Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Aus Warschau zum Dritten

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Unermüdlich setzt das Label Château de VERSAILLES seine Bemühungen um die Katalog-Erweiterung des französischen Barock-Repertoires fort. Im Falle von Jean-Marie Leclairs Tragédie-lyrique Scylla et Glaucus handelt es sich allerdings nicht um eine Ersteinspielung, denn 1986 nahm John Eliot Gardiner das Stück mit seinen English Baroque Soloists für Erato auf und sorgte damit viele Jahre für die einzig verfügbare Aufnahme. Erst 2016 kam bei Alpha eine neue Version unter Leitung von Sébastien D’Hérin heraus. Die aktuelle, hier vorliegende Produktion entstand im April 2021 in Warschau als Bestandteil der Collection Château de Versailles Spectacles (CVS068, 3 CDs).

Die Tragédie kam 1746 an der Pariser Opéra heraus, kurz vor dem 50. Geburtstag des Komponisten, dessen einzige Oper sie blieb. Das Libretto von d’Albaret folgt Ovids Metamorphosen und schildert das Schicksal der Nymphe Scylla, die die Annäherungsversuche des Halbgottes Glaucus zurückweist, worauf dieser sich an die Zauberin Circé wendet mit der Bitte, die Nymphe zu verzaubern. Circé jedoch verliebt sich in Glaucus und verwandelt Scylla in ein monströses Ungeheuer. An der Meerenge von Messina versetzt dieses künftig die Seeleute in Angst und Schrecken.

Das Werk in fünf Akten beginnt gemäß der Tradition mit einem Prologue, in welchem dem König gehuldigt wird. Sodann trägt der 1. Akt den Charakter einer Pastorale, der 3. wird bestimmt von einem maritimen Divertissement, der 4. mit dem Feuer speienden Vesuv schildert eine veritable Höllenszene und der 5. schließlich die finale Katastrophe. Dass Leclair ein Geigenvirtuose war, spiegelt sich auch in seiner Komposition wider. Sie ist einfallsreich und vielfältig, zeugt von dramatischem Gespür und den technischen, vor allem kontrapunktischen Fähigkeiten ihres Schöpfers.

Der ehemalige Musikdirektor der Warschauer Kammeroper Stefan Plewniak gründete 2012 das Ensemble Il Giardino d’Amore, mit welchem er bereits mehrere Projekte für das Label Château de Versailles realisierte. Seine Lesart profitiert vom energischen Zugriff, pulsiert mit furioser Dramatik, lässt aber auch delikate Momente von zauberischer Wirkung vernehmen (wie die Musette und das Menuet im 1. Akt). Die Besetzung weist drei Hauptrollen auf und sie alle sind blendend besetzt. Die Schweizerische Sopranistin Chiara Skerath, eine gestandene Mozart-Sängerin, bewältigt die hohe Tessitura der Scylla souverän, imponiert mit leuchtender, klangvoller Stimme und berührt ungemein in ihrer Todesszene am Ende. Die männliche Titelrolle nimmt der gleichermaßen als Tenor wie haute-contre erfolgreiche Mathias Vidal wahr. Einen jugendlichen Liebhaber vermag er nicht mehr abzugeben, doch ist er bemüht um einen schwärmerischen Klang und stilistisch noch immer erste Wahl. Circé, die ab dem 2. Akt auftritt, wird geprägt von hohem dramatischem Anspruch, besonders in Akt 4. Die Kanadierin Florie Valiquette vermittelt ihre Liebe zu Glaucus mit sinnlich flirrendem Sopran (05.08.23). Bernd Hoppe

Italiens neues Belcanto-Festival

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Nur noch wenige Monate trennen uns von der zweiten Ausgabe des Nationalen Festivals Il Belcanto ritrovato in Pesaro im August 2023, bei dem es möglich sein wird, Werke zu hören, die während einer goldenen Periode der italienischen Oper komponiert wurden, etwa vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die wir nach fast zwei Jahrhunderten wieder ans Licht gebracht haben.

Spiritus rector und der Mann hinter der Organisation ist Rudolf Colm, Initiator und Superintendent des IBR, der in einem Gespräch seine Vision für das ambitionierte neue Festival ausbreitet:

Seit meiner Kindheit, d.h. seit über fünfzig Jahren, war ich ein echter Fan der Musik von Gioachino Rossini. Daher besuchte ich das Rossini Opera Festival von Anfang an.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Ich begeisterte mich allgemein für die Musik des italienischen Belcanto und anderer großer Komponisten wie Donizetti, Bellini und dem frühen Verdi. Irgendwann fragte ich mich, ob es nach diesen Musikern keine anderen mehr gäbe, und begann zu recherchieren und entdeckte eine außergewöhnliche Fülle italienischer Komponisten und ihrer Opern, die alle fast völlig vergessen waren. Ich zählte über 60 Komponisten mit insgesamt fast 1.300 Werken. Ich dachte, dass das Beste davon irgendwie den Weg zurück auf die Bühne finden sollte.

Ich sprach über diese Idee mit einigen Freunden in Mailand und Pesaro. So entstand im Jahr 2021 die Idee, ein Festival zu veranstalten, das ausschließlich diesen so genannten „kleinen Komponisten“ (compositori minori)und ihren Werken gewidmet ist.

Unsere Initiative „Il Belcanto ritrovato“ („Der wiederentdeckte Belcanto“) zielt darauf ab, vergessene italienische Komponisten, Opern und Musikstücke aus der Belcanto-Periode (1800-1850) wiederzuentdecken und wieder zum Leben zu erwecken.

Jedes Jahr hat das Festival „Il Belcanto ritrovato“ einen „kleineren“ Komponisten als Hauptthema („Hauptkomponist“) mit eigenen Konferenzen, auch wenn viele Stücke und Arien anderer italienischer Komponisten der Belcanto-Periode zu hören sind. Der Hauptkomponist des Jahres 2022 war Pietro Generali mit der farsa Cecchina suonatrice di ghironda nach 199 Jahren der Vergessenheit. In diesem Jahr wird Luigi Ricci mit seiner Oper Il birraio di Preston an der Reihe sein, nachdem sie 149 Jahre lang von den Bühnen verschwunden war.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Pietro Generalis farsa „La Cecchina di Ghironda“ 2023/ Foto Luigi Angelucci/IBR

Das IBR ist eine Initiative des Orchestra Sinfonica Rossini (OSR), eines Orchesters mit Sitz in Pesaro und Fano, das vom Ministerium für kulturelles Erbe, Aktivitäten und Tourismus (Mibact) und von der Region Marken anerkannt ist. OSR ist Initiator, Organisator und Ausführender von Sinfonica 3.0, einer landesweit bekannten Sinfoniekonzertreihe. Neben den großen italienischen Theatern trat es international in Japan, China, Südkorea, Malta, der Türkei, Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweden und der Schweiz auf. Neben der regelmäßigen Teilnahme am Rossini Opera Festival nahm es auch an renommierten Konzertsaisons und Festivals wie dem Ravello Festival oder dem Festival delle Nazioni teil. Im Jahr 2014 gewann OSR den Oscar della Lirica („Oscar der lyrischen Musik“) mit der DVD der Oper „Aureliano in Palmira“ von Gioachino Rossini, einer Produktion des Rossini Opera Festivals, die live auf Rai1 (dem wichtigsten italienischen Fernsehsender) aufgeführt wurde. Im Jahr 2016 trat OSR erneut im italienischen Fernsehen (auf Canale5) für die B&Z Night (Bocelli and Zanetti Night) auf.

Unser Festival findet dieses Jahr vom 24. August bis zum 4. September in der Region Marken (Mittelitalien) statt, hauptsächlich in der Stadt Pesaro und in anderen Städten in der Nähe (Urbino, Fano, Recanati und Matelica), an absolut einzigartigen Orten.

Das Programm für 2023 besteht aus vier verschiedenen Aufführungen und zwei Konferenzen. Alle Aufführungen werden aufgezeichnet.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Pietro Generali/ IBR

Am 24. August eröffnen wir in Fano die zweite Ausgabe unseres Festivals mit einem ganz besonderen Konzert I Nostri per Rossini mit berühmten Arien aus Rossinis Opern, die eigentlich nicht von Rossini selbst stammen, sondern von einigen seiner Kollegen und Freunde, wie Michele Carafa, Stefano Pavesi, Luca Agolini und einigen anderen. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte werden diese Stücke unter dem Namen ihres eigentlichen Komponisten aufgeführt!

Am 25. August wird in Pesaro das melodramma giocoso Il birraio di Preston des Neapolitaners Luigi Ricci aufgeführt. Luigi Ricci ist der Autor der berühmtesten neapolitanischen Tarantella; leider weiß niemand, dass diese Musik Teil des Finales einer anderen Oper von Luigi Ricci La festa di Piedigrotta ist.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Michele Caraja/IBR

Wir werden auch zwei Konzerte mit regionalem Akzent präsentieren. Das eine ist Il Belcanto marchigiano mit Arien von wichtigen Komponisten der Region Marken wie Nicola Vaccaj, Lauro Rossi, Giuseppe Persiani und einigen anderen. Das andere wird In viaggio col Belcanto sein: Napoli mit Arien aus Opern der neapolitanischen Belcanto-Schule wie Nicola Zingarelli, Michele Carafa, Carlo Coccia und einigen anderen.

Alle Konzerte werden von einer Einführung und Erläuterung der Komponisten/Arien begleitet – ein Format, das sowohl Experten als auch Neueinsteiger ansprechen soll.

Il belcanto ritrovato Pesaro: Rudolf Colm und seine Kollegen (u. a. der Sovrintendenti Saul Salucci, der direttore artistico Daniele Agiman und Paolo Rosetti)/IBR

Außerdem veröffentlichen wir die zweite Ausgabe der Broschüre „Imaginäre Interviews“, die kurze „Interviews“ mit den vergessenen italienischen Komponisten der Belcanto-Periode enthält, um ihr Leben und ihre Werke besser kennen zu lernen.

Schließlich werden alle Veranstaltungen der zweiten Ausgabe von 2023 aufgezeichnet, und die ersten beiden werden auf dem YouTube-Kanal „Il Belcanto ritrovato“ live gestreamt. Bei Bongiovanni kommt die erste CD (Generalis Cecchina vom vergangenen Jahr) heraus. Weitere Informationen und Details über das Programm und das Festival sind auf der Website der Organisation https://www.ilbelcantoritrovato.it/ zu finden. (Quelle IBR; das Programm des IBR für 2023 s. unsere News-Seite)

Euclides Fonsecas „Leonor“

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Es wird den treuen Lesern von operalounge.de aufgefallen sein, dass wir uns seit Jahren verstärkt den nationalen Opern anderer Länder widmen, Opern, deren Bedeutung eben im Nationalen Aufbruch  liegt, eben solche die wichtig sind als Seismograph nationaler Entwicklungen. Oft sind sie Indikatoren von Freiheitsbestrebungen gegen Besatzungen oder soziale Verwerfungen oder sogar deren Instrumente zu einem gesellschaftlichen/politischen/konstitutionellen Umbruch wie Verdis Nabucco oder Ivan Zajc´ Nicolas Zrinski Subic im Kampf gegen die besatzenden Österreicher oder auch gegen Osmanen (so Carrers Marcos Botsaris). Freiheitsliebe ist neben sozialen oder politischen Spannungen das häufigste Motiv. Und diese Opern stellen auch nationale Defekte wie Sklaverei oder die Missachtung indigener Gruppen bloß wie Gomes dies tat und nun auch weiterer Landsmann.

Der Komponist Euclides de Aquino Fonseca (Recife, 6. Januar 1853 – Olinda, 31. Dezember 1929))/Wikipedia

Opern aus Brasilien – da fällt dem Kenner eben nur Carlos Gomes (* 11. Juli 1836 in Campinas; † 16. September 1896 in Belém) mit seinen inzwischen auch in Europa gelegentlich gespielten Werken ein. Wir haben in operalounge.de viel über ihn berichtet. Aber Opern aus der brasilianischen Provinz ohne das europäische backing, wie Gomes es dank seiner Ausbildung in Mailand hatte? Aus der Provinz? Ja! Spätestens seit dem 19. Jahrhundert. Leonor ist die erste Oper, die von einem aus Pernambuco stammenden Euclides Fonseca komponiert wurde, deren Material noch verfügbar ist. Sie wurde nur einmal, am 7. September 1883 in Refice im Teatro Santa Isabel, aufgeführt und nun mehr als 100 Jahre später, 2019, in ihrer ursprünglichen Konzeption in einer weiteren Aufführung am selben Ort erneut präsentiert. Das Projekt sollte diese historische Missachtung des Werks und des Autors beheben, indem es eine Oper mit nationalistischem Charakter rettete, die auf der Insel Itamaracá zur Zeit der holländischen Besetzung im 17. Jahrhundert in Pernambuco spielt.

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Diese erste, portugiesisch gesungene Oper aus der brasilianischen Provinz Pernambuco wurde 2019 Jahren in Recife aufgeführt –die moderne Erstaufführung der „Handlung in einem Akt“, Leonor, des Komponisten Euclides de Aquino Fonseca (Recife, 6. Januar 1853 – Olinda, 31. Dezember 1929) aus Pernambuco, Provinz in Brasiliens, in ihrer Gesamtheit

Das Werk passt zur Schule der Romantik, die damals auch in Brasiliens von der Oberschicht getragenen Kultur in Musik und Literatur ihre späten, letzten Momente erlebte.  Leonor zeigt die typische Musik aus der Blütezeit von Antônio Carlos Gomes. Man suchte eine Anpassung an das Modell der europäischen Musik, die seit der Besatzung durch die Europäer als wahre Kulturmusik galt. Sie erfordert von den Sängern eine immense stimmliche Virtuosität, die zeigt, dass Recife ein gewisses, anspruchsvolles Opern-Leben hatte. An seiner Art zu schreiben ist es bemerkenswert, dass sich der Komponist auf diesem Gebiet zu Hause fühlte.

Zu Fonsecas „Leonor“/Schluss-Szene Aufführung 2019/Foto Ribeiro/ ganze Oper auf youtube

Neben diesen europäischen ästhetischen Einflüsse zeigt die Oper ein weiteres sehr charakteristisches Merkmal der Romantik: den Nationalismus – da sie in die Zeit der Entstehung der nationalen Identität Brasiliens und der südamerikanischen Nachbarländer fällt. Dieses Merkmal erscheint in mehreren Aspekten: Die Handlung wird auf Portugiesisch gesungen, der Schauplatz ist in Itamaracá, wobei der Chor aus einzelnen Charakteren besteht, die die lokale Nachbarschaft, Fischer, Frauen der Insel und holländisches Personal repräsentieren. Der Krieg gegen die Holländer ist ein weiteres patriotisches Thema.

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Es ist dies ein nationales Thema aus der nationalen Literatur, das sich mit einer für Brasilien ganz besonderen folkloristischen Legende befasst. Das war auch zu einer Zeit, als in Brasilien – wie bei Gomes – auf Italienisch gesungen wurde. Die portugiesisch gesungene Oper Leonor hingegen war Teil einer Gegen-Bewegung, die nach nationaler Identität strebte, losgelöst von europäischen Einflüssen. Dennoch geriet Leonor in Vergessenheit, da der Komponist selbst für Eingeweihte heute ein illustrer Unbekannter ist.

Zu Fonsecas“Leonor“ 2019: das Teatro Santa Isabel in Refice/Wikipedia

Im vom Adel und eines prosperierenden Bürgertum bevölkerten Rio de Janeiro und anderen Städten Brasiliens kann die Oper von Euclides Fonseca auch als Produkt der Zeit ihrer Entstehung gewürdigt werden, als Spiegelbild jenes Übergangs, den wir heute als brasilianische Belle Époque kennen, die das Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhunderts markiert. Die Stadt Recife war neben Rio de Janeiro und Salvador und neben den Bundesstaaten Amazonas und Pará (Vertreter des Kautschukbooms) sowie São Paulo und Minas Gerais (Vertreter der Kaffeeregion) voll integriert in diese schnelle,. hektische wirtschaftliche Wachstumsperiode, kosmopolitisch ausgerichtet, mit bedeutenden Veränderungen in Kultur, Kunst, Politik und auch in der Technologie Brasiliens. Diese Periode, bekannt als das Goldene Zeitalter oder sogar als die tropische Belle Époque, erstreckte sich über die Jahre 1871 bis 1922, also das Ende des Imperiums. In Bezug auf die Künste zum Beispiel konnte Brasilien in dieser Zeit auf die Einweihung des Teatro Amazonas (1896), des Teatro da Paz (1878), des Teatro Municipal do Rio de Janeiro (1909) und auch des Teatro Municipal de São Paulo (1911) blicken. Die Künste suchten die Nähe zu französischen und italienischen Idealen, und die durch die Industrialisierung veränderte Wirtschaft garantierte den herrschenden Klassen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. So hatte die Belle Époque in mehreren Bereichen ihren Einfluss auf die nationale Wirtschaft.

