Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Strauss light

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Misstraute Regisseur Krzysztof Warlikowski der Eleganz des hofmannsthalschen Wortes und der Überwältigungsfähigkeit der strausschen Musik so sehr,  dass er beiden ein optisches Aufpeppen durch seine Gattin, die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak, verordnete? Die kleidet das weibliche Personal von Elektra 2022 in der Salzburger Felsenreitschule bis hin zur Vertrauten und zur Schleppträgerin in elegante Kostüme der Fünfziger, macht Chrysothemis zum Girlie in Lackleder, Elektra zur Trägerin eines blütenweißen, weit ausgestellten Rocks, der aber auch gar nichts vom Elend ihrer Existenz verrät, dafür soll wohl das häufige Greifen zu Zigarette und Feuerzeug stehen. Ehe man in dieser Produktion zur mörderischen oder einer sonstigen Aktion schreitet, verordnet man sich eine Kneippkur, denn ein kristallklares Gewässer durchzieht die Bühne, lädt zum Bade, so auch eine Nackte, die offensichtlich zu den erfundenen Sechs Dienerinnen, denn Fünf Mägde gaben das nicht her, gehört. Videos blinken aus allen Ecken und Enden, Kinderpuppen erinnern an bessere Tage und ein blutverschmierter Agamemnon beobachtet hin und wieder das Geschehen. Soll eine Reihe von Deckenduschen an Auschwitz erinnern, die endlos händewaschende Klytämnestra an Lady Macbeth? Letztere darf sich vor Beginn der Oper mit ihrem Monolog aus Aischylos`Orestie noch für den Gattenmord rechtfertigen und bleibt in der Verkörperung durch den Mezzosopran Tanja Ariane Baumgartner neben dem Orest von Derek Welton die einzige textverständliche Figur auf der Bühne. Auf der tanzt zum Schluss nicht Elektra in den Tod, sondern auf der Rückwand tummeln sich Massen von Fliegen in munterem Reigen im aufspritzenden Blut und entziehen der Protagonistin jede Aufmerksamkeit.

Zu einer beinahe kammermusikalischen Deutung, deren Anliegen eher Durchsichtigkeit als Überwältigung scheint, ist Franz Welser-Möst mit den Wiener Philharmonikern verurteilt, denn außer dem Mezzosopran erscheint das weibliche Personal jeweils eine Nummer zu klein für seine jeweilige Partie zu sein, ist Orgiastisches nur zu hören, wenn die Sänger pausieren. Rücksichtnahme auf Sänger ist eine lobenswerte Sache, das Engagement zu leichter Stimmen  weit weniger.

Das trifft in keiner Weise auf Tanja Ariane Baumgartner zu, die nicht nur vorbildlich textverständlich auch im Gesang bleibt, sondern mit einer Stimme wie aus einem Guss und einem besonders vollmundigen mitreißenden Abgang imponiert. Eine frische, helle, klare Sopranstimme setzt Asmik Grigorian für die Chrysothemis ein, in der Extremhöhe allerdings recht spitzig mit nicht ideal angebundenen Spitzentönen und insgesamt lyrisches Leuchten vermissen lassend. Aušriné Stundyté, die im Jahr zuvor eine gefeierte Salome war, ist hörbar in einem Jahr nicht zu einer Elektra herangereift, sondern kann bei allem Bemühen um eine Verbindung von Eindringlichkeit und Schönheit des Klangs nur mit letzterem überzeugen, bleibt stets weich in der Tongebung, aber auch verwaschen und zu wenig nachdrücklich. So trägt sie wesentlich dazu bei, dass man das Gefühl hatte, einer Elektra light beizuwohnen.

Einen vokal markanten und doch sensibel erscheinenden Orest gibt Derek Welton, optisch unangemessen attraktiv als Ägisth und vokal blass ist Michael Laurenz, da ist nichts von der morbiden Attraktivität, die alternde Heldentenöre ausstrahlen können. Die Komische Oper Berlin ist mit Jens Larsen als Altem Diener vertreten, und Natalia Tanasii bleibt es nicht zuletzt wegen der Regie verwehrt, aus ihrer schönen Partie etwas zu machen (C-Major 804308). Ingrid Wanja

Nur bedingt gelungenes Konzept

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Na’ama Goldman war zunächst Pianistin, sie entdeckte den Gesang erst später, vor allem in Verbindung mit dem Schauspielen. So lag es nahe, dass sie vor allem Opernsängerin wurde. Diese Prägung spiegelt sich auch in der Auswahl der Lieder der vorliegenden CD wieder: „Es ist wunderbar, dass man dabei eine Geschichte erzählen und mit dem Publikum kommunizieren kann und zwar nicht nur durch die Musik“, betont die Sängerin. Die gebürtige Israelin ist inzwischen Berlinerin und damit Bewohnerin jener Stadt, aus der ihre Familie in der Nazizeit vertrieben wurde. So schließt sich ein Kreis.

Die Sängerin suchte vor einigen Jahren zusammen mit dem Pianisten Giulio Zappa Musik für ein Programm anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags in Mailand. Die Musik sollte mit dem Judentum verbunden, aber nicht „jüdisch“ sein: „Wir recherchierten in Bibliotheken, und wir schauten nach jüdischen Komponisten wie Mahler, Korngold, Kurt Weill. Sie waren Juden, haben aber keine ‚jüdische Musik‘ komponiert. Ihre Musik repräsentierte, wer und was sie waren – Deutsche, Österreicher. Sie komponierten, was ihre Inspiration und Kreativität ihnen eingab. Aber natürlich hatten ihre jüdische Tradition und ihre Familien auch einen Einfluss auf ihre Musik.“ Ravel gehört dazu, weil er sich von der jüdischen Tradition angezogen fühlte. Schließlich wandten sich Goldman und Zappa der jüdischen Folklore zu und auch zeitgenössischen israelischen Komponisten. „Die Auswahl der Lieder ist auf der einen Seite eine intellektuelle, aber im Endeffekt sind es doch die Lieder, die mich direkt persönlich ansprechen: als Frau mit einem jüdischen Hintergrund, als Israeli, die nach Deutschland gekommen ist.“ Na’ama Goldman sieht das Programm, ihre Zusammenstellung als „eine Art musikalischer Biografie zwischen Berlin und Tel Aviv“.

Die Umsetzung des einleuchtenden, anspruchsvollen, auch mutigen Programms ist nur bedingt gelungen. Die Sängerin wollte zwar explizit keinen „Liederabend“ auf CD veröffentlichen, doch dieser Anspruch wurde nicht wirklich eingelöst. Na‘àma Goldman verfügt über eine große, nuancenreiche und variable Stimme, setzt sie aber so ein, als ob sie auf einer Bühne stehe. Ihr Vibrato ist stark, manchmal zu stark, in der Höhe klingt der Gesang zu laut. Man vermisst die leisen Töne und in einigen Liedern auch den tiefschürfenden und „schlichten“ Ausdruck.

Das jüdische Trauergebet Kaddisch, das Maurice Ravel bewusst für eine Frauenstimme schrieb, singt sie mit großem Ausdruck und vibrierend. Ravels enigme éternelle bleibt rätselhaft, musikalisch und textlich (zumal eine deutsche Übersetzung fehlt). Aus den Sechs einfachen Lieder von Korngold hat Goldman zwei ganz unterschiedliche ausgewählt: Eichendorffs Schneeglöckchen ist eigentlich schlicht im Ton, kommt hier aber sehr expressiv. Das Gedicht Sommer des österreichischen Dichters Siegfried Trebitsch verrät den Dramatiker. Mahlers „Wunderhorn-Lieder“ Wo die schönen Trompeten blasen und Rheinlegendchen sind leider ohne Charme und Geheimnis. Das Rückert-Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen bleibt mangels Suggestivität doch eher diesseitig. Nannas Lied von Kurt Weill würde sicher stärker wirken, wenn es chansonhafter interpretiert würde.

Die Interpretationen der Lieder der jüdischen und israelischen Komponisten ist durchweg gelungener. Der Komponist, Musikwissenschaftler und Kritiker Joel Engel (1868-1927) begann um 1900 jüdische Volkslieder in Russland zu sammeln und zu arrangieren. Nur noch Dir brachte der Sängerin nach eigenen Worten „die Klänge ferner Erinnerungen mit sich“, sie nimmt es sehnsüchtig, melancholisch und auch temperamentvoll. Eyal Bat (Jahrgang 1966), einer der bekanntesten israelischen Vokalkomponisten, ist mit zwei neu komponierten Liedern vertreten. Az haya la ist ein weniger bekanntes Stück von Alexander „Sascha“ Argov (1914 in Moskau geboren, 1995 in Jaffa gestorben) – ein Liebeslied an Tel Aviv, das Na’ama Goldman auf ihrer Karriere immer wieder begleitet hat. Das Ende ist sehr gelungen – mit Elei tashuv, einem Lied des Komponisten, Dirigenten und Musikpädagogen David Sonnenschein. Na’ama Goldman singt es sicher auch deshalb so eindrucksvoll, weil es mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden ist und persönliche Erinnerungen und Gefühle aufkommen. Sonnenschein schrieb das (Liebes)Lied für ihre Großmutter, eine bekannte Sängerin, die in jungen Jahren ihre Stimme verlor. Die Noten fanden sich im Nachlass.

Sicher ließe sich die Wirkung, sprich die Verbreitung dieser CD durch eine einfache Maßnahme vergrößern. Programm und Interpreten „verkörpern“ Internationalität, Multikulturalität und Weltoffenheit. Wieso hielt man es da nicht für nötig, die fremdsprachigen Texte nicht nur in englischer, sondern auch in deutscher Übersetzung zu präsentieren. So bleiben die Lieder uns im wahren Sinne exotisch und zum Teil fremd (Solo Musica SM 421). Peter Heissler

Balletteinlagen von Rossini & Donizetti

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Die wichtigsten Opernballette wurden für Paris geschrieben (wenngleich auch anderssprechige Häuser diese kannten oder übernahmen), und zu den wichtigsten Komponisten zählen u. a.  Rossini, Donizetti und Verdi – alle drei Ausländer (und Italiener wie einst Lully) – sowie Meyerbeer, der aus seinen Balletten ungeahnte Spektakel machte und sogar die Bühnen dafür umbauen ließ (man denke an die Rollschuh-/Eisbahn der Patineurs).

Uns interessierte der musik-wissenschaftliche Ansatz zu einer gewissen Ehrenrettung des Genres, und wir haben dafür den klugen Text von Michael Kaye ausgegraben. Er hat sich mit den Ballett-Musiken von Rossini und Donizetti, eben mit der Ballett-Tradition am französischen Musiktheater Theater (nämlich auch an der Opéra-Comique), beschäftigt, den wir nachstehend mit Dank wiedergeben, weil wir denken, dass eine Opernöffentlichkeit viel zu wenig zu eben diesen Traditionen der Ballette in Opern weiss, da diese ja fast immer gestrichen werden. Wobei Aufnahmen in jüngerer Zeit dieses Manko gelegentlich korrigieren (so der Hamlet mit Hampson bei EMI/Warner)  und zumindest im Studio oder bei Festival-Mitschnitten (zum Beispiel der Fernand Cortez aus Florenz bei Dynamic mit ausgiebigstem Getrappel) dem Ungekürzten den Vorzug geben.

Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Lasterna Magica/ Sammlung Bernoit

Aber im Opernalltag sieht es nach wie vor düster aus. Denn da regiert das opportunistisch-tagespolitisch-belehrende Regietheater, das selten etwas mit Entertainment, mit Unterhaltung und Lust zu tun hat und haben will. Was für ein Irrtum! Da gab es nun, wie erwähnt,  Verdis Vepres siciliennes, ab und zu seinen Don Carlos oder gelegentlich auch die Muette de Portici (zuletzt in Cottbus) oder Rossinis und Donizettis Opern für Paris – fast alle ohne die obligatorischen Ballette. Wie kürzlich in Berlin bei den Vepres sind die Vier Jahreszeiten auf den gekürzten Winter zusammengestrichen, die Pellegrina Verdis wird nie aufgeführt (und es war ein großes Verdienst Herbert von Karajans, bei seinem alten Salzburger Don Carlo zumindest die einleitenden Mandolinen in der Gartenszene zu spielen), Guillaume Tell, Moise oder Jérusalem meist ganz ihrer Ballette beraubt, weil sie den zu oft ignoranten Regisseuren nicht in den Kram passen.  Namentlich Verdis Ballette waren kluge Teile der Handlung – man denke an die lyrische Peregrina als Gegenstück zum grausamen Autodafé.

Das Ballett in der Favorite braucht man für die Bestätigung der Beschreibung der vom Tenor besungenen Gärten der Alhambra, Guillaume Tells beide Balette sind wichtig um zum einen die bukolische, unschuldige Stimmung im Kontrast der Schweizer Dörfler gegenüber der Sodateska Österreichs hervorzuheben und andererseits um den Widerstand gegenüber eben dieser zu zeigen. Natürlich sind Ballette auch schowpieces für Startänzer, unjd die Choreographien von Petipa et al. sind bis heute bekannt, Maria Taglioni und ihre Kollegen hatten wie ihre heutigen ihre Fanclubs. Ballett war eine wichtige Kunst- und Unterhaltungsform an den Opernhäusern, abendfüllende Handlungsballette zumal, nicht nur Einlagen. Topoi wie Waldseen, Feen und Willis, stumme Handlungen boten reiche Vorlagen, auch literarische. Heute dümpeln Ballette so vor sich hin, sind auf wenige Titel beschränkt. Wie schade.   G. H.

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Und nun Michael Kaye: Obwohl sich der Name der Pariser Oper unter verschiedenen französischen Regimen geändert und sie seit ihrer Gründung durch Ludwig XIV. am 28. Juni 1669 zahlreiche Gebäude besetzt hat, lautet der offizielle Name der Institution Academie Royale de Musique et de Danse.
Seit Lully und während des gesamten 19. Jahrhunderts war die Leidenschaft für den Tanz unter den Franzosen so stark, dass sich das Corps de Ballet der Pariser Oper keine Sorgen um sein Erfolgspotenzial machen musste. Dieses Corps de Ballet bestand aus mehr als 150 Tänzern mit zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten, dank eines kaiserlichen Gesetzes, das vorschrieb, dass jede Oper, die an der Academie de Musique et de Danse aufgeführt wird, mindestens ein Divertissement oder eine Tanzsequenz enthalten musste. Diese Regelung blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts in Kraft – oft zum Entsetzen großer Komponisten und zur Freude dessen, was das Publikum des 19. Jahrhunderts als künstlerisch betrachtete.

