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Spontinis Oper La Vestale – muss ich gestehen – war für mich stets eine hoch respektable, aber zutiefst langweilige Angelegenheit, sowohl in der traditionellen italienischen wie originalen französischen Fassung. Oh diese unendlich scheinende Eröffnung, diese langen, quälend hohen Sopranpassagen im ersten Akt, bevor es endlich im zweiten – beim Verlöschen der ewigen Flamme im Vesta-Tempel – zur Sache geht. All das ließ mich ein wiederholtes Abspielen der verfügbaren Aufnahme fürchten.
Meine erste Begegnung mit dem Werk war die mit Maria Vitale in der alten Cetra-Aufnahme von 1951 in der Übersetzung von Giovanni Schmidt, die ich nur wegen der von mir so sehr geschätzten Vitale im Regal stehen hatte. Und selbst sie ging mir auf die Nerven. So wie spätere. Da war 1974 die Janowitz bei der RAI mit gleichem Effekt (sogar in Französisch, wenngleich um sie herum doch das Italo-Idiom durchschlug). Da war dann recht früh Riccardo Mutis dto. französische und schwerblütige Sony-Aufnahme mit der greinenden, weißstimmigen Karen Huffstodt (die Scala-Besucher 1993 waren nur von ihren flammend-roten Haaren verzaubert) nebst Kollegen aus dem internationalen Fach. Da war die muffige Kuhn-Aufnahme bei 1991 Orfeo mit der ungeeigneten und dto. im Internationalem verhafteten Rosalind Plowright und Münchner Crew (Gisella Pasino sang Mamma Lucia…), nicht wirklich belebend und schwerblütig, wenngleich ebenfalls in der Originalsprache und deshalb verdienstvoll.
Von Leyla Gencer, Renata Scotto und anderen nella versione italiana will ich absehen, das waren Irrtümer in langer Tradition, denn die Oper hielt sich wie andere Titel des napoleonischen Kanons am Buonaparte-Bruder-Hof in Neapel und dann in Italien sehr lange, eben in der italienischen Übersetzung von Giovanni Schmidt, dem darin Tüchtigen, der Libretti für Rossini & Co. verfasste. Und selbst die von mir stets geliebte Maria Callas 1954 an der Scala in nicht wirklich frischer Live-Akustik konnte mich, trotz Corelli und Stignani an ihrer Seite, nicht vom Werk überzeugen.
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Aber die neue Vestale beim Palazzetto, dem Konzert im Juni 2022 in Paris folgend, belehrte mich eines Besseren und macht aus mir einen lobpreisenden Paulus. Das rasante Orchester unter Christophe Rousset fetzt durch die Ouvertüre und die machtvollen Chöre, pulsiert in den Arien der Solisten und treibt die sonst so öden Rezitative in einem action-drama mit elektrisierender Spannung voran. Spannung ist überhaupt das Wort. Emphase, Inhalt, Drama – das hätte ich der Vestale bis dahin nicht unterstellt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich je eine Lobeshymne auf Marina Rebeka schreiben würde, deren Norma oder Imogene/Pirata mich nicht erwärmen konnten und deren Stimme ich bis jetzt als mir zu scharf auf der Höhe und viel zu hell für die dramatischen Partien empfunden hatte. Liegt es nun an Rousset oder dem eingehenden Studium der Partie: Frau Rebeka ist hier schlicht eine Wucht. Dunkel getönt mit bester, absolut bester französischer Diktion durchmisst sie die sonst so unendlich langen Passagen des ersten Aktes mit überspringendem Engagement, bleibt stets diszipliniert in der Stimmführung, zeigt Emphase und Empathie und gibt ein wirklich bemerkenswertes Rollenporträt einer jungen Frau in extremis. Und bis auf eine Mitwirkende sind die übrigen Solisten derselben Wirkung. Stanislas de Barbeyrac ist ein sexy-viriler Licinius mit schöner Tiefe und heldisch-hellen oberen Noten, eine Pracht an französischer Mittelklasse-Stimme, ganz wunderbar auch er in der Diktion. Ebenso Tassis Christoyannis, stets von mir geschätzt und – wie von Alexandre Dratwicki nachstehend ausgeführt – als dunkler Bariton für den Cinna eingesetzt, auch er eine Besetzung vom Feinsten. Nicolas Courjol, akklamierter Teufel jüngst im Meyerbeerschen Robert beim Palazzetto, macht einen bedrohlichen, unversöhnlichen Pontifex. Die Szene zwischen ihm und de Barbeyrac/ Luicinius im dritten Akt zeigt – wie manche andere Momente der neuen Einspielung – Vor-Echos eines späteren Verismo, action pur. Und David Witczak schließlich stützt mit Gewinn in den kleineren Partien.