In Bezug auf die Musikproduktionen und insbesondere die Opern von Euclides Fonseca hat die schöne Zeit auch schöne Musik hervorgebracht. In Bezug auf Fonsecas Libretti stellt man fest, dass die melodischen Linien und harmonischen Konstruktionen ziemlich vorhersehbar sind, wodurch die Schönheit der Gesangslinie und folglich die Schönheit der Klangfarben, die in diesen Werken zu finden sind, überlagert werden. Das elektrisierende Tempo des damaligen gesellschaftlichen Lebens lässt sich z. B. an den Frauenfiguren von A Princesa do Catete ablesen, deren Charakterzeichnungen die Jahrzehnte spätere Frauenbilder vorwegnehmen, so in Bezug auf Gleichheit und Freiheit der Gefühle.

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Leonor, die erste Oper, die von einem Einheimischen aus Pernambuco komponiert und 1883 aufgeführt wurde, geriet im Laufe des Jahrhunderts in Vergessenheit. Es ist die Geschichte eines adligen und jungen Mädchens, das sich in Antônio, einen schlichten  Indio, verliebt. Mit dem Hindernis für die Ehe aufgrund des Abgrunds der sozialen Klasse beschließt der junge Mann, sich auf der Suche nach Reichtum und Ruhm in den Krieg gegen die Holländer zu stürzen . Die Jahre gehen vorbei, aber er kehrt nicht zurück und wird für tot gehalten. So fällt Leonor in eine tiefe Depression. Aber der Junge kehrt als gereifter Mann in die Stadt zurück, diesmal aber als Priester. Es geht um ein Wiedersehen mit einem tragischen Ende, das hilft, die Entstehung Legende der Jasmin-Mango-Bäume zu verstehen: eine heute unbekannte Legende, genau wie diese Oper von einem weiteren Relikt der Populärkultur von Pernambuco, Die Legende von Jasmine Mangoes (aus dem 17. Jahrhundert), inspiriert.

Die Aufführungen von 2019 fanden im Teatro de Santa Isabel statt, derselben Bühne, auf der die Oper am 7. September 1883 gegeben wurde, noch vollständiger als in der Fassung des 19. Jahrhunderts, die ohne Mittel für Kulissen, Kostüme und im Orchesterformat aufgeführt wurde – mit Musikern auf der Bühne, anders als heute im Theater, wo die Kapelle im Graben spielt. Die Ausstattung von Marcondes Lima (Kostüme und Kulissen) in Refice basierte auf Werken von Franz Post und Albert Eckhout: Maler, die damals die niederländischen Truppen begleiteten. Als Einakter dauert Leonor etwa 1 Stunde und ist für drei Solisten komponiert – Sopran/Mezzosopran (Leonor), Tenor (D. Antônio – Diel Rodrigues/Lucas Melo) und Bariton (D. Nuno [Anderson Rodrigues / Tiago Costa] – Leonors Bruder), einen Chor aus gemischten und ein Symphonieorchester. Dirigent war Wendell Kettle. Das Ganze gibt es – wie auch Fonsecas Kurz-Oper Il Maledetto – in trüber Dunkelheit aber akustisch erfreulich auf youtube.

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Zu Fonsecas „Leonor“/ der Komponist – ein schöner Mann mit elegantem Schnauzbart/Wikipedia

Der Komponist: Der 1854 in Recife geborene Euclides de Aquino Fonseca war der musikalischer Exponent der Region und für Brasilien erwähnt als erster Opernkomponist in Pernambuco. Diesem Komponisten schuldet der Staat einen Lorbeerkranz, da er die ruhmreichen musikalischen Traditionen der Region rehabilitiert hat.  Euclides Fonseca wird’s oft als Gegner der Sklaverei (Abolitionist) , war Komponist, auch Musikkritiker, Lehrer, Gründer der offiziellen Normalschule von Recife und des Pernambucano Musical Center, Pianist und Dirigent des herausragenden Club Carlos Gomes, einem Amateurkünstler Gesellschaft, die aktiv im 19. Jahrhundert in der Provinz Pernambuco war. Als Professor an der Brasilianischen Musikakademie – war Fonseca eine der Säulen der musikalischen Tradition im Bundesstaat Pernambuco. In seiner am Tag seines Todes 1929 verfassten Autobiographie schreibt Euclides Fonseca, dass er eingeladen wurde, sein Klavierstudium in Deutschland fortzusetzen, aber er lehnte ab, weil er befürchtete, seinem Heimatland gegenüber undankbar zu werden und sich von seiner Familie zu entfernen.  Sein Schaffen umfasst vielfältige Kategorien, in denen man Stücke für Soloklavier, Kammerlieder, Orchesterkompositionen, Opern und Operetten findet, darunter Leonor, Il Maledetto (2023 wieder aufgeführt), A Princesa do Catete, As Donzelas d Honor. Von 1870 bis 1890 sieht man den größten Umfang seines musikalischen Schaffens. Euclides de Aquino Fonseca (1853-1929) war ein prominenter Verteidiger der Erinnerung und der Werte seiner Heimat; er war ein renommierter Pianist und Komponist. Als Kritiker und Pädagoge arbeitete er als Kolumnist für die Zeitungen Diario de Pernambuco und Jornal do Recife, außerdem war er Korrespondent für wichtige Zeitschriften in Europa, wo er Rezensionen über zeitgenössische Musik schrieb.

Zu Fonsecas „Leonor“: Euclides Fonseca und Künstlerkollegen/von links nach rechts: Paulo de Oliveira, der Maler Euclides Fonseca und Edgar Franco, stehend lovis de Gusmão, Farias Gama, Bruno de Menezes und de Campos Ribeiro. Dieses Foto wurde in der Zeitschrift Belém Nova (1920er Jahre) und in der Zeitschrift Amazônia (1950er Jahre) veröffentlicht. In den 1920er Jahren leitete Bruno de Menezes eine Gruppe von Intellektuellen an der Spitze der Zeitschrift „Belém Nova“, und dieses Foto zeigt die Ankunft des aus Pernambuco stammenden Künstlers Euclides A. Fonseca in der Stadt Belém/Foto Ribeiro

Euclides Rodrigues Pimenta da Cunha (so der volle Name) wurde am 20. Januar 1866 in Fazenda Saudade im Distrikt Santa Rita do Rio Negro, heute Euclidelândia, in Cantagalo, RJ, geboren. Er war der Sohn von Manuel Rodrigues Pimenta da Cunha und Eudóxia Alves Moreira da Cunha. Seine Mutter starb an Tuberkulose und ließ ihn im Alter von 3 Jahren mit seiner Schwester Adélia verwaist zurück. Er lebte bei seinen Onkeln und zog nach Bahia in das Haus seiner Großmutter väterlicherseits, wo er ein Jahr verbrachte. Im Alter von 13 Jahren kehrte er nach Rio de Janeiro zurück, wo er an 4 Schulen studierte. Am Colégio Aquino war er Schüler von Benjamin Constant, der ihn stark beeinflusste. Während dieser Zeit schrieb er viele Gedichte, die unter dem Titel „Ondas“ zusammengefasst wurden. Mit 19 Jahren entschied er sich für Ingenieurwesen, besuchte die Polytechnische Schule von Rio de Janeiro, eine teure Schule, die den Schwierigkeiten der Familie nicht gewachsen war. Im Alter von 20 Jahren trat er 1886 in die freie Militärschule (Praia Vermelha) ein, die ihm auch den Titel eines Ingenieurs einbrachte, und fand Benjamin Constant, der sich der republikanischen Bewegung anschloss. Am 19. November 1889, 4 Tage nach der Ausrufung der Republik, wurde Euclides wieder an der Militärschule eingesetzt. Er heiratete am 10. September 1890 im Alter von 24 Jahren Ana Emília Ribeiro, 18 Jahre alt, Tochter von General Solon Ribeiro. 1891 schloss er das Studium an der Escola Superior de Guerra mit dem Titel Bachelor of Mathematics, Physical and Natural Sciences ab. 1892 wurde er zum Oberleutnant befördert. Allmählich wurde Euclides von der Republik enttäuscht. Marschall Deodoro da Fonseca, Proklamierer und erster Präsident, inszenierte einen Putsch und schloss den Nationalkongress, was den Aufstand der Marine provozierte. Um dies zu vermeiden, trat Deodoro zurück. Der Vizepräsident, Marechal Floriano Peixoto, übernahm die Macht, anstatt eine neue Präsidentschaftswahl abzuhalten. Er eröffnete den Kongress wieder, der ihn zu unterstützen begann. Die Marine rebellierte erneut und Floriano stand ihr in einem monatelangen Bürgerkrieg gegenüber.

Zu Fonsecas „Leonor“: der von Fonseca anfangs unterstützte Marschall Floriano Peixoto spielte eine unrühmliche Rolle in den Bürgerkriegen der Zeit/ Centro Memoria/ Das Kaiserreich Brasilien (portugiesisch Império do Brasil) war ein Staat im Osten Südamerikas und bestand von 1822 bis 1889 auf dem Gebiet der heutigen Republiken Brasilien und zunächst auch Uruguay, das bereits 1828 seine Unabhängigkeit von Brasilien erlangte. Die beiden Kaiser Peter I. und Peter II. entstammten dem Haus Braganza. Das Kaiserreich entstand aus dem Vereinigten Königreich von Portugal, Brasilien und den Algarven. Die Monarchie wurde nach dem Putsch vom 15. November 1889 beseitigt und die erste brasilianische Republik gegründet.
Für die Zeit der portugiesischen Könige in Brasilien (1808–1821) ist die Bezeichnung Königreich Brasilien (Reino do Brasil) üblich, die Regierungszeit von Peter I. (1822–1831) wird als Erstes Brasilianisches Kaiserreich (Primeiro Império do Brasil) bezeichnet und diejenige von Peter II. als Zweites Brasilianisches Kaiserreich (Segundo Império do Brasil). Im Gegensatz zu den meisten benachbarten hispanoamerikanischen Republiken besaß Brasilien nach der Unabhängigkeit politische Stabilität, ein dynamisches Wirtschaftswachstum, verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit und die Achtung der Bürgerrechte seiner Untertanen, allerdings mit rechtlichen Einschränkungen für Frauen und Sklaven. Das Zweikammerparlament des Reiches wurde für die Zeit, wie auch die Provinz- und Lokalparlamente, unter vergleichsweise demokratischen Methoden gewählt.Wikipedia

Euclides kämpfte für Floriano, distanzierte sich jedoch von ihm, als er Zeuge von Gewalt seiner Anhänger wurde. Euclides veröffentlichte Artikel, in denen er die Florianistas kritisierte, und wurde mit der Versetzung in die Stadt Campanha in Minas Gerais bestraft, wo er den Auftrag erhielt, ein Krankenhaus in eine Kaserne umzuwandeln … Enttäuscht von der Republik und ihren Führern gab er seine Militärkarriere auf und wurde 1896 von der Aufsichtsbehörde für öffentliche Arbeiten des Bundesstaates São Paulo als Hilfsingenieur erster Klasse eingestellt. 1897 wurde er von Júlio de Mesquita eingeladen, Kriegsberichterstatter in Canudos im Sertão von Bahia zu werden.

Am 14. März 1898 lebte Euclides bereits mit seiner Frau und zwei Kindern, dem 6-jährigen Sólon und dem 4-jährigen Euclides Filho („Quidinho“) in São José do Rio Pardo. Sie lebten in der Rua 13 de Maio, in dem Haus, in dem sich heute die Casa de Cultura Euclides da Cunha befindet. Und 1901 wurde in derselben Stadt ihr drittes Kind geboren, Manuel Afonso Ribeiro da Cunha. Neben der Überwachung der Brücke schrieb Euclides sein Buch Os Sertões.  Und am 18. Mai 1901 wurde die Brücke wiedereröffnet. 1902 erschien die 1. Auflage des überaus erfolgreichen Buches Os Sertões, das ihm die sofortige Wahl in die Brasilianische Akademie der Gelehrten garantierte.

Er verbrachte das Jahr 1905 im Amazonas, überquerte den Fluss Purus bis zu seinem Quellgebiet im benachbarten Peru, wo er plante, das Buch „Paraíso Perdido“ zu schreiben, skizziert, aber nicht vollendet. Und 1909 nahm er an einem Logikwettbewerb für das National College (nach D. Pedro II) teil, er wurde zum Professor ernannt, obwohl er den zweiten Platz belegt hatte. Schwerkrank, in einer Krise seiner Ehe, enttäuscht über das Schulversagen seiner Kinder, unzufrieden mit der politischen Situation des Landes, wagte Euclides den fatalen Schritt in seinem Leben. Noch 1909, genauer gesagt am 15. August, dringt Euclides in das Haus ein. Dilermando de Assis, der Liebhaber seiner Frau, trifft ihn mit mehreren Schüssen, wird aber von ihm mit vier Schüssen getötet. In zwei Prozessen, da im ersten ein Gleichstand zwischen Verurteilung und Freispruch bestand, wurde Dilermando im zweiten wegen „Notwehr“ freigesprochen. Was für ein  Finale: operneif. Geerd Heinsen

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Euclides Kurzoper „Il Maledetto“ wurde ebenfalls in Refice, 2023, aufgeführt/Szene/youtube

Wie immer hat ein Artikel über ein so obskures Werk und einen in Europa absolut unbekannten Komponisten viele Väter, zumal alle verfügbaren Dokumente in Portugiesisch verfasst sind, nicht eben eine sehr geläufige Sprache für einen deutschen Journalisten. Daher haben die hier zusammengetragenen Texte viele heterogene Quellen, Theaterberichte und Lexikoneinträge aus brasilianischen Unterlagen, die in ihrer Vielfalt hier nicht aufzuführen sind. Zum Nachhören gibt es das akustisch mäßige Dokument von 2019 wie schon erwähnt bei youtube, und die historische und zeit-politische Bedeutung der Oper scheint uns einen Artikel in der Reihe Die vergessene Oper zu rechtfertigen, auch bei gelegentlich etwas holpriger Übersetzung dank DeepL. Geerd Heinsen

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Entstaubt: Die Salzburger Karajan-Opern

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Als „eine der denkwürdigsten Opernaufführungen der jüngeren Operngeschichte“ preist C-Major die Blu-ray-Ausgabe mit Verdis Don Carlo in Salzburg von 1986 unter der Stabführung und in der Regie des späten Herbert von Karajan an (die zusammen mit ebenfalls den Achtzigern entstammenden Aufnahmen von Don Giovanni, dem Verdi-Requiem und Falstaff nun Blu-ray-mäßig aufgepeppt auf dem Markt erschienen ist). Allerdings ist sie denkwürdig leider auch in einem Sinne, den das Label sicherlich nicht meinte. Musikfreunden war dieser Don Carlo immer recht verdächtig wegen der Unterschlagung von einer knappen halben Stunde Musik, so der jeweils zweiten Strophe der Canzone di Velo, Elisabettas Abschied von der Aremberg, und auch Posa muss vokale Federn lassen. Wurde bei den Herren das Beste vom Verfügbaren engagiert, so lässt die Besetzung der beiden großen Frauenpartie sehr zu wünschen übrig, denn die Elisabetta verfügt nur über das, was man in Italien una vocetta nennt, die Eboli über einen sogenannten soprano corto.

Optisch ist erst einmal alles in den Dekorationen von Günther Schneider-Siemssen historisch getreu, üppig und der berühmten Visconti-Inszenierung mit edlen Vierbeinern, die von Kleinwüchsigen (Darf man Zwerg noch sagen?) an der Leine geführt werden, recht ähnlich. Personenregie findet nicht statt, das heißt, sie erschöpft sich in überlieferten Standardgesten. Die Kostüme von Georges Wakhevitch könnten Gemälden von Goya oder Velasquez entsprungen sein.

Heikel schien zunächst die ad-hoc-Besetzung des Filippo mit Ferruccio Furlanetto, der ganz kurzfristig für den erkrankten José van Dam eingesprungen war, zu sein, denn er war immerhin ein Jahr jünger als sein Bühnensohn José Carreras. Aber auch optisch nicht aus der Altherrenrolle fallend, macht der Friaulaner seine Sache sehr gut mit so machtvollem wie kultiviertem Bassgesang. Piero Cappuccilli lässt sein Bora-gestähltes Stimmmaterial triumphieren über optische Alterserscheinungen und ist wie immer ein wahrer Fels in der Opernbrandung. José Carreras hat nicht mehr ganz die frische Tenorstimme der ersten Opernjahre, aber immer noch sein kostbares Timbre, reiche Sfumature, und er arbeitet sich auch darstellerisch ab an der statuarischen Elisabetta. Angemessen hohl und fahl lässt sich der Gran Inquisitore von Matti Salminen vernehmen, Franco de Grandis muss als Mönch hinter seinen Basskollegen, was vokale Potenz betrifft, kaum zurückstehen. Unter den Deputati befindet sich immerhin ein Roberto Servile und der Araldo soll auch erwähnt werden, denn immerhin sang Volker Horn einst den Hirtenknaben in Bayreuth und war dann jahrzehntelang ein leider unterschätztes Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin.

