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Verwundert nimmt man den Titel der neuen CD von Michael Spyres bei seiner Stammfirma ERATO zur Kenntnis: Contra-Tenor? Schon bei seiner letzten Platte Baritenor hatte der amerikanische Tenor zwei Stimmfächer bedient, sollte er sich nun noch in einem dritten versuchen? Wörtlich übersetzt, bedeutet Contra-Tenor allerdings die Gegenstimme zum Tenor, wie sie in der Musik des Mittelalters und der Renaissance zum Einsatz kam. In seinem Einführungstext im Booklet spricht der Sänger über die Kategorisierungen der männlichen Stimmen im Barock: Tenor, Contre-Tenor, Haute–Contre, Baritenor… Sänger dieser Gattung wurden bald als tenori assoluti zu den Konkurrenten der gefeierten Kastraten. Komponisten schrieben für sie Partien von Königen und Göttern, welche diese Sänger mit Schönheit, Technik, Virtuosität und Kraft interpretierten. Legendäre Vertreter dieses Stimmtyps waren beispielsweise Francesco Borosini, Annibale Pio Fabri, Angelo Maria Amorevoli und der Deutsche Anton Raaff, der im höheren Alter von 65 Jahren noch die Titelrolle in Mozarts Idomeneo kreierte. Die Kunst dieser divi wollte Spyres mit seinem Album (5054197293467) wieder zum Leben erwecken. Zweifellos ist das ein verdienstvolles Unterfangen, doch erklärt das nicht die Wahl der Stimmgattung im Titel der CD. Denn Spyres singt fasst nur Tenorpartien und keine von Kastraten, welche in unserer Zeit von Sopranisten, Countertenören oder Altisten wahrgenommen werden.
Das Programm umfasst 15 Titel von 15 verschiedenen Komponisten, darunter drei Weltersteinspielungen, beginnend mit zwei kurzen Ausschnitten aus Jean-Baptiste Lullys Persée. Im zweiten, einer Passacaille, hat das begleitende Ensemble Il Pomo d’Oro unter Francesco Corti Gelegenheit für ein animiertes Musizieren. Auch vom anderen großen Vertreter des französischen Barock, Jean-Philippe Rameau, findet sich ein Tonbeispiel mit dem sanften Air des Neptune, „Cessez de ravager la terre“, aus Naïs, in welchem Spyres die Stimme schweben lassen kann und sie raffiniert moduliert.
Aus dem Schaffen von George Frideric Handel wurde die Szene des Bajazet, „Empio, per farti guerra“, aus Tamerlano ausgewählt.
Hier klingt die Stimme des Interpreten heroisch und mächtig, wird mit vehementem Einsatz geführt – der Ausschnitt wirkt besonders gelungen. Es folgt aus Antonio Vivaldis Artabano, re de´ parti die Arie des Titelhelden „Cada pur sol capo audace“, in der Spyres seine resonante Mittellage wirkungsvoll einsetzen kann. Besonders virtuose Musik komponierte Leonardo Vinci, wovon die Arie des Titelhelden aus Catone in Utica, „Si sgomenti alle sue pene“, zeugt, welche dem Sänger bravouröse Koloraturgirlanden abverlangt. Spyres absolviert sie mit Glanz. Ähnlich anspruchsvoll für den Sänger sind die Opern von Nicola Porpora, von denen Segestos „Nocchier, che mai non vide“ aus Germanico in Germania ausgewählt wurde. Es ist eine Gleichnis-Arie vom Steuermann in hüpfendem Melos, mit virtuosen staccati und extrem hohen Noten, die Spyres lustvoll vorträgt. Einen schönen Kontrast bringt das wiegende „Fra l’ombre“ des Ulisse aus Domenico Sarros Achille in Sciro, dessen Melismen der Tenor genüsslich auskostet, in der exponierten Höhe allerdings einige forcierte Töne nicht vermeiden kann. Solche finden sich auch in der schwärmerischen Arie des Titelhelden „Vil trofeo d´un´alma imbelle“ aus Baldassare Galuppis Alessandro nell´Indie.
Weniger bekannt ist der Komponist Gaetano Latilla, doch stammt das Libretto zu seiner Oper Siroe, re di Persia immerhin von Pietro Metastasio. Daraus erklingt als eine der Weltpremieren die stürmische Arie des Cosroe „Se il mio paterno amore“, die das Orchester mit Vehemenz einleitet. Spyres singt sie mit höchster Bravour und totalem gestalterischem Engagement. Von Johann Adolf Hasse ist die Arie des Segesto „Solcar pensar un mar sicuro“ aus Arminio zu hören – auch diese ein Gleichnis von Himmel und Meer, nur weniger dramatisch, doch dafür mit höchster Tessitura. Auch Antonio Maria Mazzoni zählt zu den weniger populären Barockmeistern. Aus seiner Oper Antigono ist die Arie des Titelhelden „Tu m´involasti un regno“ zu hören, der darin energisch auftrumpft, allerdings auch einen schmerzenden Extremton absolvieren muss (die frühere Gesamtaufnahme aus Martina Franca mit Spyres ist bei Dynamic noch im Programm).
Bekanntester Titel der Anthologie ist Orphées „J’ai perdu mon Euridice“ aus Christoph Willibald Glucks Oper. Die empfindsame Gestaltung des Sängers reiht sich würdig ein in die zahllosen Modell-Interpretationen dieser Nummer. Mozarts Frühwerk Mitridate, re di Ponto erlebte in jüngster Zeit eine bemerkenswerte Wiederbelebung. Spyres selbst hat die Titelrolle Ende 2020 in einer Gesamtaufnahme von ERATO interpretiert und stellt auf diesem Recital noch einmal Mitridate Arie „Se di lauri“ vor. Sie spiegelt im Vortrag des Sängers Größe und Würde des Herrschers wider. Das Programm endet mit Médors „En butte aux fureurs de l’orage“ aus Niccolò Piccinnis Roland. Es ist eine Partie, welche bei der Uraufführung tatsächlich von einem Haute-Contre, dem bekannten Joseph Legros, verkörpert wurde. Dieses Gleichnis vom tobenden Sturm ist ein effektvoller Abschluss, in welchem auch das begleitende Ensemble mit Bravour aufspielt. Und der Solist kann noch einmal mit virtuosen Koloraturläufen und gestalterischer Verve glänzen. Bernd Hoppe