Bleibt nur die Grande Vestal in akustischer Gestalt von Aude Extremo. Ihr brustiger Carmen-Dalila-Amneris-Mezzo franst für mich wie elektrisches Flimmern an der Rändern aus und hat einen unangenehmen, faserigen Klang (und dabei bleibt sie auch noch recht wortunverständlich, eigentlich überraschend für eine Französin; aber ihre Périchole, Grande Duchesse oder auch Venus im französischen Tannhäuser 2017 in Monte-Carlo ließen bereits dieselben Defekte hören).
Der Flämische Radio Chor (Flore Merlin, und Thomas Tacquet) ist eine absolute Wucht an Präzision und Artikulation. Dazu kommen Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset in atemberaubender Form und ebenso atemberaubender Dynamik, dass einem beim Hören auch mal fast schwindlig wird. So spannend und rasant kann Spontini sein (verfügbar ab dem 12. Mai 2023). G. H.
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Ein Überblick vorab: Die in den 1760er Jahren von Gluck durchgeführte Opernreform, die auf ein Prinzip der dramatischen Einheit und Plausibilität abzielte, hatte entscheidende Auswirkungen auf die französische Opernszene. In den 1780er Jahren komponierten Lemoyne, Salieri und Vogel, obwohl sie aus dem Ausland stammten, lyrische Tragödien, die sich direkt daraus ableiteten. Bis etwa 1810 (also Auftritt Spontini) zeigten sich vor allem Cherubini und Méhul, aber auch Catel, Le Sueur und Berton als Gluck-Jünger in Werken, in denen der italienische Einfluss sehr begrenzt blieb. Mit La Vestale (1807) wurde Spontini zu einem der großen Vertreter der Tragédie lyrique. Mit Aubers La Muette de Portici (1828) wurde das Genre der „Grand opéra“ in diesem gluckistischen Erbe geboren. Berlioz‚ Les Troyens (1863) ist aufgrund seines mythologischen Themas und seiner dramatischen Konzeption ein Wiederaufleben des von Gluck propagierten Ideals. Erwähnenswert sind auch die Werke anderer Komponisten wie Joncières oder Reyer. Letzterer gipfelt in Salammbô (1890), einer der letzten Ausprägungen des Gluck’schen Erbes, diesmal verwässert durch die Wagner’sche Konzeption des Dramas im romantischen Jahrhundert. (Palazzetto Bru Zane)
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Zum Werk: Spontinis Oper La Vestale war ein großer Erfolg und erlebte bis 1830 allein in Paris mehr als 200 Aufführungen, die Spontini enormen finanziellen Gewinn brachten. La vestale (Die Vestalin) ist eine „tragédie lyrique“ in drei Akten von Gaspare Spontini mit einem Libretto von Victor-Joseph Étienne de Jouy. Spontini stellte die Partitur im Sommer 1805 fertig, musste zunächst aber gegen Intrigen rivalisierender Komponisten-Kollegen und führender Mitglieder der Opéra kämpfen. Die Premiere wurde durch Spontinis Gönnerin, die Kaiserin Joséphine, ermöglicht. Am 15. Dezember 1807 wurde La vestale an der Pariser Académie impériale de Musique uraufgeführt. Dabei sangen Étienne Lainez (Licinius), François Lays (Cinna), Henri Étienne Dérivis (Pontifex maximus), Duparc (Anführer der Wahrsager), Caroline Branchu (Julia) und Marie-Thérèse Maillard (Hohepriesterin). Spontini überreichte der Kaiserin als Dank für ihre Unterstützung eine Partitur.