Immer noch und immer wieder betörend: José Carréras als Don Carlo/ Foto Unitel/C-Major

War es die Autorität Karajans, die Fiamma Izzo D’amico vor einem Buhorkan in Salzburg rettete? Sie ist die pure Ausdruckslosigkeit, singt streckenweise wie nur markierend, und wenn sie über eine mezza voce hinausgeht, klingt sie scharf-säuerlich. Außer einer Mimi ist von ihr nichts weiter überliefert, ihre Karriere war extrem kurz, und sie und ihre drei Töchter führten später ein erfülltes Leben als Synchronsprecherinnen. Streckenweise wie eine Karikatur der Eboli wirkt Agnes Baltsa, stimmlich brustig-vulgär in der Parkszene, mit veristischen Anklängen im Don fatale und selten sich zu großen Gesangslinien, zu großzügiger Phrasierung aufschwingend.

Drei Chöre sorgen für ein ausdrucksvolles Autodafé, darunter natürlich der der Wiener Staatsoper unter Walter Hagen-Groll. Lage darf man Herbert von Karajan zu Beginn beobachten und bewundert die Modulation des Orchesterklangs, die absolute Konzentration. Damals wurde von einem zu langsamen Dirigat gesprochen, das sich bei dieser insgesamt und wegen der Herren Sänger sehr sehens- und hörenswerten Aufnahme nicht bemerken lässt.

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Don Giovanni: Zwei Jahre nach der Studioaufnahme von Mozarts Don Giovanni gab es in Salzburg das Werk wieder mit lediglich das Orchester und die Elvira betreffend geänderter Besetzung. Anstelle der Berliner Philharmoniker sind 1987 die Wiener Philharmoniker zu erleben und anstelle von Agnes Baltsa nun Julia Varady. Für pünktliche Auftritte und Abgänge sorgte Michael Hampe, die viel schwarzen Marmor vortäuschenden Dekorationen von Mauro Pagano für eine angemessen düstere Stimmung, wenn nicht ein Postkartensevilla Urlaubsfreude aufkommen lässt. Der Commentatore erscheint direkt vom Himmel kommend zum Abendmahl und Donna Anna muss nicht eine falsch verstandene Emanzipation vortäuschen, indem sie Don Giovanni nachgiert und Don Ottavio, der hier noch edel und nicht dämlich ist, betrügt. Von unvorstellbarer Opulenz sind die Kostüme Paganos, allein der mehrfach wechselnde Kopfputz der Donna Anna dürfte die Salzburger Putzmacherinnen auf Monate beschäftigt haben.

Mit seidigem Klang breiten die Wiener unter Karajan sich alle Zeit nehmend, einen wunderbaren Klangteppich aus, auf dem sich die Sängerstimmen optimal entfalten können. Der Leporello von Ferruccio Furlanetto ist der einzige Muttersprachler unter den Solisten, und man hört es, denn das Italienisch seines Herrn Samuel Ramey ist alles andere als perfekt. Der Italiener singt eine bravouröse Registerarie und ist optisch wie akustisch die Beweglichkeit in Person. Der Amerikaner trägt mit viel Anstand seine wunderbaren Kostüme, die in Virtuosität rossinigeschulte Stimme tut auch der Champagnerarie gut, die Serenade allerdings klingt recht grob, die Spitzentöne manchmal offen. Kein Schwächling ist der Don Ottavio von Gösta Winbergh, sondern nobel und im Dalla sua pace nicht anämisch, sondern empfindsam, kein Säusler, sondern mit einem besonders schönen Piano für die zweite Strophe von Il mio tesoro, und nicht einmal ein derbes „lo tschuro“ anstelle von „lo giuro“ kann den guten Eindruck ernsthaft beeinträchtigen. Alexander Malta bleibt ein eher unauffälliger Masetto, Paata Burchuladze ist ein Furcht einflößender Commendatore mit Grabesstimme.

Die beiden prime donne übertreffen einander an szenischer Präsenz und beglückendem Gesang. Anna Tomowa-Sintow hat für die Namensvetterin das tragische Timbre einer Rachegöttin, das Verständnis für die Bedeutung der Rezitative  und die Virtuosität für „non mi dir“. Mit leichtester Emission der Stimme ist Julia Varady eine Donna Elvira der sich aus Virtuosität, Ebenmaß der Tongebung und Identifikation mit ihrer Partie ergebenden Perfektion. Allein im È mio marito spiegelt sich eine Vielzahl von Empfindungen. Eigentlich ein Plädoyer für die Besetzung mit einem Mezzosopran ist die Zerlina von Kathleen Battle, die vokal allzu püppchenhaft bleibt. Insgesamt aber kann man einer solchen Aufnahme nur nachweinen, bzw. glücklich darüber sein, dass man sie besitzt.

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Auf dem Papier oder vielmehr dem Cover der Bluray mit Verdis Falstaff scheint sich der Himmel für den Opernliebhaber zu öffnen: die ideale Besetzung in fast allen Partien, die Wiener Philharmoniker in Salzburg und natürlich mit Herbert von Karajan, der auch Regie geführt hat. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1982, als man generell noch vor Regieabstrusitäten sicher war.

Optisch wirkt die Bühne von Günther Schneider-Siemssen mit ihren naturalistischen Pappkulissen doch recht verstaubt und altmodisch, dazu kommt zumindest für den Park von Windsor noch Karajans Vorliebe für eine dunkle Bühne zum Tragen, die einst eine Birgit Nilsson zum Scherz mit der Grubenleuchte trieb. Eine Spur zu kostbar sind die Kostüme von Georges Wakhevitch, so könnte die Alice gut und gern auch als Maria Stuart oder Elisabetta aus Don Carlo durchgehen, und auch Falstaffs Festkleidung scheint im Wirtshaus zum Hosenbandorden gut gepflegt worden zu sein. Insgesamt aber erfreut man sich an der liebevollen Sorgfalt, mit der Falstaffs Behausung wie Fords Heim ausgestattet wurden, und an der Phantasie, mit der die Kostüme des Elfenvolks im letzten Bild bedacht wurden.

Was heute Ambrogio Maestri ist, war zu seiner Zeit Giuseppe Taddei, ohne den beinahe keine hochkarätige Falstaff-Produktion denkbar war. Darstellerisch ist er noch immer die Erfüllung mit seiner Ausgewogenheit zwischen derber Komik und feinem Humor, zwischen Resten von Nobilität und weinseliger Kreatürlichkeit. Vokal ist der Bariton allerdings über den Zenit seiner Fähigkeiten bereits hinaus, wobei man sich immer wieder fragt, ob das häufige Verfallen in den Sprechgesang, das unangenehme Chargieren, die Lautverzerrungen dem Alter oder den Anweisungen der Regie zu verdanken sind. Zumindest bei „Va, vecchio John“, das im ersten Bild zerpflückt, in der Wiederholung im zweiten Akt jedoch mit schönem Legato gesungen wird, neigt man dazu, an Absicht und nicht an Unvermögen zu glauben. Der zweite Star der Aufnahme ist Christa Ludwig, die nicht wie eine Feodora Barbieri ihr „Reverenza“ und „povera donna“ extrem orgelnd ausreizt, sondern die durchweg zwar farbig-vollmundig auftritt, aber sehr geschmackvoll bleibt. Nicht ganz die Tragödin ablegen kann Raina Kabaivanska als Alice, die mit leuchtendem Sopran wie darstellerischer Souveränität die Szene beherrscht. Wie kaum ein anderer Dirigent unterstützt Karajan ihren Hang zu weit ausladender Phrasierung. Eine Luxusbesetzung für die Meg ist Trudeliese Schmidt, mit zartem lyrischem Sopran beschwört Janet Perry als Nannetta das Volk der Elfen.

Einen schmucken Fenton gibt Francisco Araiza mit italienisch geschultem Tenor, Rolando Panerai hat nicht oder hat nicht mehr  das Volumen für einen souveränen Ford, so dass er als ungehobelter Polterkopf mit Timbrespreizung erscheinen muss. Ganz besonders er weicht in Verismogesang aus, wenn die generöse Gesangslinie nicht mehr gelingt. Ungehobelt klingt der Pistola von Federico Davià , als auch vorzüglicher Schauspieler erweist sich Heinz Zednik als Bardolfo, Piero de Palma ist ein wunderbar textverständlicher Dr. Cajus. Walter Hagen-Groll, auch den Berlinern bestens bekannt, hat den im letzten Bild trotz aller Turbulenzen sicheren Chor einstudiert, das Orchester ist überaus freundlich zu den Solisten, um umso mehr entfaltet es luxuriöse Klangpracht, wenn dies ohne vokale Verluste möglich ist.

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Verdi-Requiem: Viele Male hat Herbert von Karajan das Verdi-Requiem aufgenommen oder es wurde mitgeschnitten, so bereits 1949 mit den Wienern und Zadek, Klose, Roswaenge und Christoff, 1958 mit eben diesen und Rysanek, Ludwig, Zampieri und Siepi, 1962  in Salzburg mit Price, Simionato, Zampieri und Ghiaurov, 1972 mit den Berlinern und Freni, Ludwig, Cossutta und Ghiaurov,  dazu Caballé, Janowitz, Cossotto, Bergonzi und einspringend für diesen Pavarotti, sie alle haben mit dem Dirigenten Verdis Totenmesse aufgeführt. Von 1984 aus Salzburg stammt die Aufnahme mit Anna Tomova-Sintow, Agnes Baltsa, José Carreras und José van Dam als DVD-Bluray und ist nicht geprägt durch die Mitwirkung von Clouzot wie die in der leeren Scala, wirkt insgesamt viel weniger theatralisch, sondern eher verinnerlicht, und es ist schön zu sehen und zu hören, wie der Dirigent sich mit Hingabe seiner Aufgabe widmet. Anna Tomowa-Sintow ist souverän in den Intervallsprüngen des Libera me und verfügt über wunderbare Schwelltöne, Carreras beginnt mit einem wunderbaren Pianissimo für das Hostias und sein Timbre ist anbetungswürdig, José van Dams Bass ist so nobel wie markant, Baltsas Mezzo ist recht hell, so dass das Lacrymosa doch einiges an Wirkung einbüßt. Den Gesichtern den Chormitglieder sieht man die Magie an, die das Stück auf sie ausübt, sie singen übrigens ohne Noten, während die Solisten die ihren etwas verschämt unter der Brüstung halten, die Kamera bemüht ist, ihnen dabei behilflich zu sein. Aber was zählt das schon bei einer solchen Aufnahme (das DVD-Coverfoto des Verdi-Requiem zeigt allerdings den Wiener Musikverein, korrekterweise. Nicht Salzburg .../ C-Major 761604, 761504, 761404, 761704)! Ingrid Wanja     

Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer

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Mein Musik-Unterricht wurde von mir nicht geliebt und führte damals zu keinem Erfolg. Die Absicht unseres Musiklehrers war nur die beste. Mittels der Kodály-Methode sollte jedes Kind lernen, zunächst ganz schlichte, dann auch anspruchsvollere Volkslieder quasi vom Blatt zu singen. Abgelauscht hatte Zoltán Kodály seine Lieder den Bauern in den Dörfern im Norden Ungarns und im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet, wo er – dem Beispiel seines Freundes Béla Bartók folgend – auf der Suche nach der ursprünglichen Musik der ländlichen Bevölkerung war.

Diesen Spuren folgte kurzzeitig auch der im rumänischen Cluj aufgewachsene, in Budapest ausgebildete György Ligeti bei seiner Untersuchung ungarisch-rumänischer Volksmusik. Ursprüngliche Volksmusik und avantgardistische Formen verband Ligeti in seinem wichtigsten Spätwerk, einem Stück für Mezzosopran und vier Schlagzeuger Síppal, dobbal, nádihegedűvel / Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen, das er Katalin Károlyi widmete.

Ihre von der Pianistin Klára Würtz begleitete Sammlung Hungarian Songs beginnt Katalin Károlyi deshalb mit einer Ligeti-Referenz und ebenfalls mit Liedern nach Gedichten von Ligetis Zeitgenossen Sandor Weöres, den drei Weöres-Liedern/ Három Weöres-dal, die sie bis zum heftigen Aufschrei ausdrucksvoll und kernig gestaltet; gemäßigter im Ausdruck und volksliedhafter in der Anlage sind Ligetis aus den 1950er Jahren stammende fünf Lieder nach Gedichten von János Arany, einem wichtigen ungarischen Dichter des 19. Jahrhunderts.

Die folgenden rund 25 Lieder von Kodály und Bartók stammen aus verschiedenen Sammlungen aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so auch Bartóks erst 2002 im Druck erschienen Zehn Ungarische Volkslieder BB 43. Károlyi kreischt und schreit, ist wiegenliedhaft sanft, lockend und immer wieder rau und derb und versteht es aus Sprachpartikeln Gesangslinien zu formen. Besonders ausdruckvoll, archaisch hämmernd, rhythmisch grob und grell im Ausdruck sind die 1924 entstandenen Dorfszenen BB 87 nach Liedern, die Bartók wenige Jahre zuvor in der heutigen Slowakei aufspürte und die Károlyi auf Ungarisch singt. Die schöne Auswahl, bei der es Klára Würtz in den manchmal kaum minutenlangen Liedern innerhalb Sekunden gelingt, eine besondere Atmosphäre zu erzeugen, entstand im Juni 2018 im niederländischen Schiedam (Brillant Classics 96926). Der Eindruck ist intensiv und bezwingend.

In eine andere Welt katapultiert Aylish Kerrigan sings Kurt Weill. Im Stile einer frivolen Vortragskünstlerin unternimmt Kerrigan eine kaschemmenschwülstige Reise durch Weills Oeuvre von der Dreigroschenoper bis zu den Broadway-Stücken wie Lady in the Dark, One Touch of Venus und Street Scene. Mutig und unerschrocken. Hochmanieriertes aus dem Wohnzimmer. Auf der Liebhaber-CD (métier 15631) wird sie von Vladimir Valdivia begleitet. Rolf Fath

Pacinis Oper „Gli arabi nelle Gallie“

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Mit Spannung erwartet gab das Rossini-Festival in Wildbad dieses Jahr (2023) eine absolute Welterstaufführung, nämlich Pacinis Oper Gli arabi nelle Gallie, konzertant in der Trinkhalle und ebenfalls sehr verdientermaßen im DLR-Radio (vielleicht dann auf CD bei Naxos, wenngleich das Tenor-Unglück daran Zweifel haben lässt). Man kann Wildbads Initiative – trotz der gelegentlich problematischen  Sängerauswahl – gar nicht hoch genug loben, haben sie doch in der Vergangenheit neben dem Rossini-Kanon immer wieder absolut Seltenes ausgegraben, worüber wir in operalounge.de immer wieder berichtet haben (auch dank der unermüdlichen Besuche unseres Korrespondenten Rolf Fath).

Sein Bericht findet sich unter den diesjährigen Festspielen. Und der englische Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist Alexander Weatherson, (operalounge.de-Lesern kein Unbekannter wegen seiner vielen klugen Texte, darunter der fundamentale Beitrag zu Donizettis Duc d´Albe und Maria di Rohan), hat uns seinen Artikel zu Pacinis Oper überlassen, den wir mit seiner freundlichen Genehmigung der website der Londoner Donizetti Gesellschaft entnahmen und ins Deutsche übersetzten. Danke Alex

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Die Oper von Pacini ist um so spannender, als sie uns an einen Abschnitt der muslimischen und europäischen Geschichte erinnert, der kaum noch bekannt ist. Natürlich wissen wir von den Arabern in Süd-Spanien und dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Toleranz, Kunst und Wissenschaft ebendort. Aber kaum bekannt ist, dass die spanischen Araber bis nach Süd-Frankreich vorgedrungen waren und in der berühmten Schlacht von Narbonne 732 von Karl Martell vernichtend geschlagen und damit zurückgedrängt wurden. Bis heute ist dieser arabischen Einfluss in der Region noch zu finden. Auch wenn der historische Back-drop der Opern-Handlung nur als Staffage für die konventionelle Liebesgeschichte dient (und sich in ähnlichen Werken wie Maometto II, Les Abencerages oder I Normanni a Salerno wiederfindet), so ist sie für uns Heutige von Interesse ob der ethnischen Anklänge an eine vergessene Vergangenheit im Zusammenleben von Europäern und Muslimen (dazu auch der Artikel bei Wikipedia: Der Islam in Europa).