Ballett zu Rossinis „Semiramide“ in Paris, Stich von Bertrand/ BNF Gallica

Opern in Frankreich und Italien wurden oft am selben Abend mit einem und manchmal sogar zwei abendfüllenden Balletten aufgeführt. „Noch nie ist ein Franzose zu Tode getanzt worden noch wird es jemals geschehen“, schrieb Richard Wagner in seinem Bericht an die Dresdner Abendzeitung mit dem Titel „Wunder aus der Ferne“ vom 6. Juli 1841, als beschlossen wurde, Webers Freischütz an der Pariser Oper mit von Hector Berlioz komponierten Rezitativen aufzuführen, die den ursprünglich gesprochenen Dialog ersetzten. Wagner berichtete seiner deutschen Leserschaft: „Zerbrechen Sie sich den Kopf, niemand konnte in dieser unmöglichen Musik eine Passage aufzeigen, zu der der Herr in goldenen Satinstrumpfhosen und die beiden langbeinigen Damen in kurzen Röcken zum Tanzen aufgefordert werden könnten. Nein, es war ganz aussichtslos. Doch irgendwo müssen sie tanzen! In den Freischütz musste ein Ballett hineingeschrieben werden, obwohl er ansonsten genau so aufgeführt wurde, wie er war. Was auch immer für Gewissensbisse gewesen sein mögen, sie wurden bald überwunden, als sich jemand daran erinnerte, dass Weber selbst eine Imitation zum Tanz geschrieben hatte. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der Tanz auf eigene Einladung des Komponisten stattfand? Herzlichen Glückwunsch rundum; alles war geregelt.“

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Es ist wichtig anzumerken, dass das Wort „Ballett“ die Assimilation französischer und italienischer Tanz-, Musik- und Schauspielelemente zu einem zusammenhängenden dramatischen Ganzen bezeichnet. In Frankreich hingegen wird Tanz, der in den Kontext einer Oper eingefügt wird, als Divertissement definiert und ist nur als Verschönerung gedacht. Tanzen hat die Fähigkeit, Lokalkolorit zu vermitteln und Rituale zu zelebrieren, wie es Musik nicht kann, aber Tanzmusik in der Oper leidet oft unter einer Pseudoexotik, wenn Komponisten durch mangelndes Interesse an oder Wissen über ethnische musikalische Merkmale oder antike musikalische Vertonungen behindert wurden.

Pière Charles Ciceris Dekoration für das dramaturgisch so wichtige Nonnenballett im „Robert le Diable“ Meyerbeers an der Pariser Oper/ Wikipedia

Ein hervorragendes Beispiel für die Meinung eines Komponisten über die Einbeziehung von Tanz in die Oper ist gut dokumentiert in den folgenden Auszügen aus der Korrespondenz von Giuseppe Verdi, der Otello 1894 widerstrebend für eine Produktion an der Pariser Oper überarbeitete. In einem Schreiben an seinen Librettisten Arrigo Boito vom 29. Oktober 1886 warnte Verdi: „Eine gute Idee, das Ballett im zweiten Akt zu haben, und es wird sie glücklich machen. Aber natürlich darf das Ballett nur der Oper dienen: überall sonst muss Otello so bleiben, wie er jetzt ist.“ Sechs Monate später meinte er zu Giulio Ricordi: „Was das Ballett oder besser gesagt das Divertissement betrifft, warum sollte man es überhaupt drucken? Es ist ein schwaches Zugeständnis, das Autoren der Oper machen, und zwar zu Unrecht“ (25. März 1887).

In den 1830er Jahren und in den Jahrzehnten danach war es der Ehrgeiz eines jeden Opernkomponisten, in Paris erfolgreich zu sein. Bellini wagte sich 1833 dorthin, wo er zwei Jahre später starb, wenige Monate nach der Uraufführung von I puritani. Donizetti ließ sich 1838 in Paris nieder, Wagner kam 1839 an und Verdi begann seine lange Beziehung zu den Franzosen im Jahre 1847.

Ballett zu „Guillaume Tell“ Rossinis in Pesaro 2019/ ROF

Gioachino Rossini war längst an den Pariser Theatern etabliert. Während der Pariser Opernsaison 1822 wurden im Théâtre-Italien von insgesamt 154 möglichen Abenden 119 Aufführungen von Rossini-Opern aufgeführt. Viele Jahre war er Musik- und Bühnendirektor dieses Theaters. In den sechs Jahren vor der Komposition seines letzten Opernmeisterwerks, Guillaume Tell, schrieb Rossini neben Il viaggio a Reims, einer szenischen Kantate für die Krönung Karls X., und Le Comte Ory auch
zwei erfolgreiche Überarbeitungen von Partituren, die er ursprünglich für Neapel komponiert hatte: Mosè in Egitto und Maometto II, die in Paris zu Moïse et Pharaon und Le Siège de Corinthe wurden. Diese Überarbeitungen wurden unter Berücksichtigung des vorherrschenden französischen Opernstils und -geschmacks durchgeführt.
Le Siège de Corinthe (uraufgeführt an der Oper am 9. Oktober 1826) ist eine überarbeitete Fassung von Rossinis Opera seria in zwei Akten mit dem Titel Maometto II (uraufgeführt in Neapel am Teatro San Carlo am 3. Dezember 1820) mit einem Libretto von Rossini Cesare della Valle, Duca di Ventignano, nach Voltaires Mahomet, ou Le fanatisme. Auf Italienisch ist diese überarbeitete Version als L’Assedio di Corinto in bekannt.

Bei der Premiere von Le Siège de Corinthe an der Pariser Oper wurde die Choreographie für das Divertissement von M. Gardel entworfen. Es wurde von 126 Tänzern aufgeführt, die als sechs türkische adelige Männer, sechs türkische adelige Frauen, acht Pagen, vierzehn Odalisken, sechs afrikanische Männer, sechs afrikanische Frauen, zwölf Derwische, sechs türkische einfache Frauen, sechs Jugendliche und 51 verschiedene griechische Damen, alte Männer und Kinder kostümiert waren.
Die beiden Airs de danse werden in der dritten Szene des zweiten Akts aufgeführt. Pamira, die Tochter des Gouverneurs von Korinth, ist hin- und hergerissen zwischen griechischem Patriotismus und romantischer Liebe zu Mahomet II., der ihr mitteilt, ihre Ängste zu überwinden und den Feierlichkeiten zu Ehren ihrer bevorstehenden Hochzeit vorzustehen.

Ballett zu „Ricciardo e Zoraide“ Rossinis 2020 in Pesaro/ ROF

Im Nachtrag zu seinen Memoiren behauptete Hector Berlioz am 25. Mai 1858: „Es war wirklich Rossini in Die Belagerung von Korinth, der als erster eine laute Orchestrierung in Frankreich einführte. Doch französische Kritiker erwähnen ihn in diesem Zusammenhang nie, noch beschuldigen sie Auber, Halévy, Adam und eine Reihe anderer für ihre abscheulichen Übertreibungen von Rossinis Stil.“
Moïse et Pharaon, ou Le passage de la mer Rouge wurde am 26. März 1827 an der Oper uraufgeführt. Der Kritiker der Gazette de France verkündete diese umgestaltete Fassung von Rossinis dreiaktiger Azione tragico-sacra mit dem Titel Mosè in Egitto (am 5. März 1818 in Neapel am Teatro San Carlo uraufgeführt) als „nicht weniger als eine lyrische Revolution“. Im dritten Akt werden drei Tänze zum Lob der Isis dargeboten. Der Hohepriester der Ägypter verlangt, dass die Israeliten Isis huldigen, aber Moses lehnt ab. Teile der drei Airs de danse wurden Rossinis Oper Armida entlehnt, die zehn Jahre zuvor für Neapel komponiert worden war.
Guillaume Tell war das erste Werk, das Rossini ausdrücklich für die Pariser Oper komponierte, wo es am 3. August 1829 uraufgeführt wurde. Darin manifestiert er seine Beherrschung des zeitgenössischen französischen Opernstils. Sie diente Generationen von Opernkomponisten als Vorbild, insbesondere in Bezug auf die erweiterte Bedeutung und Personifizierung des Chors, die freie Komposition und die Techniken der Orchestrierung. Es war Rossinis letztes Bühnenwerk. Bis zum 10. Februar 1868 hatte die Pariser Oper es 500  Mal aufgeführt.

Ballett zur „Armida“ Rossinis an der Met/ Foto Ken Howard/Met Opera Archives

Die zweite Szene des zweiten Akts spielt in Altdorf. Gesslers Soldaten feiern das 100-jährige Jubiläum der Eroberung der Schweiz und ihrer Angliederung an das (anachronistische) Kaisertum Österreich. 1834 kommentierte Berlioz in der Gazette musicale de Paris, dass der Pas de trois und der Tiroler Chor, „durchdrungen von rustikalen Schweizer Melodien, sorgfältig geschrieben und von außergewöhnlicher Eleganz sind“.
Am 5. Juni 1821 wurde Rossinis Otello (der am 4. Dezember 1816 in Neapel uraufgeführt worden war) zum ersten Mal in Paris im Théâtre Lyrique aufgeführt, aber das Divertissement wurde für eine Produktion an der Pariser Oper am 2. September 1844 hinzugefügt, wo es in einer französischen Übersetzung von Gustave Vaez und Alphonse Roger gesungen wurde. Die Choreographie wurde von Mazilier entwickelt. Obwohl er als Choreograph nicht sehr angesehen war, profitierten viele Tänzer (darunter Carlotta Grisi und Fanny Elssler) von ihren Auftritten in seinen Balletten, darunter Adams Le Corsaire und Aubers Marco Spada.

Maziliers Tänze für Otello wurden vor dem Finale des ersten Akts eingefügt, das in einem prächtigen Saal im Haus des venezianischen Senators Elmiro spielt, dessen Tochter Desdemone Otello heimlich liebt, einen Mohren, den ihr Vater verabscheut. Um ihr Glück zu sichern, beabsichtigt Elmiro, Rodrigue, dem Sohn des Dogen, zu erlauben, Desdemone zu heiraten, und hat seine Freunde versammelt, um die Hochzeit zu feiern. Die Tänzer führen zwei Pas de deux auf.

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Ballett zur „Favorite“ Donizettis an der Opéra de la Wallonie Liège/ OWL

Ballette in voller Länge waren manchmal die Quelle für Opern. Cammaranos Libretto für Donizettis L’Assedio di Calais wurde teilweise von einem gleichnamigen Ballett inspiriert, das von Louis Henri geschaffen wurde (mit Musik von Cesare Pugni, uraufgeführt 1828), abgeleitet von Luigi Marchionnis Stück, das ebenfalls L’Assedio di Calais hieß. Das Thema stammt wahrscheinlich aus einem historischen Melodram von M. Hubert (Pseudonym von Philippe-Jacques Roche) mit dem Titel Eustache de St Pierre, ou Le Siege de Calais. Donizetti komponierte diese Oper für Neapel, wo sie am 19. November 1836 uraufgeführt wurde, in der Hoffnung, sie auf die Bühne der Pariser Oper exportieren zu können.
In einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi vom 22. November 1836 beschrieb Donizetti diese ein Jahr nach Lucia di Lammermoor komponierte Oper als seine „am sorgfältigsten ausgearbeitete Partitur“. In einem Schreiben vom 21. Mai 1837 an seinen Freund, den berühmten Tenor Louis-Gilbert Duprez (der am 17. April 1837 ein sensationelles Debüt an der Pariser Oper als Arnold in Guillaume Tell gab und anschließend dabei half, für Donizetti eine Arbeit in Paris zu arrangieren) flehte Donizetti Duprez an, ihn dem Direktor der Oper, Charles Duponchel, zu empfehlen: „Ich würde ihnen so viele Tänze (ballabili) schreiben, wie sie wollen. Ich würde ändern oder verlängern, [welche Musik] auch immer Sie möchten … Das Werk, das ich gerne in der Grand Opéra präsentieren würde, wäre L’Assedio di Calais, die
gelehrteste meiner Opern, die am besten zum französischen Geschmack passt und
daher von allen als für Paris komponiert angesehen wird.“ L’Assedio di Calais wurde zu Donizettis Lebzeiten in Paris nicht gegeben. Obwohl es als eines der interessantesten Werke Donizettis gilt, wurde es selten irgendwo aufgeführt.

Szene aus Aubers Oper „Le lac des Fées“/ BNF Gallica

Les Martyrs wurde am 10. April 1840 an der Oper uraufgeführt. Der enorme Erfolg von Donizettis Lucia di Lammermoor am 12. Dezember 1837 im Théâtre-Italien ebnete schließlich den Weg für seine lang ersehnte Einladung nach Paris und seinen dortigen Arbeitsvertrag. Für sein Debüt an der Oper entschied sich das Management für eine Neufassung von Donizettis Opera seria Poliuto, die 1838 für Neapel komponiert, aber vom König verboten wurde, weil sie (in Donizettis Worten) „zu heilig“ war.
Die Pariser Oper wollte den Umfang von Donizettis Originalwerk, das auf Corneilles Polyeucte basiert, von drei auf vier Akte erweitern, daher war es am bequemsten, den letzten Teil des ersten Akts und die Eröffnung des zweiten Akts zu ändern, anstatt andere Abschnitte der Handlung anzutasten. Die in die sechste Szene des zweiten Akts eingefügte Tanzmusik besteht aus einem Divertissement mit drei Nummern, placiert zwischen der Arie und der Cabaletta, die vom Proconsul Severe während der Triumphszene auf dem öffentlichen Platz gesungen wird.

Scribes Libretto legt fest, dass „zwei gegnerische Gladiatorentruppen einander angreifen und sich im Laufe ihres Kampfes neu formieren. Letztendlich treten zwei einzelne Gladiatoren in einen Nahkampf, und nach einem anstrengenden Duell wird einer von ihnen besiegt. Als der Sieger im Begriff ist, seinen Gegner zu töten, erhebt sich Severe und winkt dem Gladiator zu, seinem zu Boden gegangenen Kontrahenten zu verzeihen. Auf den Gladiatorenwettbewerb folgen griechische und römische Tänze, die von jungen Frauen aufgeführt werden. Sie enden mit einem goldenen Kranz zu Severes Füßen.“

Donizettis La Favorite wurde am 2. Dezember 1840 an der Oper uraufgeführt. Das Divertissement spielt im spanischen Königreich Kastilien und findet im zweiten Akt im maurischen Palast von Alcazar statt. Alphonse XI., König von Kastilien, hat seiner Geliebten Léonor de Gusman versprochen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, um Léonor zu heiraten und sie zur Königin zu machen.Der König befiehlt Léonor, ihre Traurigkeit zu vergessen und die Feierlichkeiten zu genießen, die er für sie geplant hat.