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Dazu Alexandre Dratwicki im Beiheft zur neuen Ausgabe beim Palazzetto Bru Zane: Dennoch muss man zugeben, dass das Libretto, die Musik und das Bühnenbild nicht ausgereicht hätten, um einen Triumph zu erzielen, wenn sie nicht von einer erstklassigen Sängerbesetzung getragen wurden. Manchmal wurden Marie-Thérèse Maillard, François Lays, Étienne Lainez, die manchmal für ihren rauen, erzwungenen Gesangsstil verspottet. François Lays, Étienne Lainez und Henri-Étienne Dérivis fanden in Cinna, Licinius und dem Pontifex Rollen, die ihren Fähigkeiten angemessen waren, in denen ihre Technik bei dieser Gelegenheit eine großartige Widerspiegelung fand. Wenn diese Künstler so hell leuchten, dann auch deshalb, weil Spontini viele Details seines seines ursprünglichen Konzepts für sie überarbeitet hatte. Es gibt zahlreiche Diskrepanzen zwischen dem autographen Manuskript und der von Érard gedruckten Endpartitur. Die Transpositionen und Varianten für Mlle. Maillard als Obervestalin lassen sich durch die Besonderheit einer Sopranstimme erklärt werden, die sich einst in einer hohen Tessitura wohlgefühlt hatte, sich aber im Laufe der Jahre ein extrem tiefes Register und hohe Töne von erschütternder Kraft dazugewann: War sie nicht als ‚Mlle Braillard‘ (Fräulein Schreihals) bekannt?
Der Fall von Cinna und Licinius ist wesentlich komplexer. Der römische Feldherr sollte ursprünglich von Lays gesungen werden, den Spontini – trotz der Unentschiedenheit seiner Stimme – als Bariton betrachtete, während die Rolle des Cinna von Lainez gesungen werden sollte (daher die heroische Tenor-Tessitura). Die Ankunft von Louis Nourrit in der Gesangsszene von Paris, dessen Status normalerweise dazu geführt hätte, dass er in naher Zukunft die Rolle des Licinius übernommen hätte, und – vor allem – die Proteste von Lainez, der die Rolle des premier ténor amoureux (romantische Tenorrolle) beanspruchte, die er in der Vergangenheit immer gesungen hatte, zwangen Spontini dazu, die Rollen teilweise umzuschreiben. Lainez sang nun Licinius, und Lays übernahm den Cinna. Doch die endgültige Druckfassung trägt noch immer die Narben der Umarbeitung, die auch heute noch den Intendanten bei der Besetzung der Rollen Kopfzerbrechen bereiten.
Wenn es eine Sängerin gab, für die La Vestale einen glücklichen Wendepunkt in ihrer Karriere darstellte, dann war es zweifellos die Sopranistin Caroline Branchu, die 1798 an die Opéra gekommen war und die Berlioz noch in den 1820er Jahren mit Lorbeeren überhäufte (sie wurde im Juli 1825 pensioniert). Die Rolle der Julia war ihr auf den Leib geschrieben und ermöglichte ihr sowohl ihre Sensibilität in verinnerlichten Momenten als auch ihre Kraft in dramatischen Ausbrüchen. Ihre Stimme, „so rein und so melodiös“ (Le Publiciste), erblühte in Momenten zu einem stark kontrastierenden Charakter. Die große Szene „Toi que j’implore… / Impitoyables dieux…‘, im zweiten Akt, ist wahrscheinlich der längste – oder jedenfalls der anspruchsvollste – Monolog, der bis dahin für einen Sänger der Opéra komponiert wurde. Aber mit dem Rückblick auf zwei Jahrhunderte sind es vor allem die ariosi „Ô des infortunés“ und „Toi que je Toi que je laisse sur la terre“, die bemerkenswert innovativ erscheinen: Hier nimmt Spontini die romantische Morbidität der italienischen Oper vorweg und schafft einen orchestralen Stil, der die cantabili von Donizetti und Bellini beeinflussen sollte.