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Giovanni Pacini/ Wikipedia

Nun also Alex Weatherson: Von all seinen unglaublichen Opern (und er behauptete, einhundert geschrieben zu haben) sind Giovanni Pacinis Gli arabi nelle Gallie sicherlich die fantastischste. Aus irgendeinem Grund – und obwohl die ursprüngliche Fassung durchaus gelungen war – betrachtete er sie als ein elastisches Produkt, das nach Belieben erweitert oder verkleinert werden kann. Unzählige Hinzufügungen, Kürzungen, Änderungen und so weiter, so dass es für jeden Hörer mindestens eine Ausgabe gab, die dessen Geschmack entsprach. Zwischen der Uraufführung 1827 und 1855 wurde in einer unendlichen Reihe von Wiederaufnahmen jede Arie, jedes Duett, jedes Ensemble ganz oder teilweise, manchmal auch immer wieder neu geschrieben, ebenso wie jeder Chor, jedes concertato, jedes Finale, jede preghiera – sogar in einer Art obsessione  concertata für Korrekturen. Selbst die hochgelobte introduzione des ersten Aktes war nicht sakrosankt, denn im tragischen finale ultimo, in dem der berühmte Tenor Giovanni David sterbend vor einem weinenden Kreis von Freunden und Feinden stottert, musste sich der maurisch-merowingische Held immer wieder leise davonschleichen, damit die Primadonna, der Sopran oder der Mezzosopran, das Rampenlicht in einem wahren Feuerwerk an Fioritur einnehmen konnte. Es war der Fall der Würfel, dass sowohl die Musik als auch die Handlung von der Laune des Komponisten abhingen.

Und wie launisch konnte man sein? Es gibt ein Alternativmaterial zu dieser Oper, das dreimal so lang ist wie die Originalpartitur! Gli arabi nelle Gallie ist wie ein chinesischer Würfel, dessen Seiten sich drehen lassen, um beliebig viele Abbilder, beliebig viele Bühnenbilder zu erhalten: Für jede neue Besetzung – für jedes neue Theater – gab es eine immer größere Auswahl an Arien und Cabaletten, die Oper konnte Platz für jede Art von Stimme finden, Sopran, Mezzosopran, Tenor oder Bass, jeder der comprimari konnte einen schmeichelhaften Soloplatz in der einen oder anderen der verfügbaren Versionen finden. Keine Tonart und kein Tempo waren jemals festgelegt, die Soloinstrumente waren immer verhandelbar, und mit der Hinzufügung weiterer Stücke wurde die Auswahl immer größer, so dass neue Musik, die für diese oder jene Bühne geschrieben wurde, mit der Musik aller vorangegangenen Aufführungen gekreuzt werden konnte, und zwar bis ins Unendliche…

Sanquirico: Volte_Sotterranee_(Scena“Gli Arabi nelle Gallie“ zur Oper von Giovanni_Pacini)/ Wikipedia

Den Theatern, den Direktionen, den Impressarii und den großen und kleinen Künstlern stand Musik in allen Schwierigkeitsgraden zur Verfügung, sowohl Vokal- als auch Orchestermusik. Pacini scheint seine all-passenden Gli arabi nelle Gallie wie ein Allzweck-Kleidungsstück geschneidert zu haben, mit Anpassungen und Ausstattungen, die kein Komponist zuvor in Erwägung gezogen hatte – oder wieder in Erwägung ziehen würde. Was Jahrhunderte lang oft auf eine einfache Gleichsetzung von einem Mann zwischen zwei Frauen oder einer Frau zwischen zwei Männern hinausläuft, lieferte Achille de Lauzières 1855 (wenn auch unbeabsichtigt) Pacini beide Szenarien auf einmal mit der bemerkenswerten Folge, dass Adelaide Borghi-Mamos „männliche“ Schwangerschaft das Publikum zum Lachen brachte. In diesem Fall bot er ein modernes – radikales – Modell für die Opern-Bühne: nicht nur eine Oper für alle Jahreszeiten, sondern eine androgyne Oper für beide Geschlechter!

Warum hat er das getan? Wir können nur raten. Sein Kampf um die Vorherrschaft mit Bellini begann 1827. Bellini, der Publikumsliebling, war weder vielseitig noch besonders fließend im Stil, Pacini war beides. Bellini musste „Blut schwitzen“, um seine Opern zu schreiben, Pacini wollte seine Rivalen zum Schwitzen bringen. Doch der Änderungswahn hielt noch lange an, nachdem Bellini von der Bildfläche verschwunden war, und gipfelte in der überdimensionalen Pariser Ausgabe von 1855, die auf Wunsch von Kaiser Napoléon III. inszeniert wurde. Natürlich mit einer überbordenden Anzahl neuer Stücke – auf den neuesten Stand gebracht und vom Anheben des Taktstocks bis zum letzten Ton der Partitur märchenhaft neu komponiert.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Der Tenor Giovanni David als Algenor in der Uraufführung/ Gemälde von Hayez/ Wikipedia

Sofern nicht noch frühere, verworfene Partituren auftauchen (was keineswegs unmöglich ist), können Gli arabi nelle Gallie als Pacinis 35. Oper gelten. Er selbst wurde am 11. Februar 1796 in Catania geboren und war zum Zeitpunkt der Komposition 31 Jahre alt. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr komponierte er für die Bühne und hatte auch sechsundfünfzig Jahre später, als er starb, noch immer Lust auf das Theater. Er hörte nie auf, Musik zu schreiben, seine Musik war unaufhaltsam. Jeden Tag verbrachte er Stunden am Schreibtisch, keine Abschweifung, keine Romantik, keine amourösen Verwicklungen (er hatte drei Ehefrauen in Folge und eine Reihe hochkarätiger Mätressen, darunter Pauline Bonaparte) unterbrachen jemals den Fluss. Er schrieb während der Mahlzeiten, in seinem Bad, in seiner Kutsche, im Schlaf (wie seine Kritiker behaupten), in den Pausen zwischen den Aufführungen einer Oper, die er gerade schrieb. Er erzürnte seine Feinde, verblüffte seine Freunde und unterhielt ein großes Publikum mit seinen öffentlichkeitswirksamen Possen und seinem Gespür für Publicity.

Er war auch ein äußerst professioneller Komponist, der seine Verträge pünktlich und schnell erfüllte und eine ganze Reihe von unbestrittenen Erfolgen vorweisen konnte. Sowohl sein Il barone di Dolsheim vom 23. September 1818 als auch sein Il falegname di Livonia vom 12. April 1819, die an der Scala aufgeführt wurden, wurden bei ihrer Premiere mehr als vierzig Mal gespielt; La schiava in Bagdad, das am 28. Oktober 1819 am Carignano in Turin aufgeführt wurde, hatte Giuditta Pasta in der Titelrolle; La gioventù di Enrico quinto, das am 26. Dezember 1820 am Teatro Valle in Rom gegeben wurde, hatte eine proto-shakespearische Handlung und eine lange Lebensdauer.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Brigida Lorenzani sang den Leodate der Uraufführung/ Wikipedia

Im folgenden Jahr feierte Cesare in Egitto dank Pauline Bonaparte Borghese einen römischen Triumph bei der Eröffnung des Karnevals im Teatro Argentina (26. Dezember 1821), wobei die Rolle der Kleopatra allgemein als Darstellung der sich in ihrer Loge räkelnden Prinzessin galt; Amazilia (6. Juli 1825); L’ultimo giorno di Pompei (19. November 1825) und Niobe mit der unübertroffenen Besetzung von Giuditte Pasta, Luigi Lablache und Giovanni Battista Rubini (aufgeführt am 19. November 1826), alle drei für das Teatro S. Carlo in Neapel komponiert und allesamt große Erfolge, wobei das letzte von ihnen die wichtigste Opernmelodie der damaligen Zeit lieferte: „I tuoi frequenti palpiti“, eine unwiderstehliche Cabaletta, die für Rubini geschrieben wurde und später von einem Anwärter nach dem anderen auf den vokalen Ruhm übernommen wurde, um sie in so unpassende Werke wie Semiramide, Norma und Lucia di Lammermoor einzufügen, unabhängig von der Handlung – eine Erkennungsmelodie, die in einer Transkription von Liszt eine Apotheose über den Alpen erreichte, eine Hommage an die pacinische Bravour, die damals wie heute zum Zuhören zwingt.

Es war Niobe, die seinem ersten ehrgeizigen Versuch, berühmt zu werden, unmittelbar vorausging: Die Oper, die am 8. März 1827 auf die berühmte Bühne kam, basierte wie so viele andere der damaligen Zeit auf einer französischen Quelle, in diesem Fall auf der absurden Novelle Le Rénégat des Vicomte d’Arlincourt von 1822 – byronisch, erschütternd, aber anständig und mit nicht existierenden historischen Referenzen. Aus dem Ausgangsfeuilleton wurde eine Folge von Versen abgeleitet, die zwar brauchbar, aber nicht im Geringsten vornehm waren, ja, der schlaffe Text von Gli arabi könnte sogar der fons et origo für das seltsame Schicksal dieser Oper gewesen sein: Pacini, der Texte von fast allen Theaterdichtern mit der gleichen Melodienfröhlichkeit vertonte, scheint geglaubt zu haben, dass einige von ihnen (Angelo Anelli, Andrea Leone Tottola, Gaetano Rossi, Salvadore Cammarano und Francesco Maria Piave) es wert waren, respektiert zu werden, während ein großer Teil aller anderen (einschließlich Giovanni Federico Schmidt, Luigi Romanelli und Felice Romani) es nicht waren. Und er  fühlte sich daher frei, ihre Verse zu ändern, wann und so oft er wollte. Dass dies nicht immer der Hackordnung der zeitgenössischen Vorstellungen von poetischem Verdienst entsprach, beunruhigte ihn überhaupt nicht, sondern war symptomatisch für seine Weigerung, sich anzupassen, was seine Zeitgenossen gleichermaßen verblüffte und bestürzte.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Stefania Favelli sang die Ezilda der Uraufführung/ Wikipedia

Das Ergebnis war, dass der ursprüngliche Text von Romanellis Gli arabi nelle Gallie nach einigen Aufführungen nur noch in einigen wichtigen Teilen erhalten blieb. Die Oper wurde noch vor der Premiere auf den Kopf gestellt (wie ein Manuskript der ersten Strophe in Neapel zeigt), und ein großer Teil der Verse wurde vom Komponisten selbst hinzugefügt. Die ursprüngliche Besetzung war kompetent, wenn auch nicht herausragend: Ezilda, die gallische Prinzessin, wurde von der Sopranistin Stefania Favelli gesungen; Agobar, ihr lange verschollener Kindheitsverlobter, der zum Anführer der Mauren wurde, wurde von dem virtuosen Tenor Giovanni David gesungen; Sein Rivale um ihre Hand, der verwirrte General Leodato, wurde von der Mezzosopranistin Brigida Lorenzani gesungen, während die nicht unbedeutenden Rollen von Gondair, Zarele, Aloar und Mohamud von Vincenzo Galli, Teresa Ruggeri, Lorenzo Lombardi bzw. Carlo Poggiali übernommen wurden.

Die Oper sorgte von Anfang an für Furore, die Weite des Schauplatzes, der neo-stereophone Einsatz der spektakulären Eröffnung (Pacini hatte Il crociato in Egitto mit eifrigem Gehör bearbeitet) brachten das Publikum auf einen Siedepunkt der Begeisterung, der die ganze Zeit über anhielt, aber es war erstaunt zu entdecken, dass die ansteckend synkopierten cabaletten, für die er berühmt war, zum ersten Mal durch eine gewaltige Schlussszene für David in einem orchestral herausragenden Bühnenbild, das wirklich bewegend war, in den Schatten gestellt wurde.

Alle erwarteten ein brillantes envoi, und alle waren überrascht. In dieser Oper, so rühmte sich Pacini stolz, hatte er zum ersten Mal seine Muse über die leichte Publikumsbeschwörung seiner früheren Opern hinausgetrieben und strebte nun nach einem emotionalen Kern. Seine Instrumentierung, die bereits (wie wenige bemerkt haben) eine seiner besten Eigenschaften war, wurde nuancierter, luftiger, bitterer, idiosynkratischer. Und er drängte seine Darsteller in eine neue Arena, indem er sie zwang, affektiv im Einklang mit gut eingesetzten Soloinstrumenten zu singen – insbesondere den unverschämten Giovanni David, dessen Missbrauch seiner Kopfnoten zu stören begann. Dieses Kunststück allein wurde als geradezu wundersam angesehen, und auch Bellini nahm davon Kenntnis. Selbst der feindseligste Kritiker berichtete, dass die Oper „als meisterhafte Inszenierung“ angesehen wurde, dass Pacini als „der große Erneuerer der modernen Musik“ hochgehalten wurde (z. B. Harmonicon in London). Eine Ansicht, die bei seinem Catania-Konkurrenten nicht gerade auf Gegenliebe stoßen dürfte…

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Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Vincenzo Galli war der Gondoir der Uraufführung/ Lithographie von C. Biron, Königliche Bibliothek Stockholm

Die Handlung ist (wenn auch nicht immer) wie folgt: Clodomiro (Tenor), der Thronfolger der Merowinger-Könige, ist mit der kleinen Prinzessin Ezilda (Sopran) verlobt. Nachdem seine Dynastie gestürzt wurde, wurde er nach Spanien verschleppt und von den Mauren zum Islam bekehrt. Nun ist er als Krieger mit Turban zurückgekehrt, um unter dem Namen Agobar Frankreich für seine islamischen Herren zu erobern. Der Vormarsch seiner Truppen zwingt Ezilda, in einer ihrer Burgen Zuflucht zu suchen, unterstützt von ihrem Heerführer Leodato (Mezzosopran), Prinz der Auvergne, der sowohl an ihrer Hand als auch an einem möglichen Sieg über die Mauren verzweifelt. Er wird gefangen genommen, und Agobar droht, ihn zu töten, wird aber von dem klugen Aloar (Tenor) und auch von einem erwachenden Gefühl für seine verschwundene Vergangenheit zurückgehalten. Als er sich in der Gegenwart von Ezilda wiederfindet, die in einer Kirche Zuflucht gesucht hat, werden beide von halb vergessenen Erinnerungen geplagt. Agobar belauscht sie beim Weinen, sie besteht darauf, dass sie um ihren toten Ehemann weint und zeigt ihm den Ring, den Clodomiro ihr als Kind an die Hand gesteckt hat. Agobar zeigt ihr das Paar an seiner eigenen Hand. Ezilda weist ihn wütend als Schwindler, Lügner und Feind ihres Landes zurück. Agobar beschließt in seiner Verwirrung, nach Spanien zurückzukehren, doch Leodato warnt ihn, dass er damit den Verrat durch seine eigenen Soldaten riskiert, und vertraut ihm gleichzeitig an, dass seine Loyalität nicht Karl Martel gilt, sondern seinem lange verschollenen, rechtmäßigen Herrscher (den er natürlich nicht anerkannt hat) Clodomiro. Die Truppen von Karl Martel greifen die Mauren an und fügen ihnen angesichts der Unentschlossenheit von Agobar eine Niederlage zu, aber Ezilda weint – zur Überraschung aller – über die Schande des maurischen Generals aus, den sie zum großen Erstaunen ihrer Damen zurückgewiesen hat. Agobar, der von Aloar über seine Identität aufgeklärt wird, lässt sich von Gondair (Bass) versichern, dass Ezilda bereit ist, ihn zu akzeptieren, und beschließt, mit seinen dezimierten Truppen erneut in die Schlacht zu ziehen. Diesmal jedoch gegen die Truppen von Karl Martel, um die Geschicke seiner eigenen Dynastie (und nicht die seiner muslimischen Herren) wiederherzustellen. Bevor er dies tun kann, wird er von Mohamud (Bass), einem maurischen Loyalisten, niedergestochen. Tödlich verwundet taumelt er zu Ezilda und stirbt in ihren Armen.

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Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Die Trinkhalle in Bad Wildbad/ Rossini in Wildbad

Diese Partitur birgt viele Überraschungen, vor allem in der Erstfassung: Während Leodato eine stattliche entrata hat, tritt Ezilda unauffällig auf (mit einer preghiera in der Fassung der stesura prima; die berühmte Diva Henriette Méric-Lalande fand diese zurückhaltende Ankunft auf der Bühne einfach unzureichend für ihren Status und bestand, als sie die Rolle bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 übernahm, darauf, dass Pacini ihr eine brillante Kavatine lieferte, wie sie sie für angemessen hielt). Der erfahrene Pacini hatte eine eiserne Technik im Umgang mit Damen dieser Eminenz – er kapitulierte einfach (eine Philosophie, die Bellini – und später auch Giuseppe Verdi – wütend machte). Was ihn betraf, so konnte er jede noch so unbequeme oder unlogische Änderung durchsetzen, die von ihm verlangt wurde.  Die Kavatine „Quando o Duce, a te ridendo“ wurde ordnungsgemäß geliefert und versetzte alle in Erstaunen.
Was Gli arabi nelle Gallie betrifft, so wurde diese zweite Ausgabe, wie auch die dritte und vierte Ausgabe und so weiter, mit einem crescendo von Beifall bedacht. Niemand scheint diese Änderungen bedauert zu haben, denn sie hielten die eingefleischten aficionados, die jeden Abend in die Oper gingen, auf Trab. Die Ansicht Verdis, dass eine Oper endlich, unveränderlich und in Stein gemeißelt sein sollte, dass die Künstler vertraglich verpflichtet waren, die von ihm komponierte Musik zu singen, wurde vom Publikum im primo Ottocento nicht geteilt. Agobar, der die Hauptrolle hat (Pacini machte von Anfang an klar, dass er diese Oper für seinen Freund Giovanni David schrieb), hatte zunächst eine auffällige arie di sortita „Non è ver, che sia diletto“ (die mindestens fünfmal umgeschrieben wurde), der in der prima eine weitere preghiera für Ezilda „Lo sguardo tuo, Signor“ mit ihrer köstlich-berührenden Melodie folgte. Ein großartiger Moment der Ruhe in einer geschäftigen Partitur und überhaupt nicht brillant.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Duett aus der Oper zum Klavier/Frontespiece/ Sammlung Philipp Gossett

Eine solche Zuflucht war keineswegs nach dem Geschmack eines ganzen Stammes von primedonne, nicht nur von La Méric-Lalande, und wurde bald wieder abgeschafft. Das finale primo des ersten Aktes ist ein concertato, wie es üblich war, mit lebhaften Auseinandersetzungen, die sowohl amourös als auch kriegerisch sind. Es wurde in den folgenden Spielzeiten außerordentlichen Veränderungen unterworfen – mit einer Fülle von verschiedenen stretten jeder Art, jeder Form, jeder Dynamik – mal als piano, mal als fortissimo bezeichnet – mal unisono, mal kanonisch strukturiert, mal mit Arioso-Einschüben wie Johannisbeeren im Kuchen – man kann es sich aussuchen. Die Originalfassung jedoch, mit einem wütenden Agobar, einer klagenden Ezilda, einem verwirrten Leodato und einem Chor des Dissenses von allen Seiten in einer unwiderstehlichen Woge der Melodie, war eine der besten Versionen von allen. Ebenso enthielt der zweite Akt Neuerungen, die zunehmend verschwammen oder brutal ersetzt wurden. Der zweite Akt enthielt Neuerungen, die zunehmend verschwammen und brutal ersetzt wurden. Er begann mit einem düsteren coro und verlief ursprünglich logisch über ein Duett für Tenor und Mezzosopran, dann eine große Arie für Ezilda, gefolgt von einem Trio, einem weiteren Coro, einer gewaltigen Arie für Agobar (von der es mindestens vier Versionen gibt) und dem ergreifenden Höhepunkt seiner Sterbeszene – eine jener langgezogenen, endgültigen Präsentationen des Opern-Ablebens, die fast zu einer Blaupause für das gesamte melodramma romantico des kommenden halben Jahrhunderts wurde.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: Niederlage der Muslime in der Schlacht von Narbonne 759/ Wikipedia

In diesem Fall war sie so wirkungsvoll und berührend wie keine andere, und fast zum ersten Mal wurde dieser letzte Ritterschlag einer anderen Stimme als der einer Sopranprimadonna zuteil! Das konnte natürlich nicht von Dauer sein. Pacini lieferte Giulia Grisi am 12. Mai 1832 im Londoner King’s Theatre ein robustes Arienfinale, das ihren Platz einnehmen sollte: „Nel suo rapido passagio“, dessen rasante (Gesangs-)Passagen ihr solche Beifallsstürme einbrachten, dass die gesamte Musik und Handlung, die zuvor stattgefunden hatten, zynisch in den Schatten gestellt wurden.

Es muss sofort gesagt werden, dass wenig von dieser Musik – und nur wenige der Ersatzstücke – nach Rossini klingt, was auch immer behauptet wurde, Pacini war ein Komponist, der die ererbten Formen beharrlich aushöhlte – nicht mit einem kühnen Meisterstreich wie ein Donizetti oder ein Verdi, sondern Schritt für Schritt mit der Umsicht eines Überlebenden. Trotz einer respektlosen Geschichte von Veränderungen, Anpassungen, Zweifeln und regelrechten Widersprüchen behielten Gli arabi nelle Gallie eine Eigendynamik, die von einer atemberaubenden, auf ihre Art einzigartigen Umsetzung abhing – mit einer völligen Verachtung für die vorhersehbaren Tonalitäten und visuellen Klischees der italienischen Bühne.

Zu Pacinis „Arabi nelle Gallie“: In der Schlacht von Tours und Poitiers im Oktober 732 besiegten die Franken unter dem Kommando von Karl Martell die nach Gallien vorgestoßenen muslimischen Araber und stoppten deren Vormarsch im Westen/ Gemälde von Emile Bayard, 1880, Wikipedia

Es gibt also für jeden ein musikalisches Erlebnis. Man treffe seine  Wahl. Es gibt eine Version, in der Leodato der Star ist (geschrieben für Carolina Ungher), in der sie die ganze gute Musik und drei große Arien hat. Zwischen der ersten Besetzung von 1827 und der letzten von 1855 traten die meisten großen Namen der italienischen Oberschicht in diesem melodramma serio auf: Zu den Ezildas gehörten Adelaide Tosi, Violante Camporesi, Luigia Boccabadati, Caterina Lipparini, Carolina Cortesi, Marietta Albini (die Pacinis zweite Frau wurde), Mathilde Kyntherland, Emilia Bonini und Virginia Blasis sowie die bereits erwähnte Henriette Méric-Lalande (die in mehr als einer Wiederaufnahme sang) und Giulia Grisi. Zu den Leodatos gehörten Adele Cesari, Rosa Mariani, Annetta Fink-Lohr, Clorinda Corradi-Pantanelli, Teresa Cecconi und Amalia Schütz-Oldosi; die schräge, aber sympathische Rolle des Agobar wurde von Giovanni David (in mehr als zehn Wiederaufnahmen) gesungen, aber auch von Giovanni-Battista Rubini (in Vicenza), Domenico Reina, Giovanni Basadonna, Napoleone Moriani, Pietro Gentili und Salvatore Patti. Zu den Sängern kleinerer Rollen gehörten (überraschenderweise) Celestino Salvatori und Vincenzo Galli sowie Antonio Tamburini und Luigi Lablache!

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Zu Pacinis „Arabi“: Karte des arabischen Imperiums um 700/ Wikipedia

Die Wiederaufnahme durch das Théâtre Impérial-Italien am 30. Januar 1855 mit Napoleon III. in seiner Loge (als Neffe von Pauline Bonaparte im Exil erinnerte er sich mit Rührung an die Oper im Teatro Apollo in Rom am 17. Januar 1829, als er von den Gedanken an seine Heimat bewegt war) wurde mit angemessener Publizität aufgenommen, nun in Form einer winzigen Grand opéra in vier Teilen, einem wahrhaft radikalen rifacimento, mit Angiolina Bosio als Ezilda und dem wild-emotionalen Carlo Baucardé als Agobar. Jede Nummer wurde umgeschrieben oder neu orchestriert, der Text wurde fast durchgängig überarbeitet, und alle religiösen und patriotischen Elemente wurden zur Freude der Kaiserin Eugénie verdoppelt. (Dieser Höhepunkt der unsterblichen Partitur wurde als Gli arabi nelle Gallie und nicht als L’ultimo dei Clodovei herausgegeben, wie manchmal berichtet wird – dies war nur der Titel einer Zeitungsrezension). Es blieb nicht lange dabei. Pacini war nie ein Favorit in der französischen Hauptstadt, aber es war sein einzige Oper ebendort, die dem lokalen Geschmack entsprach. Gli arabi nelle Gallie waren ein großer Erfolg – ein alter Hut, ungeachtet seinet Umarbeitung unter kaiserlicher Schirmherrschaft. Und sollte nun für immer verschwinden, aber der Komponist wurde mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet.

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Zu Pacinis „Arabi““: Henriette Méric-Lalande sang Ezilda bei der ersten Wiederaufnahme an der Scala im Karneval 1827/1828 (hier in Bellinis „Straniera“)/ BNF Gallica

Die unendlich lange Liste der Wiederaufnahmen in drei Jahrzehnten gibt einen überzeugenden Einblick in die Nachfrage nach diesem tapfer aktualisierten Bühnenspektakel. Seine Unverwüstlichkeit könnte als sinnbildlich für Pacinis gesamte Karriere angesehen werden: Sein Leben drehte sich um ständige Wiederaufführungen. Er überlebte sowohl Bellini als auch Donizetti. Und ungeachtet der glanzvollen Oberfläche seines anfänglichen Schaffens entstanden seine wichtigsten Opern in der glücklichen Zwischenzeit, als der erste von ihnen gestorben war und der zweite sich ins Ausland abgesetzt hatte. In der Mitte seines Lebens, als andere seiner Generation einfach nur maestro di cappella dieses oder jenes Provinzdoms waren, war Pacini immer noch auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Mit seinem Saffo von 1840 begann er eine fast uneinnehmbare Reihe herausragender Kompositionen, von denen viele mit einer Begeisterung aufgenommen wurden, die durch das Aufkommen von Verdi nicht ausgelöscht wurde.

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Auf jeden Fall entstanden so aufsehenerregende und denkwürdige Opern wie La fidanzata corsa (1842), Medea (1843), Lorenzino de’Medici (1845), Bondelmonte (1845), Stella di Napoli (1845) (drei große Opern in einem Jahr), La regina di Cipro (1846), Merope (1847), Allan Cameron (1848) und Malvina di Scozia (1851) verdienen es, ernst genommen zu werden, ganz zu schweigen von dem außergewöhnlichen Il Cid (1853) und dem proto-veristischen Il saltimbanco von 1858 (begann der Verismo am Istituto Pacini in Lucca? ) zusammen mit den beiden Opern, mit denen er seine lange Parabel auf der Bühne abschloss: Don Diego de’Mendoza und Berta di Varnol (beide mit Libretti von Piave und beide von 1867), in dem Jahr, in dem er starb, immer noch an seinem Schreibtisch.

Der Autor: Aleander Weatherson, renommierter Fachmann für Opern des 18. und 19. Jahrhunderts, namentlich des Belcanto sowie Autor vieler Artikel und Bücher über eben dies Feld, zudem auch international gefragter „Lecturer“; er war der Begründer und langjähriger Chef der Londoner Donizetti Society/ AW

Und dann ist da noch der „posthume“ Niccolò dei Lapi, der zwischen 1852 und 1858 in mindestens drei Vorfassungen mit unterschiedlichen Titeln erprobt und nach seinem Tod 1873 als umfassender Abgesang inszeniert wurde, eine gewaltige Zusammenfassung seines gesamten Schaffens, die auf einen modernen Aufbruch wartet.

Alle diese Opern enthalten eine Musik, die nicht zu überhören ist, lebendig, erfinderisch und sich selbst erneuernd. Pacini – und kein anderer Komponist kann das von sich behaupten – war das lebendige Bindeglied zwischen Rossini und dem Realismus, der das 20. Jahrhundert einleitete. Mit seinen rationalen und irrationalen Veränderungen, mit seiner eifrigen Hingabe an die Launen der Interpreten, der Aufführung und des Publikums waren Gli arabi nelle Gallie das Kind einer populären Kultur, die hartnäckig daran festhielt, die Oper als einen lebendigen Organismus zu betrachten, als eine theatralische Erfahrung, die sich vor den Augen und Ohren der Zuschauer weiterentwickelte. Und noch nicht als das unveränderliche Monument, das sie werden sollte. Als solche war sie zweifellos das Sinnbild einer Kunstform, die im Sterben lag, aber dass es in der darauf folgenden Opern-Ära sowohl Verluste als auch Gewinne geben würde, ist ein Faktor, dem man sich stellen muss. In der Jetztzeit. Alexander Weatherso (Übersetzung/ Redaktion G. H.) Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Fabrice Bollons Freiburger Janáček-Projekt

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Ist es ein Kinder- oder ein Covid-19 Projekt? Letztlich trug wohl mehreres zur Entstehung dieses Schlauen Füchsleins bei, das auch so etwas wie der Abschied von Fabrice Bollon als Generalmusikdirektor vom Freiburger Theater war. Letztlich verlängerte Bollon um ein Jahr und verabschiedete sich mit seiner Erasmus von Rotterdam-Oper The Folly von Freiburg, wo er seit 2008 amtierte. Wie er im Beiheft erzählt, fand es Bollon offenbar immer schon schade, dass Janáčeks Oper, die für große wie kleine Zuschauer gleichermaßen funktioniert, aufgrund ihres großen Orchesterapparates nur großen Kompagnien vorbehalten sei und deshalb viele Kinder nicht erreiche.

Dann kam die Pandemie. Da die Arbeit mit großen Orchestern unmöglich geworden war, erarbeitete der französische Dirigent eine Fassung für zwölf Musiker, die im April 2021 in Rostock unter Marcus Bosch erstmals aufgeführt wurde und im Herbst des gleichen Jahres in einer Inszenierung von Kateryna Sokolova an Bollons Stammhaus in Freiburg herauskam.

Diesmal dirigiert von Fabrice Bollon, der in seiner kammermusikalisch durchsichtigen Fassung mit Streichquartett, Kontrabass, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Fagott, Harfe, Klavier und Schlagwerk die spätimpressionistische Duftigkeit von Janáčeks Musik auskostet, die attraktiven instrumentalen Kombinationen ausspielt und dabei eine reizvolle Dezenz bewahrt, die den Singstimmen stets den Vortritt lässt, darunter Samantha Gaul und Irona Je-Eun Park als Füchslein und Fuchs, Michael Borth als Förster, Anja Jung als Försterin und Eule sowie Hans Gröning als Harašta. Diese orchestrale Zurückhaltung bei gleichwohl waldwebend lockender Farbigkeit kommt vor allem den Kinderstimmen zugute, denn nicht nur die Förster-Kinder Pepik und Frantik sind mit Mitgliedern des Cantus Juvenum Karlsruhe besetzt, sondern auch zahlreiche Waldtiere vom Frosch bis zu den Fuchskindern. Die Naxos- Aufnahme (2 CD 8.660526-27) entstand in Sankt Georgen. Man könnte bedauern, dass die offenbar reizvolle Freiburger Inszenierung nicht festgehalten wurde. Sokolova hatte die Bilderfolge von Stanislav Lolek, die Janáček zur siebten seiner zehn Opern inspirierte, die am Tag seines 70. Geburtstags 1924 in Brünn uraufgeführt wurde, ins Filmmilieu verlegt. Der Förster wirkt als Autor und Regisseur, die Welt des Films wird zum Ort der Träume und Sehnsüchte.

Ergänzt wird diese reduzierte Orchesterfassung des Schlauen Füchsleins, die durchaus Bestand haben könnte, durch Bollons Duo lyrique en trois acts für Violine und Cello, das Janáčeks erste Oper von 1887 über die Amazone Šárka in ein knapp 20minütiges Kammermusikstück fasst. Das spröde Stück wird von Muriel Cantoreggi und Dina Fortuna-Bollon gespielt. Bollons Janáček-Hommage setzt sich in Twelve Lilies for Leoš, einem fünfundzwanzigminütigen Stück in drei Sätzen für die Füchslein-Besetzung fort; unter Bezugnahme auf das zweite Streichquartett, das Bläsersextett, die Orchesterrhapsodie Taras Bulba und die erst posthum uraufgeführte Oper Osud schuf Bollon so etwas wie einen persönlichen Leitfaden durch Janáčeks Oeuvre. Rolf Fath

Tournee-Erfolg

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Als Weltpremiere veröffentlicht das französische Label Château de VERSAILLES auf drei CDs das Drame en musique La Finta pazza von Francesco Sacrati, der von 1605 bis 1650 lebte (CV5070). 1641 wurde es in Venedig uraufgeführt und konzentriert sich im Libretto von Giulio Strozzi auf Deidemia, die nach der Abreise von Achille gen  Troja dem Wahnsinn verfällt. La Finta pazza wurde damit zur allerersten Oper, welche sich diesem Gemütszustand widmet. Zudem finden sich in dem Werk viele Zutaten des venezianischen Repertoires von Cavalli und Monteverdi – komische Episoden, eine Amme, ein Eunuch und ein Hauptmann der Wachen. Die Musik weist einen Mix aus lyrischen Arien, Ariosi und Passagen im Stil des recitar cantando auf. Deidamia bringt die seriösen Teile ein, vor allem Lamenti, was sie in die Nähe zu Penelope aus Monteverdis Ulisse bringt, der ein Jahr früher heraus kam.

Die vorliegende Einspielung erfolgte im Juni 2021 in der Opéra Royal du Château de Versailles. Es handelt sich um jene Version, welche auf Tourneen durch Italien genutzt wurde. Leonardo García Alarcón leitet die von ihm 2005 gegründete Cappella Mediterranea solide, doch gelegentlich recht zurückhaltend. Solche Nummern wie die gravitätische Sinfonia liegen ihm besonders.

Die ausgeglichene Besetzung wird von Mariana Flores als Deidamia gebührend dominiert. Ihr Sopran zeichnet sich durch seine lyrischen Qualitäten, aber auch die dramatische Intensität mit gelegentlich bohrendem Ton aus. Ihre große Szene im 2. Akt „Ardisci, animo“ ist erschütternd in ihrer Wahrhaftigkeit und Tiefe. Nicht weniger ergreifend ist die Wahnsinnsszene im letzten Akt, in der sie von Achille phantasiert. Die Kastratenrollen des Ulisse und Achille werden von den Countertenören Carlo Vistoli und Paul-Antoine Bénos-Dijan wahrgenommen. Letzterer berührt in seiner vermeintlich aufrichtigen Empfindung für Deidamia, während Vistoli wie stets durch seine klangvolle, sinnliche Stimme imponiert.

Komödiantische Beiträge kommen vom Tenor Marcel Beekman als Nodrice und dem polnischen Counter  Kacper Szelazek als Eunuco. Beider Duett zu Beginn des 3. Aktes, „Quand’ ebbi d’oro il crin“, ist ein Kabinettstück zweier Vollblutsänger, die sich gegenseitig zu überbieten suchen. Salvo Vitale als Capitano lässt profunde Basstöne in seiner Szene „Spalancatevi abissi“ im 2. Akt hören und man bedauert, dass die Partie nicht größer ist. Die Bekanntschaft mit diesem Werk, eine der populärsten Opern des 17. Jahrhunderts, ist lohnend in jedem Fall. Bernd Hoppe

Polnischer Verismo

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Auf eine bewegte Geschichte blickt die polnische Stadt Lublin in Ostpolen zurück, die litauischen, russischen, österreichischen, deutschen und sowjetischen Einflüssen ausgesetzt war und die  nicht nur ein eigenes Opernhaus, sondern auch eine renommierte Musikakademie mit dem Namen Henryk Wieniawski besitzt. In deren Konzerthalle entstand im Oktober des Jahres 2021 die Aufnahme von Wladysław Želeńskis dritter von vier Opern mit dem Titel Janek, statt, die 1900 in Lemberg uraufgeführt worden war. Diese heute in der Ukraine liegende Stadt ist auch in anderer, sehr trauriger Weise mit der Familie  verbunden, denn ein Sohn des Komponisten war einer der von den Deutschen 1941 ermordeten polnischen Intellektuellen, die von ihren ukrainischen Studenten denunziert worden sein sollen. Die Untat ging als „Professorenmord“ in die Geschichte ein.

Želeńsky wurde in der Nähe von Krakau geboren, wo er auch studierte, ehe er nach Prag und danach nach Paris ging, um schließlich wieder nach Polen, nach Warschau und dann Krakau, wo er 1921 verstarb, zurückzukehren.

Die Musik zu Janek wird als eine Mischung von polnischen Volksweisen, vorzugsweise der Hohen Tatra, von italienischem Verismo und auch etwas Brahms beschrieben. Veristisch ist sicherlich die Handlung, ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang frei nach Cavalleria Rusticana, musikalisch überwiegen vor allem in den üppigen Chorszenen die folkloristischen Elemente.

Die schöne Bronka, verlobt mit dem Gebirgler Stach, hat den verwundeten Räuber Janek bei sich aufgenommen und gesund gepflegt. Beide haben sich ineinander verliebt, was der Geliebten  Janeks mit Namen Marynka nicht verborgen bleibt. Sie stachelt den eifersüchtigen Stach dazu auf, Janek zu erschießen, der tot vor den Augen der entsetzten Anwesenden zusammenbricht.

Bei You Tube findet sich die Aufnahme einer Arie des Janek aus dem Jahr 1929, auf der ein Tenor namens Salecki durchaus mit dem Timbre für einen Turiddu prunken kann. Auf der von Naxos zu verantwortenden Aufnahme wirken zumindest die Stimmen des unglücklichen Liebespaars ausgesprochen slawisch, so ist der Tenor, den Lukasz Gaj für die Titelpartie einsetzt, herb, metallisch, wirkt streckenweise etwas ungehobelt und überzeugt mehr durch prachtvolles Material als durch Gesangskultur. Die Mittellage ist angenehm farbig, insgesamt macht seine Leistung den Eindruck, als stehe sie unter dem Motto “Volle Kraft voraus“.  Malgorzata Grzegorzewicz-Rodek hat für die Bronka eine lieblich klingende mädchenhafte Sopranstimme, die wie eine voce dal cielo klingt. Viril, dunkel bis düster, dazu herb und kantig klingt der Bariton von Pawel Trojak, der den rachsüchtigen Stach gibt und durchaus an einen Alfio denken lässt. Einen fülligen, weichen Sopran, der fast Mezzoqualitäten aufweist, kann Agnieszka Kuk für die eifersüchtige Marynka einsetzen und ausgesprochen stählern im Forte klingen. Profund ist der Bass von Dariusz Gȯrski für den Marek.

Wunderschön hört sich der Women’s Choir oft the Henryk Wieniawski Philharmonic an, höchst markant I Signori Men’s Vocal Ensemble. Im Orchestergraben saust und braust es gewaltig, fegt Unheilschwangeres, auf pure Überwältigung Zielendes daher, zieht Dirigent Wojciech Rodek alle Register, um slawisch Volkstümliches und italienisch Veristisches miteinander zu vereinen und der ersten Einspielung des Werks zum Erfolg zu verhelfen (Naxos 8.660521-22). Ingrid Wanja   

Petre Munteanu

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In unserer Serie Operngeschichte erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

Und das bringt uns zu Petre Munteanu, dem rumänischen Tenor mit einer bemerkenswerten Karriere in Deutschland und Italien.

Zwei meiner liebsten geistlichen Aufnahmen mit ihm sind die beiden Oratorien von Mozart und Vivaldi, La Betulia liberata und Juditha triumphans unter Carlo Felice Cillario bzw. Alberto Zedda am Pult des Mailänder Angelicum Orchesters und Chores, schwer aus den Sechzigern und im Klang zwar Stereo aber doch recht betagt. Neben solchen eher regionalen, aber im damaligen Italien Säulen des Konzert- und Opernlebens seienden, Sängern wie Emilia Cundari (immerhin Tochter Bruno Walters), Oralia Dominguez, Adriana Lazzarini, Laura Londi, Irene Companeez (die Cieca im Rai-Studio neben der Callas) tritt Petre Munteanu leuchtend und prophetisch hervor, sein stets etwas melancholisches Timbre unverkennbar und seine Interpretation engagiert und voller Aussage. Das ist für mich musikalisches Drama, Aussage in Musik, ähnlich wie Marga Höffgen mit Vivaldis Stabat Mater oder Margarete Klose mit dem Lamento der Arianna – über stilistische Fragen hinweg gültige und überzeitliche Aufnahmen. Petre Munteanu ist auf Dokumenten reichlich vertreten, vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Hermann Scherchen, mit dem er viel von Bach aufgenommen hat (Matthäus-Passion, Kantaten, Weihnachtsoratorium, meist auf Vanguard und kleinen italienischern Firmen)., Ein Verdi-Requiem findet sich bei Decca-Eclipse Australien, Beethovens Neunte erneut unter Scherchen bei DG. Eine Schöpfung von Haydn hatte die Firma Andromeda, das Mozart-Rerquiem findet sich bei Archipel. Youtube und Spotify haben viel von Munteanu. G. H.

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Es gibt Sänger, die bleiben ein Geheimtipp. Auch weit über ihren Tod hinaus. Petre Munteanu ist so einer. Für mich zumindest. Ob Lied, Oratorium oder Oper, er war – mit Ausnahme der Operette – in allen Genres unterwegs. Preiser Records, seit Jahrzehnten für Ausgrabungen und Erbepflege bekannt und geschätzt, hat sich den Liedinterpreten vorgenommen und in einem Album mit drei CDs Werke von Franz Schubert und Robert Schumann zusammengestellt (89306). In dieser Konzentration erhalten die Aufnahmen, die verstreut und auch in anderen Zusammenstellungen auf den Markt gelangten, eine neue Bedeutung. Munteanu war immer gegenwärtig. Nicht auf den ganz großen Labels. Er führte ein vergleichsweise bescheidenes, aber feines Plattendasein. Fällt sein Name, dann nicken sich bis heute Kenner und Sammler wissend zu. Munteanu scheidet keine Geister und polarisiert nicht wie manche Stars und Platzhirsche der Szene. Dafür ist er nicht glamourös genug. Er gehört zu den Stillen. Er braucht keinen Lärm um seine Person.

Petre Munteanu/ die Preiser-3 CD-Box mit den Liederzyklen

In seiner Kompaktheit erweist sich das Preiser-Album auch als aufregende Fundgrube. Wer es besitzt, stellt es nicht in die hinterste Reihe des Regals. Bei mir bleibt es immer griffbereit. Schubert ist mit der Schönen Müllerin und dem posthumen Zyklus Schwanengesang in der damals üblichen Zusammenstellung und Reihenfolge vertreten, Schumann mit Dichterliebe, dem Liederkreis op. 24 und der Liedersammlung Myrthen. Alle Aufnahmen kamen zuerst auf Schallplatten bei Westminster heraus. Mit Ausnahme des 1952 eingespielten Schwanengesang sind die anderen Titel 1954 in Wien eingespielt worden, am Flügel begleitet Franz Holetschek. Munteanu war damals noch keine vierzig. Das schlägt sich positiv nieder. Er singt jung und ist allein dadurch in meinen Ohren emotional auf eine direktere Weise beteiligt als jemand, der die Lieder aus der Perspektive des fortgeschrittenen Alters deutet und interpretiert. Bei Munteanu werden Liebe, Schmerz, Glück oder Sehnsucht nicht sublimiert. Als Vortragender ist er selbst Betroffener. Deshalb überzeugt er mich so stark. Wenn ich ihm zuhöre, kann ich mich mit meinen eigenen Gefühlen nicht auf Kunst hinausreden. Ich muss sie zulassen.

Dieser Sänger verlangt einem auf seine leise, einnehmende Weise einiges ab. Er unterhält nicht, er fordert strikte Aufmerksamkeit ein. Im Grunde ist er auch ein bisschen humorlos. Man wird ihn so schnell nicht wieder los. Mir kommt es so vor, als singe er mache Passagen etwas gestelzt. Als müsse er ja alles richtig machen. Ein leichter Akzent verweise auf einen, der „fremd eingezogen“ ist. Die Winterreise ist leider nicht dabei. Mir ist auch gar keine Aufnahme von Munteanu bekannt. Kein Zweifel, dass sie ihm sehr gelegen hätte. Mitunter verunglücken Wendungen in der Aussprache total. Wenn aus dem „rauschenden Bächlein“ in Schuberts „Liebesbotschaft“ auch in der Wiederholung ein „Bööchlein“ wird, klingt das zwar merkwürdig – aber gar nicht komisch. Warum nur? Der aus Rumänien stammende Munteanu entdeckt – gezielt oder zufällig? – die Fremden und die Außenseiter, die in diesem deutschen Liedgut allgegenwärtig sind. Deshalb wirkt er auf mich so aktuell und zeitgemäß. Trotz der sprachlichen Eigenarten ist er musikalisch bestens aufgestellt. Sein Stil ist schlicht und schnörkellos. Er lässt sich Zeit beim Singen. Rhythmische Akzente unterbrechen oder bremsen den Fluss der Melodie nur dann, wenn es inhaltlich geboten ist. Natürlich ist den Mono-Aufnahmen ihr Alter anzuhören. Munteanu hingegen wirkt auf mich gar nicht historisch. Allein technische Umstände verorten ihn in seiner Zeit. Das muss kein Widerspruch sein. Rüdiger Winter

Petre Munteanu/ die bemerkenswerte „Matthäus-Passion“ unter Hermann Scherchen bei Vanguard

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Dazu ein Artikel von Kurt Malisch in der Beilage zur (inzwischen verrgriffenen) 3-CD-Preiser-Ausgabe: Ein tenore di grazia aus Rumänien – Petre Munteanu: Selbst versierte Stimmenkenner werden sich schwer tun, mehr als eine Handvoll Namen zusammenzubekommen, wenn sie nach Sängern gefragt werden, die aus Rumänien hervorge­gangen sind und die über die Grenzen ihres Landes hinaus Reputation erlangt haben. Die Sopranistinnen Stella Roman, Virginia Zeani und Ileana Cotrubas zählen dazu, die Baritone Nicolae Herlea und David Ohanesian – auch der Tenor Petre Munteanu. Gemeinsam mit seinen italienischen Kollegen Cesare Valletti, Giacinto Prandelli, Nicola Monti, Ferruccio Tagliavini setzte der Rumäne nach dem Zweiten Weltkrieg die große Tradition jener leichten, lyrischen, flexiblen Tenorstimmen fort, die vor allem in den Opern Mozarts und Rossinis, Bellinis und Donizettis zu Hause sind. Der Name, den man dieser „Tenor-Familie“ gegeben hat, ist zugleich Programm: „Tenore di grazia“. Das bedeutet: stimmliche Anmut und stilistische Eleganz haben Vorrang vor machtvoller Lautstärke und zwingender Durchschlagskraft, gesangstechnische Verfeinerung und Koloraturvirtuosität gelten mehr als plakatives Pathos und auftrumpfende Stentorwucht. Diese Tenöre sind Meister des musikalisch-gesanglichen Details, dem sie immer neu variierte Gestalt zu geben vermögen, dank nuancierter Phrasierungskunst, sublimer Ab­stufung der dynamischen Grade, vielfältiger Schattierung der Klangfarben, vollendeter Legato- beherrschung und feinster Pianissimokultur.

Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg galt vor allem der Süditaliener Tito Schipa als tenora- ler Inbegriff solcher Stimmperfektion. Es ist daher kein Zufall, dass gerade Schipa das tief ver­ehrte Vorbild Petre Munteanus war, ja mehr noch: die Schallplatten Tito Schipas waren es, die den rumänischen Künstler überhaupt dazu bewogen, dem Drängen seiner Musikerfreunde und Lehrer nachzugeben und selbst Sänger zu werden.

In dieser Rundfunkproduktion, die 1949 beim NWDR entstand, singt Petre Munteanu einen sehr sensiblen und in sich gekehrten Faust in der gleichnamigen Oper von Charles Gounod. Erschienen ist die Aufnahme beim schweizerischen Label Relief (CR 1923).

Geboren am 26. November 1916 in Campina nahe bei Bukarest, erhielt Petre Munteanu schon als Kind Klavier- und Geigenunterricht. Er war siebzehn, als er in das Konservatorium der rumä­nischen Hauptstadt eintrat, mit dem Ziel, Violinvirtuose zu werden. Seinem unverkennbaren Gesangstalent schenkte er lange keine Bedeutung, bis es zu jener schicksalhaften Begegnung mit den Tondokumenten Tito Schipas kam.Was den jungen Sänger vor allem faszinierte, war der mühelose instrumentale Umgang mit der Stimme, den Schipas Vokalkunst auszeichnete. Nun ent- schloss sich Munteanu zum Gesangsstudium, war aber mit seinen Fortschritten viel weniger zufrieden als seine Lehrer. Als er 1940 an der Bukarester Oper mit dem Conte Almaviva in Rossinis „II barbiere di Siviglia“ sein Bühnendebüt geben sollte, meinte er, dafür noch nicht reif genug zu sein und wählte für seinen Einstand die, wie er glaubte, weniger problematische Rolle des Cavaradossi in Puccinis „Tosca“.

Munteanus Absicht war es, bei Tito Schipa selbst zu studieren. Als dies nicht zu verwirklichen war, folgte er dem Rat seines Bukarester Lehrers und ging zur weiteren Ausbildung an die Berliner Musikhochschule zu Günter Weissenborn. Im Gepäck hatte er eine Schallplatte Tito Schipas mit der Arie des Conte Almaviva „Ecco ridente il cielo“. Er war fest entschlossen, die Bühne nicht mehr zu betreten, bevor er dieses Stück nicht im Stile und mit der stimmlichen Vollendung Schipas würde singen können. Und tatsächlich war er zum Neubeginn seiner Karriere an der Berliner Volksoper erst zu bewegen, als er im Berliner Rundfunk die bewusste Arie des Almaviva aufnehmen durfte. Anschließend bat er seinen Lehrer in das Berliner Funkhaus und spielte ihm beide Aufnahmen unmittelbar hintereinander vor. Erst als Weißenborn auf Ehrenwort versichert hatte, der ehrgeizige junge Sänger habe sein erstes Ziel erreicht und sei seinem großen Vorbild zumindest nahe gekommen, akzeptierte Munteanu das Angebot der Volksoper. 1943 begann der Tenor im Berliner Theater des Westens seine zweite Karriere. Seinen Einstand gab er in der Rolle des Filipeto in Ermanno Wolf-Ferraris musikalischem Lustspiel „Die vier Grobiane“. Sehr bald folgte der Ernesto in Donizettis „Don Pasquale“, der Pedrillo in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ und der Chäteauneuf in Lortzings „Zar und Zimmermann“. Und gegen Ende seiner ersten Spielzeit durfte Munteanu in seinem neuen Engagement auch den Cavaradossi singen, jene Partie, mit der er vier Jahre zuvor in Bukarest debütiert hatte. „Wer hätte gedacht, dass die Volksoper mit dem jungen Rumänen Petre Munteanu einen solchen Treffer landen würde“, schrieb eine Berliner Zeitung. Weiter hieß es: „Eine derart schnelle Entwicklung dieses viel versprechenden lyrischen Tenors hat gewiss niemand erwarten können. Hier scheint ein Gesangskünstler heranzuwachsen, der einmal die Nachfolge eines Tito Schipa antreten kann.“

Petre Munteanu/Donizettis „Don Pasquale“ bei Philips

Auch die Leitung der Volksoper war sich bewusst, welch kostbares Talent sie für ihr Ensemble gewonnen hatte und gönnte ihm das Wichtigste, was eine solche Begabung benötigt: Zeit zu reifen. Man setzte Munteanu zunächst überwiegend in leichten Spielpartien ein, mutete ihm nur ganz allmählich gewichtigere Aufgaben zu wie die Partie des Alfredo in Verdis „La traviata“. Dies war zugleich die letzte Berliner Rolle des Siebenundzwanzigjährigen. Am 1. September 1944 wurden alle deutschen Bühnen geschlossen um ihr Personal für den Einsatz im „totalen Krieg“ freizustellen. Damit war für lange Zeit das deutsche Theaterleben erloschen. Munteanu wurde noch für einige Opern- und Liedaufnahmen im Rundfunk verpflichtet, dann war auch das nicht mehr möglich. Er verließ Deutschland, kehrte aber nicht in seine rumänische Heimat zurück, sondern fand sein neues Zuhause in Italien. 1947 in Rom begann Petre Munteanu zum drittenmal seine Laufbahn, als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“. Am 17. April desselben

Jahres gab er seinen Einstand an der Mailänder Scala, als Ferrando in „Cosi fan tutte“, neben Suzanne Danco als Fiordiligi und Giulietta Simionato als Dorabella, unter der musikalischen Leitung seines rumänischen Landsmannes Jonel Perlea. Damals erschien auch Munteanus Idol Tito Schipa noch auf der Bühne der Scala, im Dezember 1947 als Nemorino in Donizettis „L’elisir d’amore“, im stattlichen Alter von immerhin 58 Jahren. Während Schipa den Opern Mozarts eher aus dem Weg gegangen ist, machte sich Munteanu gerade in Partien dieses Komponisten einen Namen. Im Lauf der nächsten Jahre eignete er sich ein sehr umfangreiches Repertoire an, das von altitalienischen Arien bis zu moderner Musik reichte, von Domenico Cimarosas „Credulo“ bis zu Alban Bergs „Wozzeck“ und Igor Strawinskys „Persephone“. Ein denkwürdiges Datum war der 2. April 1952, als Petre Munteanu als Belmonte neben der jungen Maria Callas als Konstanze in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf der Bühne der Mailänder Scala stand. Im Jahr darauf kehrte der Rumäne dann wieder nach Berlin zurück, für ein Konzert mit Liedern und Arien von Gluck, Händel, Scarlatti, Pergolesi und Caccini. Auch von verschiedenen Rundfunkanstalten wurde der Tenor nun wieder verpflichtet. So entstand unter anderem beim Norddeutschen Rundfunk Anfang der fünfziger Jahre eine Gesamtaufnahme von Gounods „Faust“ mit Munteanu in der Titelpartie.

Petre Munteanu – stets ein Eleganter/ OBA

Das künstlerische Zentrum des Sängers blieb jedoch Italien, wo er an zahlreichen großen Bühnen auftrat, in Rollen wie Almaviva, Fenton („Falstaff‘), Belmonte und Pedrillo, Pylades („Iphigenie en Tauride“). 1954 wirkte er in Rom in der italienischen Erstaufführung von Rimsky-Korsakovs Oper „Snegurotschka“ mit. 1961 hob er in Venedig Luigi Ninos „Intolleranza“ mit aus der Taufe. Häufig führten ihn Gastspiele an andere bedeutende europäische Opernhäuser: an den Londoner Covent Garden, an die Münchner und Wiener Staatsoper, das Teatro Real in Madrid. Auf überaus erfolgreichen Tourneen bereiste er Australien, Indien, Pakistan und Japan. Noch während seiner aktiven Sängerlaufbahn begann Munteanu seinen musikalischen Wirkungskreis zunehmend zu erweitern: 1969 erlebte ihn Turin erstmals am Dirigentenpult, er veröffentlichte musikwissenschaftliche Aufsätze, promovierte mit einer Dissertation über Hugo Wolf und versuchte sich auch als Komponist. Nach seinem Abschied von der Bühne wirkte er in Mailand als begehrter Gesangspädagoge am Conservatorio Giuseppe Verdi, zuletzt war er Direktor der Accademia di Canti di Milano. In Mailand ist Petre Munteanu am 18. Juli 1988 gestorben (Foto oben: Munteanu als Faust). Kurt Malisch (in der Preiser Box 89306)

Einer für alle

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Warum wohl änderte Christof Loy die von Pucccini für sein Trittico vorgesehene Reihenfolge von Il Tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi in Gianni Schicchi, Il Tabarro und Suor Angelica? Wollte er 2022 in Salzburg dem Publikum das befreiende Gelächter nach dem veristischen Reißer und dem frommen Rührstück versagen? Oder hatte er ganz einfach erkannt, dass seine Protagonistin für alle drei Einakter, die Sopranistin Asmik Grigorian,  sich nur so vom Einsingen als Lauretta über Giorgetta als ein Glied des Trio infernal zur Primadonna assoluta einer Angelica steigern konnte? Entsprechend jedenfalls fiel der Beifall für sie aus, der sich von freundlich über herzlich bis zu frenetisch steigern konnte. Bedenklich stimmt die Besetzung der drei Partien trotzdem, denn die Lauretta der Grigorian erreichte nicht die sich einschmeichelnde Dolcezza der Besten in dieser Partie, ihre Giorgetta musste sich davor schützen, sich ganz zu verausgaben, denn für die Suor Angelica brauchte sie noch lyrische Leuchtkraft sowie für das „Senza Mamma“ gebändigte Expressivität und ein wunderschönes Diminuendo zum Schluss.

Bei Christof Loy kann der geplagte Opernfreund davor sicher sein, Geschmacklosigkeiten und Entstellungen ertragen zu müssen, auch wenn seine Inszenierungen immer ein wenig kalt wirken. Kahl und riesig ist das Gemach (Bühne Ètienne Pluss), in dem Buoso Donati sein Leben ausgehaucht hat. Die Verwandtschaft in Fünfzigerjahreskostümen (Barbara Drosihn) sitzt (wie in unendlich vielen anderen Produktionen bisher) aufgereiht an einer Wand, ist bereits beim Leichenschmaus, der natürlich aus Spaghetti Bolognese besteht, während die Besetzung alles andere als italienisch ist. Viele lustige Details unterhalten das Publikum bestens, so wenn einige Familienmitglieder sich bereits am Tafelsilber und anderem bereichern oder die Kerzen auslöschen, da das Geld dafür vom Erbe abgehen könnte.

Ein mächtiges Trumm von einem Kerl ist der Gianni Schicchi von Misha Kiria, einem georgischen Sänger mit einem vollmundigen Bariton voller Farbe, Saft und Kraft. Ihm nimmt man eher machtvollen körperlichen Einsatz als hinterlistigen Witz ab. Alexey Nekklyudov ist Rinuccio, optisch attraktiv,  mit einem durchdringenden „Firenze“ ohne Tenorschmelz und Poesie, dazu enger Höhe. Optisch wie akustisch ragt aus der Schar der Verwandtschaft Scott Wilde als Simone heraus. Auch Enkelejda Shkosa, die noch in zwei weiteren Partien zu erleben ist, kann als Zita mit üppigem Mezzosopran reüssieren. Insgesamt ist leider viel von dem, was der Italiener „a squarcia gola“ nennt, zu vernehmen. Feiner und italienischer hören sich die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst an.

Viel zusätzliches Personal, so Midinetten und Tänzer gibt es für Il Tabarro, ohne dass das Stück dadurch bereichert erscheint, auch Un amante wie Un‘ amante dürfen sich länger auf der Szene tummeln als vorgesehen. Ein riesiger Schleppkahn, vor dem man ein Wohnzimmer samt Stehlampe aufgebaut hat, beherrscht die Szene. Asmik Grigorian ist eine Jean-Harlow-Kopie, für die sich die Regie viele schlüssige Details ausgedacht hat, so wenn sie erst das Antlitz des Gatten zärtlich berührt, sich dann aber verstohlen die Hand abwischt. Eine ausgefeilte Personenregie kann auch hier überzeugen. Scott Wilde und Enkelejda Shkosa , später noch Suora Zelatrice, sind auch als Il Talpa und La Frugola darstellerisch wie vokal ein Gewinn, zu ihnen gesellt sich als ebensolcher Andrea Giovannini als Il Tinca. Hell und strahlend, aber doch recht kühl bleibend, füllt Asmik Grigorian die Partie der Giorgetta aus. Schon einmal optisch ideal rollendeckend sind Roman Burdenko als Michele und Joshua Guerrero als Luigi. Vokal hat Ersterer Wärme wie Autorität in seinem Bariton, während der Tenor mit einheitlich dunklem Timbre, weniger mit erotischem Flair punkten kann.

Die Nonnentracht ist kaum modischen Zwängen unterworfen, und so kann man lediglich am Kostüm der Zia Principessa, ein strenger Hosenanzug zu ebensolchem Herrenhaarschnitt, festmachen, dass auch hier die Handlung in moderne Zeiten verlegt wurde. Recht idyllisch und in freundlicher Atmosphäre spielt sich das Leben im Kloster ab, am Schluss gibt es keine Marienerscheinung und keinen tödlichen Trank, sondern Angelica sticht sich mit einer Schere beide Augen aus, ihr Kind läuft auf sie zu und umarmt sie. Davor allerdings zeigte die Nonne durchaus weltliche Gelüste, wenn sie sich aus einem Koffer mit Kleinem Schwarzen und Lippenstift fein machte und genussvoll eine Zigarette rauchte. Viel Wärme in ihrem Mezzosopran hat Hanna Schwarz als Badessa, während Karita Mattila trotz einschüchternder Optik weder darstellerisch noch vokal die Eiseskälte der Zia Principessa vermitteln konnte. Asmik Grigorian hingegen bewältigte zwar alle drei Partien, doch ist ihre achtenswerte Leistung durchaus kein Plädoyer für die Besetzung mit nur einer Sängerin (Major 809004). Ingrid Wanja

Wien liegt im Erzgebirge

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In der Geschichte der deutschsprachigen Operette bedeutet die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten Anfang 1933 einen radikalen Einschnitt: Die bis dahin erfolgreichsten Komponisten und Librettisten waren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) jüdisch, Aufführungen ihrer Werke im Deutschen Reich wurden umgehend verboten. Sie setzten ihre Karrieren in Wien (bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938), Budapest, Paris (bis zum Ausbruch des II. Weltkriegs) oder Zürich fort und waren dort mit neuen Stücken sehr wohl erfolgreich, aber diese Exil-Operetten wurden gewöhnlich nicht nachgespielt (schon gar nicht im Ausland!) und gerieten spätestens nach 1945 ganz und gar in Vergessenheit.

Ralph Benatzky/ Foto Discogs

Ein neues Interesse an diesen Werken, mit denen die Gattungsgeschichte der Operette an ihr Ende gelangt, ist erst in den letzten Jahren zu registrieren: Von Paul Abraham wurde Roxy und ihr Wunderteam(ungarisch Budapest 1936, deutsch Wien 1937) 2014 in Dortmund erstmals wieder gespielt und war zuletzt in der Volksoper Wien (Herbst 2021) zu sehen; im Sommer 2021 kam in Nürnberg Abrahams Märchen im Grand Hotel (Wien 1934) auf die Bühne. Die Volksoper Wien spielte 2016 Ralph Benatzkys „musikalisches Lustspiel“ Axel an der Himmelstür (Wien 1936). Benatzky ist auch der Komponist der „Kammeroperette“ Zur gold’nen Liebe (Berlin 1931), die im Juni 2021 mit großem Erfolg von der Bühne Burgäschi, einer Schweizer Truppe operettenbegeisterter Amateure, aufgeführt wurde.

Benatzky war nicht jüdisch, er verließ Deutschland, weil ihm das Regime des „Führers“ (den er gern den „Baedeker“ nannte) zuwider war. Am Deutschen Volkstheater in Wien kam im April 1936 seine Operette Der reichste Mann der Welt heraus. Die erfolgreiche Inszenierung sollte die einzige bleiben, erst 2021 stellte das Theater in Annaberg-Buchholz das Werk wieder auf den Prüfstand (dazu den Rezension von Rolf Fath in unserer Rubrik Die besondere Oper; nun als DVD in einer Aufzeichnung von 2022  bei der Firma Rondeau ROP9018 zum Nacherleben erschienen; die nachstehende Rezension von Albert Gier vermittelt seinen Eindruck vom Besuch des Eduard-von-Winterstein-Theaters in Annaberg am 16. Juli 2023. G. H.)

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Da die Orchesterpartitur verlorenging, hat Wolfgang Böhmer das Stück auf der Grundlage von Benatzkys Klavierauszug neu orchestriert. Böhmer und GMDJens Georg Bachmann, der Dirigent der Aufführung, betonen übereinstimmend, dass die Musik das Idiom der Wiener Operette mit Elementen der amerikanischen Musical Comedy verbindet. Das kleine Orchester in Annaberg-Buchholz besteht aus neunzehn Instrumenten, darunter Orchesterklavier und natürlich Schlagwerk.

Das Libretto von Hans Müller ist gut konstruiert, wenn auch nicht ganz so inspiriert wie die Bücher, die z.B. Curt Goetz (Zirkus Aimé) oder Willi Wolff und Martin Zickler (Zur gold’en Liebe; der Komponist wird als Mitautor genannt) für Benatzky schrieben. Regisseur Christian von Götzrückt das Stück in die Nähe der Boulevardkomödie, die sich durch hohes Tempo auszeichnet. Von Götz beschreibt sie als „Theater, wo die Türen klappern“, als sein eigener Bühnenbildner entwarf er einen abstrakten Raum, dessen Hintergrund eine gewölbte, aus verschiedenfarbigen Segmenten bestehende Wand bildet, in jedem zweiten Segment gibt es eine Tür. Im Verlauf des Abends wird bald die eine, bald eine andere Tür (von außen oder innen) aufgerissen, dahinter wird jeweils eine der Figuren sichtbar, die wieder verschwindet, wenn die Tür (meist recht schnell) wieder geschlossen wird.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Die Türen klappern also tatsächlich, allerdings nicht wie im französischen Bühnenschwank: Dort führt das Öffnen einer Tür meist zur unverhofften Begegnung von Figuren, die einander unbedingt aus dem Weg gehen wollen, vor allem an kompromittierenden Orten (z.B. in einem Stundenhotel). In der deutschsprachigen Operette ist der zweite Akt von Heubergers Opernball ein Musterbeispiel für diese Dramaturgie. Solche peinlichen Begegnungen gibt es in Der reichste Mann der Welt nicht, das Öffnen und Schließen der Türen steigert vor allem das Tempo des Bühnengeschehens, ist also letztlich funktionsloser Aktionismus, den sich der Zuschauer allerdings gern gefallen läßt.

Bevor das Spiel (ohne Ouvertüre!) beginnt, verbirgt ein pinkfarbener Vorhang die untere Hälfte des Bühnenbilds, der später als Gliederungssignal dient, zwischen den einzelnen Szenen wird er jeweils kurz zugezogen. Die Aufschrift („Einen Hut will ich tragen im ersten Akt (…) Und im vierten Akt… da komme ich nackt“) verheißt Frivolität, die Inszenierung löst dieses Versprechen allerdings nur zum Teil ein.

Die Geschichte, die laut Textbuch 1893 spielt, erhebt keinen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit: Die Ziegelei, die die aristokratische Familie der blonden Ilka betreibt, ist in Schieflage geraten, man schuldet Ludwig Reingruber in Wien, dem „reichsten Mann der Welt“, viel Geld. Würde Ilka Reingrubers Sohn Schorsch („Schorsch“ ist eine Dialektform des Vornamens Georg, aber auch ein verbreiteter jüdischer Nachname, verweist also indirekt auf die Herkunft des jungen Mannes und seines Vaters) heiraten, wären die Probleme gelöst, aber Ilka denkt nicht daran, sich ohne weiteres „verloben“ zu lassen. Schorsch leistet ebenfalls Widerstand, denn er will nicht ins Bankhaus seines Vaters eintreten, sondern als Opernsänger Karriere machen und hat offensichtlich auch das Zeug dazu.

Erwartungsgemäß kommen sich die beiden (wie zahllose andere Operetten-Paare) schnell näher, wenn sie einander kennenlernen, ohne zu wissen, wer der jeweils andere ist: Im Schnellzug, der Ilka nach Wien, Schorsch nach Venedig bringen soll, liegen ihre beiden Abteile nebeneinander – in Annaberg sind die „Abteile“ zwei Kommoden, aus deren Tiefen die Fahrgäste auftauchen, wenn der Schaffner – eine groteske Figur mit grünem Turban – nach den Billetten fragt. Die Szene zitiert den Donauwalzer, umtextiert und musikalisch verfremdet – der Tradition entsprechend sind die Walzer Ausdruck zärtlicher Gefühle.

Der energische, etwas hyperaktive Milliardär Reingruber schwingt sich an einem Seil auf die Bühne. Die Eingangspost – einen ganzen Sack voll! – verstreut er in der Gegend, der leere Sack leitet über zu dem szenischen Gag, dass alle Darsteller beim Sackhüpfen mitmachen – ähnlich wie das Rollschuhlaufen in einer der folgenden Szenen verstärkt das Sackhüpfen vor allem den Eindruck atemlos hohen Tempos.

Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“ in Annaberg/ Foto Dirk Rückschloss/ETO

Ilka und Schorsch bezeugen einander ihre Liebe wortlos in einer Tanzszene zu spanischen Rhythmen (Benatzky stellt einmal mehr unter Beweis, dass er ein Meister der Stilkopie ist). Dennoch gibt der junge Mann schließlich auf und tritt doch ins Bankhaus seines Vaters ein; der schickt ihn zur Börse, um die Neuemissionen aufzukaufen. Dass Schorsch das nicht tut, erweist sich im Nachhinein als Glücksfall, er bewahrt seinen Vater dadurch vor großen Verlusten. Für die Zukunft der beiden jungen Leute wagt ein Mitglied von Ilkas Familie die Prognose: „Entweder er heiratet sie – oder er bringt sie um!“, was den Einwand provoziert: „Aber das ist doch ein und dasselbe!“

Intimität wird sichtbar, wenn die beiden sich eng umschlungen in den Vorhang wickeln; für die Zuschauer unsichtbar tauschen sie die Kleider, Ilka trägt dann sein Jackett über ihren Strumpfhosenbeinen, Glöckner macht als auch als Damenimitator im Kleid gute Figur. Zum guten Schluß zieht das Ensemble das Fazit: „Wer ist der reichste Mann der Welt? / Der seinen Schatz im Arme hält!“

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Unter der ebenso engagierten wie souveränen Leitung von Jens Georg Bachmann leistet das kleine Orchester Beachtliches, Benatzkys schwungvolle Melodien werden mit viel Verve und dennoch präzise dargeboten, es macht Spaß zuzuhören. Aus einem sehr homogenen Ensemble (an dem kleinen Theater sind der Spielzeit-Broschüre zufolge weniger als zehn Sänger fest engagiert, nur fünf Rollen konnten mit hauseigenen Kräften besetzt werden, die übrigen sind Gäste) ragen Richard Glöcknerin der großen, anspruchsvollen Rolle des Schorsch und die attraktive Madeleine Vogt als Ilka heraus: Glöckner vermag den Eindruck zu vermitteln, dass Schorschs Hoffnungen auf eine Opernkarriere nicht unbegründet sind, er überzeugt mit der Strahlkraft seines lyrischen Tenors. Madeleine Vogt zeichnet das nuancierte Portrait einer kapriziösen, energischen und zugleich zu tieferen Gefühlen fähigen jungen Frau. Auch alle anderen füllen ihre Rollen musikalisch überzeugend und mit viel Spielfreude aus, was beachtlich ist, da alle fast ständig in Bewegung sind (Choreographie: Leszek Kuligowski): als Ilkas Eltern László Varga(Thassilo) und Bettina Grothkopf (Marie), als ihre Großeltern Leander de Marel (Anselm Hugelmann; er schwäbelt, weil er ein „Banater Schwabe“ ist) undJudith Christ-Küchenmeister(Philippine), als Schorschs Faktotum und alter ego Bandi Christian Wincierz(der auch den „Schlafwagenkondukteur“ spielt), als „reichster Mann“ Ludwig ReingruberJason-Nandor Tomory; außerdem Marvin George(Graf Bronsky), Nadine Dobbriner (Juliska) und Stefanie Ritter(Zenzi).

Der Autor: Albert Gier/Foto BR

Der reichste Mann der Welt ist eine rundum gelungene, musikalisch attraktive und amüsante Operette; dass sich das Theater in Annaberg-Buchholz des vergessenen Werkes annahm, ist sehr verdienstlich, das Ergebnis geriet überzeugend. Einmal mehr wünscht man sich, die Produktion möge den Anstoß geben zu weiteren Inszenierungen, die die im Werk angelegten Möglichkeiten durch andere szenische (und musikalische) Lesarten ausloten könnten. Albert Gier/ 16. Juli 2023 (mit Dank an das ORCA/ Operetta Centre Amsterdam, bei dem dieser Artikel von 2023 erstmals erschien, Dank an den Autor und den Chefredakteur Kevin Clarke für die Erlaubnis zur Übernahme).

Potsdamer Festspiel Dokument

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Inseln lautete das Motto der Festspiele 2022. Im Schlosstheater des Neuen Palais Sanssouci konnte man die Bekanntschaft mit Giuseppe Scarlatti machen, vermutlich einem Neffen der weit berühmteren Komponisten Alessandro und Domenico. Sein dramma giocoso per musica I portentosi effetti della Madre Natura von 1752 (uraufgeführt in Venedig) ist eine veritable Rarität, wurde 1768 im Schlosstheater des Neuen Palais aufgeführt, wohin es nun zurückkehrte. dhm hat die Aufführungen vom 12. und 14. Juni mitgeschnitten und auf zwei CDs veröffentlicht (19658794542).

Das Libretto stammt von keinem Geringeren als Carlo Goldoni: Zentrale Figur ist Celidoro, der während eines Sturmes aus der Inhaftierung auf der Insel Mallorca, ausbrechen kann. Plötzlich erlebt er die Freiheit und lernt die Welt der Menschen kennen, vor allem die rätselhafte der Frauen. Er möchte sie gleich alle besitzen und muss erst lernen, dass hier eine Entscheidung Not tut. Der Tenor Rupert Charlesworth, seltsamerweise im Booklet als Sopranist ausgewiesen, gibt ihn mit lebhafter  Stimme, die gleich in seiner ersten Arie („Donna, vi lascio“) mit kraftvollen Spitzentönen imponiert.

Cetronella (Benedetta Mazzucato mit klangvoll gerundetem Mezzo) und Ruspolina (Maria Ladurner mit lieblichem Sopran) sind Konkurrentinnen um die Gunst Celidoros, der noch nicht weiß, dass er ein König ist, am Ende aber doch Cetronella zur Gattin wählt. Alle vereinen sich zum stürmischen Schlusschor „Oh gran Madre“ als eine Hymne an Mutter Natur.

Natürlich gibt es auch einen Bösewicht im Stück – es ist Ruggiero, der einst seinen Rivalen Celidoro ins Gefängnis bringen ließ, am Schluss aber samt seiner Gattin Lisaura von Celidoro frei gelassen wird und sogar noch die Ostküste der Insel Mallorca erhält. Der renommierte Counter Filippo Mineccia beginnt stimmlich etwas verhalten in seiner schwärmerischen ersten Arie, die von zärtlicher Lust kündet („Se d’un tenero Cupido“). Die Soli im 2. Teil der Aufführung liegen ihm besser in der Kehle, so „Sarai felice“ mit furiosem Mittelteil und vor allem sein letzter Auftritt im 3. Akt („Ti chiedo la morte“) von rasender Attacke. Giovanni Benvenuti hat diese fulminante Arie rekonstruiert. Eine internationale Größe im Barockrepertoire ist Roberta MameliIhr Sopran ist im Volumen gewachsen, hat aber nichts an Flexibilität und Virtuosität verloren. Die staccati in Lisauras Arien sind  delikat getupft und glitzern mirakulös. In der Besetzung ohne jeden Schwachpunkt bringen Niccolò Porcedda als Poponcino und João Fernandes als Vater Calimone mit soliden Stimmen die kontrastierend tiefen Töne ein.

Dorothee Oberlinger/ Foto Sony

Wieder ist Festspielintendantin Dorothee Oberlinger die Entdeckung eines musikalisch zauberhaften Werkes zu danken. Mit ihrem ENSEMBLE 1700 reizt sie den Charme und Esprit, aber auch die dramatischen Effekte der Musik mitreißend aus. Das beginnt mit der beherzten Ouvertüre, setzt sich fort bei den reizvoll instrumentierten Nummern (oft mit Tambourin und Kastagnetten) und reicht bis zu einigen Affekt geladenen, gesanglich anspruchsvollen Da capo-Arien. Interpolierte Orchesterstücke und Passagen mit Bläserglanz und Trommelwirbel bieten abwechslungsreiche Farben und Stimmungen. Ihr gebührt Dank für diese Insel musikalischer Glückseligkeit. Man hofft nun auch auf Festspieldokumente von diesem Jahr, welches das schöne Motto „In Freundschaft“ trug. Bernd Hoppe

Glyndebourne Klassiker

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Sperrmüll oder Flohmarkt. Als Vintage deklariert bekommt das alte Zeugs einen eindeutig feineren Anstrich. So ist die Begeisterung zu verstehen, die der annähernd 40 Jahre alten, gefühlt aber noch viel älteren, mehrfach auf Video und DVD erschienen Aufführung von Albert Herring in der Inszenierung von Peter Hall Inszenierung entgegenschlägt. It’s „British opera at it’s best“, so der Daily Express oder wie die auf der Vorderseite der Opus Arte DVD zitierte Sunday Times schwärmte „a vintage production with a vintage cast“ (OA 1375D). Die Aufführung versammelt alles, was das zum exklusiven Festspielort avancierte Landhaus in Sussex in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bieten hatte, als Bernard Haitink von 1978-88 die musikalische Leitung innehatte. Herrlich altmodisch. Absolut passend für ein Stück, das hier 1947 zum naserümpfenden Missfallen des Festspielgründers uraufgeführt und knapp 40 Jahre später, genau im Juli 1985, zu einem der größten Erfolge der Festspiele wurde und provinzielle Engstirnigkeit und moralischen Dünkel anprangert. Peter Hall und sein nicht minder berühmter Ausstatter John Gunter haben den englischen Kleinstadtmief um 1900 samt den schweren Renaissancestühlen, Decken, Vorhängen und dem finsteren Mobiliar in Lady Billows dunklen Salon gerettet, wo die Honoratioren des Ortes mit finsteren Äußerungen und dunkler Gesinnung die jungen Damen des Ortes behängen und deshalb bei der Wahl der Maienkönigin auf den tugendhaft einfältigen Albert Herring ausweichen müssen. Die Satire auf die Doppelmoral verlogener Kleinbürger wird bei Hall zu einer Komödie über die Unzulänglichkeiten der kleinstädtisch viktorianischen Gesellschaft, die er in einer Ansammlung skurriler Charakterköpfe präzise entwirft:

Eine Garde verdienter britischer Sänger halten die Glyndebourne-Ensemblekultur hoch. Sie sind, angeführt von der herrlich aufgeplusterten und matronenhaft vibratostarken Patricia Johnson als Lady Billows, durchweg überzeugend, exzentrisch, skurril, knapp vorbei an einer Karikatur, lächerlich und ernst zugleich. Auf der DVD sowie im Beiheft lassen sich die gestochen weiß gesetzten Namen gut lesen, kaum jedoch die matt rot auf braun schwarz gesetzten Rollen dazu. Eine Unart.  Mehr erahnen als tatsächlich lesen kann man, dass Felicity Palmer als Florence Pike eines ihrer frühen eigenwilligen Porträts liefert, Alexander Oliver den Bürgermeister gibt, Derek Hammond-Stroud den Vikar und Richard Van Allan den Superintendenten. Großartig, wie sie unter Führung der Lady im Laden der Mrs. Herring (mit deftigen Akzenten: Patricia Kern) einziehen, um ihre Wahl des Maikönigs zu verkünden. Der passend farblose John Graham-Hall war, grell und greinend singend, etwas glubschäugig und linkisch, der Albert einer Generation, dem man damals noch nicht seine lange Karriere in zahlreichen zeitgenössischen Stücken und Werken der klassischen Moderne vorhergesagt hätte. Ähnliches gilt für den Bariton Alan Opie als Sid, der eine feste Größe in Glyndebourne wurde und 2008 als Vikar zurückkehrte, und Jean Rigby als frühreife Nancy. Unaufdringlich und in mit vielen liebevollen Details – man schaue sich nur die köstlichen Exzesse bei der Kuchentafel am Ende des zweiten Aktes an – führt Peter Hall vom Salon der Lady Billows durch den Gemüseladen auf die Festwiese, ebenso feinsinnig, elegant und selbstverständlich steuert Haitink durch die Partitur, deren steifleinener Humor sich im Retro-Chic bestens ertragen lässt.     Rolf Fath

Dürftige Ausstattung

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Hätte Richard Jones Mussorgskys Oper Boris Godunov an Londons Opernhaus Covent Garden anders inszeniert, wenn es nicht bereits 2016, sondern erst 2022 geschehen wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine? Vielleicht hätte er nicht auf die Urfassung von1869 ohne Polenakt und ohne die Szene mit der Klage des Gottesnarren um das Schicksal Russlands zurückgegriffen, die dem abschließenden Tod des Boris vorausgeht und so aktuell erscheint, dass es einen fast gruselt. Auch dem Berliner Publikum ist die Inszenierung aus London bekannt, denn es handelt sich um eine Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, die hier 2019 gezeigt wurde, nicht mit Bryn Terfel wie in London in der Titelpartie, sondern mit Ain Anger, der wiederum in London der Pimen war, während Terfel nur zu einem Gastspiel in Berlin erschien.

Die Bühne von Miriam Buethe ist in ein Oben und ein Unten unterteilt, der Hintergrund des oberen Teil gülden wie der russischer Ikonen, und in ihm spielt sich immer wieder und fast zum Überdruss oft die Ermordung des mit einer bunten Kugel spielenden Zarewitsch ab, das letzte Mal als die des jungen Fjodor, Boris‘ Sohn. Die Kostüme von Nicky Gillibrand sind für die Oberen bunt wie russischer Lackmalerei abgeschaut, für die Unteren von hässlicher Eintönigkeit, Folkloristisches wird nicht verschmäht, aber nicht überbetont, wie die Gewandung der Wirtin beweist. Eindrucksvoll mit Zarenporträts ausgestattet ist die Zelle von Pimen, nur das letzte davon blieb unvollendet. Zeit und Ort des Geschehens, Russland um 1600, bleiben erhalten, ohne in Opernkitsch abzugleiten.

Obwohl mit keinem einzigen muttersprachlichen oder auch nur slawischen Sänger besetzt, wirkt die Aufführung äußerst authentisch, und obwohl nicht mit einem Bass des Kalibers Boris Christoff oder Nikolai Ghiaurov besetzt, wird die Titelpartie vom Bassbarion Bryn Terfel fesselnd und ergreifend gestaltet, nicht mit einer Überwältigungsstimme, aber mit warmen, auch oft weichen Tönen die Stimmungsschwankungen, denen die Figur unterworfen ist, eindrucksvoll vermittelnd. Viel Bassautorität, Sanftheit und Fülle strahlt die Stimme von Ain Anger als Pimen aus. Ein Kabinettstück, eine perfekte Mischung von Würde und Komik, bietet John Tomlinson als Varlaam mit immer noch hochpräsenter Stimme. Kostas Smoriginas hat einen ebenmäßig gefärbten, autoritätvermittelnden Bariton für den Anführer der Bojaren. David Butt Philip stattet den falschen Dmitri mit feiner Schauspielkunst und einem angemessenen Charaktertenor aus. Als blasser, lauernder Bürokrat  ist John Graham-Hall als Shuisky eher optisch als akustisch eindrucksvoll. Eine ausgesprochen farbig und geschmeidig klingende Stimme setzt Jeremy White für den Polizeioffizier ein. Die klare Diktion und eine angemessene plärrende Stimme beweisen die Eignung Andrew Tortises für den Gottesnarren. Zarewitsch Fjodor findet in dem Jungen Ben Knight einen auch akustisch erstaunlich präsenten Vertreter.

Ohne die Polin Marina haben die Frauen in dieser Fassung nicht viel zu sagen bzw. zu singen. Aber Rebecca De Pont Davies macht optisch wie akustisch sehr viel aus der deftigen Wirtin, Vlada Borovno ist eine anrührende Xenia und Sarah Pring eine mit weichem Alt tröstende Amme.

Der Chor von Covent Garden, einstudiert von Renato Balsadonna, singt höchst kultiviert, aber auch, wenn angebracht, mit dem notwendigen Aplomb, das Orchester unter Antonio Pappano sorgt für eine schöne Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben, ist eher in begleitender denn dominierender Funktion zu vernehmen. Das Booklet ist so dürftig, dass es nicht einmal eine Trackliste besitzt (Opus Arte BD7314D). Ingrid Wanja