Das Programm der Tänze, aufgeführt von spanischen Mädchen und Sklavinnen, von denen einige maurisch waren, wurde im offiziellen Produktionsbuch (mise en scene) der Uraufführung veröffentlicht, das als Beilage zur Revue et Gazette des Théâtres vom 17. Januar 1841 veröffentlicht wurde. Beim „Pas de mauresque“ gesellten sich zu den Damen und Herren des Corps de Ballet vier kleine maurische Musikanten, die kleine Trommeln spielten. Zu den Solotänzern gehörten Louise Fitzjames, Adele Dumilätre, Mesdames Maria, Noblet, Alexis, Blangy und Mr. Auguste Mabille. Am 12. Februar 1841 gab die berühmte Ballerina Carlotta Grisi zur Freude des Pariser Publikums ihr Debüt an der Pariser Oper in La Favorite.
Dom Sebastien ist Donizettis längste Oper. Es war auch die letzte vollständige Oper, die er komponierte, und seine einzige Oper, die ausdrücklich für die Pariser Oper geschrieben wurde, wo am 13. November 1843 ihre Uraufführung erfolgte. Die erste Szene des zweiten Akts spielt in Marokko, in Ben-Selims Wohnung in der Nähe von Fez, wo er der Gouverneur ist. Seine Tochter Zayda, die von portugiesischen Feinden gefangen genommen und christlich getauft wurde, ist von Dom Sebastien, dem König von Portugal, befreit worden, den sie heimlich verehrt. Ben-Selim befiehlt, zur Feier der Rückkehr seiner Tochter zu tanzen. Donizetti war ziemlich stolz auf die Tanzmusik, die er für den zweiten Akt komponierte, und sie wurde häufig von Ballettkompanien außerhalb des Kontexts der Oper aufgeführt. In den italienischen Ausgaben der Oper (bekannt als Don Sebastianò) trägt das Finale des Divertissements den Titel „Ballabile di Schiavi“ (Tanz der Sklaven) . Michael Kaye/Übersetzung Daniel Hauser

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Michael Kayes Artikel erschien in Englisch in einer inzwischen vergriffenen LP-Sammlung von Ballettmusiken von Rossini und Donizetti bei Philips/ Abbildung oben: Szene aus Meyerbeers „Crociato in Egitto“ von Bagnara/ Opera Rara

Würdiges Memento für Stefan Soltész

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Ein Libretto, das die titelgebende Figur der Vorlage außen vor lässt, eine Oper, deren erste Fassung später vom Komponisten zugunsten der zweiten Version verboten wurde und deren erste nun fast ausnahmslos aufgeführt wird, das ist Paul Hindemiths Cardillac, von dem es jetzt eine CD mit dem Münchner Rundfunkorchester unter dem zu früh verstorbenen Stefan Soltész gibt. E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi ist eine Kriminalgeschichte, die im Paris Ludwigs XIV. spielt und über die die Figur des Fräuleins ein mildes Licht gießt. Das Libretto von Ferdinand Lion, das der Komponist für die zweite Fassung des Werks wesentlich erweiterte und veränderte, so mit der Einführung einer Opernsängerin und eines festlichen Balls, ist eher ein Psychogramm einer gestörten und verstörten Persönlichkeit. Die erste Fassung wurde 1926 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt, die zweite 1952 in Zürich. 1960 erreichte man die gerichtliche Freigabe der ersten Version in Wuppertal, die nun fast ausschließlich auf die Bühnen gebracht wird und die durch den Kontrast zwischen den schon fast altertümelnden Nummern-Bezeichnungen, die seine Form ausmachen, und der Modernität der gestörten Künstlerpersönlichkeit eine Ausnahmestellung einnimmt.

Das Münchner Rundfunkorchester beweist unter Stefan Soltész  seine Qualitäten bereits im Vorspiel, wenn es durchsichtig filigran, aber gleichzeitig rasant beginnt, allmählich die Bedrohung, die von dem in seine Schöpfungen krankhaft verliebten Goldschmied ausgeht, hörbar werden lässt. Die Aufnahme besticht durch das Miteinander von dramatischer Expressivität und schlanker Eleganz. Eine höchst bedeutende Aufgabe hat der Chor, der Prager Philharmonische Chor unter Lukás Vasilek, der höchst idiomatisch und rhythmische wie Anforderungen an die Textverständlichkeit im Rahmen des Möglichen großartig meisternd zu einem der Protagonisten der Aufnahme wird.

Hoch zufrieden sein kann man auch mit den Gesangssolisten. Markus Eiche hat das angemessen virile, farbige Timbre für die Titelpartie, dazu eine gute Diktion und das, was man als eine darstellende Stimme bezeichnet, die sich zum Bekenntnis der furchtbaren Taten emphatisch steigern kann. Weich, sanft und feine Melodienbogen virtuos ausmalend, ist Juliane Banse eine sich auch im Quartett gut behauptende Tochter. Zwei Tenöre, Oliver Ringelmann  als früh gemeuchelter Kavalier und Torsten Kerl als Offizier und glücklicher Bräutigam der Tochter, stehen einander an strahlender vokaler Präsenz nicht nach. Mit koloraturgeläufigem Bass, der zudem viel Autorität vermittelt, glänzt Kay Stiefermann als Führer der Prévôté, viel aus der kleinen Partie des Goldhändlers macht Jan-Hendrik Rootering. Einen verführerisch klingenden Sopran kann Michaela Selinger für die Dame einsetzen. Vor allem aber ist diese Aufnahme als Vermächtnis von Stefan Soltész zu würdigen, von dem es leider eine allzu kleine Hinterlassenschaft gibt (BR Klassik 900345). Ingrid Wanja

Florentinisches Wien

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Das Eingangsbild zur Florentiner Ariadne auf Naxos mag erklären, warum die italienische Produktion zumindest optisch so wenig attraktiv ausfällt: Da wird ein ausgemergelt aussehender, fast nackter Invalide in einem Rollstuhl über die Bühne geschoben, um für immer hinter den Kulissen zu verschwinden. Sollte dies etwa der reichste Mann Wiens sein, der von einer unheimlichen Krankheit befallen wurde? Gehört er zu den im Personenverzeichnis erwähnten „figuranti speciali“? Sein Schicksal bleibt ungeklärt, so geheimnisvoll wie die Absicht von Regisseur  Matthias Hartmann und Bühnenbildner Volker Hintermeier, Vorspiel und Oper in einem, noch dazu zusammengewürfelt scheinenden Bühnenbild spielen zu lassen, das viele Stolperfallen aufweist, aber weder das aufgeregte Durcheinander vor einer Uraufführung noch das Geheimnis antiker Sagenwelt widerspiegelt. Der Unterschied zwischen beiden Welten besteht in AXS, den Neonbuchstaben, die für die Oper dem bereits für das Vorspiel vorhandenen NO hinzugefügt werden. Was Naxos bedeutet ist klar, was No weniger, es könnte die Weigerung des Komponisten sein, sein Werk zu verschandeln, das des Tenors, seine Perücke zu akzeptieren und vieles anderes auch. Glücklicher als mit der Bühne wird er Zuschauer sicherlich mit einem Teil der Kostüme, vor allem die für Najade, Dryade und Echo, wunderschönen Zwanzigerjahre-Fummeln von Adriana Braga Peretzki entworfen, die mit Adriana und Zerbinetta weniger im Sinn hatte, die eine in einen silbernen Schlauch presste und die andere wie eine Puffmutter ausstattete. Ansonsten gibt es viel Gold bei Requisiten und Kostümen, auch an den Komödianten funkelt und glitzert es.  Wie ein Fremdkörper erscheint ein Fels mit dem Schriftzug Ariadne, der an einen Grabstein erinnert.

Daniele Gatti wird bald Gelegenheit haben, mit der Dresdner Staatskapelle ein Orchester zu leiten, das mit Richard Strauss bestens vertraut ist. Was er dem Orchester des Maggio Musicale Fiorentino entlockt, ist aber auch aller Ehren wert, klingt so durchsichtig wie üppig, so verschwenderisch wie klug kalkuliert. Auch an den Sängern wurde im Nach-Corona-Jahr 2022 nicht gespart. Nur was ihre sängerischen Leistungen betrifft, ist Krassimira Stoyanova eine Primadonna. Der dunkel getönte, einheitlich gefärbte, nie schrill werdende Sopran meistert die schwierige Partie souverän, eine Leistung, die von Reife und von einer Karriere spricht, die auf ihrem Zenit angekommen zu sein scheint. Den einzigen Szenenbeifall heimste stückbedingt die Zerbinetta von Jessica Pratt ein, den Italienern aus dem Belcantorepertoire bestens bekannt und natürlich auch rollenbedingt zu solchem herausfordernd. Sie ist inzwischen eine recht reife Darstellerin für die kokette Allroundloverin, ihre große Arie meistert sie angemessen. Auf dem Weg zum Heldentenor ist AJ Glueckert, der den Bacchus mit ungefährdeten Stentortönen versah und trotz unmöglicher Kostümierung stattlich daher kam.

Ein wunderbares Paar waren der sensible, leidenschaftliche, jeden Ton mit echt erscheinender Empfindung füllende Komponist von Sophie Koch und der warmherzige wie warmstimmige Musiklehrer von Markus Werba. Einmal mehr bedauert man, dass sie so schnell und dann für immer von der Bühne verschwinden. Echten Wiener Schmäh brachte der Haushofmeister von Franz Tscherne auf die Bühne, geschmeidig bewegten sich und sangen Maria Nazarova, Anna Doris Capitelli und Liubov Mevedeva die drei Fabelwesen, aus der Schar der Komödianten ragte Liviu Holender mit feinem Kavaliersbariton als Harlekin heraus. Antonio Garés machte viel aus dem Tanzmeister, Joseph Dahdah war der schmucke Offizier. Die Aufführungen fanden im intimeren Teatro della Pergola statt, wohin ein Kammerspiel auch gehört. Die guten Verbindungen von  Alexander Pereira nach Österreich hatten sich bewährt, der Himmel hing noch voller Geigen (Bluray Dynamic 57970 & gleichnamige CD). Ingrid Wanja       

Daniza Mastilovic

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An Daniza Mastilovic (sie starb 15. Juli 2023 in hessischen Dreieich) erinnere ich mich genau und mit Freude, wenn sie an der Deutschen Oper Berlin als Elektra in der unerreichten  Sellner-Inszenierung erst einsprang und dann öfter den illustren Vorgängerinnen Mödl und Varnay sowie auch Schlemm folgte. Ihre machtvolle Stimme, die wir in West-Berlin auch als Turandot (erst in Deutsch und dann im Original) hörten war eine absolute Überraschung wegen der Kraft (einer Kuchta gleich) und der italienischen Geschmeidigkeit, wie sie man in der Forza oder auch im Trovatore bewundern konnte. Optisch war sie eher dem Ideal der gestandenen Stimmen verpflichtet und auch vielleicht nicht die ganz große Gestalterin, aber die machtvolle Stimme ohne jede Höhenprobleme bleibt mir in bester Erinnerung. Wenn sie auf dem Plan stand wusste man, was man bekam, und sie war jede Minute den Besuch der Vorstellung wert. Möge sie in Frieden ruhen. G. H.

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Daniza Mastilović, im deutschen Sprachraum auch Danica Mastilovic wurde am * 7. November 1933 in Negotin, im damaligen Königreich Jugoslawien geboren und starb am † 15. Juli 2023 in Dreieich, Hessen. Sie wurde als Tochter von Luka Mastilovič und dessen Ehefrau Ljubica Pajki, die beide serbischer Abstammung waren, im Osten des heutigen Serbien geboren. Sie studierte am Belgrader Konservatorium Gesang bei dem Bassisten Nikola Cvejić-Vladin (1896–1987) und trat bereits während des Studiums in den Jahren 1955 bis 1957 an verschiedenen Belgrader Operettentheatern auf.

Ohne Deutschkenntnisse und ohne Studienabschluss kam Danica Mastilović, vom damaligen Frankfurter Ersten Kapellmeister Wolfgang Rennert in Belgrad entdeckt, Ende der 1950er Jahre auf Veranlassung des Dirigenten Georg Solti zum Vorsingen nach Frankfurt am Main, wo sie zur Spielzeit 1958/59 vom damaligen Intendanten Harry Buckwitz zunächst mit einem Dreijahresvertrag an die Oper Frankfurt engagiert wurde. Sie debütierte dort 1959 mit der Titelpartie in Tosca und gehörte bis zu ihrem Bühnenabschied am Ende der Saison 1998/99 insgesamt 40 Jahre zum festen Ensemble der Frankfurter Oper. Nachdem sie zunächst kleinere Partien gesungen hatte, erhielt sie an der Oper Frankfurt nach und nach größere Aufgaben, vor allem im dramatischen Fach, übertragen. 1964 sang sie in Frankfurt mit großem Erfolg erstmals die Titelpartie in Turandot. Während der Zeit von Christoph von Dohnányi als Generalmusikdirektor und Direktor der Frankfurter Oper wechselte sie Ende der 1960er-Jahre ins hochdramatische Fach. 1971 sang sie in Frankfurt am Main erstmals dieElektra, wofür der damalige Frankfurter Ballettchef John Neumeier eine spezielle Choreografie mit ihr erarbeitet hatte. 1978 sang sie in Frankfurt die Kundry und Isolde. 1979 debütierte sie als Küsterin in Janáčeks Jenůfa unter der musikalischen Leitung von Michael Gielen.

Ab 1983 übernahm sie auch Partien aus dem Charakterfach. Sie sang die Larina in Eugen Onegin, die Berta in Der Barbier von Sevilla und die Czipra in der Operette Der Zigeunerbaron. In der Spielzeit 1985/86 übernahm sie die Mutterrolle der Ludmila in einer Neuinszenierung der Oper Die verkaufte Braut (Regie: Christof Nel). Außerdem war sie in der Spielzeit 1985/86 die Venus in einer Neubearbeitung der Offenbach-Operette Orpheus in der Unterwelt, bei der sie „mit […] barocken Proportionen in vergangenheitsmächtiger Pose ihre nach wie vor üppigen stimmliche Reize zur Schau stellt[e].“ 1995 und nochmals 1997 war sie als alte Buryja in Jenůfa an der Frankfurter Oper zu hören.[7] In der Spielzeit 1998/99 verabschiedete sie sich in der Rolle der Filipjewna in Eugen Onegin als festes Ensemblemitglied von der Bühne und von ihrem Frankfurter Publikum.

Mastilović wurde 1983 zur Kammersängerin ernannt. Sie war verheiratet und lebte zunächst viele Jahre in Mainz.Nach Beendigung ihrer Karriere blieb sie in Frankfurt am Main wohnen und lebte in Sachsenhausen. Sie starb im Juli 2023 im Alter von 89 Jahren im hessischen Dreieich.

Parallel zu ihrem Festengagement an der Oper Frankfurt übernahm sie zahlreiche Gastengagements, so 1963 als Abigaille an der Seite von Tito Gobbi an der Lyric Opera of Chicago. Im Januar 1964 debütierte sie als Tosca an der Wiener Staatsoper. Sie trat dort bis 1980 u. a. als Leonora in Il trovatore, Senta, Kundry, Ortrud sowie als Turandot und Elektra auf. Von 1965 bis 1967 war Mastilović als Gerhilde in Die Walküre bei den Bayreuther Festspielen verpflichtet. Im Oktober 1970 debütierte sie als Färberin am Teatro Colon in Buenos Aires. Weitere Gastspiele gab sie dort im August 1972 als Abigaille und im September 1975 als Elektra.  Im März 1972 gab sie als Elektra ihr Debüt an der Mailänder Scala.[15] In der Spielzeit 1975/76 sang sie dort in vier Vorstellungen die Turandot. An der Oper Zürich war sie 1973 als Ortrud verpflichtet. Im November 1975 debütierte sie an der Metropolitan Opera in New York als Elektra, mit der sie dort bis 1979 auftrat. 1980 sang sie die Färberin an der Grand Opéra Paris.

Weitere Gastspiele führten sie an die Dresdner Semperoper, die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf, die Hamburger Staatsoper, die Deutsche Oper Berlin und an die Opernhäuser von Athen, Zagreb, Stockholm und Mexiko-Stadt. 1987 trat sie als Klytämnestra in Elektra am Salzburger Landestheater auf. Im April 1988 gastierte sie mit dieser Rolle bei Elektra-Vorstellungen in Pretoria. In der Spielzeit 1991/92 gastierte sie am Theater Trier als Gräfin in Pique Dame.

Mastilovićs Bühnenlaufbahn konzentrierte sich hauptsächlich auf die Werke von vier Komponisten – Verdi und Puccini im italienischen, Richard Wagner und Richard Strauss im deutschen Fach. Sie galt als „große Verdi-, Wagner- und Puccini-Interpretin“. Zu ihren Hauptrollen gehörten insbesondere die Titelrollen in Turandot und Elektra. Die Turandot verkörperte sie weltweit an insgesamt 28 Opernhäusern, zum Beispiel in Buenos Aires und Wien, im Großen Salzburger Festspielhaus, beim Puccini-Festival von Torre del Lago (anlässlich des 50. Todesjahrs des Komponisten), in der Arena di Verona und an der Opéra de Monaco (1979).

Zu ihrer international wichtigsten Rolle wurde die Elektra. Sie sang die „Rolle ihres Lebens“ in nahezu 200 Vorstellungen auf der Bühne, unter anderem an der Bayerischen Staatsoper (1973), am Londoner Royal Opera House (1973 und 1975), an der New Yorker Metropolitan Opera, an der Mailänder Scala, am Teatro Colón in Buenos Aires, am Teatro Liceu in Barcelona (1980) sowie in Wien und Paris (1977, Grand Opéra). (Foto als Elektra/ Piccagliani/ Archivio Storico del Teatro alla Scala Mailand/ Quelle Wikipedia)

Frühwerke aus Lucca

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Giacomo Puccini, in aller Welt bekannt als Opernkomponist,  war eigentlich und durch seine Herkunft bedingt Organist und Kirchenmusiker in fünfter Generation in der toskanischen Stadt Lucca, nicht weit vom Puccini-Festspielort Torre del Lago entfernt,  seine diesbezügliche Karriere in der Kirche San Girolamo beginnend. Harmonia mundi stellt Werke vor, die  zwischen 1880 und, ja, kein Druckfehler, 2014 uraufgeführt wurden. Es handelt sich um eine Komposition mit dem ursprünglichen Titel Messa a quattro voci, später wohl wegen des breit angelegten Gloria als Messa di Gloria bekannt geworden, um ein Scherzo für Streicher, das seine Uraufführung erst 2014 im Teatro Giglio  von Lucca erlebte und eigentlich als Teil eines Streichquartetts geplant war, und um ein Capriccio sinfonico, das als Examensarbeit seine Studienzeit in Mailand beendete. Relativ bekannt ist das abschließende Crisantemi, eine Elegia per quartetto d’archi, ein Auftragswerk nach dem Tod des Duca Amedeo Ferdinando di Savoya. Nicht nur beim Hören dieses Werkes wird der Opernliebhaber die Ohren spitzen, denn Puccini ließ nichts umkommen, verwertete Musik aus seinen frühen Orchesterwerken später wieder in seinen Opern. So erklingt in den Crisantemi, den Totenblumen der Italiener, auch die Reise nach Le Havre aus Manon Lescaut, im Kyrie die aus Edgar und im Capriccio wird das Bohéme-Leben gefeiert. Sogar das Agnus Dei erlebt eine Wiederauferstehung im Madrigal, mit dem Geronte die kapriziöse Manon langweilt.

Dennoch sind die auf der CD vereinigten Frühwerke des Aufführens und Hörens wert, besonders wenn sie von so versierten Kräften angeboten werden. Da sind erst einmal die vorzüglichen Gesangssolisten, der Tenor Charles Castronovo und der Barion Ludovic Tézier, dazu der Chor Orfeó Català, der die sanfte Bitte des Kyrie wunderbar bruchlos anschwellen und wieder abschwellen lässt, der im Gloria einen balsamischen Kontrast zum eher herben Orchesterklang bildet und einen schönen Dialog mit den Bläsern führt, im Gloria wie weichgespült klingt und ein die Welt umarmendes Amen und ein Et resurrexit  voller Jubel zelebriert. Das Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Gustavo Gimeno gibt  die unterschiedlichen Stimmungen, die durch die frühe Meisterschaft Puccinis auch in der Orchestrierung bereits in diesen Werken hörbar werden, eindrucksvoll wieder. Der Tenor hat einen keuschen Ton für das Gratias, die Höhe ist strahlend, er singt mit reicher Agogik, und die Stimme erhebt sich machtvoll im Credo über den Chor, ist höchst eindrucksvoll im Et incarnatus est. Der Bariton singt ein empfindsames Benedictus, die Stimme weist exakte Konturen auf, glänzt im Agnus Dei durch edle Schlichtheit des Ausdrucks. Eine CD, die man mal schmunzelnd ob der Opernanklänge, insgesamt aber mit Interesse und Profit genießen kann (harmonia mundi 905 36). Ingrid Wanja

Refices Kirchenoper „Cecilia“

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Laut Arturo Toscanini hätte Licinio Refice (1883-1954) der größte Opernkomponist seiner Zeit sein können, wenn er nicht den Talar gewählt hätte: «Refice sarebbe il più grande operista del nostro tempo se non fosse per quella tonaca», schreibt er, der sich sehr für die Komponisten seiner Zeit einsetzte. Der Priester Don Refice bewies seine musikalischen Fähigkeiten als Komponist von Kirchenmusik (darunter ca 40 Messen und mehrere Oratorien, darunter das bei Colosseum dokumentierte Lilium Crucis). Auch zwei Opern beendete er, die zu ihrer Zeit in Italien erfolgreich waren. Cecilia wurde 1934 an der Königlichen Oper in Rom auch dank der Sopranistin Claudia Muzio in der Hauptrolle ein Triumph, der weltweit zu über 1000 Vorstellungen führte, 1938 eröffnete dann Refices Margherita da Cortona die Saison an der Mailänder Scala (davon ein LP-Mitschnitt ehemals bei Voce mit Antonietta Cannarile Berdini bei der RAI 1975). Cecilia und Margherita di Cortona – beide wurden von der katholischen Kirche heiliggesprochen, Refice blieb auch bei seinen Opern Kirchenmusiker.

Licinio Refice/Autogrammblatt/Tamino

Die heilige Cäcilie, die Patronin der Kirchenmusik, starb als Märtyrerin ca 230 n.Chr. in Rom, da sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwören wollte. In Europa entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Tradition der Cäcilienverehrung, entsprechende Kompositionen gibt es bspw. von Purcell, Händel, Haydn, Gounod oder Britten. Das Frühchristentum in Rom ist ein Thema, das bereits Donizetti in seiner aktuell wieder Aufmerksamkeit bekommenden Oper Poliuto/Les Martyrs  verwendete. 1932 wurde in der New Yorker Carnegie Hall das Mysterienspiel Maria Egiziaca von Ottorino Respighi konzertant aufgeführt und in der der Folge in Italien szenisch auf die Bühne gebracht. Respighis religiöse Oper in drei Episoden (2013 von den Wuppertaler Bühnen für eine Kirchenaufführung inszeniert) ist das zeitgeschichtliche Ergänzungswerk zu Refices Cecilia. Beide Werke vereint eine klangsinnliche Herangehensweise in spätromantischer Klangwelt. Wenngleich sich auch das Wort Kirchenkitsch aufdrängt, ist doch der moderne Zuhörer weit entfernt von dieser italienischen Mystifizierung. Aber man muss das Werk – und ja eigentlich alle – aus der historischen Einbettung heraus betrachten und im ästhetischen Sinne nicht durch die Brille unseres rabiaten Kapitalismus mit seinen Folgen be- oder verurteilen.

Thematisch befindet man sich bei Cecilia also auf bekannten Pfaden, spannend wird es durch die katholische Färbung des Komponisten – Refice nannte seine Oper eine azione sacra in drei Episoden und vier Bildern -, die die Handlung musikalisch gekonnt dramatisiert und dabei geschickt Vorbilder wählt. Die erste Episode, bei der Cäcilie in das Haus ihres ihr anverheirateten heidnischen Gatten Valerianus gebracht wird und doch ihre Unberührtheit bewahren kann, erinnert vom Aufbau an den ersten Akt von Madama Butterfly. Herzstück ist die mit einem melodisch fast alle wichtigen Motive vereinenden Vorspiel beginnende zweite Episode, bei der Cäcilie Valerianus zu einem frühchristlichen Gottesdienst in die Katakomben mitnimmt, bei dem ein Wunder geschieht: Eine Blinde kann wieder sehen, die Gemeinde stimmt ein Halleluja an, Valerianus lässt sich taufen und ein Engel erscheint, der die geistige Beziehung der Ehegatten segnet und auf das kommende Leid verweist. Tribunal und Verurteilung (als Vorbild könnte man den dritte Akt von Andrea Chénier nennen) sowie die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen (ähnliche Beispiele finden sich in Norma, Anna Bolena und Maria Stuarda) führen in der dritten Episode zu Tod und Verklärung.

Eine Neueinspielung (Mitschnitt einer Aufführung bei Dynamic aus dem Theater in Cagliari) lässt uns zu  einen älteren Artikel über das Werk in operalounge zurückkehren. Erst einmal die Besprecdhung von Ingrid Wanja und dann ein Blick auf weiteres Verfügbares. G. H.

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Nicht laut genug erschallen kann das Lob für das Teatro Lirico di Cagliari auf Sardinien und ebenso kräftig sollte es ertönen für das Label Dynamic aus Genua, denn das eine bringt seit Jahrzehnten immer wieder unbekannte Opern auf seine Bühne, das andere gibt sie fast zeitgleich als CD oder Bluray heraus und lässt so ein großes Publikum am jeweiligen Ereignis teilnehmen. Da gab es unter anderem den Schiavo von Gomes, Webers Euryanthe, Tschaikowkys Pantöffelchen, eine sardische Oper aus der Zeit der Nuraghe und in den letzten Jahren Giorgio Marinuzzis Palla de’Mozzi und  im Winter 2022 Licinio Refices Cecilia. Letzterer ist eigentlich ein Don Licinio Refice, Priester und in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts  für die Musik in Santa Maria Maggiore in Rom verantwortlich, welches Amt er jedoch zum Ärger der Kurie zugunsten unter anderem mehrerer Südamerikareisen vernachlässigte, auf der letzten, während der Proben zu Cecilia 1954 in Rio de Janeiro mit Renata Tebaldi in der Titelpartie verstarb er. 1953 wagte sich das Teatro San Carlo in Neapel an das Werk, und auch damals sang Renata Tebaldi die Cecilia, es dirigierte der Komponist.

.Azione sacra in tre episodi nannte der Komponist sein Werk, das eigentlich eine Oper mit geistlichem Inhalt ist wie auch Margherita da Cortona, eine dritte Oper mit dem Titel Il Mago, brachte es nicht einmal zu einem vollendeten ersten Akt.

Für Cecilia hatte sich Refice eine Uraufführung zum Heiligen Jahr 1925 erhofft, die aber am Zwist zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat scheiterte und erst nach den Patti Lateranensi 1934 im römischen Teatro Reale dell‘ Opera, sprich Teatro Costanzi, 1934 möglich wurde. Für den beachtlichen Erfolg war nicht zuletzt die Sängerin der Cecilia, Claudia Muzio, verantwortlich.

Licinio Refice privat/ personaggi illustri

Refice verwendet als heißer Verehrer Richard Wagners zwar Leitmotive für seine Protagonisten, auch für den Chor, sei es der der Christen oder der der Heiden, aber ansonsten ist seine Musik durch und durch italienisch, üppig melodienselig, der Dirigent der vorliegenden Aufnahme, Giuseppe Grazioli, nennt sie „un trait d’union“ zwischen Puccini und Respighi. Nachvollziehbar ist, dass Refice als Kirchenmusiker dem Chor eine bedeutende Rolle zuerkennt, sei es als entrückter Engelsgesang, als der der schüchternen Ancelle, der unversöhnlich auftrumpfenden Heiden oder der auf Überwältigung angelegte gemeinsame der irdischen wie himmlischen Heerscharen.

Erstaunlich kompetent sind, bedenkt man, dass es sich um ein selten aufgeführtes Werk in einem teatro di provincia handelt, die Sänger. Marta Mari hat einen in der Höhe aufblühenden Sopran mit viel corpo, dolcezza und splendore, rund und farbig auch im Piano. Emphatisch klingt das „Si, Valeriano“, ein feines akustisches Gespinst ist das „Io sorrido di pianto“. Die Stimme wird im Verlauf der Handlung immer entrückter wirkend, bis sie zu ersterben scheint. Frisch und schlank ist der Sopran, den Elena Schirru für den Engel einsetzt. Giuseppina Piunti gibt mit etwas schütterem Mezzosopran die Cieca, die natürlich von ihrem Gebrechen geheilt wird und dadurch auch an Stimmvermögen zunimmt.

Einen lyrischen Tenor setzt Mickael Spadaccini für den Gatten Valeriano ein, kann,  als bereits Hingerichteter, der der aus dem Jenseits klingenden Stimme ein schönes Schweben verleihen. Glück für das Personalbüro, dass sein Bruder Tiburzio bereits vor dem zweiten Akt das Zeitliche segnet, so dass Leon Kim nicht nur diese Partie, sondern auch die des Amachio singen kann und beides mit einem textverständlichem, viel vokale Autorität ausstrahlendem Bariton. Schnell hat Christian Collia als Un Liberto und Un Neolita sein vokales Pulver verschossen, einen hochpräsenten  Bariton setzt Patrizio La Placa als Schiavo ein, warm und dunkel klingt Alessandro Spina als Urbano.

Musikalisch hochinteressant, dürfte es das Werk wegen seines Themas weiterhin schwer haben. Die Begegnung mit ihm lohnt auf jeden Fall (Dynamic CDS 7967.2). Ingrid Wanja 

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Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italien, sang die Cecilia bei der RAI/Melodram

Maria Pedrini, eine der schönsten Stimmen Nachkriegs-Italiens, sang die Cecilia 1955 bei der RAI/Melodram

Refice bekehrt musikalisch und will das Herz seiner Zuhörer berühren. Sein Erfolgsrezept liegt in der Mischung: veristische Momente, gregorianischer Gesang und eine an Mascagni und Puccini (bspw. Suor Angelica) erinnernde Klangsprache. Wer diese musikalische Mischung aus Wehmut, Hingabe und Erhabenheit schätzt, wird bei Refice fündig: Es gibt melodische Einfälle, die haften bleiben. Arien aus Cecilia wurden später von bekannten Sängerinnen eingespielt, bspw. von Renata Tebaldi (1953 unter dem Komponisten selbst bei der italienischen RAI, ehemals als knisternde LP von UORC) und Renata Scotto (im New Yorker Konzert 1976 unter Campori). Refice starb 1954 in Rio de Janeiro, wo er mit Renata Tebaldi seine Oper probte.

In der Folge geriet Cecilia in Vergessenheit. Ber youtube gibt es zum Hören Aufnahmen mit der Muzio, Tebaldi und Scotto (als CD gekürzt auf VAI erhältlich, sehr empfehlenswert wegen der opernhaften Hinwendung) sowie Maria Pedrini (als LP, später CD ehemals bei Melodram im RAI-Mitschnitt von 1955 unter De Fabritiis, ungeschlagen wegen der wunderbaren pastosen Stimme voller Unschuld und Unverstelltheit – eine gläubige Italienerin singt aus ihrem erfüllten Herzen heraus), die eine der großen Vertreterinnen der Partie nach dem letzten Krieg und überhaupt eine der schönsten Spinto-Stimmen ihrer Zeit (und zudem in Italien eine bedeutende Norma neben der Cerquetti) war. In jüngster Zeit näherte sich Jonas Kaufmann dem Werk, dessen Tenorarie „Ombra di nube“ er auf seinem Decca-Recital singt.

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Die  Gesamteinspielung der tüchtigen Firma Bongiovanni ist ein Live-Mitschnitt eines Konzerts vom 22.11.2013 in der Kirche von Monte-Carlo. Es handelt sich um ein wichtiges Plädoyer für eine vergessene Oper – die  Aufnahme taugt allerdings kaum als Referenz, dafür fehlten einigen Sängern am Aufnahmetag die Unverwechselbarkeit und Überzeugungskraft und die Akustik ist nicht ideal. Als Cecilia hat man mit Denia Mazzola Gavazzeni einen (zu) reifen, gestisch fast zu dramatischen Sopran gewählt, der zwischen Gläubigkeit, spiritueller Anrufung und Todesbereitschaft Eindruck hinterlässt, deren scharfe Sopranstimme allerdings auch den Weg zum Werk verstellt. Als ihr Partner Valerianus hat man den nicht immer frei klingenden Tenor von Giuseppe Veneziano gewählt, der Engel Gottes ist mit Serena Pasquini stimmlich wohlklingend, aber unaufregend besetzt. Der Bassist Riccardo Ristori als Bischoff Urban könnte deutlicher würdevoller und standhafter klingen; die gut besetzten Corrado Cappitta (Tiburzio/Amacchio) und Kulli Tomingas (La vecchia cieca) ergänzen u.a. in den kleineren Rollen. Auf der Habenseite dieser Aufnahme befinden sich Dirigent Marco Fracassi und das Orchestra Filarmonica Italiana, die für positive Eindrücke sorgen. Der Chor der Camerata di Cremona wirkt nicht immer ganz sicher und passt sich der durchwachsenen Gesamtleistung an. Eine Oper, die – wenn sich die richtigen Stars ihrer annehmen würden – durchaus wieder eine Chance auf der Bühne bekommen könnte. Und die Aufnahmen mit Scotto (in gutem Stereo-Sound) oder Pedrini (sehr ordentliches Mono) zeigen, was große Gestalterinnen sind (2 CDs, Bongiovanni, GB 2472-2). G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Grauns „Iphigenia in Aulide“

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Das Ensemble barockwerk hamburg ist für seine außergewöhnlichen Projekte und eindrücklichen Programme bekannt. Insbesondere die Wieder-Aufführung von bisher unveröffentlichten Werken der hamburgischen Musikgeschichte erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Erstmals in Form eines Streaming-Konzerts stellte das Ensemble mit seiner Leiterin Ira Hochman nun die Oper Iphigenia in Aulis von Carl Heinrich Graun vor.

Die Geschichte der Königstochter Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert werden soll, gehört zu den klassischen Tragödien der griechischen Antike, die das Theater bis heute zu immer neuen Interpretationen inspirieren und die Zuschauer fesseln. Mit gerade einmal 24 Jahren begeisterte sich auch Carl Heinrich Graun an dem Stoff und komponierte vor 290 Jahren die Iphigenia in Aulis. Seine jugendlich frische und farbenfrohe Musik erklang zuletzt im Jahr 1731 auf der Bühne der hamburgischen Gänsemarkt-Oper. Im Zentrum des Werks steht die freiwillige und selbstlose Aufopferung der Iphigenie in den Zeiten der gesellschaftlichen Krise. Vaterliebe und Königspflicht, Treue und Verrat, Ironie und Intrigen und eine Hochzeit als Schlussakkord bieten alle Zutaten für eine opulente und abwechslungsreiche Barockoper. (Quelle Universität Hamburg)

Eine ausführliche Rezension von Bernd Hoppe folgt, danach  eine Einführung von der Dirigentin Ira Hochman zur neuen Einspielung bei cpo (2 CD 555 475-2).

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Mit ihrem Ensemble barockwerk hamburg hatte Ira Hochmann vor einigen Jahren schon Carl Heinrich Grauns Polydorus bei cpo auf CD veröffentlicht (s. Rezension in operalounge.de), nun legt sie des Komponisten Oper Iphigenia in Aulis nach (555 475-2, 2 CDs). Die Aufnahme entstand im März 2021 in der Christuskirche von Hamburg-Othmarschen.

Das Ensemble barockwerk hamburg im Lichthof der Hamburger Staatsbibliothek/ ebh

Das Libretto stammt von Georg Caspar Schürmann, der einen Text von Christian Heinrich Postel für Reinhard Keisers Die wunderbar errettete Iphigenia als Vorlage nutzte. Postel hatte gemäß der italienischen Barockoper eine zweite Liebesgeschichte hinzugefügt – die zwischen Deidamia und Achilles. Letzterer ist eine Tenorpartie in extremer Notierung, die Graun, der eine sehr hohe Stimme besaß, für sich selbst schrieb. In der Aufnahme nimmt sie Mirko Ludwig wahr, der die erste Arie von stürmischem  Zuschnitt, „Mit seinem Feinde herzhaft kämpfen“, beherzt angeht, doch in der Höhe an Grenzen stößt und im Klang zu buffonesk bleibt. Dagegen findet er in „Geliebte Seele“ im 3. Akt auch zu innigen Tönen. Die Sopranistin Santa Karnite hat als Deidamia ebenso viele Arien zu absolvieren wie die Titelheldin, was für die Bedeutung der Partie spricht. Der Auftritt mit „Armes Herz“ lässt eine klare, reine Stimme von instrumentaler Führung hören. In „Sollte Treu im Lieben sein?“ gibt sie ihrer Enttäuschung über die unglückliche Liebe zu Achilles nachdrücklich Ausdruck.

In der Titelrolle ist Hanna Zumsande zu hören, deren wenig individueller Sopran in der ersten Arie, „Treuer Liebe reine Flammen“, keinen rechten Kontrast zu Deidamias Stimme herstellt. In der Arie „Kann ich dir das Leben geben?“ zu Beginn des 2. Akt stört ein allzu jammernder Tonfall. Am besten gelingt ihr der Koloraturjubel in „Schönste Blumen“ im 2. Akt. Auch das getragene Arioso am Ende des 2. Aktes, „Wertste Seele“, ist geglückt. Iphigenias Mutter Clytemnestra gibt die Mezzosopranistin Geneviève Tschumi, ihren Vater Agamemnon der Bassist Dominik Wörner mit flexibler Stimmführung. Dessen vertrauter Freund Nestor ist doppelt besetzt – mit dem Tenor Ludwig und dem Bass Wörner, da seine Gesangsnummern vom Komponisten beiden Stimmfächern zugeteilt wurden. Clytemnestra hat mit „Stürmet noch einmal“ eine wirkungsvolle Auftrittsarie mit bewegten Koloraturläufen, die Tschumi überzeugend wiedergibt. König Thoas, unter dem Namen Anaximenes, ist eine besonders farbige Partie zugeordnet, welche der Altus Terry Wey solide ausfüllt. Gelegentlich, wie in der ersten Arie „Schönste Seele“, klingt sein Ton etwas larmoyant. Das getupfte „Augen, machet euch bereit“ im 2. Akt profitiert von delikaten Nuancen und das stürmische „Nach wilder Wellen Brausen“ am Ende vom forschen Zugriff. Die Besetzung komplettiert der Bariton Andreas Heinemeyer in der Rolle von Deidamias Diener Thersites, der in der Tradition der Hamburger Gänsemarkt-Oper als komische Figur fungiert. Er kommentiert und persifliert in hoher Tessitura, munter plappernd und mit lautmalerischen Effekten das Geschehen.

Der Schlusschor, „Es weiche, es fliehe der Kummer“, wurde Grauns Oper Caio fabricio entnommen, da er, ebenso wie alle Rezitative, in der Handschrift der Iphigenia fehlt.

Die Erfahrung der Dirigentin mit dem Werk Grauns spiegelt sich sogleich in der Ouvertüre wider. Das Orchester musiziert kultiviert und nobel, ist den Sängern ein verlässlicher Partner. Die Virtuosität in vielen Kompositionen Grauns findet man hier allerdings nur gelegentlich, insgesamt herrscht ein getragener, dem Oratorium naher Stil, dem auch Elemente des Singspiels eigen sind, vor. Bernd Hoppe

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Carl-Heinrich-Graun/ Wikipedia

Zu seinen Lebzeiten war Carl Heinrich Graun (1704–1759) als Komponist und erster Kapellmeister der Königlichen Oper in Berlin vor allem für seine italienischen Opern bekannt und umjubelt. Die Tatsache, dass er zuvor am Opernhaus am Braunschwei­ger Hagenmarkt und der Gänsemarkt-Oper in Hamburg mit deutschsprachigen Opern wichtige Grundsteine für die Entwicklung dieser Gattung gelegt hatte, wird bis heute kaum wahrgenommen. Dabei bemerkte schon im achtzehnten Jahrhundert der Hamburger Gelehrte und Musikschriftsteller Christoph Daniel Ebeling (1741–1817): „[Grauns deutsche Opern] haben so viel Melodie, Ausdruck und Neuheit, als man in manchen Arien seiner neuern [= italienischen Opern] nicht finden wird“.1 Eine Fest­stellung, die das Ensemble barockwerk hamburg nach seiner erfolgreichen Erstein­spie­lung der Oper Polydorus (cpo 555 266-2) nur unterstreichen kann, und die nun mit der Vorstellung eines weiteren frühen Werks des Komponisten, seiner Oper Iphigenia in Aulis (1728), erneute Unterstützung findet.

Geboren in Wahrenbrück, begann Carl Heinrich Graun seine Karriere schon als Sängerknabe an der Kreuzschule in Dresden. Als jüngster der drei Gebrüder Graun, die alle ausgezeichnete Musiker waren, genoss er die bestmögliche Musikausbildung seiner Zeit, erhielt Unterricht auf der Orgel, Cembalo, Cello, Laute und in Kompo­sition. Nach dem Stimmbruch wurde aus dem Knabensänger ein exzellenter hoher Tenor. Carl Heinrich komponierte zahlreiche Kantaten und Opernpartien für die eigene Stimme, darunter die extrem hohe Partie des Achilles in der Iphigenia in Aulis. Graun soll als Privatperson einen sehr angenehmen Charakter gehabt haben, so hatte er viele Freunde und Förderer, darunter den Dresdner Hofpoeten Johann Ulrich König. Dieser prominente Opernlibrettist vermittelte den jungen Sänger 1725 nicht nur an die Hagenmarkt-Oper in Braunschweig, sondern lieferte auch das Libretto zu seiner (vermutlich) ersten Oper Sancio, oder die in ihrer Unschuld siegende Sinilde. In Braunschweig debütierte Graun 1726 als Tenor in der Oper Heinrich der Vogler von Georg Caspar Schürmann. Er wurde bald auch kompositorisch tätig und bekam nach dem großen Erfolg seiner Oper Polydorus den Titel Vizekapellmeister. Zwischen dem deutlich älteren Hofkapellmeister Schürmann und Graun als Vertreter des moderneren Stils entstand ein kollegiales Verhältnis, eine damals typische Art von Teamwork. Graun schrieb Einlagearien für Schürmanns Opern, darunter Ludovicus Pius, Heinrich der Vogler und Clelia, Schürmann dichtete für ihn unter anderem den Text der Iphigenia in Aulis. Dieses Bühnenwerk soll die dritte von sechs in Braunschweig geschriebenen Opern Grauns sein.

Zu Grauns „Iphigenia“: das Hamburger Theater am Gänsemarkt/ Wikipedia

In seiner Studie zur Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper von 1863 dokumentiert der Musikwissenschaftler Friedrich Chrysander die etwas verwirrende Chronologie der Aufführungen von Grauns Iphigenia in Aulis folgender­maßen: „Um 1730. Iphigenia in Aulis. Eine ganz deutsche Oper, von welcher zwar nur ein Textbuch aus der Sommermesse 1734 vorliegt, die aber in diese Zeit gehören muss, weil sie mit Graun’s Musik schon 1731 in Hamburg war.“2 Tatsächlich wurde die dreiaktige Oper in Braunschweig bereits 1728 uraufgeführt, und die Gänsemarkt-Oper in Hamburg spielte das Werk dreimal im Winter 1731/32. Danach verschwand es für 293 Jahre aus dem Opernrepertoire.

Im Sprechtheater gehört Euripides‘ Iphigenie in Aulis zweifelsfrei zu den meist­gespiel­ten antiken Tragödien. Im Bereich des barocken Musiktheaters waren die mythologischen Opern zwar die beliebtesten Opernsujets, jedoch sind heute nur zwei Adap­tionen des Iphigenien-Mythos bekannt, Glucks Iphigénie en Aulide (Paris 1774) und Martín y Solers Ifigenia in Aulide (Neapel 1779). Dabei wurde auf der Bühne der Hamburger Gänsemarkt-Oper schon im Jahr 1699 die Oper Die wunderbar errettete Iphigenia von Reinhard Keiser gespielt. Dessen Librettist Christian Heinrich Postel schrieb in seinem Vorbericht, dass ihm Euripides‘ „vortreffliches Trauer-Spiel“ als Grundlage diente. Postel fügte der Handlung eine Liebesgeschichte zwischen Deidamia und Achilles hinzu, um der üblichen Dramaturgie einer Barockoper zu entsprechen. Das wiederum zog es nach sich, möglichst eine Intrige als Nebenstrang und eine komische Figur für die Unterhaltung des Publikums in die mythologische Handlung einzupflegen. Die Musik dieses „Singe-Spiels“ hat sich leider nicht erhalten. Der zeitgenössische Druck des Librettos hingegen ist heute digital zugänglich.3

Zu Grauns „Iphigenie“: Uraufführungs-Kostüm für Arcas/ BDO

Genau dieses Libretto diente 1728, also fast 30 Jahre später, Georg Caspar Schür­mann als Grundlage für den Text der Iphigenia in Aulis. Die Handlung wurde von ihm von fünf auf drei Akte gekürzt und die Rezitativtexte wurden gestrafft. Der Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson übte daran harsche Kritik und schrieb, es sei „die 32 Jahre alte, schöne Postelsche Poesie […] lästerlich verschnitten, weggewor­fen, zerstümmelt, vertauscht und geflickt“ worden.4 Bei einem weniger polemischen, sachlichen Vergleich der Textbücher wird offensichtlich, dass den Kürzungen insbesondere Ensembles und Interaktionen zwischen Charakte­ren zum Opfer fielen, die zuvor wahrscheinlich in kürzeren musikalischen Formen ver­tont worden waren. Schürmanns Bearbeitung des Librettos bewegt sich also in Rich­tung der klassischen Struktur einer Barockoper mit ihrer Abfolge von Da-Capo-Arien und Rezitativen.

Zwei unvollständige Handschriften der Iphigenia in Aulis aus den Hofkapellen in Braunschweig-Wolfenbüttel und Sondershausen werden heute im Niedersächsischen Landesarchiv Wolfenbüttel5 und in der Stadtbibliothek Sondershausen aufbewahrt.6 In ihnen fehlt leider die Musik zu sämtlichen Rezitativen, den drei Chören, dem abschließenden Auftritt der Diana mit allen Beteiligten sowie dem Schlusschor. Deren Texte sind aber in den zeitgenössischen Drucken des Hambur­ger und des Braunschweiger Librettos (beide 1731) enthalten, von denen Exemplare in den Beständen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und des Landes­archivs Wolfenbüttel aufbewahrt werden. Darüber hinaus ist die Quellenlage insofern unübersichtlich, als dass sich manche Arien ausschließlich in einer der beiden Musik­quellen befinden und manche, obwohl sie zur selben Rolle gehören, verschiedenen Stimmfächern zugeordnet sind. Das letztere Rätsel kann eigent­lich nur darauf zurück­­­geführt werden, dass die bei den verschiedenen Auf­führungen für die Besetzung die­ser Rollen engagierten Sänger nicht der ursprüng­lichen Stimm­zuweisung entsprachen und man entweder die Arien transponierte oder neu komponierte. Abgesehen von diesen offenen Fragen ist eine Fülle an höchst inspirierender Musik vorhanden, darunter die Ouverture, sowie 35 Arien, und es wäre mehr als schade, dieses umfangreiche Werk weiterhin ungespielt in den Archiven liegen zu lassen.

Zu Grauns „Iphigenia“: Der SchauspielerLavigne, in der Rolle des Achilles / BDO

Mit Blick auf heutige Aufführungen stellt sich somit die Frage: Wie unvollständig ist Iphigenia in Aulis tatsächlich? Stellen wir dazu einen Vergleich an. Sowohl eine der bekanntesten Opern von Georg Friedrich Händel, die dreiaktige Giulio Cesare in Egitto als auch Grauns fünfaktige Oper Polydorus weisen 37 Musiknummern auf. Wir können daraus schließen, dass wohl nur sehr wenige Stücke der Iphigenia in Aulis fehlen. Dennoch benötigte die Oper für unsere Erst-Wiederaufführung einen Schlussgesang. Wir haben uns erlaubt, diesen aus Carl Heinrich Grauns Oper Caio fabricio (GraunWV B:I:14) von 1746 zu entlehnen. Deren Schlusschor „La gloria è un gran bene“ ließ sich problemlos der Text des Schlusschors aus Schürmanns Iphigenia-Libretto unterlegen. Die letzte Arie des Anaximenes (Altus), „Nach wilder Wellen brausen“, die überraschenderweise im Bassschlüssel notiert ist, wurde eine Oktave nach oben versetzt und damit dem Rest der Partie angeglichen. Die Rolle des Nestor, ein Freund Agamemnons und der­jenige, der die Schlüsselbotschaft über die Opferung der Iphigenia überbringt, behielt die Diversität der Stimmfächer: Nestor singt das Eröffnungsduett mit Agamemnon als Tenor, während seine spätere Arie „Wo ungerechte Götter thronen“ dem Bass zugeteilt ist und auf unserer Aufnahme von dem Bassisten Dominik Wörner vorgetragen wird.

Zu Grauns „Iphigenia“: Titelseite des Hamburger Librettos (Staats- und Universitatsbibliothek Hamburg, Signatur: 281 in MS 639/3:20)

Es ist erstaunlich, wie feinsinnig der 24-jährige Komponist die Charaktere seiner zwei­ten beziehungsweise dritten Oper gestaltet hat. Iphigenia ist unschuldig und unerfahren, und dennoch mutig und entschieden. In der Arie „Schönste Blumen, meine Wonne“ begießt sie mit ihren Tränen die Blumen. Graun verzichtet hier auf die tiefen Bassinstrumente und bringt so die Musik zum Schweben. Todesmutige Opferbereitschaft hingegen zeigt Iphigenia in der großangelegten und dennoch schlichten Arie mit Hörnern und Oboen d’amore „Lebe wohl, ich muss dich lassen“. Für die Rolle der Deidamia schrieb Graun ebenso viele Arien wie für die eigentliche Hauptpartie der Iphigenia. Er muss diesen Charakter sehr gemocht haben. Ihre Musik besticht durch eine berührende Ehrlichkeit der Gefühle. Ihre Enttäuschung in der Liebe zu Achilles hört man insbesondere in der Arie mit Oboen d’amore und ostinaten Violinen „Sollte Treu im Lieben sein“, während die Arie „Treuloses Herz, verkehrter Sinn“ ihrer Verzweiflung Ausdruck verleiht. König Agamemnon, Iphigenias von Zweifeln geplagter Vater, wird musikalisch in einem archaischen, an oratorische Musik gemahnenden Stil gezeichnet.

Die facet­ten­reiche und sehr anspruchsvolle Tenorpartie des Achilles komponierte Graun für sich selbst. In der Arie „Geliebte Seele, weine nicht“ zeugt sein Gesang im Dialog mit dem obligaten Cello, einem Instrument, dass Graun selbst gut beherrschte, nicht nur von Achilles‘ kriegerischen Zügen, sondern auch von seinen liebevollen Eigenschaften und von Momenten voller Mitgefühl. Diese Arie, im Grunde ein Duett zwischen Stimme und Violoncello, ist eine herausragende Komposition im Hinblick auf den Anspruch an die beiden Partner und die musikalische Qualität. Der skyti­sche König Thoas unter dem falschen Namen Anaximenes ist vielleicht die kontrast­reichste Partie der Oper, die dementsprechend besonderes farbig vertont ist. Die Affekte reichen von sehr verliebt in der Arie „Schönste Seele, deine Lippen“ über todessüchtig in den Arien „Augen, machet euch bereit“ und „Ach, Iphigenia“ bis hin zu aufbrausend in den spektakulären Koloraturen der schon erwähnten Arie „Der wilden Wellen brausen“. Iphige­nias Mutter Clytemnestra zeigt sich einerseits in ihren Pflichten gefangen, andererseits rebellisch gegen das Schicksal und die Götter. Besondere Beachtung verdient die Rolle des Thersites, Deidamias Diener. Er stellt eine volkstümliche, komische Person dar, die vor allem für die Hamburger Gänsemarkt-Oper typisch ist. Kommentierend greift er in stimmlich extrem hoher Lage in die ernste Handlung ein. Er lacht aus, pointiert und provoziert. Seine geschwätzigen Kommentare bilden einen Kontrast zur Innigkeit und Ehrlichkeit von Deidamias Gefühlen. Die Männersitten werden verspottet, „denn bei Jungen und bei Alten hat noch keiner Wort gehalten.“

Die Dirigentin und Prinzipalin Ira Hochman/ barockwerk hamburg

Sollte Grauns Iphigenia in Aulis eines Tages zu einer theatralischen Wieder­aufführung kommen, kann man unsere Entscheidungen über den Schluss der Oper sowie eine Lösung für die verlorengegangene Rezitativ-Vertonungen neu über­denken. Für eine weitergehende Vervollständigung der Oper könnte man zudem auf eine zusätzliche Quelle zurückgreifen. Graun schrieb 1748 in Berlin Ifigenia in Aulide (GraunWV B:I:18), eine italienische Oper mit dem Libretto von Leopoldo di Villati nach Jean Racines Iphigénie en Aulide (Paris 1674). Sowohl die Sprache als auch der spätere Kompositionsstil Grauns eig­nen sich nicht direkt für eine Entlehnung von Musik, dennoch könnte man sich für die fehlende Opferungsszene der Iphigenia auf jeden Fall an der Instrumentalmusik bedie­nen und die Ansprache der Göttin Diana mit dieser Musik unterlegen. Man könnte das Stück als Singspiel mit gesprochenen Rezitativtexten spielen oder die Rezitative neu vertonen lassen.

Wir haben uns für eine konzertante Aufführung mit modernen Zwischentexten entschieden. Wir wagen die Voraussage, dass diese Oper mit einigen Hilfsgriffen hervorragende Chancen auf ein erfolgreiches Bühnenleben haben wird. Dafür spricht Grauns Musik, die von so herausragender Qualität und melodischer Schönheit ist. Ira Hochman 

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Quellen:  1) Charles Burney, Tagebuch seiner musikalischen Reisen, aus dem Englischen übersetzt von Christoph Daniel Ebeling, Bd. 3, Hamburg 1773, S. 175.  2) Friedrich Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für musikalische Wissen­schaft, Bd. 1, 1863, S. 147–286.  3) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: 81 in MS 639/3: 5   4) Zitiert nach Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Capelle und Oper (siehe oben).  5) Zeitgenössisches Manuskript, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, Signa­tur: 6 Hs 17 (Nr.11)  6) Handschriftlicher Stimmensatz, Stadtbibliothek Sondershausen, Signatur: Mus. A 1: 3.

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Die Abbildung oben zeigt einen Ausschnitt aus Tiepolos Monumentralgemälde der „Ifigenia in Aulide“ in der Villa Valmerana bei Vicenza/ Wikipedia. Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier

Gelungene Inszenierung

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.Na, bitte, man kann als Regisseur eigene Ideen in eine Produktion einbringen, ohne ein Werk zu entstellen, eine Bühne kreieren, ohne in einem Waschsalon oder einer Autowerkstatt zu landen, Kostüme entwerfen, die nicht einer Kleiderkammer der Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts zu entstammen scheinen und sogar auf Fluchtkoffer gänzlich verzichten, und man hat etwas geschaffen, das gleichermaßen Libretto und Musik wie dem Streben nach etwas noch nie Dagewesenem entspricht. Das alles gelungen ist Regisseurin Monique Wagemakers, deren liebevolle Aufmerksamkeit einfühlsamer Personenregie am Gran Teatre del Liceu von Barcelona sichtbar den drei Hauptpersonen von Verdis Rigoletto galt, denen sie eine amorphe Masse von Höflingen gegenüber stellt, aus der sich weder ein Marullo noch ein Borsa herausheben kann. Sehr einfühlsam herausgearbeitet ist von der Regie das Verhältnis Rigoletto-Gilda als ein nicht nur fürsorgliches, sondern auch einengendes und bedrückendes. Das Schaffen einer atmosphärisch dichten Optik gelingt auch Bühnenbildner Michael Levine mit einer denkbar kargen, aber ihre Funktionen erfüllenden Bühne, mal ein Rechteck, in dem die Höflinge kaserniert sind oder das sie umringen, mal eine steile Treppe, auf der Gilda ihr Caro nome jubiliert, die aber auch Spelunke, Mincio-Ufer und Gewitterchor miteinander verbinden kann. Die Kostüme von Sandy Powell schließlich belassen das Stück in der Renaissance und ermöglichen so das Eintauchen in eine weitere, die historische Dimension. Dem Regieteam, das sich mit ebenso viel Respekt für die Tradition wie Aufgeschlossenheit für neue Ideen dem Stück genähert hat, steht mit Riccardo Frizza ein Dirigent gegenüber, der bestens vertraut ist mit dem Werk Verdis und der gemeinsam mit dem Orchester des Liceu großzügige Phrasierung und mitreißendes Brio miteinander vereinen kann. Das trifft auch auf den Herrenchor unter Conxita Garcia zu.

Hervorragend ist der Rigoletto von Carlos Alvarez, und es liegt sicherlich nicht nur daran, dass er Spanier ist, wenn ihm der meiste Beifall des Hauses zu Teil wird. Kraftvolles Aufbegehren, genüssliches Ausholen zu einem „Cortigiani, vil razza dannata“, natürlich eine mitreißende Vendetta in generöser Phrasierung und Fermatenseligkeit sind ihm eine unangestrengte Selbstverständlichkeit, dazu kommt ein so ausdrucksstarkes wie differenzierendes Spiel. Die der Partie des Duca angemessene voce brillante hat der Tenor Javier Camarena, ideal für „Quest‘ o quella“ und „La donna è mobile“, federnd für Rezitativ und Cabaletta seiner großen Arie, am ehesten in „Parmi veder le lacrime“ lyrisches Potential vemissen lassend. Seit vielen Jahren ist Désirée Rancatore eine geschätzte   Gilda, die optisch inzwischen etwas matronenhaft wirkt, deren Sopran aber höhensicher  geblieben ist und „Caro nome“ mit zusätzlichen Verzierungen singen kann, dessen Mittellage jedoch eher gewelkt als gereift ist. Mit schlankem, dunklem und durchschlagskräftigem Bass singt Ante Jerkunica einen vorzüglichen Sparafucile, Ketevan Kemoklidze  ist eine optisch wie akustisch verführerische Maddalena. Noch eindrucksvoller könnte man sich das Maledetto des Monterone von Gianfranco Montresor wünschen. Insgesamt ist dieser Rigoletto ein Gewinn auch für denjenigen, der bereits viele Aufnahmen des Werks besitzt (C-Major 763804). Ingrid Wanja 

Geschichtsstunde mit Raritäten

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Anders als in der Oper greifen Schauspielmusiken in aller Regel nicht in die Handlung und deren Entwicklung ein; sie bilden üblicherweise nur illustrierenden Hintergrund. Die Musik, die Gioachino Rossini 1817 zu der Tragödie Edipo a Colono (Ödipus auf Kolonos) von Sophokles komponierte, ist ein Unikat im gesamten Repertoire der italienischen Musik jener Zeit. Dort hielt man wenig von der Gattung der Schauspielmusik und zog die Verbindung von Musik und Drama, also die Oper vor. Rossini erhielt den Auftrag zur Komposition der Musik zur Sophokles-Tragödie nicht – wie man annehmen sollte – von einem Theater, sondern vom italienischen Dichter Giambattista Giusti (1758-1829), der das Drama ins Italienische übertragen hatte. In einem vorausgehenden Diskurs erläuterte Gusti sein Ziel, die schlichte Schönheit der Originalsprache Sophokles‘ wieder aufleben zu lassen, mit besonderem Augenmerk auf die in den griechischen Tragödien so wichtigen Chöre. Bei der Entstehung der Komposition für Solo-Bass und Männerchor, jeweils mit Orchester-Begleitung, gab es erhebliche Verzögerungen, weil Rossini hauptsächlich mit „Barbiere“ und „Cenerentola“ beschäftigt war. Ob und wann Rossinis Musiche di scena erstmals aufgeführt wurde, ist bis heute unklar geblieben. Die erste moderne Aufführung von seiner Musik zu Edipo a Colono fand 1982 beim Rossini Opera Festival in Pesaro statt. Da sie zusammen mit der gesamten Tragödie von Sophokles als Begleitmusik gespielt wurde, darf man annehmen, dass die damalige Aufführung nicht allzu weit von der Art und Weise entfernt war, wie es sich Giusti in den 1810er-Jahren vorgestellt hatte. (Vorstehende Informationen sind dem Beiheft entnommen, das einen ausführlichen, sehr informativen Aufsatz von Francesco Milella enthält.)

Die vorliegende CD ist ein Live-Mitschnitt der konzertanten Aufführung der mit knapp 45 Minuten  relativ kurzen Schauspielmusik beim Rossini Opera Festival 2022 in Pesaro. Der argentinische Opernsänger Nahuel Di Pierro deutet acht Rezitative und zwei Arien ausdrucksstark aus, indem er seinen markanten Bass abgerundet und sicher durch alle Lagen führt.  Mit ausgesprochen ausgewogenem Klang gefällt der von Mirca Rosciani einstudierte Herrenchor des Coro del Teatro della fortuna. Bass und Chor werden von der ausgezeichneten Filarmonica Gioachino Rossini begleitet; die souveräne Gesamtleitung hat Fabrizio Ruggero. Die Einspielung dieser Rarität ist eine gelungene Sammlungsergänzung für Rossinini-Freund (Audax ADX 11207).

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Unter dem Titel  Splendours of the Gonzaga hat Arcana jeweils kürzere geistliche Chorwerke herausgebracht, die führende Musiker am Hof der bis 1630 in Mantua herrschenden Gonzaga-Familie komponiert haben. Es sind dreizehn  Stücke von den Komponisten Amante Franzoni, Giovanni Giacomo Gastoldi, Claudio Monteverdi, Benedetto Pallavicino, Salomone Rossi und Giaches de Wert. Das 2014 im lombardischen Vimercate gegründete Ensemble Biscantores, hier bestehend aus zwanzig Sängerinnen und Sängern sowie drei Instrumentalisten (Viola da Gamba, Erzlute und Orgel) entwickelt unter der umsichtigen Leitung seines fachkundigen Gründers Luca Colombo typische Renaissance-Klänge. Dabei gefällt besonders, wie schlank und bestechend intonationsrein allen die Stimmführung gelingt, ohne wunderbar ausgewogene Klangentfaltung zu vernachlässigen (Arcana A545).

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Nicola Matteis der Jüngere – wer ist das? Nur ausgewiesenen Spezialisten dürfte dieser Violinist und Komponist aus dem frühen 18. Jahrhundert bekannt sein. Um ihn dreht sich die bei Signum aus Anlass der Krönung von George III. herausgekommene Doppel-CD unter dem Titel An Englisman abroad. Matteis wurde in London als Sohn eines italienischen Vaters (Nicola Matteis der Ältere) und einer englischen Mutter um 1677 geboren. Er erhielt Violin-Unterricht durch seinen Vater, ebenfalls Violinist und Komponist, und wurde im Stil Henry Purcells ausgebildet. 1700 verließ er England, um an den kaiserlichen Hof in Wien zu gehen. Dort wirkte er unter Johann Joseph Fux in der Wiener Hofmusikkapelle; ab 1712 war er Direttore della musica instrumentale und von 1714 bis zu seinem Tod 1737 Komponist der höfischen Ballettmusiken, die zumeist am Ende eines Aktes, in Opern von Conti, Ziani, Caldara, Bononcini, Fux und anderen eingesetzt wurden. Die Zusammenstellung der Stücke auf den CDs kann man als karolingisch bezeichnen, denn sie wurden für Charles II. von England oder für Kaiser Karl VI. geschrieben. Das bereits seit 1994 bestehende britische Barock-Ensemble Serenissima wird von seinem Gründer und Konzertmeister Adrian Chandler geleitet, der auch in den beiden Violinkonzerten, die die Doppel-CD enthält, die Sologeige übernommen hat. Zu hören sind von Nicola Matteis zwei Werke, das Violinkonzert B-Dur und die abschließende Ballettmusik zu der Oper La Verità nell’Ingano von Antonio Caldara, dessen Ouvertüre ebenfalls gespielt wird. Der gradlinige, sehr transparente Klang des renommierten Streichensembles mit seinen historischen und entsprechend nachgebauten Instrumenten gefällt gerade auch in diesen Stücken des Spätbarocks, wozu die blitzsaubere Strichführung des Sologeigers bestens passt. Mit derselben Intensität und stilgerechten Interpretation werden die übrigen Werke der Doppel-CD musiziert, das Violinkonzert  Il Favorito von Antonio Vivaldi, die Ouvertüren-Suiten von Georg Philipp Telemann und Giuseppe Antonio Brescianello, dessen Chaconne A-Dur die CD abschließt, während entsprechend der Ausbildung von Matteis eine Chaconne in g-Moll von Henry Purcell die Reihe der barocken Stücke eröffnet (signum CLASSICS SIGCD751).

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Das kanadische Label ANALEKTA hat unter dem Titel Clara, Robert, Johannes einen Zyklus von vier Doppel-CDs herausgebracht, die je zwei Sinfonien von Robert Schumann und Johannes Brahms mit Liedern und anderen Werken meist aus dem Bereich der Kammermusik von Clara Schumann verbinden. Die Doppel-CD mit beiden dritten  Sinfonien mit dem Untertitel Atmosphère e Maestra enthält von Clara drei aus ihren etwa 30 Liedern, Quatre pièces fugitives op.15, die g-Moll-Klaviersonate und das Klaviertrio op.17. Durch das in allen Gruppen gut disponierte Orchestre du Centre National des Arts du Canada (NCA) erfahren beide Sinfonien eine gediegene, klangschöne Wiedergabe, bei der jeweils die Neigung des souveränen Dirigenten Alexander Shelley zu eher getragenen Tempi deutlich wird.  Die kanadische Sängerin Adrianne Pieczonka interpretiert gemeinsam mit der unaufdringlichen Pianistin Liz Upchurch Am Strande, An einem lichten Morgen und Heinrich Heines Lorelei mit farbenreichem Sopran. Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero kostet die Melodiebögen und aufrauschenden Arpeggien in Clara Schumanns Klaviersonate g-Moll genüsslich aus, so dass ihr eine insgesamt überzeugende Ausdeutung gelingt. Die jeweils kurzen Quatre pièces fugitives op.15 interpretiert der aus Kanada stammende Pianist Stewart Goodyear entsprechend ihrem Titel mit der nötigen Leichtigkeit. Gemeinsam mit dem Konzertmeister des NCA Yosuke Kawasaki und der Solo-Cellistin des Orchesters Rachel Mercer musiziert er das mit seinen vier Sätzen vielseitige Klaviertrio op.17, das durch die schwungvolle Interpretation aller Sätze, besonders des schwelgerischen Andante und des spritzigen Scherzo durchweg positiven Eindruck hinterlässt  (Analekta AN 2 8882-3). Gerhard Eckels

Dicke Sauce Bourgignon

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Hulda, komponiert zwischen 1879 und 1885, wurde zu Lebzeiten von César Franck nie aufgeführt und wartete mehr als ein Jahrhundert, bevor es erstmals vollständig aufgeführt wurde. Inspiriert von einem norwegischen Theaterstück von Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910), erzählt diese blutige mittelalterliche Legende von der mehrfachen Rache der Titelheldin gegen den Aslak-Clan, die Peiniger ihrer Familie, und dann gegen Eiolf, einen Abgesandten des norwegischen Königs, der sich als untreuer Liebhaber entpuppt. Obwohl die nordischen Bilder an die Wagnerschen Inszenierungen erinnern, bleibt der Komponist in der Tradition der französischen Grand Opéra und übernimmt die Sprache, die Verdi zu dieser Zeit verwendete. In Paris von der Opéra und der Opéra-Comique und in Brüssel vom Théâtre de la Monnaie abgelehnt, wurde diese ehrgeizige Oper zu einer großen Enttäuschung für einen Komponisten, der dazu verdammt war, nur im instrumentalen Bereich bewundert zu werden. Der Tod Francks weckte jedoch ein neues Interesse an seinen unveröffentlichten Werken, und das Theater von Monte Carlo plante die Premiere von Hulda im März 1894 mit Blanche Deschamps-Jéhin in der Titelrolle. Das Werk, das in einer gekürzten Fassung und in einer minimalistischen Inszenierung aufgeführt wurde, löste keine leidenschaftlichen Reaktionen aus. Die Franck-Schüler haben es daraufhin geschickt zu den Akten gelegt: Sie zogen es vor, ihn als Komponisten absoluter Musik in Erinnerung zu behalten, und machten sich den Ruhm zu eigen, die Wiederbelebung der französischen Oper zu verkörpern. Diese Fragen sind heute überholt, und uns bleibt Hulda: „eine hochfliegende Partitur, die vor Erfindungsreichtum nur so strotzt, mit einer ergreifenden suggestiven Kraft und einer lyrischen Qualität von höchstem Niveau“ (Joël-Marie Fauquet). Quelle Palazzetto Bruzane 

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Francks „Holda“: Jennifer Holloway (Hulda), Gergely Madaras (Dirigent) und das Orchestre Philharmonique Royal de Liège (in der Salle Philharmonique)/ Foto Anthony Dehez

Francks Hulda gibt es natürlich neben der alten korrupten italienischen Version der RAI bei einst Melodram – bereits als Mitschnitt vom Theater Freiburg bei Naxos (s. Rezension der Aufführung und der CD und sowie die Vergessene Oper in operalounge.de).

Die neue Aufnahme beim Palazzetto Bru Zan ist ab dem 22. Juni 2023 verfügbar und wird von Gergely Madaras mit dem  Orchestre Philharmonique Royal de Liège Chœur de Chambre de Namur dirigiert. Es singen  Jennifer Holloway, Véronique Gens, Judith van Wanroij Marie Gautrot, Ludivine Gombert, Edgaras Montvidas, Matthieu Lécroart, Christian Helmer, Artavazd Sargsyan, François Rougier, Sébastien Droy, Guilhem Worms und Matthieu Toulouse. Das CD-Buch enthält neben den 2 CDs und der Trackliste Aufsätze von Alexandre Dratwicki, Through the trapdoor of history; Gérard Condé, Modulez, modulez !; Alfred Bruneau, Hulda at the Théâtre de Monte-Carlo; Vincent Giroud, Nordic and Merovingian inspiration in late nineteenth-century French opera; Synopsis sowie das zweisprachige Libretto.

Die Musik zum Leuchten bringen

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In wenigen Jahren hat sich der Italiener Vincenzo Milletarì als einer der gefragtesten Dirigenten der jüngeren Generation etabliert. Erst etwas über 30 dirigiert er seit einigen Jahren besonders viel in Skandinavien, hat aber auch schon international große Erfolge feiern können. Etwa im Jahr 2020 bei seinem Debüt beim Macerata Opera Festival mit Il trovatore, damals als jüngster Dirigent in der Geschichte des Festivals. Oder letztes Jahr mit einer vielbeachteten Produktion von Donizettis Frühwerk L’aio nell’imbarazzo beim Festival Donizetti Opera und dieses Jahr bei seinem Frankreich-Debüt in Tours mit Donizettis Deux hommes et une femme. Nun gibt er in einer Operngala mit Carmela Remigio und Freddie De Tommaso sein Debüt beim Kissinger Sommer. Mit Beat Schmid hat er unter anderem über eben jenes Konzert gesprochen, über seine Zeit als Schüler Riccardo Mutis, seinen Werdegang.

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Ich bin in Süditalien geboren und aufgewachsen. Dort habe ich begonnen, Klarinette und Komposition zu studieren. Mit 18 Jahren zog ich zunächst nach Mailand und dann nach Deutschland, wo ich Dirigieren studierte. Abgeschlossen habe ich mein Studium dann in Kopenhagen an der Royal Academy of Music.

Vincenzo Milletarì/ Foto Marco Borelli

Wie ist es, bei einer lebenden Legende wie Riccardo Muti zu studieren? Ich war noch recht jung und ich wünschte, ich könnte jetzt, mit mehr Erfahrung nochmals sein Schüler sein. Natürlich war es atemberaubend. Sein Genie, seine handwerklichen Fähigkeiten als Musiker, sein Wissen als Interpret sind etwas Einzigartiges. Was er mir gelehrt hat, wird mir immer fest in Erinnerung bleiben. Ich schätze mich wirklich glücklich, diese Gelegenheit gehabt zu haben.

Haben Sie eine größere Affinität zur Instrumentalmusik oder zur Oper? Ich wuchs mit einer seltsamen Mischung aus Jazz und zeitgenössischer Musik post Darmstädter Schule auf und verliebte mich dann in die großen Meister des symphonischen Repertoires. Jetzt fühle ich mich im Orchestergraben eines Opernhauses sehr wohl, aber eine gute Woche mit Symphonien ist immer etwas Tolles.

Was sind die größten Herausforderungen beim Dirigieren von Symphonie- und Opernmusik? Auch wenn das eigenwillig klingen mag, besteht die größte Herausforderung darin, hinter der Musik zu verschwinden, die Musik und den Komponisten zum Leuchten zu bringen. Und wenn das passiert, man während des Konzerts spürt, wie das Orchester regelrecht fliegt ist das für mich das größte Glück.

Sie eröffnen den Kissinger Sommer mit einer italienischen Operngala. Wie wird das Programm aufgebaut sein? Das Programm wird eine Reise durch Werke der größten Komponisten des italienischen Repertoires sein, natürlich mit einer kleinen Ausnahme (Tschaikowski). Die erste Hälfte des Programms ist dem Belcanto und dem Verismo-Repertoire gewidmet und die zweite Hälfte Shakespeare und Italien. Deshalb werden wir Macbeth und Otello von Verdi spielen und die Stücke mit einer großartigen Ouvertüre von Tschaikowski über Romeo und Julia einleiten.

Haben Sie auch Oper in Deutschland dirigiert? Bisher nicht. Ich wurde in den letzten Jahren einige Male eingeladen, konnte aber aufgrund anderer Engagements nicht. Ich habe allerdings bereits ein Konzert in Nürnberg dirigiert, und nun bin ich in Bad Kissingen und freue mich auf das Konzert hier. Und ich denke, dass in Zukunft mehr in Deutschland kommen wird.

Vincenzo Milletarì/ Foto Marco Borelli

Sagen sie doch mal Sie Ihren(n) Lieblingsopernkomponist(en) und warum. Natürlich Verdi, der menschlichste aller italienischer Komponisten. Mit seiner Musik erzählte er ein ganzes Jahrhundert, von seinen sozialen, politischen und persönlichen Kämpfen. Wir verdanken Verdi die Vereinigung Italiens und einen großen Teil der Identität unseres Landes.

Sie haben sowohl Opera seria, als auch Opera buffa dirigiert: Was sind die Herausforderungen beider Genres und haben Sie eine Vorliebe? Die opera buffa ist meiner Meinung nach viel schwieriger als die opera seria. Die buffa erfordert viel Arbeit und Vorbereitungen während der szenischen Proben mit dem Regisseur, um das richtige Timing zwischen Schauspiel und Musik zu finden, ganz zu schweigen davon, wie heikel die Arbeit an den Rezitativen ist. Opera seria, insbesondere im romantischen Repertoire, ist näher an der symphonischen Musik. Das Orchester erzählt gemeinsam mit der Bühne eine Geschichte, die Farben sind reicher und kräftiger

Und zum Schluss Ihre anstehenden Engagements? Abgesehen von der Operngala in Bad Kissingen dirigiere ich im Sommer meine erste Tosca in Aarhus. Nächste Spielzeit kommt dann La Cenerentola in Oslo, Suor Angelica in Mailand, Rigoletto in Prag, eine Neuproduktion des Barbiere di Siviglia in Stockholm und Konzerte mit dem Bergen Philharmonic Orchestra.  Das Interview führte Beat Schmid (Foto oben: Marco Borelli)

Und noch eine …

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Noch einmal, ehe Corona über das Kulturleben auch Italiens hereinbrach, hatte zu Sant‘ Ambrogio 2019 die traditionelle Inaugurazione der Opernsaison halb Milano auf die Beine gebracht, die einen, um Juwelen und Pelze auszuführen, die anderen, um gegen Tierquälerei zu demonstrieren. Der Staatspräsident hatte in der Mittelloge Platz genommen, die Nationalhymne wurde beklatscht, aber nicht gesungen, und zum allerersten Mal, man glaubt es kaum, war Puccinis Tosca an einem 8. Dezember in der Scala zu erleben. Wie inszeniert man eine Tosca zu einem so besonderen Ereignis an diesem besonderen Ort? German Trash will man sich nicht vorwerfen lassen, aber auch nicht als verstaubt und altmodisch gelten. So entschieden sich David Livermore (Regie) und Giò Forma (Bühne) für auf und niederfahrende Säulen, Statuen und Gemälde für den ersten Akt, zu einer Art tanzender Architektur, durch die nicht nur das bekannte Personal sich seinen Weg suchen musste, sondern auch viele Nonnen, die dann im zweiten Akt auch Scarpias Gemach bevölkerten, dazu noch das Personal riesiger Gemälde mit Szenen aus Heiligenlegenden, deren Figuren ab und zu zum Leben zu erwachen schienen, ohne aber in das Geschehen einzugreifen. Für den dritten Akt dann hatte das Regieteam sich etwas ganz Besonderes neben einem sich drehenden Engelsflügel ausgedacht: Tosca springt, und ein Double sinkt und schreit (stumm) und steigt schließlich, umgeben von einer Gloriole, empor in den Himmel, wo hoffentlich nicht Scarpia bereits auf seine Aburteilung wartet. Für Mitteleuropäer mag das schrecklicher Kitsch sein, für das Publikum in der Scala, dem Applaus nach zu urteilen: Bellissimo.

In diesem Ambiente tummelt sich das Personal in Kostümen der Entstehungszeit des Werkes, symbolträchtig könnte es sein, dass Toscas Gewand (Kostüme Gianluca Falaschi) im zweiten und dritten Akt bis zu den Knien blutrot ist, als wate sie durch dasselbe, während Scarpias und  seiner Schergen Kostüme mit roten Flecken übersät sind. Viel wird auch mit Farbwechseln gearbeitet, so überzieht Schwarz das Gemälde der Attavanti, werden die Heiligen blass, wenn es unter ihnen zu heftig , der Folterkeller für kurze Zeit sichtbar wird. Trotz des eine ganz andere Stimmung vermittelnden Vorspiels zum dritten Akt ziehen pausenlos schwarze Gewitterwolken dräuend über die Engelsburg hinweg. Es gibt also sehr viel zu sehen, von Personenregie ist weniger zu bemerken.

Sind die Augen ob all der Pracht, der aufdringlichen Symbolik, der Massen von Personal oft irritiert, so genießen die Ohren ein wahres Fest, angefangen vom Orchester unter Riccardo Chailly, das ein wunderbares Vorspiel zum dritten Akt zaubert, auch im Fortissimo stets klar konturiert bleibt, die Musik blühen und leuchten lässt. Machtvoll und doch gebändigt singt der Chor das Te Deum.

An einigen Stellen horcht man auf, weil Ungewohnte erklingt, so nach „Ma fa gli occhi neri“, nach dem „Vissi d’arte“ und ganz zum Schluss. Chailly hatte die Urfassung, so wie Tosca 1900 in Rom uraufgeführt wurde, gewählt, und wieder einmal wurde der Beweis erbracht, dass Komponisten nicht ohne Bedacht Änderungen an ihren Partituren vorgenommen haben.

Fast ohne Fehl und Tadel sind die Sänger. Alfonso Antoniozzi ist ein eher würdiger als lächerlicher Sagrestano, Carlo Bosi ein besonders fieser Spoletta mit krähendem Charaktertenor, Carlo Cigni ein sonorer Angelotti.

Einen prachtvollen, urgesunden Bariton setzt Luca Salsi für den sardonisch grinsenden Scarpia ein, wie alle anderen ist er beispielhaft textverständlich. Genau auf der für die Partie angemessenen Grenze zwischen lyrischem und Spintotenor ist Francesco Meli als Cavaradossi mit strahlenden Acuti, triumphalem „Vittoria“ und hochkultiviertem „E lucevan le stelle“. Dazu sieht er noch gut aus wie der junge Puccini. Ein Jahr nach ihrem Rollendebüt an der MET ist Anna Netrebko in der Partie der Tosca wahrlich angekommen mit dunkel getöntem, in allen Lagen gleich gut ansprechendem, ebenmäßig gefärbtem Sopran der leuchtenden Höhen und präsenten tiefen Lage. Da gibt es nichts auszusetzen, wenn man in Tosca mehr die leidenschaftliche Frau aus dem Volk als die raffinierte Sängerin sieht, der man es abnimmt, dass sie sich nicht mit Messerstichen begnügt, sondern Scarpia mit gekonntem Würgegriff den Rest gibt (C-Major 76340). Ingrid Wanja           

Ungetrübtes Vergnügen

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Wer denkt nicht sofort an das Ältere-Damen-Ballett, dem es wegen des Tragens von Sombreros verwehrt wurde, auf einer Gartenschau aufzutreten, weil es sich damit des Delikts „kulturelle Aneignung“ schuldig gemacht hatte, wenn er das Cover zu Jacques Offenbachs La Périchole sieht?  Da prangt mitten in Peru auf dem Haupt einer Spanierin ein üppiger Kopfschmuck, der zweifellos dem der indianischen Ureinwohner zuzuordnen ist. Auch sonst geht es munter durcheinander mit indianischem und spanischem Brauchtum, und wenn am Schluss, bei einem Offenbach-Werk fast unverzichtbar, alle Cancan tanzen, dann wirbeln alle vergnügt durcheinander, als wenn es weder Standes-, Ethnien- oder sonst welche Grenzen zwischen den Menschen gebe.

Nun ja, wir sind nicht im ideologieverbiesterten Deutschland, sondern in Paris, wo man an der Opéra Comique in schöner Unbefangenheit einfach nur gut unterhalten will, was auch gelingt, schon allein, weil alle Mitwirkenden sicht- und hörbar mit Freude und Engagement bei der Sache sind. Audrey Vuong hat naiv-sparsame Kulissen in hellen, bunten Farben auf die Bühne stellen lassen, Vanessa Sannino mild bis drastische karikierende Kostüme entworfen, je nach Stand und Vermögen, so den Vizekönig Andrés de Ribeira recht albern erscheinen lassend, den armen alten Gefangenen in der Nachfolge des Grafen von Monte Christo trotz ellenlangen Weihnachtsmannsbartes doch noch ziemlich würdig. Es geht um das Straßensängerpaar Périchole und Piquillo, natürlich arm, aber schön, in dessen weiblichen Teil sich der Vizekönig von Peru verliebt, was gewinnbringend, aber nicht ungefährlich ist. Am Ende und nachdem sich die Granden des Hofes lächerlich gemacht haben, siegt beim König die Großmut, ganz allgemein und in verschiedenen Formen die Liebe, nur der arme Alte muss wieder ins Gefängnis, weil er sich an seine Straftat nicht mehr erinnern, er  deswegen auch nicht begnadigt werden kann.

Das alles läuft ungeheuer zügig, aber nicht überhastet, urkomisch, aber nicht diffamierend, freizügig, aber nicht obszön ab, und der Zuschauer wird in eine fast so gute Laune versetzt, wie sie auf der Bühne zu herrschen scheint. Tiere auf derselben sind immer ein Risiko, die aus Stoff, so von freundlichen Lamas, französischen Bulldoggen oder die Hinterteile von Pferden, aus denen deren Äpfel fallen, ganz und gar nicht, sondern eine fröhliche Bereicherung des Geschehens. Und „gespielt“ wird auch noch nach dem Verklingen der letzten Note, wenn er Solobeifall sehr individuell entgegen genommen wird.

Stéphanie D’Oustrac spiet die Titelfigur mit viel Charme und einer farbig-weichen Mezzostimme, akustisch wie optisch elegant, köstlich in der Arie einer Beschwipsten und von schöner Melancholie, wenn es einmal schief geht mit den intriganten Plänen. Ihr Partner ist Philippe Talbot mit strapazierfähigem Tenor, optisch ein Sancho-Pansa-Typ, vokal weit edler. Mit schütterer Stimme gibt Tassis Christoyannis den Vizekönig sympathisch vertrottelt, Éric Huchet und Lionel Peintre als Kanzler und Gouverneur stehen ihm in nichts nach. Von tragischer Komik ist Thomas Morris als alter Gefangener, schöne Stimmen haben die drei Kusinen Julie Goussot, Marie Lenormand und Julia Wischnewski als Cousinen bzw. Hofdamen. Der Choir Les eléments unter Martin Surot ist so spritzig-witzig wie das Orchester unter Julien Leroy. Wer unbeschwert genießen will, ziehe sich diese sehr französische, aber weder spanische noch peruanische, Aufnahme zu Gemüte (Naxos NBDo168V). Ingrid Wanja