Die Tatsache, dass Caroline Branchu in der Lage war, ihre Technik und stimmlichen Gewohnheiten an diese Neuerung anzupassen, wurde als erwähnenswert erachtet. Diese „neue Art zu singen“ zeigte sich in einem zunehmend forcierten Stil einer zunehmend forcierten Stimmbildung, einer tiefen Lage, die wir heute als „veristisch“ bezeichnen würden, und eine Vereinfachung der angespanntesten Passagen, um sie so bequem wie möglich zu gestalten (Spuren davon finden sich in einigen der späteren Vokalpartituren des Werks). Alexandre Dratwicki
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Bald verbreitete sich Spontinis Ansehen auch im Ausland. Noch 1810 wurde sie in Brüssel und (auf Deutsch) in Wien (EA am 7. November 1810 in der Übersetzung von Seyfried, Obervestalin: Katharina Buchwieser, Licinius: Giuseppe Siboni, Cinna: Johann Michael Vogl, Julia: Therese Fischer), 1811 in Berlin, 1812 in München und anschließend im ganzen europäischen Raum sehr erfolgreich gegeben. Zahlreiche Rezensionen schwärmten von der Beliebtheit der Oper. Ein Klavierauszug wurde im März 1811 in Dresden veröffentlicht, gefolgt von weiteren Fassungen (Ouvertüre, Duett etc.). In Italien erschien La vestale zunächst 1811 in Neapel (übersetzt von Giovanni Schmidt) und hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der neueren Opera seria. 1844 leitete Richard Wagner eine Einstudierung in Dresden mit Spontini als Dirigenten, dem vom begeisterten Publikum Kränze zugeworfen wurden (Übersetzung wie in Wien von Ignaz Seyfried/1776-1841). La vestale verschwand im Gegensatz zu den anderen Opern Spontinis nie völlig von den Bühnen, sondern wurde in regelmäßiger Folge in Europa und Amerika gespielt.
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Dokumente: 1926 nahm Rosa Ponselle die Arien „Tu che invoco“ und „O nume tutelar“ nach ihrem europäischen Gastspiel als Giulia beim Maggio Musicala Florenz 1933 und vorher an der Met 1925/6 erstmals im Tonstudio auf (RCA). Die tapfere italienische Radioanstalt RAI spielte die Oper – erstmals in ihrer Gänze im Nachkriegs-Europa – bereits 1951 in der traditionellen italienischen Version als Live-Konzert mit Maria Vitale in der Titelrolle in Turin ein, Renato Gavarini und Elena Nicolai waren die Partner unter Ferdinando Previtali; das Ganze erschien wenig später als LP bei Cetra (nun auf CD immer noch eindrucksvoll in Italienisch/Warner). Maria Callas nahm die zwei Arien der Giulia 1955 bei EMI auf (Callas alla Scala), nachdem sie ein Jahr zuvor bereits die Titelpartie in der bekanntesten modernen Produktion übernommen hatte: Mit der Callas wurde La vestale an der Mailänder Scala im Dezember 1954 zur Saisoneröffnung unter der Regie von Luchino Visconti zum Jubiläum von Spontinis 180. Geburtsjahr herausgebracht. Diese Aufführung war zugleich das Scala-Debüt Franco Corellis. 1969 reanimierte der Dirigent Fernando Previtali dieselbe Produktion mit der Sopranistin Leyla Gencer und dem Bariton Renato Bruson (Myto u. a.). Sony brachte eine Live-Aufnahme in der Folge der Produktion an der Mailänder Scala (im Dezember 1993) unter Riccardo Muti heraus (Karen Huffstodt erwies sich als unzureichende Titelbesetzung, und auch die übrigen singen eher Verdi/Puccini – Spontini internation, möchte man sagen, das hat sich bis heute kaum geändert). Denn die „jüngste“ Einspielung von Orfeo/ 1991 weist ebenfalls ein wenig geeignetes Personal unter Gustav Kuhns ambitionierter Leitung auf (Rosalind Plowright, Francisco Araiza u. a.).
Dazu schreibt Alexandre Dratwicki: Erst etwa dreißig Jahre nach Callas begann das Werk gelegentlich in seiner ursprünglichen französischen Sprache zurückzukehren. Doch andere grundsätzliche Fragen sind bis heute nicht geklärt, angefangen bei der Unterscheidung zwischen den Stimmlagen von Licinius und Cinna, mal Tenor, manchmal Bariton. (..) Die französischsprachige Fassung, die das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Gustav Kuhn im Jahr 1991 (bei Orfeo) aufgenommen wurde, zwei italienisch anmutende Tenöre mit blechernem Timbre. (…) Das Ergebnis unterscheidet sich nur wenig von der Aufführungspraxis, für die Riccardo Muti heute wahrscheinlich der bedeutendste noch lebende Vertreter ist (Scala/ Sony).
Zumal die veröffentlichte Partitur, selbst in der kritischen Ausgabe von Ricordi aus den 1990er Jahren, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Merkwürdigkeiten beibehält: Die Anordnung der Solostimmen ist irreführend, und die Besetzung der Chöre lässt die hautes-contre (ersten Tenöre) von 1807 außer Acht und contralti zu, die in eine fast unerreichbare untere Lage gedrängt werden. Selbst solche Details wie die ossias für die Obervestalin erwecken Skepsis hinsichtlich ihrer Herkunft und Legitimität. Die Verwendung von historischen Instrumenten war die naheliegende Wahl für die neue Aufnahme, um zu der prägnanten Energie und den halsbrecherischen Tempi zurückzukehren, die von den Kritikern der damaligen Zeit erwähnt werden. Christophe Rousset und Les Talens Lyriques haben diesen Stil dank ihrer langjährigen Vertrautheit mit anderen Werken aus der Zeit verinnerlicht, darunter Cherubinis Médée, Renaud von Sacchini, Uthal von Méhul und Les Danaïdes von Salieri. Der Flämische Radio-Chor glänzt einmal mehr mit seiner akribischen Herangehensweise an die der Partitur. Es war auch – und vor allem – notwendig, eine Besetzung von Sängern zusammenzustellen die bereit waren, dieses Repertoire mit Eifer und Inbrunst zu interpretieren hinsichtlich der Intonation und der Präzision eines perfekt prononcierten Textes.
So verjüngt, zeigt La Vestale paradoxerweise einen weniger revolutionären, aber nicht weniger interessanten Aspekt als das Werk, das wir bisher kannten. Außerdem kann die Musik nun mit anderen Opern aus der gleichen Zeit verglichen werden: Opern aus derselben Zeit, die erst in den letzten Jahren auf Schallplatte Jahren erschienen sind: Sémiramis und Les Bayadères (Catel), Uthal und Adrien (Méhul), Phèdre (Lemoyne), La Mort d’Abel (Kreutzer), Les Abencérages (Cherubini, alle im Kanon des Palazzetto), und andere. Wenn man sie in diesen neuen Kontext stellt, werden die Momente offensichtlicher Modernität deutlich. Die Passagen, die beispielsweise Bellini vorwegnehmen, und die Verbindungen zwischen Glucks französischen Werken und La Vestale sind offensichtlich. Alexandre Dratwicki
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Verbreitung: Bereits einen Monat nach der Uraufführung in Paris gelangte mit La marchande des modes (Die Modehändlerin) eine erste Parodie der Oper am Théâtre du Vaudeville auf die Bühne, gefolgt von einer weiteren, Cadet Buteux à l’opéra de la Vestale von Marc-Antoine Madeleine Désaugiers.
Der Erfolg der Oper inspirierte Carl Guhr zu einer eigenen Version (UA 1814) am Hoftheater Kassel. Saverio Mercadantes Oper La vestale wurde 1840 am Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt und im selben Jahr in Berlin unter Anwesenheit Spontinis, der dort einer von drei Generalmusikdirektoren war, als Gastspiel auf Italienisch gegeben. Weitere Aufführungen erfolgten in Rom unter geänderten Titeln: Emilia (1842) und San Camillo (1851).
Die Aktivitäten im 20. Jahrhundert wurden bereits erwähnt, und die jüngste – vor der des Palazzetto – war die von Jeremy Rhorer 2015 an der Pariser Oper, wie sie auf youtube nachzuerleben ist, ebenfalls – wie die nun von Christophe Rousset – auf Originalinstrumenten, aber nicht auf CD gebannt, was eigentlich unverständlich war. Aber seine Besetzung kann in der Titelrolle nicht mit Rousset mithalten, wenngleich die von mir nie sonderlich geschätzte Béatrice Uria-Monzon der neuen Oberrpiesterin Aude Extremo ungleich vorzuziehen ist. Die Männerpartien sind ebenfalls exzellent und sehr französisch in Farbe und Diktion.
Frühere Bemühungen um die Oper in der Originalsprache sind eher wenig dokumentiert. Die inzwischen verblichene Firma Gala brachte eine Aufführung aus Paris von 1976 unter Roger Norrington heraus mit Michelle Le Bris und der wunderbaren Nadine Denize in den weiblichen Hauptrollen. Bereits 1964 gab es ein Konzert im französischen Rundfunk mit Renée Manzeller, Micheline Grancher und Jan Mollien unter Jean-Paul Kreder, festgehalten bei Chant du Monde. Gundula Janowitz war 1974 bei der RAI (BJR und andere) die freudlose Julia unter Jesus Lopez-Cobos neben Ruza Baldani und der stentoralen Gilbert Py. 2015 nahm sich Alessandro de Marchi der Oper in Brüssel an: Alexandra Deshorties, Yann Beuron und die imposante Sylvie Brunet (-Grupposo) bestritten das Werk am Monnaie, durchaus erfolgreich, wenngleich nicht mit dem Drive der neuen Aufnahme. Die Aufführung in Wien 2019 hatte zumindest alle Ballette. Und die Mitwirkung von Michael Spyres als Licinius setzte der müden Angelegenheit Glanzlichter auf, aber weder Elza van den Heever noch die stumpfe Claudia Mahnke noch der trockene Sébastien Guéze konnten über das Funktionale hinaus punkten. Ebenfalls 2015 dann – wie erwähnt – machte Jeremy Rhorer mit seiner Interpretation der Oper in Paris von sich reden, aber auch hier ist der Bessere der Feind des Guten, denn die unruhige Stimme von Emonela Jaho ist nicht in der Liga von Marina Rebeka als Julia, wenngleich Jean-Francois Borras als Cinna und Andrew Richards als Licinus durchaus ihre Momente haben. Dennoch – der Palazzetto hat mit dieser neuen und erstmals auf CD mit originalen Instrumenten eindeutig die Nase vorn. Geerd Heinsen
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Wie schon oft hat ein Artikel bei uns auch diesmal verschiedene Väter, einer davon ist Alexandre Dratwicki, Musikwissenschaftler von Rang und Künstlerischer Direktor des Palazzetto Bru Zane, operalounge.de-Lesern nur zu bekannt. Aus dem Booklet zur Buch-CD-Ausgabe der Vestale (BZ BZ 1051) entnahmen wir mit Dank die gekennzeichneten Passagen in unserer eigenen deutschen Übersetzung. Einiges in dem übrigen Artikels beruht auf Angaben von Wikipedia, ebenfalls mit Dank. Und wir haben uns bewusst im Bericht über verfügbare Aufnahmen der Oper auf die originalsprachigen beschränkt, daher werden Sänger wie Caballé und Co. nicht berücksichtigt (nur um Reklamationen vorzubeugen)/ Abbildung oben Carl Friedrich Deckler: „Vestalin mit Efeugirlande“, 1856, Dorotheum/ Wikipedia/ 05 05 23. G. H.
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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier