nach der Callas – eigentlich nur die Cerquetti und die Scotto! „Gäste kamen und Gäste gingen“ – und nur sehr wenige waren ausersehen. Zwar öffnete die Callas das Repertoire für unsere Zeit neu, sang mit derselben Stimme auch die Sonnambula, Lucia und die Verdi-Partien. Aber andere scheiterten beim Versuch und blieben weniger prägnant, selbst wenn mir nun viele (!!!) Musikfans gellend widersprechen und mich beschimpfen werden: die schmalstimige, säuerliche Leyla Gencer als wichtige Zeitgenossin der Callas und immer in deren Schatten, die deutsch-veristisch klindende Marion Lippert, die robuste Monika Pick-Hieronimi, die Griechin Elena Suliotis als glottierende und undisziplinierte Callas-Epigonin, die Amerikanerin Beverly Sills mit willensstarker, drahtiger Soubrettenstimme (deren Mut man mehr bewundert als den Klang ihres schartigen Organs), die trillernde Cristina Deutekom (huhhhhhhh), die Spanierin Montserrat Caballé mit klangschöner Dauer-Pianoleistung ohne viel Charakterisierung (dafür mit sssssspanischem Glottis und einem absolut geilem Videoauftritt in Orange neben einem ungeeigneten Vickers und dto. Veasey) wie auch die nichtssagende Katia Ricciarelli („Ma che corragio“, sagte Renata Tebaldi dazu…), die schumann-seelige Margaret Price, die Afro-Amerikanerinnen Shirley Verrett und Grace Bumbry ohne irgend ein Echo, Sternschnuppen wie die Russin Maria Bieshu (Genossin General), die in Berlin optisch dokumentierte Eleanor Ross, Anna de Cavallieri oder die unterschätzte und von mir sehr geliebte Italienerin Maria Vitale. Die große Renata Tebaldi hat sich weise der Norma enthalten nachdem sie die Callas gehört hatte – welche Einsicht! Zum Zeitpunkt unseres Interviews hatte sich gerade Katia Ricciarelli der Norma bemächtigt. An den Hauswänden von Triest prankten Protest-Plakate „E morta la Norma“. „La povera„, sagte die Tebaldi. Und von Lucia Aliberti hatte sie noch nie gehört …

Anita Cerquetti als Norma mit Widmung/ OBA

Andere Interpretinnen der Partie streife ich jetzt mal – keine von ihnen hat mich über das Sportliche hinaus interessiert. Und da gestehe ich, habe ich weitgehend aufgegeben zu hören, weil mich diese diese hochgehypten, glamourösen Damen nicht mehr interessieren.  Weder die blande Rebeka, die veristische Dessì, die brüllende Dimitrova, die amerikanisch-robuste Goerke, die blasse Bertaglioni, die als Norma absurden Damen Dussmann oder Inga Nielsen, die von mir so geliebte, undisziplinierte  Michele Lagrange mit ihren Caballé-ähnlichen Glottis, Brigitte Hahn somnambul trotz schöner dunkler Stimme, die wüste Negri, die dto. unruhige Orlandi-Malaspina, die sehr russische Penchikova, die hochindividuelle Stapp, nicht die irregeleitete Tomowa, schon gar nicht die Crider und auch nicht Lina Tettriani, die nach dem fulminanten Auftritt 2010 in Paris verschwand und hoffentlich gut geheiratet hat. Maria Gresia  hoffnungsvoll in Parma jüngst hatte ich schon erwähnt (youtube). Vorher gab´s sogar Yasiko Hayashi. Mara Zampieri gab es auch mal, Nelly Miricdioiu machte damit Amsterdam und Bukarest unsicher, Mariana Nicolesco (resta in pace) letzteres ebenfalls, Mariella Devia erlebte einen flopp ebenso wie „Grubsi“ (giammai.) und viele andere. Die Liste ist lang, Sammler schwärmen von der einen oder anderen (die von mir noch als Sopran geschätzte Rosalind Plowright hatte das Geheimnis in der gaumig-dunklen Stimme, aber nicht die Voraussetzungen, schon gar nicht im Tandem mit der Ulrica-gleichen Ewa Podles als Adalgisa.)

Denn natürlich gibt es noch unendliche viele andere, die sich wagten. In Erinnerung ist die wirklich tapfere und sich nicht schonende Sondra Radvanovsky an der Met, sensationell in den lyrischen Tönen und dem leidenschaftlichen Engagement, aber wie ihre Kollegin Joyce Di Donato (ein Fehler als Adalgisa) verbal undeutlich und eher bewundernswert denn überzeugend. Verena Dimidieva will ich übergehen, Karine Deshayes ebenfalls (wenngleich Michael Spyres und die etwas kleindimensionierte Dimina Edris neben ihr in Aix 2022 hohen Posten sind).

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Man findet unter den zahllosen Rollen-Vertreterinnen bis heute nur eine einzige mit einer wirklich üppigen, sogar noch voluminöseren und vor allem schöneren Stimme als die Callas:  Die Italienerin Anita Cerquetti, die der graeco-amerikanischen Kollegin die Norma nachsang (der berühmte Skandal 1958). Ihr römisches Zeugnis der Norma mit einem virilen (wirklich einzigartigen) Franco Corelli und der säuerlichen Miriam Pirazzini ist ein erhebendes Dokument wunderbaren Gesangs, wie es ihn heute nicht mehr gibt und wie er mir automatisch in den Kopf kommt, wenn ich mich durch die vielen (für mich) Lässlichen durchhöre. Vielleicht erreicht die Cerquetti nicht die letzte, zu hart erarbeitete intellektuelle Tiefe der Interpretation der Callas (die ja später unaufhörlich darüber redete, als die Stimme weg war), aber sie erreicht ihre unverkennbar eigene und absolut überzeugende Charakterisierung durch ihre menschliche Würde und stimmliche Vollkommenheit. Sie wird ja bei operalounge.de genügend gewürdigt. Natürlich ist es ein Jammer, dass es keine Studio- oder eine bessere Rundfunkaufnahme von ihr als Norma gibt. Freund Stefan Felderer (der Ton-Techniker für ehemals Melodram) hat aus dem GOP-Mitschnitt-Dokument alles rausgeholt, was möglich ist. Das muss genügen.

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Bedeutend: Szene und großes Duett aus „Norma“ mit Renata Scotto und Mirella Freni bei Decca

Drei weitere Namen ragen aus dem Aufgebot heraus, alle nicht vollkommen, aber doch eindringlich auf ihre eigene Weise. Joan Sutherland war die eher stimmbetonte  Alternative zur Callas ohne deren Wortausdeutung und dramatische Gabe, dafür mit einer technisch makellosen und vor allem fachspezifischen Belcanto (!)-Stimmführung (dank Ehemann Bonynge). Sie machte nach der Callas mit der Norma Furore und zwei Studio-Gesamteinspielungen, deren zweite das Absurde streift dank Caballé als Adalgisa und deren erste sie im Verein mit der bedeutenden Mezzosospranistin Marilyn Horne in unerhört harmonischen, überirdisch-schwebenden Duetten zeigt (auch wenn die Horne eher als Treckerfahrer denn als eine keusche, errötende Jungfrau auftritt). Außerdem singt die Sutherland als einne der ganz wenigen ihre Arie und die Duette in der originalen Tonlage (in C-Dur und F-Dur), während meistens eine Transposition nach moll üblich ist (die Callas allerdings, die sonst nicht die wackelfesteste Kandidatin in der Höhe war, singt 1952 in Covent Garden in der Originaltonart und über der Adalgisa-Linie!).

Die andere bedeutende Norma meines Opernlebens war für mich Renata Scotto, die 1978 unter Riccardo Mutis temperamentvoller Leitung in Florenz eine hochdurchdachte, intelligente und in der Absicht ehrenvolle Druidenpriesterin abgibt, deren Stärken natürlich angesichts ihrer schmaleren Stimmittel eher in der packenden Deklamation und Textausdeutung liegen als in der fulminanten Power, besonders effektvoll im letzten Akt mit Normas Drohung „In mia man“ in der Konfrontation mit dem milde-sauren  Ermanno Mauro. Und da darf man auch die bezaubernde Margherita Rinaldi als Adalgisa nicht vergessen, denn Muti besetzte die beiden Frauenpartien richtig mit einer gewichtigen und einer lyrischen Stimme. Die Scotto hat die Norma zwar ohne Gewinn mit James Levine industriell verewigt (Sony), aber mit Gewinn die große Szene Norma/Adalgisa in A2 (bei 3-Akt-Zählung) mit Mirella Freni bei Decca aufgenommen, hinreißend und habenswert.

Ebenfalls bedeutend: die Decca-Aufnahme der „Norma“ mit Cecilia Bartoli hors concours

Wie kaum eine andere, die Cerquetti ausgenommen, erinnert bei den Jüngeren Maria Dragoni (bei Kikko DVD 2000 Savona, mit bereits drohende Zustandsmanki am Horizont) an die Callas, ohne diese zu kopieren. Beide haben diesen technischen Tick in fiasca zu singen: dieser merkwürdig hohle Klang in der mittleren Tiefe. Beide haben das Glottis im passaggio, ganz eigenwillig.

Es ist die Art, wie sie das Rezitativ gestaltet, wie sie Pathos und Individualität aufkommen lässt. Diese üppige, große Stimme hat durchaus ihre problematischen Momente, aber im Ganzen war dies in jüngerer Zeit die für mich überzeugendste Verkörperung, die engagierteste Auslegung und die beseelteste Stimme für diese Partie.

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Adalgisa als zweiter Stolperstein: Nun singt ja Norma nicht alleine auf der Bühne, wenngleich sie dreiviertel des Abends bestreitet. Da gibt es noch neben dem störenden Papa Oroveso die junge Adalgisa und den strammen Römer Pollione (über Corelli geht da nichts). Um das Kriegsende herum war das neben einer Cigna oder der Callas fast immer die hochgelegene Mezzosopranistin Ebe Stignani, für damalige Zeiten eine Idealbesetzung. Selbst wenn sich das Publikum hörbar das Lachen nicht verkneifen konnte, wenn die junge Callas die säuerliche, aber eben sopranige Veteranin mit „O giovinetta“ adressierte (London 1952/Warner; die Stignani selber mit einer fulminanten Auftrittsarie Normas konserviert – sie hatte die Tessitura/Cetra).

Zu „Norma“: die bezaubernde Margherita Rinaldi, leuchtender Sopran in so vielen Partien, hier als Mozarts Ilia, singt die Adalgisa neben der Scotto in Florenz/ Hob

Traditionell wird diese Partie mit einem klassischen Mezzo verdianischer (oder sogar bizet-scher) Ausmaße besetzt – was ebenso monströs wie falsch ist, denn die Adalgisa sollte ebenfalls ein soprano lirico sein oder zumindest sopranig klingen, zumal ihre Partie im Duett in die höhere Lage führt und die Norma übersingt. Die originale Giulia Grisi war das gegenüber Giuditta Pasta, aber später selber eine bedeutende Norma. Die Rollenbezeichnung Mezzosopran kommt ja erst mit Verdi, vorher gab es die prima donna und die seconda donna. Das gilt auch für Maria Malibran, von der Bartoli bei Decca und in Aix 2022 Karine Deshayes als Vorlage zitiert, die die hochgelegene Amina Bellinis ebenso wie Rossinis tragische Desdemona gab, eben eine dunkle Sopranstimme großen Umfangs. Shirley Verrett und Fiorenza Cossotto sind da in den Dokumenten noch die fähigsten, Fedora Barbieri, Giulietta Simionato, Agnes Baltsa, Stefania Toczycka, Christa Ludwig, Marilyn Horne oder Tatyana Troyanos eher monströs – wenngleich für den Opernfreak ausserordentlich vergnüglich. Eine Quickly ist eben keine Adalgisa, für die man einen Sopranton braucht, nicht Urmutter Erda oder Klytämnestra. So sehr ich die robuste Cossotto in anderen Partien schätze halte ich auch sie für eine Fehlbesetzung ebenso wie die präpotente, total unitalienische Christa Ludwig, beide bei der Callas und die Stimmverhältnisse umkehrend. Und auch die von mir sehr geschätzte Joyce DiDonato, eine kluge und von mir bewunderte Künstlerin, tat sich mit ihrer Adalgisa an der Met keinen Gefallen, das Timbre ist nicht richtig, und sie war auch nicht in guter Form, peccato.

Der Klang und auch die Mischung zwischen der schwereren, dramatischen Stimme der Norma und der helleren (weil jüngeren, unschuldigen) der Adalgisa ist hier wichtig. 1978 verpflichtete Riccardo Muti für Florenz die Scotto erstmals zusammen mit der bezaubernden, mädchenhaften Margherita Rinaldi, und erzielte ein leuchtendes Ergebnis (Legato und andere). Nicht ganz so glücklich war die ein Jahr früher liegende Bemühung in Martina Franca (nun auf Dynamic), als Grace Bumbry (brrrr) neben der etwas kneifigen Lella Cuberli auftrat, auch weil die Bumbry so absolut gar nichts für die Titelpartie mitbrachte. Aber der Gedanke als solcher ist richtig und bis heute selten wiederholt worden (zuletzt eben mit Bartoli/ Jo oder Deshayes/Idriss).

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Die zweite Norma der Callas bei EMI/Warner; trotz Christa Luwig und auch wegen Franco Corelli mehr oder weniger die beste Aufnahme von ihr.

Was bleibt? Ist es kulturpessimistisch, so streng zu sein? Verletze ich viele, die ihre Geliebten hier mies gemacht sehen? Niemand ist im Besitz der Wahrheit, und meine Meinung ist ja nur eine sehr persönliche auf der Grundlage vielen Hörens und Erlebens. Gerade Sondra Radvanovsky (die arme Vielzitierte!) mit ihrer sicher soliden Leistung an der Met hat mir bewusst gemacht, dass solide einfach nicht für Norma (oder für die Isolde) reicht (Frau Yoncheva wird erfrischend vom Kollegen der New York Times niedergemacht, wie oben zu lesen ist.). Solide ist nur die Grundlage, die Basis, der Autopilot.

Aber gilt das nicht auch für fast jede andere Opernpartie? Für Violetta, Leonora oder Alceste? Das Besondere, das den Abend ausmacht? Die Spannung, die Kommunikation, eben das seltene Glück, zu vergessen, dass dort gesungen wird und dass man wieder am Ende des Abends auftaucht wie aus einem tiefen Wasser.

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Und nicht vergessen: Anita Cerquetti als Norma, live 1957 auf diversen Labels, hier die Erstausgabe bei gop, für mich die ultimative Norma. G. H.

Ich lese mich gerade erneut durch Janet Bakers Autobiographie „Full Circle“ hindurch und falle immer wieder über eben diese Begriffe wie Persönlichkeit, Kunst, Integrität, keine Routine, „Dedication“. Auch Dienen an der Kunst (was inzwischen so abgegriffen klingt, aber von tiefer Bedeutung ist). Vieles, was die Baker in Retrospekt  schreibt, ist so wahr und kann für das Singen überhaupt gelten. Dieses bedingungslose, uneitle sich Öffnen für eine Partie ist das, was uns als Publikum erreicht. Und für mich sind das in puncto Norma die zwei oder drei genannten Sängerinnen: Maria Callas, in einer Rolle, in der sie wie in kaum einer anderen Magie schafft, sie ausfüllt, sie mit Leben versieht. Egal in welcher Kombination der zahlreichen Live-Mitschnitte und zwei Studioaufnahmen:  Über allem triumphieren der Genius Bellinis und der von Maria Callas. Und dann ist da neben der Scotto noch Anita Cerquetti in ihrer majestätischen Würde und fast unschuldigen Menschlichkeit. Was sind wir reich! Geerd Heinsen

Alfredo Keils „Serrana“

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„Heróis do mar, nobre povo, // (…) Levantai hoje de novo // O esplendor de Portugal! – Helden der See, edles Volk, (…) //Erhebet heute aufs Neue, //Die Pracht Portugals!“ – Ausgerechnet ein Portugiese mit deutschen Wurzeln ist für diese Nationalhymne verantwortlich: Alfredo Keil. Der kommt nur deshalb in Portugal auf die Welt, weil es seinen Vater, Hans-Christian Keil, als Schneider an den portugiesischen Hof verschlägt. Den Sohn, Alfredo, reizt es weniger, für die Fernandos, Carlos‘ und Manuels dieser Welt Nähnadeln durch erlesene Samtstoffe zu triezen; er studiert Malerei und Musik und setzt sich energisch daran, die portugiesische Oper endlich portugiesisch zu machen. Mit Serrana, im Untertitel Die Frau aus den Bergen, vertont er wagemutig ein portugiesisches Libretto – bei so viel nationaler Bewegung muss die Zeit ja endlich mal reif sein für ein Werk in der Muttersprache, oder? Doch ehe das Stück 1899 mit großem Erfolg am Teatro São de Carlos aufgeführt wird, muss es, man braucht es eigentlich schon nicht mehr zu sagen, erst ins Italienische übersetzt werden.

Sein Lied A Portuguesa komponiert Keil bereits 1891, im Schwung der Empörung über die britische Afrikapolitik. Dass daraus dann zwanzig Jahre später die portugiesische Nationalhymne gezaubert wird, versehen mit einem Text des Dichters Henrique Lopes de Mendonça, erlebt er gar nicht mehr – und glücklicherweise auch nicht, dass das leider das einzige ist, was von seinem Werk überhaupt noch gespielt wird.

Alfredo Keil, Gemälde von Félix da Costa 1909 (Museu de Lisboa, Palácio Pimenta)

Hymne hin oder her, die junge Republik kämpft – und versinkt zugleich im Chaos. Der 1. Weltkrieg destabilisiert nachhaltig, Attentate, Korruption, Inflation, höhlen das System aus, alle paar Monate wechselt die Regierung. Der Ruf nach einem starken Mann wird immer lauter, Portugal schlingert Richtung Diktatur. Ein dunkles Kapitel der portugiesischen Geschichte. …  (soweit Sylvia Roth im SWR 2017 in ihrer vierten Folge der Kleinen Musikgeschichte Portugals).

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Alfredo Keil? Wer war Alfredo Keil? Ein Portugiese, zumal ein patriotischer mit deutschem Namen? Alfredo Keil wurde am 3. Juli 1850 in Lissabon geboren und war väterlicherseits deutscher und mütterlicherseits elsässischer Abstammung.  Sein Vater, João Cristiano (Johann Christian) Keil, ließ sich 1838 als Schneider in Lissabon nieder und konnte den König zu seinen Kunden zählen; seine Mutter, Maria Josefina Stellpflug, gehörte zu einer Familie, die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert in Portugal ansässig war.

Im Jahr 1868, noch nicht 18 Jahre alt, geht er nach Bayern, um in München und Nürnberg zu studieren, wo Kaulbach und Keeling seine Lehrer an der Akademie der Bildenden Künste sind. Von dort aus schickte er seine ersten Bilder für eine Ausstellung der Sociedade Promotora das Belas Artes (Gesellschaft zur Förderung der schönen Künste).

1870 zwang ihn der Deutsch-Französische Krieg zur Rückkehr nach Portugal, wo er sein Studium der Malerei bei Prieto und Miguel Lupi fortsetzte. In den Jahren 1874 und 1876 wurde er von der Sociedade Promotora mit einem Preis ausgezeichnet und nahm an mehreren internationalen Ausstellungen teil und wurde dort auch prämiert.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Aquarell vom Künstler mit einer Widmung für Jules Massenet/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

In der Zwischenzeit wurde er in den eleganten Salons als Komponist von Walzern und Polkas immer beliebter. Seine musikalischen Lehrer waren der Ungar Oscar de Ia Cinna (Klavier) und die Portugiesen Ernesto Vieira (Harmonie) und António Soares (Grundlagen).

Im Jahr 1883 wurde seine einaktige komische Oper Susana nach einem Text von Higino Mendonça im Teatro da Trindade aufgeführt. Am 10. Juni des darauffolgenden Jahres, im Anschluss an das Camões-Jahresjubiläum (1880), wurde seine Kantate Patrie im alten Whitoyne Coliseum unter der Leitung von Filipe Duarte aufgeführt. 1885 und 1886 wurden seine symphonische Dichtung Uma Caçada na Corte und die Kantate As Orientais von der Academia dos Amadores de Música im Trindade-Saal uraufgeführt. Aber es war auch eine Zeit großer Aktivität als Maler, aus der die meisten seiner kleinen Gemälde von Colares stammen.

Dona Branca, sein „Drâme lyrique“ in einem Prolog und vier Akten, wurde am 10. März 1888 im Teatro de São Carlos uraufgeführt und war sein erstes wichtiges Werk. Nach einem Libretto von César Fereal, das auf dem gleichnamigen Gedicht von Almeida Garrett basiert, war es ein großer Erfolg und wurde dort dreißig Mal aufgeführt, bevor es an das Teatro Lírico in Rio de Janeiro weiterging.

Zwei Jahre später setzte das britische Ultimatum eine gewaltige Welle patriotischer Begeisterung in Gang. Um die Gefühle der Nation auf den Punkt zu bringen, komponierte Alfredo Keil den Marsch A Portuguesa, dem Henrique Lopes de Mendonça einen Text hinzufügte, der bald im ganzen Land gesungen wurde. Zu den Klängen von A Portuguesa brach am 31. Januar 1891 in Porto die republikanische Revolution aus, die dazu führte, dass dieser Marsch 20 Jahre lang nicht mehr öffentlich gesungen werden durfte. Bei der Revolution vom 5. Oktober 1910 wurde er vom Volk wieder aufgegriffen und schließlich von der Republik als Nationalhymne angenommen – ein Schicksal, das der inzwischen verstorbene Monarchist Alfredo Keil nicht vorausgesehen hatte.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Foto zu einer Aufführung 1909 im Teatro de la Trinidad, Portugal/ Wikipedia

Zurück ins Jahr 1890: In diesem Jahr führte das Teatro Nacional Dona Maria II. zum ersten Mal die historische Tragödie A Morta von Henrique Lopes de Mendonça auf, zu der Keil die Bühnenmusik komponierte. Im selben Jahr veranstaltete er eine Ausstellung, bei der er etwa 300 Gemälde verkaufte. Einer der Käufer war König Luís, der Alfredo Keil 1886 gebeten hatte, eine Kantate zur Feier der Hochzeit von Prinz Carlos mit Prinzessin Amélia von Orleans zu komponieren, woraus O Poema da Primavera entstand (erst 1930 posthum aufgeführt). König Luís widmete der Komponist die Partitur von Dona Branca, die in Paris veröffentlicht wurde.

Die vieraktige „Leggenda mistica“ Irene wurde am 20. März 1893 am Teatro Regio in Turin uraufgeführt. Ebenfalls nach einem Text von César Fereal wurde es zwei Jahre später in Leipzig veröffentlicht und 1896 im São Carlos aufgeführt.

Etwa zur gleichen Zeit vollendete Keil A Serrana nach einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, das auf der Erzählung Como ela o amava („Wie sie ihn liebte“) von Camilo Castelo Branco basiert. Die Uraufführung fand am 13. März 1899 im São Carlos statt. Ein Auszug für Gesang und Klavier wurde in Rio de Janeiro von einer großen Gruppe von Bewunderern veröffentlicht (ähnlich wie bei der Symphonie „A Pátria“ („Das Vaterland“) von Viana da Mota), mit Illustrationen von Roque Gameiro, Columbano Bordalo Pinheiro und anderen.

Alfredo Keil „A Serrana“ scene II, Act 2, Júlia Coelho, soprano,  Taylor Burkhardt pianist Whitmore recital Hall Columbia, Missouri 2015/ youtube

Während dieser Zeit widmete sich Alfredo Keil weiterhin der Malerei. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem seinen Sammlungen von Kunstwerken, insbesondere seiner berühmten Musikinstrumentensammlung. Diese umfasste bis zu 400 verschiedene Stücke und ist heute Teil der Sammlung des Museu de Música in Lissabon. Zu seiner wertvollen Gemäldesammlung gehörten ein Goya, ein Luca Giordano, ein Bruegel und zahlreiche portugiesische alte Meister. Seine prächtige Bibliothek umfasste eine Reihe seltener Werke, darunter Manuskripte, einige mit Buchmalerei. Er selbst veröffentlichte die Bände Breve Notícia da Colecção Keil – Instrumentos de música (1904) und Colecções e Museus de Arte de Lisboa (1905).

Alfredo Keil war ein Mann, der die Zuneigung und Wertschätzung von Institutionen und einfachen Menschen gleichermaßen genoss. Diese Universalität, die von allen Schichten des Landes in Anspruch genommen wurde, führte zur Komposition einer Reihe von Gelegenheitswerken, wie dem Hino do Infante Dom Henrique und dem Marcha de Gualdim Pais. Die lyrische symphonische Dichtung A Índia (ursprünglich als Oper gedacht, die jedoch nie vollendet wurde) wurde von der Geographischen Gesellschaft in Auftrag gegeben, um den vierhundertsten Jahrestag der Entdeckung Indiens durch Vasco da Gama im Jahr 1898 zu begehen (die Komposition wurde wegen fehlender finanzieller Mittel eingestellt).

Bei seinem frühen Tod am 4. Oktober 1907 hinterließ Alfredo Keil ein unveröffentlichtes Buch mit Versen, Zeichnungen und Liedern, die er alle selbst angefertigt hatte und die ein Jahr später unter dem Titel Tojos e Rosmaninhos („Ginster und Rosmarin“) veröffentlicht wurden. Ansonsten hinterließ er Skizzen für eine weitere Oper, Simão, o Ruivo, und eine große Anzahl kleiner Vokal- und Instrumentalstücke. (Quelle Wikipedia Poirtugal).

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Roque Gameiro/Denise Pereira & Gerald Luckhurst, “Alfredo Keil e Luigi Manini: Os sons e os tons da didascália operática” in Alfredo Keil em Sintra: 100 anos depois, Câmara Municipal de Sintra, (Exhibition catalog), 2007

Soweit die Bio. Nun aber endlich zur Oper selbst: Am  13. März 1899 wurde also  im S. Carlos Theater in Lissabon A Serrana, ein lyrisches Drama in drei Akten mit einem Libretto von Henrique Lopes de Mendonça, basierend auf dem Roman Como Ela o Amava, von Camilo Castelo Branco Real Teatro de São Carlos uraufgeführt.  Es ist die erste moderne Oper mit einem Libretto in portugiesischer Sprache, die auch populäre Melodien enthält. Es wurde Keils bekannteste Oper sowie ein „echt nationales“ Repertoire-Stück. Obwohl das Libretto ursprünglich in portugiesischer Sprache verfasst war und Keil angedeutet hat, dass er die Musik auf der Grundlage des Textes in dieser Sprache geschrieben hat, wurde die Oper, wie alle ihre Gegenstücke von portugiesischen Komponisten, die im 19. ein Ensemble, dem einige berühmte Sänger der damaligen Zeit angehörten, darunter die Sopranistin Eva Tetrazzini, Ehefrau des Orchesterdirektors Cleofonte Campanini, und der Bariton Mario Ancona, eben – de rigeur –  in Italienisch gegeben.

In der Widmung an Massenet (einen Freund des Komponisten), die am Anfang der Partitur steht, erwähnt Keil Serrana als die erste Oper, die mit einem portugiesischen Text gedruckt wurde, und die 90 Subskribenten, die die Ausgabe finanziert haben, bezeichnen sie als „die erste moderne Oper, mit der die ‚Vulgarização da Musica Portugueza‘ beginnt“. Nach der Tradition des 19. Jahrhunderts ist dies die Partitur, die in der Öffentlichkeit das Bild der Oper prägt und sicherlich zu ihrer Identifizierung als Nationaloper beigetragen hat.

Alfredo Keil: „Serrana“/Costume painted by Columbano Bordalo-Pinheiro/TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Es dauerte jedoch bis 1909, ein Jahrzehnt nach der Uraufführung und zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten, bis der Impresario Afonso Taveira die Oper in der Sprache, in der sie ursprünglich geschrieben wurde, auf die Bühne des Theaters von Trindade brachte.  Zu dieser Zeit erkannte A Illustração Portuguesa die Oper als Keils populärste an (was sich sicherlich auf die Tatsache bezog, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt fünf Mal aufgeführt worden war) und auch als „echt national“. Diese Popularität wird sich im 20. Jahrhundert widerspiegeln, denn Serrana war sicherlich die meistgesungene portugiesische Oper. Zwischen 1900 und 1979 gab es neun Spielzeiten im Teatro de S. Carlos, vier Spielzeiten im Coliseu bis 1965, im Teatro de S. João do Porto im Februar 1901, im Teatro da Trindade 1909 und dann, in den sechziger Jahren, durch die Companhia Portuguesa de Opera, die es in der portugiesischen Fassung zu einem ihrer Repertoirewerke wählte, sowie 1979 im Teatro Rivoli in Porto. Eine semi-konzertante Aufführung findet sich zudem 2015 im amerikanischen Columbia/Missouri.

2002 und 2019 erfolgten zwei weitere Aufführungen in Lissabon (in portugiesich), letztere ist bei youtube nachzuerleben (in halligem Sound, Maria Pia Jonata singt die Titelpartie, Donato Renzetti dirigiert am Teatro Nacional de São Carlos). Gleich nach der Uraufführung in Lissabon brachte das tüchtige Hamburger Opernhaus eine deutsche heraus. Eine im Netz erwähnte erste und einzige deutschsprachige konzertante Nachkriegs-Aufführung (stark gekürzt in der Originalsprache) vom WDR stammt vom 15. 5. 2005 (wie der Bonner Generalanzeiger am 17. 5. 2005 titelt: Konzertante WDR-Produktion von Alfredo Keils „Serrana“ im!!! Bonner Opernhaus.“; so die Info der Radiozeitung Hör Zu, wie unser Leser Carl Meffert herausgefunden hat: Günter Lamprecht und Claudia Amm sind die Sprecher, und es singen Laura de Souza, Ricardo Tamura sowie Juan-Carlos Mera-Euler mit Helmuth Froschauer am Pult des Rundfunk-Orchesters und -Chores, s. die Buldunterschrift zum Flyer der Bonner Aufführung nachstehend). Der Musikverlag Schott, bei dem  bei der Hamburger Erstaufführung die deutschen Rechte lagen, findet nichts im Archiv.  (G. H.)

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Alfredo Keil: „Serrana“/ Bühnenbildentwurf von Manuel Macedo für Alfredo Keil/ TNSC (National Theatre of S. Carlos), Serrana, Alfredo Keil, Ministério da Cultura, 2002

Im Gegensatz zu den früheren Opern Dona Branca und Irene, die beide ein historisches Thema behandeln und von den Vorbildern der Grand Opéra beeinflusst sind, behandelt Serrana Probleme, die mit dem Leben der Bauern eines Dorfes in der Umgebung von Serra da Estrela verbunden sind.

Wie ihre Vorbilder aus dem späten 19. Jahrhundert verbindet Serrana Elemente, die von der romantischen Oper übernommen wurden, mit anderen, die für die literarischen Strömungen des italienischen Naturalismus charakteristisch sind – verista oder Realisten -, die den meisten dramatischen Werken ab 1870 ihren Stempel aufdrückten.

Romantische Stereotypen werden besonders deutlich in der Organisation des dramatischen Raums: Akt I spielt im Freien, während des Morgens, in einer Taverne mit Tischen; Akt II spielt im Inneren eines wohlhabenden Hauses, während einer stürmischen Nacht, und Akt III spielt am Morgen des nächsten Tages, ebenfalls im Freien. Wir beobachten also eine Entwicklung vom offenen und bukolischen Raum des ersten Aktes zum geschlossenen und intimen Raum des zweiten Aktes und eine Rückkehr zum offenen Raum im dritten Akt, der nun beunruhigend und bedrohlich ist.

Die Dialoge zwischen dem Chor und den verschiedenen Figuren im ersten Akt repräsentieren das Gefühl der Feindschaft zwischen den beiden rivalisierenden Dörfern, während Peter und Zabel im zweiten Akt in einer intimeren Atmosphäre ihre Liebesgefühle zueinander ausdrücken.

Alfredo Keils „Serrana“ in der konzertanten Aufführung des WDR im Opernhaus Bonn – unser Leser Carl Meffert fand den Flyer für die Aufführung beim Rheinischen Musikfest 2005. Danke! Das Konzert im Bonner Opernhaus war am 14. 5. 2005, und zwei Tage später (am Montag) reisten die Mitwirkenden zum Dresdener Musikfest – Motto: „Lissabon – Kulturhauptstadt Europas“ – und führten in der Semperoper das Werk noch einmal (konzertant) auf. Der MDR nahm es – im Auftrag des ‚WDR‘ ? – auf, und dieser sendete es lt. Rundfunkzeitung am 12. 6. 2005 in seinem Dritten Programm. 

In der Beziehung zwischen den drei Akten von Serrana finden wir auch andere der in der italienischen romantischen Oper üblichen Strukturen: Akt I als racconto, die Schilderung der Vergangenheit, aus der die in der Gegenwart erlebte Situation entstanden ist – hier die alte Feindschaft zwischen den Dörfern, Pedro, Zabels erste Leidenschaft, dessen Eifersucht, als er erfährt, dass Zabel mit Marcelo nach Brasilien geht, und das Versprechen, das Lager zu boykottieren – der zweite und dritte Akt sind die eigentliche Entfaltung des Dramas, wobei das charakteristische Liebesduett im zweiten Akt zu finden ist.

In der engen Verbindung zwischen den raphaelischen Elementen der äußeren Natur und der Entfaltung des Dramas wird der Einfluss der französischen Oper besonders deutlich. Ein Beispiel dafür ist das Erscheinen einer Höhle und des Grabes von Petrus auf der Bühne, das von Nabor mit einem groben Holzkreuz markiert wird (III). Der Sturm (II),26 ein allgemeines Symbol für das Herannahen der Tragödie, ist auch eine Projektion der Gemütszustände und der gequälten Leidenschaften, die die Figuren beleben und die aufgrund ihres spektakulären Charakters auf der Bühne ein sehr häufiges dramatisches Mittel im gesamten neunzehnten Jahrhundert darstellen. Es handelt sich im Grunde um eine „Rhetorik der dramatischen Räume“.

Einige der aufgezeigten Merkmale finden sich auch in einer Reihe von Opern aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – insbesondere in Bizets Carmen und Puccinis Manon Lescaut.  Die dramatischen Themen der tinte forti, die in der Literatur und im Theater der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts präsent waren, leiteten den Übergang von einer romantischen zu einer realistischen Ästhetik ein, was sich unmittelbar in der Oper jener Zeit niederschlug. Eines der Werke, die am meisten zum Erscheinen dieses neuen Genres beitrugen, war Bizets Carmen, in der die Heldin zum ersten Mal eine Frau von niedrigem sozialen Status ist und in der die Gewalttätigkeit von D. Josés Verbrechen aus Leidenschaft auf der Bühne zu sehen ist.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Szene Aufführung 1909 am Teatro de la Trinidade/ Wikipedia

In Serrana sind das Thema der Auswanderung aus dem portugiesischen ländlichen Umfeld nach Brasilien, auf das im ersten Akt Bezug genommen wird, die Anwesenheit des Dorfältesten von Malhada (die typische Figur des weisen Dorfältesten – Nabor), die Tatsache, dass die Hauptfiguren dem ländlichen Umfeld angehören, die Verwendung einer für die Region Beira Baixa typischen Sprache und der Gebrauch von Sprichwörtern, die versuchte Vergewaltigung, die Präsenz traditioneller portugiesischer Instrumente wie der Adufe und der Gitarre auf der Bühne oder auch die Bezugnahme auf Aspekte, die mit dem täglichen Leben eines portugiesischen Dorfes verbunden sind, wie die Schafzucht, die Arbeit der Spinnerinnen  oder die Adlerjagd , sind alles Elemente, die es dieser neuen Ästhetik näher bringen.

Aus symphonischer Sicht ist der interessanteste Aspekt in Serrana das Vorhandensein eines symphonischen Intermezzos, mit dem der 3. Akt beginnt und das dazu dient, den Tod von Peter zu beschreiben. Diese Art von Stücken taucht in den Opern der Komponisten der Giovane Scuola als Antwort auf den Symphonismus in Wagners Werken auf und steht auch im Zusammenhang mit dem Aufkommen deskriptiver musikalischer Elemente in der italienischen Oper. Abgesehen von kleineren Bemühungen von Komponisten wie Smareglia (La Falena, 1897-1905) oder Franchetti (Germania, 1902) um eine Wiederbelebung der Wagnerschen Tradition sind bedeutendsten Werke unter diesem Gesichtspunkt  die von Komponisten, die mit dem Verismo verbunden sind – L’amico Fritz (1891), Guglielmo Ratcliff (1895) und Cavalleria rusticana, (1890) von Mascagni oder auch Le Villi (1884) und Manon Lescaut (1893) von Puccini. Die beiden Orchesterintermezzi in Le Villi werden von Texten begleitet, die den Verrat von Roberto, den Tod von Anne bzw. die Legende von Villi beschreiben, und in Manon Lescaut beschreibt das Intermezzo im dritten Akt die Verhaftung von Manon und ihre Reise zum Hafen von Le Havre.

Alfredo Keil: „Serrana“/ Postkarte/ priv coll.

Das Sturm-Intermezzo in Serrana ist ein programmatisches Stück, das sich anhand der Didaskalien, die die Partitur begleiten, in mehrere Momente unterteilen lässt. Zu diesen gehören chromatische Skalen, meist absteigend, sowie eine Reihe von Akkorden, die mit punktierten Rhythmen artikuliert werden, von denen einige diminutiv sind. Dieser Moment erinnert an Wind, Donner und sintflutartigen Regen, Elemente, die bereits im zweiten Akt zu spüren waren.

Um dem Zuschauer ein größeres Gefühl der Authentizität zu vermitteln, verwendet die realistische Oper eine Reihe von Referenzen, die zu einem Bewusstsein der Umgebungen führen, die das Werk darstellen will: Volkstänze und Lieder einer bestimmten Region, dionysische Gesänge (Marcelos Lied „Eva lá no paraíso“, ein Beispiel für das typisch französische chanson à boire), sowie Litaneien, religiöse Hymnen, Prozessionen und malerische Chöre. Die Prozession von Serrana, ein religiöses Element am Ende des ersten Aktes (mit dem ein Choral verbunden ist), erfüllt nicht nur eine dramatische Funktion – den Gegensatz zwischen dem Kampf der Kriegsparteien und der anschließenden Vereinigung durch die Religion -, sondern bringt auch ein starkes Element des Lokalkolorits ein. 

Zum Inhalt/Personen: Zabel, Serrana (dramatischer Sopran) PEDRO, Bauer von Alfatema (Tenor); MARCELO, Bauer von Malhada (Bariton); NABOR, alter Major (Bass); MANUEL Dorfbewohner von Malhada (Bass); ANDRÉ, Sänger (Tenor); UM PASTOR (Tenor).

Alfredo Keil/ Illustration zu seiner Oper „Donna Branca“/Wikipedia

Akt I – Die Handlung spielt im Jahr 1820 in dem kleinen Dorf Malhada, das in der Serra da Estrela liegt. Die Männer streiten sich heftig über alte Rivalitäten zwischen den Dörfern, die nun wieder aufleben, da Pedro, aus dem Dorf Alfatema und erste Liebe von Zabel (der Serrana), geschworen hatte, das Fest zu ruinieren, das an diesem Tag anlässlich des Festes von S. Silvestre, dem Schutzheiligen von Malhada, stattfinden sollte. Auslöser für Pedros Revolte war die Nachricht, dass Marcelo, Zabels derzeitiger Lebensgefährte, aus Eifersucht und dem Wunsch, sein Vermögen zu vergrößern, beschlossen hatte, nach Brasilien auszuwandern und das Mädchen mitzunehmen. Obwohl der alte Nabor zur Ruhe mahnt, gelingt es Marcelo, eine Gruppe von Bauern davon zu überzeugen, Pedro und seine Gefährten gewaltsam an der Ausführung ihres Vorhabens zu hindern. Um die Gemüter zu beruhigen, bietet Nabor Marcelo ein Glas Wein an und er stimmt das dionysische Lied „Eva im Paradies“ an. In der Zwischenzeit nähert sich eine Gruppe von Sängern, angeführt von Zabel, und auf Wunsch aller singt sie gemeinsam mit André das Aufforderungslied „Sie nennen mich Rosa nos Montes“.

Dann erscheinen die Bauern aus dem rivalisierenden Dorf Alfatema, angeführt von Pedro. Marcelo und seine Männer gehen zu der Brücke, die die beiden Dörfer trennt, während Pedro, der sich nähert, Marcelo herausfordert. Die beiden Rivalen stehen sich mit vorgehaltener Waffe gegenüber, als Zabel eingreift und sich zwischen die beiden Männer stellt. Mit netten Worten gelingt es ihr, Marcelo zu beruhigen.

Er vereinbarte heimlich ein Treffen mit Pedro für diese Nacht. In der Zwischenzeit geht der Kampf wieder los, der nun von Nabor unterbrochen wird, der die rivalisierenden Gruppen trennt. Die Glocken rufen zur Prozession und alle stimmen ein Loblied auf den heiligen Schutzpatron an.

Alfredo Keil/ „A Portugueza“, die spätere Nationalhymne Portugals/ Wikipedia

Akt 2 – Nachts, im Haus von Marcelo, gehen Zabel und die Spinnerinnen ihrer Arbeit nach, während in den Bergen ein Sturm aufzieht. Verängstigt durch den Sturm verschwinden die Spinner und lassen Zabel allein zurück. Sie fragt sich, was sie für Pedro empfindet, als er auftaucht. Das Mädchen läuft ihm in die Arme, gesteht ihm ihre Liebe und bereut den Moment, als sie sich von Marcelos Reichtum verführen ließ. Die beiden beschließen, wegzulaufen und weit weg von diesem Ort zu leben, als Marcelos Stimme in der Ferne zu hören ist. Zabel beeilt sich, das Gold in ihre Tasche zu packen, wird aber von Pedro ermahnt, der ihr sagt, dass sie dafür keine Zeit hat. Als er durch das Fenster flieht, um nicht von Marcelo überrascht zu werden, schlägt Pedro mit dem Kopf auf einen Stein, was seinen Tod zur Folge hat. Der betrunkene Marcelo bricht die Tür auf, dringt in das Haus ein und versucht, Zabel zu vergewaltigen, die ihn mit einem Messer bedroht und entkommen kann.

Alfredo Keil: „Serrana“/ der Musikwissenschaftler Luís Raimundo hat zu der Oper geforscht und den nachstehend erwähnten Artikel von 2002 verfasst/ link

Akt 3 – Am Morgen findet Nabor die Leiche von Pedro. Verärgert begräbt er ihn in der Nähe einer Höhle und stellt ein grobes Holzkreuz auf. Der alte Mann fragt die Hirten, was passiert ist, aber sie können ihm nichts sagen. Von einer tiefen Traurigkeit geplagt, stimmt Nabor ein Vaterunser an. Zum Erstaunen aller erscheint Zabel auf den Felsen und sieht dement aus. Sie erkennt Nabor nicht, der sie stützt und tröstet und sie an die glücklichen Zeiten mit Pedro erinnert.

Angesichts des Entsetzens von Nabor und Zabel kommt Marcelo mit der Waffe in der Hand, bereit, das Mädchen zu töten, das er des Ehebruchs und des Diebstahls beschuldigt. In einem kurzen Moment der Reue bittet er Zabel jedoch, es sich noch einmal zu überlegen und sagt ihr, dass er sie immer noch liebt. Aber die Serrana wirft ihm hasserfüllt die Goldkette vor die Füße und ruft: „Ich widere dich an“. Um das Schlimmste zu verhindern, versucht Nabor, das Mädchen zu schützen, aber Marcelo stößt ihn gewaltsam weg und schießt. Die tödlich verwundete Zabel kriecht zum Grab von Pedro, küsst die Erde und stirbt. Als Marcelo erkennt, welches Verbrechen er begangen hat, flieht er entsetzt.

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Der portugiesische Musikwissenschaftler Luís Raimundo hat sich in der Revista Portuguesa de Musicologia 2000 mit der Oper beschäftigt, der vorstehende Artikel beruht auf seinem Beitrag ebendort; (Raimundo, Luís: «Für eine dramaturgische und stilistische Lektüre von Serrana von Alfredo Keil». Lissabon. Portugiesisches Journal für Musikwissenschaft: 227-274.  Wir danken für seine außerordentlich liebenswürdige Hilfe, die auch die Bereitstellung einiger  Illustrationen umfasst.  Übersetzungen aus dem Portugiesischen: Luísa Ferreira.

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Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier