Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Loy allerorten

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Das kann er. Gesellschaftsszenen inszenieren. Bis in die Nebenfiguren raffinert ausgeleuchtet mit Augenaufschlag und Fingerschnippen, erotische Annäherungen abseits des Hauptgeschehens. Das hatte Christof Loy im strahlend hellen Einheitsraum für Salome gerade in Helsinki demonstriert, als er die Szene anschließend im Mai 2022 im marmorschweren dunklen, selbstverständlich von Johannes Leiacker entworfenen Jahrhundertwend- und Art Deco-Ambiente für Schrekers Schatzgräber in Berlin als Abendgesellschaft abwandelte. Loy ist ein Schatzfinder, wo manchmal nur Tand verborgen ist. Das ist meist vorhersehbar brillant, so in dieser Aufführung an der Deutschen Oper, wo Loy u.a. Schrekers ebenso erfolgreichen und ebenso lange vergessenen Kollegen Korngold mit dem Wunder der Heliane gehuldigt hatte – ebenfalls bei Naxos auf DVD verfügbar wie die Berliner Francesca da Rimini von Zandonai. Korngold und Schreker hatten mit Die tote Stadt bzw. Der Schatzgräber die größten Opernerfolge des Jahres 1920 geliefert. Zeitgleich mit dem Schatzgräber (Blu-ray Naxos NBDO173V) kam ebenfalls bei Naxos die bereits Ende 2018 am Theater an der Wien erarbeitete Euryanthe heraus (DVD 2.110656). Im Gegensatz zum Schreker, den ich in Straßburg gesehen hatte, wohin er noch im Herbst 2022 als französische Schatzgräber-Erstaufführung wanderte, blieb die Euryanthe auf Wien beschränkt. Das rätselhafte Märchen vom fahrenden Spielmann Elis, dem „Schatzgräber“, der mit seiner Wünschelrute den Schmuck der über den Verlust depressiv gewordenen, dekorativ drapierten Königin wiederbeschaffen soll, wird von Loy in seinem psychologisch verästelten Salonstück elegant umschifft. Den Schmuck hat die junge Els, eine manipulative Frau und Mordanstifterin, deren Verführungskunst die Männer fast reihenweise zum Opfer fallen und die am Ende nur der Narr vor dem Schafott retten kann. Elis, der eine wunderhafte Liebesnacht mit ihr erlebt und sich von ihr abgewendet hatte, singt sie in den Tod. Dreh- und Angelpunkt ist Schrekers rauschhafte Musik, die Marc Albrecht mit dem Orchester der Deutschen Oper großräumig und süffig, doch nie entfesselt erklingen lässt. Als bodenständige Servierkraft kann Elisabet Strid als Els kühle Ekstasen entwickeln, wohingegen ihr die Zartheit des Schlafliedes schon ein wenig Mühe bereitet, überzeugender ist ihr schwedischer Landsmann, der große Daniel Johansson in der nicht minder strapziösen Titelpartie als Elis. Das große Ensemble nutzt seine Möglichkeiten sich in der Abendgesellschaft zu profilieren, wobei sich alle lauernd umschleichen, elegant posieren, smart im Smalltalk zuneigen, anzügliche Nähe aufbauen: darunter Clemens Bieber als Kanzler, Gideon Poppe als Schreiber, Patrick Cook als Albi, Michael Adams als Graf, Thomas Johannes Mayer als Vogt, Tuomas Pursio als König. Loy verliert keinen aus dem Blick, auffallend gleich zu Beginn Seth Caricos mindestens so locker spielender wie singender Junker. Ausgezeichnet Michael Laurenz als sympathischer rührender Narr, dem die Herzen zufliegen.

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Bemerkenswert rund, saftig in den Holzbläsern und weich in den Streichern erklingt bereits die Ouvertüre zur Euryanthe, wobei Constantin Trinks mit den ORF Symphonie-Orchester den warmherzigen Ton beibehält, der sich offenbar im nicht allzu großen Theater an der Wien so vorteilhaft entfaltet. Wie auch die vielen markanten Chöre mit dem Arnold Schönberg Chor. Ähnlich groß war das nur wenig jüngere Kärntnertortheater, wo im Oktober 1823 die Uraufführung der Großen romantischen Oper Euryanthe stattgefunden hatte. Man muss sich nicht erneut über Helmina von Chézys Librettos auslassen, das im Übrigen, da hat Christof Loy vollkommen recht, nicht übler als viele andere ist. Staunen darf man jedes Mal erneut, wenn man, selten genug, diese Oper hört, die man unwillkürlich in einen Zusammenhang mit dem Lohengrin setzt. Aber, auch da hat Loy recht, „man wird dem Stück nicht gerecht, wenn man ihm nur in einen musikhistorischen Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zukommen lassen will. Eine Wertschätzung muss doch auch möglich sein, ohne auf das voraus zu blicken, was dann noch kommt“. Mit seinem ziemlich guten Ensemble ließ Trinks im Dezember 2018 die Musik wirken, während Loy in dem außerordentlich tiefen weißen Raum von Johannes Leiacker mit vier tiefen raumhohen Fenstern auf der einen Seite, einem Flügel in der Mitte und einem Eisenbett auf der anderen Seite, fern von französischem Mittelalter des 12. Jahrhunderts schöne Bilder zu den mal mehr oder weniger eingetrübten Seelenlandschaften kreiert. Die Damen in 50er-Jahre Ensembles, die Herren kommen in feschen Anzügen und Stiefeln, zur Jagd-Saison im dritten Akt mit Janker und kurzen Lederhosen, die böse Eglantine im langen roten Kleid. Erlesen. Geschmackvoll. Die Nachkriegssituation, „Ein langer Krieg ist zu Ende“, wird szenisch nicht aufgegriffen. Lysiart begehrt Euryanthe, die ihrerseits Adolar liebt, von dem sie wiedergeliebt wird. Adolar wird von Eglantine begehrt. Ein schiefes Liebesquartett im bürgerlichen Salon. Das fiese und gemeine daran ist, dass die finsteren Lysiart und Eglantine ihre Lüste und Wünsche perfide ausspielen und die arglose Euryanthe der Untreue beschuldigen. Unverschuldet wird Euryanthe mit einem Makel versehen. Die Intrige wirkt besonders perfide, da bei Loy die Protagonisten im Raum anwesend sind, wenn von ihnen gesprochen wird. Der weite weiße Rock und das schwarze Oberteil der Titelheldin könnten etwas trutschig wirken, wozu auch der Text von Euryanthes Cavatina „Glöcklein im Tale“ passt, aber Jacquelyn Wagner macht aus der damenhaft distanzierten Tugendstatue mit der Perlenkette eine moderne junge Frau, deren Geliebter verändert aus dem Krieg zurückkehrt, die plötzlich den grabschenden Händen der Männer ausgesetzt ist und dann noch die Kraft für das reichlich weichgezeichnete Happyend („Hin, nimmt die Seele mein“) findet. Wagner vermittelt das fast glaubwürdigt, ist mit ihrer unermüdlich strahlenden Jubel-Stimme und dem ausgezeichneten, vielversprechenden jugendlich-dramatischen Sopran geradezu ideal. Ganz Ausdruck und Emphase ist Theresa Kronthaler, sie singt die barfüßige Eglantine mit rundem, höhenstarkem Mezzosopran, aber auch harschen Ausdruckstönen, vielfach mit einer Spur Überforderung und Hysterie. Beider großes Duett im ersten Akt bleibt langweiliger als es sein müsste. Norman Reinhardt hat in den Partien, die er zu Beginn seiner Karriere sang, eine gewisse Beweglichkeit gezeigt, doch sein weißer Tenor wirkt in der Höhe nicht frei, wobei Adolars Romanze „Unter blühnden Mandelbäumen“ auch kein dankbarer Auftritt ist, singt sich dann aber bis zum Hochzeitsfest frei. Andrew Foster-Williams ist stets ein lockender Singdarsteller, der sich zunehmend das dramatische Bösewichtfach erobert, auch wenn es ihm nicht wirklich liegt, und der sich nicht scheut nackt über die Bühne zu laufen, was er dann auch als Jochanaan in der erwähnten Salome als Lustobjekt der Gesellschaft ausgiebig machte. Foster-Williams macht Lysiart zur faszinierendsten Figur der Oper und fesselt vom ersten Auftritt an, als Verführer, heimlich Liebender, der sich in seiner Szene zu Beginn des 2. Akts nackt der schlafenden Euryanthe nähert, und letztlich als Retter der Beschuldigten; das ist das reiche Psychogram eines schutzlos Liebenden, gezeichnet mit vibrierend expansivem Bariton, der seine Schwärze aus der scharfen Artikulation erhält. Rolf Fath

Wiener Henze-Initiative

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Innerhalb von zwei Wochen kam es im November 2017 zu zwei bedeutenden Aufführungen des Oratorio volgare e militare in zwei Teilen für Sopran, Bariton, Sprechstimme, gemischten Chor, Knabenstimmen und Orchester von Hans Werner Henze: Das Floß der Medusa. In Hamburg, wo die geplante Uraufführung 1968 nicht über die Generalprobe hinauskam, dirigierte Peter Eötvös das SWR-Symphonie-orchester Mitte November (SWR Classic 19082), im Wiener Konzerthaus hatte Kollege Cornelius Meister mit dem ORF Radio-Symphonieorchester bzw. ORF Vienna Radio Symphony Orchestra bereits Anfang des Monats die 30. Ausgabe des Festivals „Wien modern“ eröffnet. Das Festival war froh, mit einem gar nicht so neuen Werk den Finger am Puls der Zeit zu haben und mit einem historischen Schiffsunglück und der Geschichte vom Floß der Medusa von 1816 einen Bezug zu den heutigen Flüchtlingsbooten herstellen zu können. Die Medusa war auf ihrer Reise nach Afrika gekentert, worauf sich die Offiziere in Rettungsboote verfügten und für Besatzung und Passagiere ein – wie sich später herausstellte – untaugliches Floß bauen ließen, so dass von den rund 150 ins Meer treibenden Menschen auf dem Floß nur 15 überlebten. Théodore Géricaults Monumentalgemälde vom Untergang der Medusa geriet 1819 zu einem eindringlichen Zeitdokument und führte einen politischen Eklat herbei. In Wien hatte 1971 unter Miltiades Caridis mit dem ORF-Symphonieorchester die offizielle Uraufführung stattgefunden. Beide Städte spielen also in der Aufführungsgeschichte des Oratoriums eine zentrale Rolle. Das Hamburger Konzert veröffentlichte der SWR 2019 auf seinem eigenen Label, der Wiener Konzertmitschnitt folgte jetzt bei Capriccio (C5482), wo bereits Cornelius Meisters Stuttgarter Aufführung von Der Prinz von Homburg auf CD erschienen war (C5405) und mittlerweile aus der Wiener Staatsoper zusätzlich Henzes Das verratene Meer unter Simone Young (C5460) folgte.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich so rasch wieder einer derart bannenden Aufführung des Floß der Medusa wie der Wiedergabe durch Eötvös und das SWR Symphonieorchester begegnen würde (https://operalounge.de/cd/oper-cd/oratorium-der-grausamkeit); wobei gerechterweise auch das SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor und Freiburger Domsingknaben genannt werden müssen, ebenso wie der fabelhafte Arnold Schönberg Chor und die Wiener Sängerknaben, beide eine Klasse für sich, im Fall der nicht weniger packenden Wiener Aufführung ihren Rang als Ausnahmeklangkörper untermauern. Beide Chöre werden szenisch eingesetzt: Auf der linken Bühnenhälfte steht der „Chor der Lebenden“, der sich im Laufe des Abends zugunsten des auf der anderen Seite des Podiums positionierten „Chor der Toten“ verkleinert. Cornelius Meister ist der souveräne, suggestiv sachwaltende Regisseur dieses komplexen Stückes, bei dem Sven-Eric Bechtolf den distanziert nüchternen Erzähler Charon gibt, der von den Ereignissen mitgerissen wird, Dietrich Henschel mit überragender Wort- und Tonbehandlung den Überlebenden Jean-Charles und Sarah Wegener mit scharf gleisnerischer Hingabe La Mort gibt. Rolf Fath

Hörenswerte CD, fragwürdiges Booklet

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Nach an Komponisten, nämlich Händel und Verdi, orientierten CDs  und einer mit dem Titel Rebirth thematisch festgelegten Aufnahme widmet sich die bulgarische Sängerin Sonya Yoncheva nun The Courtesan, den auf höherem Niveau käuflichen Damen, von denen sie meint, diese würden sich in dem Moment dem Tod weihen, in dem sich zur wahren Liebe bekennen. Daran ist vieles wahr, so wenn man an Thais denkt, die ohne das Bekenntnis zum Christentum weiterhin ein feines Leben hätte führen können, trifft auch noch auf  Giordanos Stephana aus Siberia zu, aber dann wird es schon mühsam, denn Mimi, die Puccinis wie Leoncavallos, wäre auch ohne die Hinwendung zur wahren Liebe gestorben, ebenso Violetta, Mascagnis Iris wollte nie Kurtisane werden, Massenets wie Puccinis Manon wird nicht die wahre Liebe, sondern ihre Gier nach Reichtum zum Verhängnis, Madama Butterfly ist Ehefrau und wird auch vom Fürsten Yamadori als zukünftige solche zukünftige umworben, eine Geisha keine Kurtisane, und Dalila kommt nicht in die Versuchung, sich der wahren Liebe zum Opfer zu bringen. Wozu also der Versuch, alle diese so unterschiedlichen Damen unter ein Motto zu zwingen, obskure Behauptungen wie „Sinnlichkeit ist die weiblichste aller Sprachen“ aufzustellen und sich mit einem Spruch wie dem, sie widme die CD allen Frauen, „die sich nicht immer ausdrücken dürfen“ ins Vage zu flüchten. Eine Petya Iwanowa setzt dem Booklet-Text noch die Krone auf mit der Behauptung, „all dies könnte heute nicht aktueller sein“, verfolgt den mehr oder weniger ehrenhaften Beruf zurück bis zu Aspasia und liefert so ein besonders peinliches Beispiel für den Versuch einer intellektuellen Untermauerung, wo diese so überflüssig wie anfechtbar ist.

Zum Glück ist die CD um Klassen besser als das Booklet. Sie beginnt mit dem Duett Thais-Nicias, in dem der Sopran glasklar und so keusch klingt, als habe die Bekehrung bereits stattgefunden, das Vibrato ist vorbildlich, und in der großen Arie kann man die elegante Gesangslinie bewundern, verbindet die Sängerin Klarheit mit Eindringlichkeit. Massenets Manon überzeugt ebenfalls durch die elegante Stimmführung, durch die Wehmut, die über allem zu schweben scheint. Fleischiger, substanzreicher und damit angemessen erscheint der Sopran für Puccinis Manon Lescaut, die aber durchaus noch mädchenhaft für die „trine morbide“ ist, bereits mit einem Hauch von tristezza versehen, die in „Sola perduta“ zur Verzweiflung wird, so dass „non voglio morir“ dem Hörer zu Herzen geht.  Auch Mimi ist zweimal vertreten, obwohl bei Puccini wie Leoncavallo eher Musetta eine Kurtisane ist. Schlank und kokett darf sich die Letztere geben, da sie Musetta beschreibt, was Puccini betrifft, wagt es die Rezensentin selbst auf die Gefahr hin, als “Vokal-Rassistin“ zu gelten, zu behaupten, dass der bulgarische Sopran im Vergleich zur beispielhaften Mimi von Mirella Freni doch recht kühl klingt. Für Butterfly hat die Yoncheva die notwendige präsente Mittellage, lässt viele schöne Details vernehmen, ohne die große Linie zu vernachlässigen, dazu kommt als weiteres Plus der zugleich kindliche wie wissende Ausdruck. Schön ausgestellt werden nach einleitendem Sprechgesang kann der Sopran in Siberia, das Verletzbare der Iris wird trotz urgesunder Stimme  in Mascagnis gleichnamiger Oper nachvollziehbar, zu weit dem tenore lirico entwachsen ist die Stimme von Charles Castronovo für Verdis Alfredo, und Dalila klingt zwar mezzotief, aber nicht mezzodunkelverführerisch. Marco Armiliato dirigiert das Orchester des Carlo Felice Genova und könnte kein besserer Begleiter sein.   Das Label zeigt eine Signatur außer syn (Eigenproduktion?), wobei Frau Yoncheva eigentlich bei der Sony unter Vertrag ist. Ingrid Wanja

Massenets Oper „Ariane“

.Wieder einmal ist das Münchner Rundfunkorchester eine fruchtbringende Verbindung mit dem Palazzetto Bru Zane eingegangen. Am 29. Januar 2023 gab’s  ein Konzert von Jules Massenets Oper Ariane in München, das dann  beim Palazzetto Bru Zane in dessen CD-Buch-Reihe der Französischen Romantischen Oper im Frühjahr erschienen ist (Radioband und Nachaufnahmen). Ein schönes Joint-venture, wie man von anderen Unternehmen dieser Art in der Vergangenheit weiß (so die Proserpine von Saint-Saens, Le Tribut de Zamora von Gounod oder dessen Cinq-Mars)

Massenets „Ariane“: Die bedeutende Lucienne Bréval war die Ariane der Uraufführung/ Wikipedia

Die Besetzung ist jung (Amina Edris, Marianne Croux, Judith van Wanroij, Kate Aldrich, Julie Robard-Gendre, Jean-François Borras, Yoann Doubrouque, Jean-Sébastien Bou, Philippe Estèphe sowie Chor des Bayerischen Rundfunks und Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Laurent Campellone, der die Oper bereits beim Massenet-Festival in Saint Etienne 2007 dirigierte). Opernliebhaber des Besonderen, die es nicht ins Konzert geschafft hatten, konnten am Radio der Live-Übertragung folgen. Und man muss bei dieser Gelegenheit den wirklich fabelhaften Service des Münchner Rundfunkorchesters loben, der das französisch-deutsche Libretto in drei Druck- (bzw smartphone-) Versionen sowie den nachstehenden Einführungsartikel auf seiner Seite zum Downloaden anbietet, chapeau! das war gut angewandtes Beitrags-Geld.

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Warum nun noch ein Massenet für den Palazzetto, fragt sich der grundsätzliche Opern-Fan? Wäre die Ariane (die es nur auf einem weiteren Radio-Live-Mitschnitt gibt/ unten mehr) nicht wirklich eine Rarität, würde man die Augenbrauen noch höher ziehen ziehen. Andere Palazzetto-Veröffentlichungen – wie die jüngste geplante – sind keine. Die angekündigte Hérodiade aus Lyon 2022 ist in der Titelpartie fragwürdig besetzt und kommt – wie inzwischen bei manchen Palazzetto-Veröffentlichungen – als Doublette oder sogar Triplette daher, unnötig wie ein Kropf (wie die Périchole oder eine erneute Vestale … und auch eine neue Griselidis …).  Man schüttelt doch den Kopf ob der Repertoirepolitik des franco-italienischen Hauses (zumal nicht immer wirklich beglückend gesungen wird). Aber selbst angesichts der Seltenheit der Ariane: gibt es nicht andere, brennendere Titel zur Wiederauferweckung? Etwa  Zampa, Dom Sebastien, eine französische Agnes von Hohenstaufen, Charles IV/Halevy, eine ungekürzte und gut gesungene Juive, Les Fées du Rhin, Le Freyschütz,   Marie Stuart/Niedermeyer, Lancelot/Joncieres, Fervaal/D´Indy, Monna Vanna/Février, St Julien l´hospitalier/Erlanger, Antar/Dupont, Aben-Hamlet/Dubois, La Samaritaine/D´Ollone, Julien/Charpentier, L´attaque du moulin/Bruneau   und viele, viele mehr (sogar eine diesmal dritte Reine de Saba/Gounods, weil die vorhandenen entweder klanglich oder besetzungsmässig nicht ausreichen) …  Ach ja, um mit Carmen zu sprechen: „C´est ne pas interdit de rever!“

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Wie dem auch sei, hier ist nun also Massenets Ariane in einer Neuaufnahme beim Palazetto Bru Zane, auf 3 CDs angefüllt mit dem zweisprachigen Libretto und verschiedenen Aufsätzen (die leider nur in Französisch/Englisch wie immer, obwohl es drei deutschprachige Länder und damit ein immenses Käuferpotenzial gibt – unverständlich und auch diskriminierend, finde ich, nicht einmal eine deutsche Inhaltsangabe) von Alexandre Dratwicki, Jean-Christophe Branger, Michela Niccolai und Gabriel Fauré, dazu zwei historische Interviews mit Massenet selbst.  Nach der CD-Kritik und einem Blick auf sonst noch Verfügbares folgt eine Einführung von Florian Heurich aus dem Programmheft des Münchner Rundfunk Orchesters für das besagte Konzert. G. H.

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Die Rezension: Das Herausragende an der Aufnahme von Massenets später Ariane beim Palazzetto Bru Zane sind für mich die mitwirkenden Herren, der sensationelle Chor und das raumgreifende Münchner Rundfunk Orchester unter Laurent Campellone.

Über den Damen liegt für mich auch bei der CD ein Vorbehalt, wie im Konzert. Was umso bedauerlicher war, als bei der Uraufführung 1906 und späteren Wiederaufnahme 1937 immerhin solche absoluten Stars wie Lucienne Bréval oder die große Germaine Lubin (Foto oben) die Titelrollen verkörperten, letztere unterstützt von niemandem Geringeren als Georges Thill in der Partie des Thésée. Und wenn man sich verdeutlicht, dass die Sängerinnen der Pariser Premieren zeitgleich auch Wagners Brünnhilden, Kundrys oder Ortruds sangen, hatte man doch Erwartungen an die Mutigen, die sich diesen Partien nähern.

Diese späten Opern einer sterbenden Epoche, die ihr Ende mit dem 1. Weltkrieg fand, bedürfen der Opulenz, der unglaublichen Eleganz, der Großräumigkeit der Präsentation, um zu wirken. Sie waren für eine uns unvorstellbare Üppigkeit gedacht, für ein müdes, blasiertes Publikum und den Ikonen der Bühne auf den Leib geschrieben.

Ihnen weitgehend handwerklich-solide beizukommen, wird ihnen nicht wirklich gerecht und kann sie nur blasser ins Leben zurückholen als sie sind, so lobenswert der Versuch auch ist (und ob diese Oper nun wirklich danach schreit, zum Leben erweckt zu werden, lässt sich auch diskutieren angesichts der vielen, die vielleicht wichtiger sind als die x-te Massenet-Oper). Die letzten Erfolge in dieser Reihe waren sicher solche „Schinken“ wie die Esclarmonde mit Joan Sutherland oder auch Zandonais Francesca mit der Kabaivanska bzw. Sotto. Oder Le Cid mit der wunderbaren Carol Neblett. Oder Les Troyens mit der Veasey, Baker oder Lear. Überdimensional, mythisch.

In München und auf der Aufnahme des Palazzetto wird die Grand-Opéra zu einer Moyens-Opéra,  kocht man auf kleinerer Opern-Flamme, liedhafter oft und definitiv lyrischer statt heroisch, gelegentlich auch vokale Kleinkunst (Arianes Beitrag im 3. und letzten Akt), wenngleich der Ariane-erfahrene Laurent Campellone an lautem Schmackes nicht spart und diesem gigantischen Kitschkasten zu einiger orchestraler Wiederbelebung verhilft: weniger die Streicher als vielmehr wunderbare Holzbläser und tolles Blech beim Münchner Rundfunk Orchester, dabei durchaus auch heruntergeschraubt zu leisen Passagen, um die Mitwirkenden nicht im Klang zu ertränken: sehr anständig! Und dazu der wirklich total wortverständliche Chor mit himmlischen Sopranen und sonoren dunklen Stimmen. Man kann mitschreiben. Und badet im Klang. Stellario Fagone  sei Dank.

Die solistischen Herren sind exzellent. Der recht helle, mag sein etwas zu lyrische Jean-Francois Borras gibt dem Thésée vielleicht weniger Virilität denn frische Jungenhaftigkeit, und seine Diktion – wie die seines Bariton-Kollegen Jean-Sébastien Bou als expressiver, schön(!) singender und eben französisch timbrierter Pirithous – ist exemplarisch, ein Genuss auch seine geforderte Strahlkraft der nicht sehr großen (gegen Schluss etwas loserschwingenden) Tenorstimme. Dazu kommen Philippe Estèphe und Yoann Dubruque in kleineren Partien, ebenfalls hervorragend ebenfalls französisch im Timbre.

Die Damen lassen mir einen gemischten Eindruck. Amina Edriss singt als Mezzo-Ariane in den leiseren Momenten, wenn sie nicht drücken muss, betörend, einfach betörend, leider oft nicht wirklich wortverständlich und mir viel zu oft zu liedhaft. Solange sie über mezza-voce nicht hinausgehen muss, ist es wirklich ein Fest an schmaler Opulenz, und das muss man absolut anerkennen. Zu vieles über mezzo-forte klingt mir eng, hart erarbeitet, in der knappen Höhe dann mit einem auf die Dauer nervenden engen Pianissimo-Dauerton endend (was mich das an die Höhen-Tricks von Leyla Gencer, Renata Scotto und Montserrat Caballé erinnert, sich um freie Höhen herumzumogeln), und das signalisiert, das Mehr nicht möglich ist (ähnlich wie Cecilia Bartoli in den letzten Momenten ihrer verdienstvollen Norma). Dieses sich Strecken nach den hohen Noten macht die Oberstimme eintönig und zudem ermüdend zu hören, bei aller durchaus vorhandenen Erotik und Süße in der Mezzo-forte-Mittellage. Aber die Partie ist eindeutig zu groß für sie – die braucht eine Sutherland, Crespin, Esposito, auch Netrebko oder DiDonato, eben eine erfahrene Operndiva mit gegefüllter Handwerkskiste. Dies ist eine Diven-Partie. Für diese geschrieben (Lucienne Bréval). Und diese Opern sind nichts für junge Stimmen. Dennoch: Ich bin hin-und hergerissen zwischen Bewunderung und Augenbrauenhochziehen. Singen kann Frau Edriss, sans doute, aber vielleicht nicht diese großen Partien, und nicht so hohe und nicht so große (und unter Druck wird die Stimme an den Rändern unruhig). Sie ist ein Mezzo, ein Falcon, und kein dramatischer Sopran wie Bréval oder Lubin.

Zu Massenets „Ariane“: Amina Edriss singt die Titelpartie/ © Ralf Wilschewski

Die am Radio noch gelegentlich schartig klingende Mezzostimme von Kate Aldrich als Phèdre hat sich für die Aufnahme erstaunlich erholt, bei guter Höhe, selten brustiger Tiefe und im Gesamten von großem Format.  Wobei ohne Libretto in der Hand oft nicht klar ist, wer welche der beiden Schwestern wann singt. Hier – denke ich – herrscht ein Besetzungsfehler. Weil Ariane ein dramatischer Sopran mit leuchtender Höhe ist (Germaine Lubin!) und kein Falcon mit knapper wie Frau Edriss. Kate Aldrich hatte ihre leisen, lyrisch-schönen Mezzo-Momente, unter Druck wabert die Stimme an den Rändern. Vielleicht rächen sich zu viele Carmen, zu mal open-air.

Julie-Robard-Gendre singt die Perséphone, für mich recht unruhig-quallig, eindrucksvoll auch im Monodram sicher, aber stimmlich bei dem starkem Registerwechsel nicht wirklich ein Gewinn. Und bei einer so tiefliegenden Erda-Ulrica-Stimme erstaunlicher Weise auf Kosten des Wortes (naja, bei dem zum Teil abenteuerlichen Text von Camille Mendès – was für ein Kitsch, wahrlich kein Hoffmannsthal!) Da hatte ihre Rollenkollegin Anne Pareuil in Saint Etienne 2007 wirklich die Nase vor und zeigte, was ein gut geführter französischer Alt ist (nachzuhören bei youtube). Wobei man auch sagen muss, dass Massenet gemeine Intervallsprünge für alle drei Frauenpartien geschrieben hat. Die Männer habens da besser.

Judith van Wanroij, Hauskraft beim Palazzetto, lässt (als erbarmende Göttin Cypris) gewisse Verschleißspuren hören, besonders in den hohen Noten, sie verliert Farbe in der Stimme. Auch hier zu viel oder unzureichende Technik? Und auch Marianne Croux in der kleinen Partie der Eunoe macht stimmlich nicht viel her außer einer hellen, recht unruhigen Stimme. Noch mal zum Lehrer?

Dennoch: Ich würde jedem Neuling für diese Oper raten gleich Akt 3 anzusteuern, da ist richtig was los. Und Akt 4 hat´s ebenfalls in sich an Drama, Schwulst und Köstlich-Kitschigem. Massenet Zauberkasten vom Besten. Die Begegnung mit diesem Spätwerk eines müden, ausgebufften und vielleicht auch zu erfolgreichen Komponisten ist als solche periphär, aber interessant verfügt das Werk im Dauerparlando doch über viele schöne Stellen (das Finale allzumal), die in Teilen stark an Wagner erinnern. So in Akt 2 oder das Aufflammen der Leidenschaft in Akt 5 á la Tristan. Und der Beginn des letzten Aktes klingt verdächtig nach dem Walkürenritt. Anderes erinnert an Lalo (Le Roi d´Ys) und reicht zu Massenets Esclarmonde oder zum Roi de Lahore zurück, so das Grazien-Ballett im 4. Akt (und der tolle orchestrale Kitsch dazu). 1906 war eben schon sehr, sehr spät, und der Rückgriff auf Vergangenes geht einher mit den weniger schönen sozialen/politischen Entwicklungen in einem Frankreich nach Versailles (die Ausstattung der 3-CD-Buch-CD BZ 1053 hat wie stets hohes Niveau mit dem Libretto und einführenden Artikeln, die allerdings nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann).   Geerd Heinsen

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Zu Massenets „Ariane“: Cecile Perrin sang die Titelpartie in Saint-Etienne 2007/Opéra de Bordeaux

Verbreitung und Verfügbares: Ariane, Oper in 5 Akten von Jules Massenet, Libretto von Catulle Mendès, Uraufführung: 31. Oktober 1906 an der Pariser Oper/Palais Garnier, Erstaufführungen in Brüssel 1907, Turin 1907, Buenos Aires 1908; Wiederaufnahme an der Pariser Oper nach dem Brand 1937.

Bei youtube gibts dank des Kanalisten Job die Aufführung aus Saint-Etienne von 2007 unter dem forschen Laurent Camepllone vom dortigen Massenet-Festival mit dem Haustenor Luca Lombardo, der damals für sowas zuständig war, sehr gut und unerschrocken. Barbara Ducretet als Phèdre und Anne Pareuil nebst Cyril Rovery sind mehr als solide und präsentieren das Werk werkgerecht eben auf dem Niveau einer guten Provinzbühne. Wäre da nicht die saure, stumpfe Stimmer von Cecile Perrin, die doch vor allem imSchluss Schaden anrichtet (wie in dem sonst sehr lobenswertem Fernand Cortèz unter Jean-Paul Pénin). Brrrrrrrr…

Eine weitere Gesamtaufnahme gibt´s aus London auf einem obscuren kleinen Label von 1977 in der ersten modernen Wiederaufnahme unter Fraser Golding am Pult der Pisa Opera Group (never heard before) mit Stella Wright in der Titelpartie, akustisch ist das eine trübe Sache.

Weiters gibt es Einzelschönheiten wie Joyce DiDonato mit „Ô frêle corps… Chère Cyrpris“ (Erato), Nathalie Manfrino mit C’était si beau! (Decca), eine Dame namens Rima Tawil singt dies ebenfalls, dem orchestralen Lamento der Ariane mit Richard Bonynge (Decca). Sogar das Zwischenspiel zu Akt 4 gibt´s  für zwei Harfen und das kurze Ballett in Akt4 für Klavier. Enorm. Zudem finden sich jede Menge alter Franzosen (Muratore, Thill, Marguérite Mérenthie – die es in die historischen Urnen der Pariser Opernkeller 1907 geschafft hatte) auf zwei Massenet-CDs bei Malibran. G. H.

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Massenets „Ariane“: Bühnenbild zur Wiederaufführung 1937 an der Pariser Opéra Garnier/ BNF Gallica

Florian Heurich: Nach einer gewissen Fin-de siècle-Opulenz in der Kunst machte sich um 1900 zunehmend ein Interesse an der Antike bemerkbar und damit am Klassischen und Archaischen. Rund fünfzig Jahre zuvor hatte Hector Berlioz mit Les troyens bereits das unumstößliche Monument eines antiken Sujets aus dem Blick der Romantik geschaffen, und insbesondere das Spätwerk von Jules Massenet war dann geprägt von Stoffen aus dem Altertum und der Mythologie. Die 1906 uraufgeführte Ariane steht am Beginn dieser Phase, darauf folgten noch der als Fortsetzung und Partnerstück konzipierte Bacchus (Uraufführung 1909) sowie Roma (1912) und Cléopâtre (posthum 1914). „Es war vor vier oder fünf Jahren, ich hatte gerade Le jongleur de Notre-Dame beendet, als ich zu meinem Verleger sagte: Da ich schon bis ins 13. Jahrhundert zurückgegangen bin, würde ich nun gerne bis in die Antike gehen“, äußerte Massenet wenige Tage vor der Uraufführung von Ariane in einem Zeitungsartikel. Gerade in dieser Oper werden der Klassizismus und die mythologische Geschichte jedoch mit Zutaten aus der Kunst der Jahrhundertwende angereichert: Symbolismus, ein Hang zur Morbidität, Gegenüberstellung von reiner und erotischer Liebe, sinnliche Opulenz, verklärender Erlösungstod, thematische und musikalische Bezüge zu Wagner.

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Massenets „Ariane“: Lucy Arbelle war Massenets Favoritin, mit ihr verband sich eine intime Beziehung; sie sang die Perséphone/ BNF Gallica

Insbesondere in ihrer Wagner-Verehrung fanden sich mit Massenet und seinem Librettisten Catulle Mendès zwei Geistesverwandte. Beide hatten das legendäre Pariser Tannhäuser-Fiasko 1861 miterlebt, Mendès besuchte Wagner 1869 sogar in Tribschen am Vierwaldstättersee und reiste 1876 zu den ersten Festspielen nach Bayreuth. Massenet wiederum sah den Ring in Brüssel und kam 1886 nach Bayreuth. So ist Ariane nicht nur durchzogen von einigen wiederkehrenden Motiven, durch die Massenet an Wagners Leitmotivtechnik anknüpft, es gibt bisweilen auch Bezüge zu Wagners Gedankengut und zu inhaltlichen Elementen: Die Sirenen am Beginn und am Ende erinnern etwa an die Rheintöchter, der Kampf Thésées mit dem Minotaurus an Siegfrieds Drachenkampf, und in Arianes Tod schwingt die Idee eines erlösenden Selbstopfers mit. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass die beiden Sopranistinnen Lucienne Bréval und Louise Grandjean, die bei der Uraufführung Ariane und Phèdre sangen, fast zeitgleich in Paris und an anderen europäischen Bühnen als Brünnhilde, Isolde oder Kundry zu hören waren. In der Aufführung von 1937 war die große Germaine Lubin als Ariane zu erleben, ebenfalls eine berühmte Wagner-Sängerin. G. H.)

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Gleichzeitig ist Massenets Oper über den in der Ägäis angesiedelten Ariadne-Mythos aber auch ein mediterraner Gegenentwurf zur germanischen Sagenwelt und ein Aufbruch in eine neue künstlerische Phase mit einem neuen Themenbereich. Die zuvor entstandenen Opern Grisélidis (Uraufführung 1901) und Le jongleur de Notre-Dame (1902) sowie das über viele Jahre sich hinziehende Projekt Amadis (posthum 1922) spielten allesamt in einem mittelalterlichen Umfeld, und mit Chérubin (1905) wurde ein stilisiertes Rokoko-Ambiente à la Mozart heraufbeschworen.

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Massenets „Ariane“: Lucien Muratore war der erste Thésée/ BNF Gallica

Bei Catulle Mendès hatte es Massenet dann mit einem der prominentesten französischen Literaten des späten 19. Jahrhunderts zu tun, den eine gewisse Exzentrik umgab und in dessen Werken die Dekadenz des Fin de siècle mitschwingt. Die 1904 begonnene gemeinsame Arbeit an Ariane, die später mit Bacchus fortgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch als schwierig. Obwohl – oder gerade weil – die beiden Künstler ästhetisch und gedanklich auf einer Wellenlänge lagen, führten Misstrauen und Animositäten dazu, dass sich ihre Treffen auf das absolut Notwendige beschränkten. Gegenüber der Öffentlichkeit beteuerte Massenet jedoch immer wieder die gegenseitige Inspiration: „Schon in unserem ersten Gespräch, noch bevor ich selbst etwas über die Themen, an die ich gedacht hatte, gesagt hatte, sprach der Dichter den Namen Ariadne aus: Das war mehr als genug, um mich dazu zu bringen, meine Gedanken zu präzisieren.“

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Im Oktober 1905 war das Werk fertig, und die Uraufführung am 31. Oktober 1906 im Palais Garnier geriet zu einem großen Erfolg, sodass die Oper 61 Mal gegeben wurde, bevor man sie 1908 aus dem Programm nahm. Insbesondere der III. Akt, der auf der Insel Naxos spielt und mit seinen vielfältigen Personenkonstellationen, Gefühlsumschwüngen, zentralen Handlungsmomenten und musikalischen Höhepunkten der komplexeste des Stücks ist, erhielt einhelliges Lob, und die Arie der Perséphone aus dem vierten Akt musste jeden Abend wiederholt werden. Diese nur in einer kurzen Episode auftauchende Rolle hatte Massenet eigens für die junge Mezzosopranistin Lucy Arbell (mit bürgerlichem Namen Georgette Wallace) konzipiert, inspiriert durch deren Anregungen während eines Sommeraufenthaltes in ihrem Haus in Saint-Aubin-sur-Mer in der Normandie im August 1905. Überhaupt hatte er den in die Unterwelt führenden IV. Akt nur dieser Sängerin zuliebe in die Oper eingefügt, und als Widmung schrieb er in den Klavierauszug: „In zärtlicher und dankbarer Erinnerung an das liebe Haus in St-Aubin schenke ich Fräulein Georgette Wallace dieses Manuskript, von dem ein ganzer Akt für Lucy Arbell von der Opéra komponiert wurde.“

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Massenets „Ariane“: Szene aus der Aufführung in Saint-Etienne/ OMSTE

Neben Perséphone, dieser Figur der Unterwelt, die sich in zarter Melancholie nach allem Lebenden sehnt, haben Massenet und Mendès mit den drei Hauptfiguren Ariane, ihrer Schwester Phèdre und Thésée zwar ein klassisches Liebesdreieck aus Ehefrau, Nebenbuhlerin und untreuem Mann geschaffen, durch die familiären Beziehungen der beiden Frauen eröffnet sich jedoch ein breites Gefühlspektrum zwischen den Figuren. Zärtliche Hingabe und lodernde Passion treffen auf schwesterliche Liebe und Eifersucht. Als vierte Hauptfigur repräsentiert Pirithoüs genau jene kämpferische Kraft, die Thésée zunehmend seinen sentimentalen Gefühlen und seiner Zerrissenheit zwischen den zwei Frauen und damit zwischen Liebe und Leidenschaft opfert.

Massenets „Ariane“: Jean-Francois Delmas war der Périthoués der Uraufführung/ BNF Gallica

Mendès, der in seinen ausführlichen Szenenanweisungen sehr konkret die Schauplätze, Situationen und das Bühnengeschehen beschreibt, entwirft auch sehr genaue Charaktere: „Ariane ist die instinktive, absolute Liebe, ohne intellektuelle Hindernisse, ohne subtilen Unterton: die Liebe, die mit sich selbst zufrieden ist und sich mit allem abfindet, solange es Liebe bleibt. Ariane ist die zarte Frau, die sogar Lügen und Beleidigungen akzeptiert, solange sie geliebt wird und vor allem, solange sie liebt. […] Phèdre ist die vom Schicksal aufgezwungene Liebe, die Fatalität der Leidenschaft. […] Thésée ist die junge, sehr starke und sehr charmante Männlichkeit.“

Massenet zeichnet all diese kontrastierenden Charaktereigenschaften in der Musik nach. So ist Ariane erfüllt von lyrischer Innigkeit, während Phèdre eine zum Teil durchaus dramatische Partie voller expressiver Ausbrüche zu bewältigen hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt, wenn Ariane a cappella in höchster Lage von ihrem „zerbrechlichen Körper“ singt, der „zu schwach für so viel Liebe“ ist, in dem darauffolgenden Gebet an die Liebesgöttin und in ihrer Arie „La fine grâce de sa force“, deren Melodie im weiteren Verlauf der Oper noch mehrmals motivisch auftaucht, offenbart sich der zarte Charakter der Titelfigur. Ihre Schwester hingegen präsentiert sich mit exaltierten Rufen von hinter der Bühne und einer wilden Verfluchung eben dieser Göttin Aphrodite. Auch während des nachfolgenden Kampfes Thésées mit dem Minotaurus werden die beiden so unterschiedlichen Frauentypen deutlich: Die eine wagt kaum hinzuschauen, die andere beobachtet voller Faszination das blutige Geschehen – die Lichtgestalt Ariane einerseits und andererseits das Nachtwesen Phèdre, die Kriegerin, die sich der Jagdgöttin Artemis verschrieben hat. Unter Fanfaren erscheint schließlich Thésée als strahlender Held, der das Ungeheuer besiegt hat, und man feiert die Abreise der drei.

Der II. Akt nimmt uns mit auf das Schiff, auf dem Ariane, Phèdre und Thésée durch die Ägäis segeln, und in der sanft wiegenden ersten Szene werden all die Inseln aufgezählt und bestaunt, an denen man vorbeifährt: Delos, Paros, Melos, Andros, Lemnos. Damit ist die passende Atmosphäre geschaffen für das sinnliche Zwiegespräch von Ariane und Thésée. In diese Meeresidylle bricht Phèdre quasi als Vorbotin des Sturms ein, der sogleich ausbricht, begleitet von Phèdres rasender Anrufung des Hades. Dieser Akt, in dem sich das Gefühlsleben der Figuren in den unberechenbaren Naturgewalten widerspiegelt, endet in der Idylle des Anfangs. Dadurch kündigt sich die Insel Naxos, an der das Schiff anlegen wird, als paradiesischer Sehnsuchtsort an.

Der auf dieser Insel spielende III. Akt, das Herzstück der Oper, galt schon bei der Uraufführung als „großartiges Meisterwerk, das von allen Seiten bejubelt wurde“. Man sieht Thésée, der zunehmend Arianes überdrüssig wird, man sieht die Zuneigung zwischen den beiden Schwestern in einem intimen Duett – und die Gewissensbisse Phèdres, die sich schließlich doch zu einem leidenschaftlichen Liebesduett mit Thésée hinreißen lässt. Arianes Monolog bildet den emotionalen Höhepunkt des Akts, wenn sie erkennt, dass sie sowohl von der Schwester als auch vom Ehemann betrogen wurde. Schließlich siegt jedoch die schwesterliche Liebe, als ein Trauerzug den Tod Phèdres ankündigt. Ariane beschließt, die Schwester aus der Unterwelt zurück ins Leben zu holen.

Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur und lebt in München. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, den MDR und andere ARD-Anstalten über Themen in den Bereichen Oper, Literatur, Neue Musik und Weltmusik. Er schreibt für die Publikationen der Staatstheater Stuttgart und produziert Videoformate für die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Osterfestspiele.

Der IV. Akt, in dem Ariane in den Hades hinabsteigt, wirkt wie ein musikalisch und theatralisch wirkungsvolles Intermezzo, das durch das morbide, irreale Ambiente und die episodisch vorkommende Figur der Perséphone die eigentliche Handlung für einen Moment unterbricht. Perséphone, die Göttin der Unterwelt, taucht hier als melancholische Weltschmerzfigur auf und damit als ein weiterer Kontrast zur strahlenden Ariane. Hier kommen auch die Dekadenz des Fin de siècle und der Symbolismus des Librettos am deutlichsten zum Ausdruck, etwa indem Perséphone durch eine schwarze Lilie charakterisiert ist, während Arianes frische Rosen ein Stück Leben in das Reich der Toten bringen. Auch die Ballettszene, der Widerstreit der drei Furien und der drei Grazien, lässt diesen Akt als dunkle, allegorische Episode innerhalb der mythologischen Liebesgeschichte erscheinen.

Als ein regelrechter Coup de théâtre taucht Ariane mit der wieder zum Leben erweckten Phèdre im letzten Akt aus der sich öffnenden Erde auf und vereint die Schwester mit Thésée, während sie selbst verzichtet. Wenn sie am Ende dem Gesang der Sirenen folgend ins Meer geht, dann weist diese letzte Szene durchaus beabsichtigte Parallelen zu Wagners Rheintöchtern auf. Nach einem letzten ekstatischen Monolog verschmilzt Arianes Stimme mit denen der Wasserwesen, und sie wird eins mit dem Meer, das bereits zuvor ein zentrales Motiv der Oper war – als Spiegel der Emotionen, zerstörerisch und erlösend zugleich. Florian Heurich 

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Erlaubnis zur Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters 29. Januar 2023. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Wiedergutmachung

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Als erstes flößt Karin Meesmanns Buch mit dem Titel Pál  Ábrahám-Zwischen Filmmusik und Jazzoperette Ehrfurcht ein, ganz profan wegen seines mehrere Kilo umfassenden Gewichts (man ist froh, dass man es nicht bei der Post abholen musste, weil ein Nachbar sich seiner annahm), dann wegen des Portraits auf dem Titelblatt, das einen Komponisten mit schwermütig gesenktem Blick zeigt. Das Foto stammt aus dem Jahr 1938 und wurde aufgenommen, als der in den Zwanzigern und frühen Dreißigern in Berlin und anderswo in Deutschland gefeierte Komponist im italienischen, heute kroatischen Ausland sein Auskommen suchen musste, ehe er mit dem Umweg über Kuba in den USA landete, verwirrt auf einer Kreuzung zu dirigieren versuchte und in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht wurde. Beinahe obszön wirken in diesem Zusammenhang die ebenfalls auf dem Cover abgebildeten blonden Schönheiten, die des Komponisten Musik auf der Bühne und im Film zum Erfolg verhalfen, bleiben durften wie Lilian Harvey oder Marika Rökk oder ebenfalls emigrierten wie Gitta Alpar oder Fritzi Massary.

Nach einer Einleitung, in der die Autorin die Quellen von Ábraháms Musik, zumindest der ihm Erfolg bringenden, den Verbunko der Zigeuner und den afroamerikanischen Jazz, und die von ihr benutzten Quellen wie Rezensionen, Daten, Briefe, amtliche Dokumente und mehr, nennt, und dem Prolog, der das Ende der Lebensgeschichte vorwegzunehmen scheint, geht sie chronologisch vor, so dass sich nach 500 Seiten ein Ring zu schließen scheint. Danach gibt es noch ca. fünfzig Seiten Anhang, vor allem ein umfangreiches Personenregister.

Nach Deutschland, aus dem er fliehen musste, wird der schwerkranke, wegen einer nicht ausgeheilten Syphilis dement gewordene Komponist mit anderen Unglücklichen zurückgeschickt, wo er, wie der Leser ganz am Schluss erfährt, noch einige Jahre in einer Anstalt, aber auch in häuslicher Gemeinschaft mit seiner in Europa gebliebenen Ehefrau verbringt. 

Bereits in diesen ersten Kapiteln kann der Leser die weite stilistische Spanne zwischen das Gefühl aufwühlender Belletristik und streng wissenschaftlicher, mit vielen Anmerkungen versehener Abhandlung bewundern und goutieren, dazu sich an dem vielfältigen Bildmaterial erfreuen. Natürlich betritt Meesmann mit der Schilderung einer Zeit, in der man noch nicht von einem N- oder einem Z-Wort, das man heute auf keinen Fall benutzen darf, sprach, sondern sich der Begriffe ungeniert bedienen durfte , stark vermintes Gelände, tut aber das einzig Richtige, indem sie über diese Zeit in den damals üblichen Begriffen ohne sprachliche Verrenkungen schreibt.

Allein fast fünf Seiten umfasst das Inhaltsverzeichnis, das es dem Leser erlaubt, sich allein durch das Lesen desselben bereits ein wenn auch oberflächliches Bild dessen zu verschaffen, was ihm bevorsteht. Es geht um die Herkunft Ábraháms aus der erst ungarischen, nach 1919 serbischen Batschka, in der übrigens bis 1945 auch viele deutsche Siedlungen waren. Oft wird ein Stein namens Pál Ábrahám ins Wasser geworfen und zieht weite Kreise, so die Geschichte der ungarischen Oper oder die des ungarischen Films, die Musik der Roma, die ungarische Volksmusik, und in einem Exkurs gibt es sogar eine Analyse mit Notenbeispielen aus Viktoria und ihr Husar. In einem ständigen Wechsel zwischen Biographischem und allgemein Historischem wie der Entwicklung des Antisemitismus in Ungarn wird übergegangen zu ersten Kompositionen wie einer Ungarischen Serenade, einem Cellokonzert und einer Puppenoper, und es wird deutlich, dass Ábrahám seine Zukunft eigentlich in der Oper, in jedem Fall aber in der Klassik sah, durch erste Erfolge mit Chansons aber in eine andere Richtung getrieben wurde, wozu auch das Studium an der Handelsakademie und die Gründung einer Agentur gehörten.

Die „Revolution des Gesellschaftstanzes“, die Hinwendung zu Charleston und Shimmy eröffnet neue Möglichkeiten im Komponieren von „Futtermusik“, die ihren Erzeuger ernähren kann. Das Buch vermittelt einen Überblick über diese aus Amerika stammende Unterhaltungsmusik, zeigt zudem auf, wie Ábrahám zu Jazzrevue und Filmmusik kam, über Kompositionen zur Begleitung von Stummfilmen, zu seiner ersten Operette Zenebona und dem ersten großen Erfolg mit Viktoria und ihr Husar, wo das seriöse Paar noch Walzer tanzt, während beim Buffopaar Foxtrott und Csardas den Ton angeben. Um die Figur von Ábrahám herum entfaltet die Autorin ein detailreiches Bild vom kulturellen Leben der Zwanziger, einschließlich Josefine Baker und Jonny spielt auf, der Neuaufstellung des Orchesterapparats einschließlich Jazzinstrumenten, der Geschichte des Tonfilms im allgemeinen und der UFA im besonderen. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ ist nicht von Ábrahám, aber der Text stammt von einem der Gebrüder Rotter, die eine wesentliche Rolle im Buch spielen. Über deren tragisches Schicksal erschien vor einiger Zeit ein umfangreiches Buch. Die Musik zum Erfolgsfilm Die Drei von der Tankstelle kann Ábrahám nicht komponieren, weil er erkrankt, doch mit Ball im Savoy, Die Blume von Hawaii, Märchen im Grandhotel und Roxy und ihr Wunderteam schreibt er sich in die Annalen der Operetten- und Filmmusik.

Eine weite Spanne ist es zwischen der Darstellung der Aufführungspraxis der Jazzoperette zum tragischen Schicksal der Renate Müller, der Privatsekretärin im gleichnamigen Film mit der Musik von Pál Ábrahám, so wie zwischen den flotten Unterhaltungsfilmen der Zwanziger und Dreißiger und ihren lauen, flauen Remakes in den Fünfzigern. Vermarktung und Urheberrechte und die Entstehung des Schlagers „Ich bin ja heut‘ so glücklich“ aus einem Ausruf werden gleichermaßen berücksichtigt, Otto Braun und der Preußenschlag  sowie Carl von Ossietzky behaupten sich neben den großformatigen Filmplakaten und den Ansichten der Villa in der Fasanenstraße, derer sich das Paar nur für kurze Zeit erfreuen kann. Da ist es gut, dass vieles auch in die Anmerkungen ausgelagert wurde, damit der Leser den Überblick nicht verliert. Mit Begriffen wie dem der „Reichsfluchtsteuer“ deutet sich das kommende Unheil an, für kurze Zeit bieten Wien, Budapest, Holland noch Auftrittsmöglichkeiten, ehe Austrofaschismus und schließlich der Krieg  Scharen deutscher und aus anderen Ländern stammender Künstler in die USA treiben, wo es wohl noch Arbeiten an einem Potemkinfilm gibt. Ein Appell von Künstlern erwirkt nach 1945 die Rückführung des Komponisten nach Deutschland- oder war es eine Abschiebung? Nach einer Knieoperation stirbt Ábrahám in Hamburg. Ein Epilog würdigt ihn u.a. als Erfinder der Jazzband im inner circle inmitten des Orchesters und  sieht eine Art Wiedergutmachung an der Berliner Komischen Oper, früher Metropol Theater, durch Barrie Kosky. Als solche kann sich aber auch dieses so sympathische wie faktenreiche Buch ansehen (Karin Meesmann: Pál Ábrahám – Zwischen Filmmusik und Jazzoperette; Hollitzer; Wien 2023; 550 Seiten; ISBN 978 3 99094 016 7). Ingrid Wanja  

     

Sempre Gomes

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Carlos Gomes ist operalounge.de-Lesern nun wirklich kein Unbekannter, vielfach haben wir über ihn berichtet und seine Bedeutung für Brasiliens Musiklandschaft hervorgehoben. Und so erfreulicher ist nun die Nachricht: Bei NAXOS gibt es jetzt eine neue Reihe The Music of Brazil, und darin eine CD mit Ouvertüren und Vorspielen aus Opern von Carlos Gomes. Sie ist Teil des Projekts Brasil em Concerto, das vom Außenministerium Brasiliens unterstützt wird, um die Musik des Landes in aller Welt bekannt zu machen. Carlos Gomes ist der bislang bekannteste Vertreter lateinamerikanischer Komponisten. Seine ersten Opern, A noite do castelo (1861) und Joana de Flandres (1862), wurden in der National Academy von Rio de Janeiro uraufgeführt und führten für Gomes zu einem Stipendium am Mailänder Konservatorium. Nach zwei erfolgreichen musikalischen Komödien hatte er dort endgültig Fuß gefasst. 1870 gelang ihm der Durchbruch an der Scala mit seiner bekanntesten Oper Il Guarany. Erst 1896 kehrte er nach Brasilien zurück, um die Leitung des Belém Conservatory zu übernehmen; kurz danach starb er überraschend. Bis dahin schrieb er noch weitere große Opern, die mit Instrumentalmusik auf dieser Aufnahme vorgestellt werden. Im Prelude des 1.Aktes von A noite do castello sind in der experimentellen Instrumentierung schon deutlich dramatische Effekte auszumachen. Ausgeglichener bezüglich der Klangfülle gelang ihm das bereits ein Jahr später mit dem Prelude zum 1.Akt von Joana de Flandre. (Dazu gibt es bei operalounge.de auch einen Opernführer, Die vergessene Oper). Der wuchtige Beginn der ausladenden Ouvertüre zu Il Guaranay kommt da schon intensiver daher, der Klang wird differenzierter. Weitere Entwicklung ist deutlich in den Ouvertüren zu Fosca (1873) und Salvator Rosa (1874 auch hierzu einen Beitrag Die vergessene Oper) auszumachen, nachdem Gomes vor allem Fosca noch mehrfach überarbeitet hatte; dabei wurde das ursprüngliche Prelude noch zur Ouvertüre erweitert. Das Prelude zum 1.Akt der Oper Maria Tudor (1878; a.a.O. 1879) basiert auf zwei gegensätzlichen Themen, dem Rache-Thema des 3.Aktes und dem Marsch der Verurteilten im 4.Akt. Von Gomes‘ reifen Werken erklingt Musik aus Lo schiavo (1889 auch hierzu einen Beitrag Die vergessene Oper) und Condor (1890): Im Prelude zum 1.Akt von Lo schiavo wird eine kurze Einstimmung auf das Stück gegeben, wobei Oboe und Flöte jeweils mit Soli darüber schweben; das Prelude des 4.Aktes – bekannt unter dem Titel Alvorada – kommt  einem symphonischen Gedicht am Nächsten. Seine letzte Oper Condor wird durch das Prelude zum 1.Akt sowie das Nocturne des 3.Aktes präsentiert. Passend zum Sujet, das in Samarkand spielt, werden Orientalismen in die Klangpalette eingeflochten; von kammermusikalischen Phasen bis zu großen Aufschwüngen wird alles ausgeschöpft. Der Dirigent Fabio Mechetti gründete 2008 das Minas Gerais Philharmonic Orchestra, mit dem er seitdem für Einspielungen eng zusammenarbeitet. Dadurch ist auch bei dieser Aufnahme eine sehr ausgeglichene Klanggebung und Differenzierung der unterschiedlichen Grundcharaktere der Opern deutlich geworden. Für Gomes-Liebhaber ist diese CD besonders gut geeignet (NAXOS 8.574409). Marion Eckels

Alles Puppen

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Gut zwanzig Jahre nach der Marthaler-Inszenierung unter Sylvain Cambreling mit Angela Denoke in der Titelrolle füllen die Salzburger Festspiele die sehr schmale Auswahl der Katja KabanovaAufführungen auf DVD, die zwischenzeitlich u.a. noch durch die schöne Carsen-Aufführung mit Karita Mattila bereichert wurde, mit einer neuen Variante an. Diesmal aus der Felsenreitschule, vor deren Ausmaßen Barrie Kosky und sein Ausstatter Rufus Didwiszus im August 2022 keine Scheu hatten. Mussten sie auch nicht, so geschickt, wie sie die Breitwand mit den Bewohnern des Städtchens Kalinow an der Wolga füllten, die unseren Protagonisten den Rücken zukehren. Obwohl die Bühne angefüllt mit Menschenmassen ist, sprich mit ein paar hundert Menschenpuppen, bleibt sie im Grunde auf radikale Weise leer. Vor dieser bewegungslosen und gefühllosen Masse lässt Kosky KátŤa Kabanová als hartes Gesellschaftsdrama ohne Dekorationen, Möbel und Versatzstücke ganz auf die Protagonisten bezogen in der Gegenwart (gedämpft farblose Kostüme von Victoria Behr) spielen. Live war das in der Felsenreitschule sicher wirkungsvoller als auf der DVD. Einziger Gegenstand scheint der Gehstock der Kabanicha zu sein, mit der sie ihre Familie knutet und als Domina den ihr ergebenen und hündchenhaft tapsenden Dikoj züchtigt, was Jens Larsen besser spielt als singt. Koskys reduzierte Inszenierung ist größtenteils spannend. Oft auch suggestiv. Nimmt sich freilich auch etwas hilflos aus, wenn Benjamin Hurell als Kudrjáš auf dem Boden hockt und David Butt Philip als Boris nervös und angestochen hin- und herläuft. Butt Philip und Hurell führen die Reihe britischer Janacek-Tenöre fort, Butt Philip etwas schwerer, quasi auf dem Sprung zum jugendlichen Heldentenor, farbloser Hurlett mit keuschem Oratorienton, beide lyrisch beweglich. Ein Kraftpaket garstiger Schwiegermutterfiesheit ist Evelyn Herlitzius, deren schneidend scharf charakterisierte Kabanicha keinen Widerspruch duldet. Klar und eindringlich baut Kosky die Situation auf. Berührend, wie sich Varvara und Katja ihre Träume erzählen, vor allem, da Jamila Balazova und Corinne Winters packend, eindringlich und authentisch mädchenhaft wirken und sich bei ihnen Gesang und Ausdruck auf bezwingende Weise ergänzen und durchdringen. Da merkt man auch immer wieder, wie gut der in Brünn geborene Jakub Hrúša diese Musik mit ihren kleinteilig gebrochenen Gesangslinien beherrscht und sie mit den Wiener Philharmoniker nicht nur in den sprechenden Naturklängen der Zwischenspiele ausspielt. Die fragile Corine Winters ist eine von den schmalen vögelchenzarten Singschauspielerinnen, die zum Hingucken zwingen, keine unverkennbare Stimme, aber eine hingebungsvolle Darstellerin. Vielleicht sollte der Sopran etwas mehr Körper und Volumen haben, doch das spielt keine Rolle, wenn Katja erzählt, dass sie eine Todsünde begangen habe und wie sie sich nach einem anderen Leben außerhalb der trübseligen Ehe mit ihrem hilflosen Mann Tichon (zu alt und unauffällig Jaroslav Břrzina) sehnt. Der einzige Mann, der sie aus der Öde führen könnte, ist Boris, doch David Butt Philips bleibt zu gesichtslos. Wie schon bei der Salzburger Erstaufführung von Janáčeks Tragödie nach Ostrowskis Schauspiel Das Gewitter kommt die Wolga auch diesmal nicht vor (Unitel 809108). Katja lässt sich am Ende durch eine Bodenlucke fallen. Ihr Mann fischt nur noch ihr nasses Kleid heraus.   Rolf Fath

 

Nichts für Kinder

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Jedes große Opernhaus, das etwas auf sich hält, hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, als deren „Wiederentdeckung“ einsetzte, Engelbert Humperdincks Königskinder auf das Programm gesetzt. Darunter München, Zürich sowie 2012 auch Frankfurt, wo der Königssohn von Daniel Behle gesungen wurde, der auch ein Jahr nach dem Humperdinck-Jahr 2021 – Humperdinck starb 100 Jahre zuvor in Neustrelitz – in der Aufführung aus Amsterdam aus dem Herbst 2022 als erfahrener Prinz zu hören ist.

Das Experiment mit der melodramatischen Schauspielmusik war bei der Münchner Uraufführung 1897 gescheitert. Humperdinck verteidigte die Wahl zwar nachdrücklich, „Ich glaube, dass die Ansätze für eine neue Kunstform gegeben sind… Ich denke natürlich nicht daran, dass sie je den Gesang verdrängen soll, aber neben demselben wird sie sicher von größter Wirkung sein, da, wo Stoff und Form sich nicht für ein gesanglichen Ausdruck eignen. Unsere moderne Oper geht den Weg, der zum Melodram führen muss“. Doch auch für Humperdinck führte der Weg zum Erfolg über eine gängige Opernfassung. Der Uraufführungserfolg an der Metropolitan Opera im Dezember 1910 übertraf den von Puccinis kaum drei Wochen zuvor uraufgeführten Fanciulla del west. Die Kritik feierte „die bedeutendste Oper seit Wagners Parsifal“. Nach 1943 durfte das Werk nicht mehr gespielt werden. Die Librettistin Elsa Bernstein-Porges (1866-1949), die nachdem sie ihre Tätigkeit als Schauspielerin aufgeben musste, unter dem Pseudonym Ernst Rosmer Dramen und Gedichte schrieb, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im Mai 1945 kam sie frei, ihre Schwester überlebte das KZ nicht. Rosmers bzw. Bernstein-Porges‘ symbolistisches Kunstmärchen ist eine bitterböse Parabel über die Hartherzigkeit der Gesellschaft, die Christof Loy in seiner Inszenierung im Stummfilm während der Einleitung zum dritten Akt, der nicht nur hilft, die Brüche der Handlung zu verstehen, sondern ein Bild von der aufgehetzten Bürgerschaft gibt, zu einer politischen Geschichte zuspitzt.

Die Königskinder sind die Gänsemagd und der Königssohn, der aus dem Palast geflohen ist, um die Welt kennenzulernen. Die Hexe prophezeit, dass sie die neuen Herrscher der Stadt sein können, doch die Bürger sehen in ihnen nur armes Pack, das sie aus der Stadt vertreiben. Hungernd irren die Königskinder durch den Wald. Der Königssohn tauscht schließlich seine Krone für ein Brot ein, das vergiftet ist. Beide sterben im kalten Wald, beklagt vom Spielmann und den Kindern. Nichts für Kinder.

Die Düsternis des Märchens kontrastiert in Amsterdam mit einer hellen Bühne, über die die jungen Leute zu Beginn ausgelassen tanzen. In Johannes Leiackers White Box-Bühne oder besser weißer Rundhorizont-Bühne mit der riesigen Linde ist der Hellawald ein helles Tandaradei, über das bunte Blätter rieseln. Selbst die Hexe trägt Barbara Droshins helle Kleidung. Doris Soffel fügt der Galerie bedeutender Partien ihrer Alterskarriere ein kraftvolles Porträt hinzu, durchsetzungsstark, textakzentuiert und mit einer gewissen Allüre. Fröhlichkeit herrscht auch in der Stadt. Die jungen Leute streifen zum „Hellafest und Kinderreigen“ völlig unnötigerweise schnell ihre Kleider ab, ziehen sich weiße Klamotten über ihre Feinripp-Unterwäsche und tanzen um den langen weißen Sommertisch und die weißen Klappstühle. Das ist alles hochdekorativ, ein Sommerfest in bewährter Loy-Manier mit Überschwang in den lustvoll-locker choreographierten Tanzszenen und mit sensiblen Details und berührenden Momenten. Loys Personenregie trägt immerhin gut genug, um auch in der Schneelandschaft des dritten Aktes die Längen der Oper erträglich zu machen. Ebenso dekorativ, der Einfall für das Geigensoli die Musikerin Camille Joubert – zudem als Einzige in schwarzer Konzertkleidung – auf die Bühne zu holen.

An seiner einstigen Wirkungsstätte macht Marc Albrecht mit nachwagnerischer Üppigkeit und fast impressionistischer Stimmungszauberei deutlich, weshalb die Oper als Werk des Übergangs seine Meriten hat (DVD Naxos 2.110789). Mit dem Netherlands Philharmonic Orchestra setzt er aber auch auf die rein musikantisch-kraftvollen, manchmal kraftmeierischen Momente der Musik, die auch das Ensemble mitreißen. Olga Kulchynska verbindet als Gänsemagd treuherzige Backfischmomente mit inniger Lyrik, Daniel Behle wirkt als stimmlich und darstellerisch gereifter Königssohn im Lauf der drei langen Akte ein wenig einfarbig, Josef Wagner nutzt die Möglichkeiten, die ihm die dankbare Partie des Spielmanns gibt, rührend Henk Poort als Ratsältester, viele der kleineren Partien sind weniger markanter besetzt. Rolf Fath

Ausstattungsfilm

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Mit der Zürcher Verlobung hat diese Liebesgeschichte nichts zu tun. The Zurich Affair behandelt eine Liebesbeziehung, die sich gut hundert Jahre vor Helmut Käutners Film von 1957 ereignete, die Beziehung Richard Wagners zur Gattin seines Gönners und Mäzens Otto Wesendonck während seines Zürcher Aufenthalts in einem Haus neben der Villa Wesendonck. Im Zuge der Beziehung schrieb Mathilde einige schwärmerische Gedichte, deren Vertonung Richard als Studien zu Tristan und Isolde nutzte.

Trotz seiner 1,66 Meter gelte der Klavierlehrer und Zukunftsmusiker bereits jetzt als der größte lebende Komponist, begeistert sich der mit seiner Frau gerade erst von Düsseldorf nach Zürich übergesiedelte Otto Wesendonck und setzt sich vehement für den Freund Wagner ein. Bald zieht dieser die skeptischen Zürcher Bürger durch eine Lesung seiner Rheingold-Dichtung in seinen Bann. Bei diesem Anlass trifft Wagner erneut auf Mathilde Wesendonck und das, was Regisseur Jens Neubert „Wagner’s one and only love“ nennt, nimmt seinen Lauf (Naxos NBDO170V). Der international besetzte Film dürfte Zuschauer, die mit Wagner und seinen Zürcher Jahren nicht vertraut sind, einigermaßen in gespannte Aufmerksamkeit versetzten, um den Ereignissen in der Villa Wesendonck und der Zürcher Bürgerschaft zu folgen. Neubert hat gut recherchiert. Vor allem Otto Wesendonck ist gut gezeichnet. Neubert zeigt Ottos Großzügigkeit, seine Zuwendungen und Geschenke einerseits und seinen Geschäftssinn auf der anderen Seite, auch seine Versuche, Wagner zum Dirigieren zu überreden und ihm dadurch ein Auskommen zu sichern. Dem stehen die  Kleingeistigkeit der Gegner mit den bekannten Aussagen wie eine artige Zitaten-Sammlung gegenüber, beispielsweise vom „Huren-Aquarium“, oder den Auslassungen über Wagners Marotten, das Baden im kalten See usw. Otto philosophiert über soziale Fragen, Zivilisation und Wohlstand, wobei Rüdiger Hauffe eine gute Figur macht und überhaupt als kultivierter und hoch gebildeter Geschäftsmann viel sympathischer erscheint als man das gemeinhin annehmen mochte. In den Gesprächen verleiht Roland Bonjour dem Schweizer Politiker Johann Sulzer ein wenig Profil, Patrick Rapold dem Franz Liszt. Weitere historische Figuren wie Georg Herwegh, Johann Bernhard Spyri oder Gottfried Keller werden kaum greifbar, auch nicht Cosima und Hans von Bülow. Vielfach belässt es der Film bei blutleer langweiligem Aufsage-Theater. Die Zurich Affair ist ein präsentabler Ausstattungsfilm, der das Hotel Baur au Lac und die Wesendonck Villa in ihrer großbürgerlichen Pracht ebenso erfasst wie die Ansichtskartenbilder der Bergwelt und dabei über Stoffe und Kostüme streift, wie es Wagner wohl gefallen hätte. Aber die Zwischen- und Untertöne in der Richard-Mathilde-Otto Dreierbeziehung werden doch nur gestreift. Da hat so manche Tristan-Inszenierung mehr an Zwischentönen und Spannungsbögen geliefert. So seltsam glatt bleiben auch viele darstellerische Leistungen, vor allem der amerikanischen Schauspielerin und Sängerin Sophie Auster als Mathilde, während der Finne Joonas Saartamo als Wagner vor allem den getriebenen Egomanen gibt. Schön der Auftritt von Michael Volle als Kleinstadt-Sänger in einer kurzen Sequenz mit dem Holländer.   R.F.

Liebeswerk

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Zumindest partiell ein Lebens-, ganz bestimmt aber ein Liebeswerk ist Dieter David Scholz`dreihundert Seiten umfassendes Buch mit dem Titel Jacques Offenbach und dem eine kämpferische Auseinandersetzung vermuten lassendem Untertitel Ein deutsches Missverständnis. Nur partiell, da neben Offenbach auch andere Komponisten, so besonders Richard Wagner , den Autor beschäftigen, allerdings dem Sachsen nicht dessen Zuneigung wie dem Deutschfranzosen zuteil wird, wie nicht zuletzt die Benennung der Wagner-Nase mit „Zinken“ verrät, während das nicht unauffällige Riechorgan Offenbachs keine Erwähnung findet. Ein Text, der in anderer Form bereits in einem Wagner-Buch des Autors erschienen ist, versieht den Leser mit zusätzlichem Material zum Thema Wagner. Mit etwas Stirnrunzeln liest man, dass Wagner die Schwachen verlacht habe, Offenbach die Starken, wobei es zu lachen bei Wagner nicht viel gibt, Beckmesser als Merker und Stadtschreiber so schwach nicht ist.

Die Vielseitigkeit des vorliegenden Bandes zeigt sich darin, dass er auch ein chronologisches Verzeichnis der Werke Offenbachs, eine Übersicht über Werke zu Offenbach und eine Offenbach-Diskographie enthält.

Worin das Missverständnis der Deutschen in Bezug auf Offenbach besteht, wird sehr schnell und immer wieder klar: Es ist einmal die Bezeichnung von Offenbachs sehr unterschiedlichen Werken als Operette, während der  Komponist selbst nur einen Teil seiner Einakter mit dieser Gattungsbezeichnung versah, und  es ist zudem die Annahme, es gebe eine Entwicklungslinie, die von Offenbachs Werken direkt zur Wiener Operette führe. Erst 1950 findet man nach Scholz bei Alfred Einstein den allein zutreffenden Begriff der Opéra bouffe, und noch 2018 musste sich Peter Hawig gegen eine „Willkür von Begrifflichkeiten“ verwehren. Von Matthias Attig stammt das Bekenntnis zur „Offenbachiade“, das noch besser als alle anderen Begriffe die Einmaligkeit des offenbachschen Werks deutlich macht, das in dieser Form, voller Satire, Ironie, Freizügigkeit und Geschliffenheit, nur im Zweiten Kaiserreich entstehen und überleben konnte, nach dessen Ende mit Schrecken sich Offenbach anderen Gattungen, schließlich der Oper Hoffmanns Erzählungen, die unvollendet blieb, zuwandte.

Natürlich äußerten sich bereits Zeitgenossen zu Offenbach, so Heinrich Heine, mit dem ihm vieles, so Herkunft und Exil, verband, Rossini, der ihn als Mozart der Champs- Eliysees bezeichnete, Nietzsche und Karl Kraus, letzterer allerdings kein Zeitgenosse.

War ein verzerrtes Offenbachbild nicht zuletzt wegen dessen Judentums und infolge der im Krieg von 1870/71 gipfelnden deutsch-französischen Erbfeindschaft in Deutschland beinahe eine Selbstverständlichkeit, so kam es doch mit der Zeit zu von Abneigung oder gar Hass freien Einschätzungen, die der Verfasser in chronologischer Abfolge mit Erste Korrekturen eine verzerrten Offenbachbildes, Durchbruch zu einem sachlichen Offenbachbild und Das neue Offenbachbild betitelt. Dabei ist zu beobachten, dass zwar die Wertschätzung des Komponisten und seiner Librettisten immer mehr zunimmt, allerdings von der Nazizeit und in anderer Form auch in der DDR unterbrochen, der Begriff Operette für Offenbachs Werke aber von einer so unverständlichen wie trotzigen Langlebigkeit ist. So werden Autor für Autor oder auch Lexika einer strengen Prüfung unterworfen, für ihre Einsichten in die Bedeutung Offenbachs für die Musikgeschichte gelobt, aber zwangsläufig immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sich des falschen Begriffs Operette für Offenbachs Werke zu bedienen. Genüsslich wird auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Barcarole nicht in „heimeliger Venedig-Kulisse“, sondern zunächst in Offenbachs erst in den letzten Jahren wieder öfter gespielter Oper „Die Rheinnixen“ auftauchte, und dass der rauschhafte Tanz in „Orpheus in der Unterwelt“ kein Cancan, sondern ein Galopp ist.

Vom Autor oder von Gastautoren stammen interessante Beiträge über Offenbachgesellschaften und Offenbach-Aufführungsorte wie Wien oder Bad Ems, über das Kölner Offenbacharchiv und sein dramatische Geschichte, eine Charakterisierung der offenbachschen opéra bouffe wie der der Wiener Operette, die durchweg nicht gut davon kommt. Auch die Bühnenpraxis wird in die Betrachtungen mit einbezogen, so die Offenbachpflege an der Komischen Oper Berlin mit sehr unterschiedlich zu bewertenden Aufführungen, wobei Barrie Kosky mit den seinen, vom Publikum bejubelten, nicht gut wegkommt, da er nicht nur nach Meinung des Verfassers allzu viel Travestie in seine Inszenierungen einbaut und damit eine andere Art der Verfälschung praktiziert. Weitere Aufführungskritiken schließen das ebenso kenntnisreiche wie gut zu lesende Werk ab, das im Nachwort von Peter Hawig noch einmal Wesentliches zusammenfasst, was die offenbachsche Opéra bouffe ausmacht, die nichts ernst nimmt, was ernst genommen werden will, zugleich zeitbezogen und überzeitlich ist, Karikatur, Parodie und Persiflage zu ihren Merkmalen zählt, Partei für die Schwachen nimmt, lyrische Ruhepunkte hat, utopische Träume ernst nimmt, das lustbetonte Gute siegen lässt, Paris zum Zentrum hat und eine Musik, die für “entgrenzte Leichtigkeit“ steht, dem entzückten Ohr bietet.

Eine Bibliographie und ein Namensregister beschließen das überaus inhaltsreiche, vielseitige und inspirierende Buch, das dazu angetan ist, ein deutsches Missverständnis ein für alle Mal auszuräumen. Jacques Offenbach- Ein deutsches Missverständnis; Dieter David Scholz, Königshausen & Neumann; Würzburg 2023, 300 Seiten, ISBN 978 3 8260 7959 7). Ingrid Wanja

Musikalischer Spass

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L’Heure espagnole/Bolero ist die fünfte Einspielung von Ravel-Werken unter der Leitung des versierten Francois-Xavier Roth mit dem Ensemble Les Siècles bei harmonia mundi. Ravels Vorgaben für das komödiantische Sujet der L’heure espagnole erfüllt Roth mit dem Ensemble, das von feinsten Melodiebögen bis zu größten Ausbrüchen mit passenden Farben malt, aufs Beste. So gerät der hier nur knapp 50 Minuten dauernde Einakter äußerst kurzweilig, der die Rafinesse einer Frau anschaulich macht, die zwischen Ehemann und zwei Verehrern schließlich im zunäcst störend hinzukommenden Vierten dank seiner Kraft als Möbelträger durchaus praktische Vorteile erkennt. Ravel hat für die Protagonisten häufig Sprechgesang gewählt, aber daneben durchaus veritable Arien in Miniformat geschaffen. Die Dame, um die sich alles dreht, ist Concepción – Frau des Uhrmachers – die von Isabelle Druet mit wandlungsfähigem Mezzo-Sopran ausdrucksstark gesungen wird; Gipfel der nuancenreichen Interpretation ist ihre Klage über das „jämmerliche Abenteuer“ mit ihren Liebhabern, wenn sie – unterstützt von teils schrägen, fast schrillen Klänge der Instrumente – durch die Oktaven tobt,. Loic Felix gibt den vor allem in seine Uhren verliebten Torquemada mit hellem Tenor, den er locker und leicht mit elegantem Sprachfluss durch alle Lagen führt. Als ganz von der Poesie beherrschter Gonzalve kostet Julien Behr die Gesangslinien sehnsuchtsvoll aus; der Tenor verfügt über klangvolle, freie Höhe und lässt die Sprache förmlich auf der Zunge zergehen. Sein Rivale, der ob seiner Leibesfülle verhinderte Liebhaber Don Inigo Gomez, hat in Jean Teitgen mit großformatigem Bass einen adäquaten Vertreter. Als Maultiertreiber Ramiro erweist sich Thomas Dolié mit bassgrundiertem, teils kräftigem, teils schmeichelndem Bariton erfolgreich im trubeligen Spiel. Ravels Coup, die Story angelehnt an Boccaccios Moral –  „Von allen Liebhabern ist einer erfolgreich, es kommt der Moment beim Zeitvertreib der Liebe, wo der Maultiertreiber an der Reihe ist“ –  mit einem wirbeligen Quintett enden zu lassen, wird von der Sängerin und den Sängern entsprechend bravourös vorgetragen.

Als starker Kontrast zu dem turbulenten Einakter wird die CD von Ravels „Meisterwerk“, dem Bolero ergänzt, der erst im Sommer 1928 entstand und über den er selbst sagte: „Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.“ Die Tänzerin und Choreographin Ida Rubinstein hatte Ravel 1927 um die Orchestrierung einiger Tänze von Albeniz’ Klavierzyklus „Iberia“ gebeten, was sich aber zerschlug. Da setzte Ravel auf eine schon lange in ihm wachsende Idee, nämlich ein Stück zu schreiben mit nur einem sich neunmal wiederholenden Thema aus zwei gleich langen Teilen, das nicht entwickelt wird, sondern nur durch stetige Steigerungen in Dynamik und Instrumentierung auf  den Höhepunkt zuläuft. Damit hat Ravel die abendländische Musiktradition verlassen, aber auf seine Weise eine kraftvoll bezwingende Musik geschrieben. Wie sich aus dem ursprünglichen Solo der Kleinen Trommel als Rhythmusgeber und Flöte/Klarinette mit dem erstem sowie Fagott/Klarinette in Es mit dem zweitem Thema über gut 15 Minuten lang der Klang vom kleinsten pianissimo bis zum größten fortissimo aufbaut, das entfaltet auch in dieser Aufnahme seine suggestive Wirkung. Mit den in allen Instrumententruppen tadellosen Les Siècles ist  Francois-Xavier Roth eine sehr gute Einspielung gelungen.

Einziger Wermutstropfen ist das sonst instruktive Beiheft, dass das Libretto nur in Französisch und Englisch angefügt wurde, während die übrigen Texte zu Komponist und Interpreten auch in Deutsch angegeben sind. Ein paar Informationen zu den Sängern wären auch hilfreich gewesen, da nicht jeder Kaufinteressent auf google  Zugriff hat (harmonia mundi HMM 905361).  Marion Eckels

Historisches aus Glyndebourne

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Ganz so alt wie Max Reinhardts Hollywood Sommernachtstraum ist Peter Halls Einrichtung von Brittens A Midsummer Night’s Dreamfür Glyndebourne nicht. Doch seine Inszenierung der Oper, die im Sommer 1981 beim Festival in Sussex Premiere hatte, ist auf ihre Weise die ultimative Inszenierung von Benjamin Brittens 20 Jahre zuvor in Aldeburgh uraufgeführten Shakespeare-Oper oder, wie The Guardian meinte, „… the definitive staging of the work“. Die vielfach veröffentlichte Aufnahme ist nun wieder bei Opus Arte greifbar (OA13731 D), wenige Woche nachdem man Peter Halls gleichfalls liebevoll retrospektive Inszenierung des Albert Herring von 1985 wiederbegegnen konnte. Beide Male dirigiert Bernard Haitink, der seinerzeit die musikalische Leitung des Festivals innehatte. Wie stets sind auch für diese Oper einige der bekanntesten britischen Sänger aufs Land gereist, Felicity Lott und Cynthia Buchan singen die Helena und Hermia, Dale Duesing – er freilich ist Amerikaner – und Ryland Davies ihre Liebhaber Demetrius und Lysander. Lott ist überragend als Helena, Duesing verleiht seinen Figuren stets eine besondere Qualität. Alle vier sind in ihren 30ern, wenngleich sie etwas reifer wirken und die Nahaufnahmen ihnen nicht immer zum Vorteil gereichen. Der schwedische Bass Curt Appelgren erlebte den Höhepunkt seiner Karriere offenbar als in Glyndebourne, wo er Rocco, Basilio und bis 1989 den Bottom sang; übrigens immer noch mit Buchan und Davies. Die berühmtesten Namen sind für das Herrscherpaar Titania und Oberon aufgeboten, die durch ihre Eifersüchteleien die Komplikationen im Wald bei Athen mit den beiden verwirrten Liebespaaren heraufbeschwören. Ileana Cotrubas ist eine exquisite Titania, der im März verstorbene James Bowman hatte seine Bühnenkarriere als Oberon begonnen und blieb stets mit dieser Partie verbunden; noch 2021 sang er bei einem allerletzten Auftritt anlässlich eines Gedenkkonzerts für Steuart Bedford Oberons Monolog ‘I know a bank’. Bemerkenswert der 14jährige Damien Nash als Puck. Alle sind mit spür- und hörbarer Freude und Hingabe bei der Sache, so dass die betuliche, betont werktreue und altmodische Aufführung nicht angestaubt wirkt, eher wie ein Erbstück – das in Glyndebourne bis zum heutigen Tag aufpoliert wird (die Presse titelte griffig, „the magic lives on“). Haitink und das London Philharmonic Orchestra lassen den Wald und die Paare flüstern und wispern, dass die Oper, die mir immer ein klein wenig zu lang erschien, selten länglich wirkt. Den Hauptverdienst am Erfolg der Aufführung hat die Mischung aus naturalistischen und phantastischen Elementen in der Ausstattung von John Bury im Stil des populären britischen Märchenillustrators Arthur Rackham. Üppige Renaissancegewänder für die Herrscher, netten Flügelputz für die kleinen Elfen in den Tudor-Kostümen, eine Eselsverkleidung, wie sie heute kein Weihnachtsmärchen mehr hinbekommt, und schließlich ein Landsitz aus der Shakespeare-Zeit. Doch die Hauptfigur scheint der im Mondlicht unmerklich sich bewegende Wald mit seinem weitarmigen Zweigen und geheimnisvollen Blättern zu sein. Es bleibt eine zauberhafte und atmosphärisch dichte Aufführung. Man kann sich sicher sein, dass dieser Traum von einer elisabethanischer Ideallandschaft auch das diesjährige Festspielpublikum, das größtenteils vielleicht noch nicht geboren war, als die Produktion ihre Premiere hatte, entzückt hat.

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Benjamin Brittens Werke wurden regelmäßig in Glyndebourne gegeben. Bereits 1946 fand die Uraufführung von The Rape of Lucretia mit Kathleen Ferrier statt. Erst 2010 rangen sich die Festspiele zu einer Produktion der spröden Männeroper Billy Budd durch, deren Uraufführung 1951 in einer vieraktigen Fassung an Covent Garden stattgefunden hatte. Mark Elder dirigierte in Glyndebourne die heute gebräuchliche Fassung in zwei Akten, die Britten 1964 ebenfalls für Covent Garden erstellt hatte. Es inszenierte der Schauspielregisseur und wenige Male als Filmregisseur hervorgetretene (2022 Der Liebhaber meines Mannes) Michael Grandage, der vielfach für seine Arbeit am dem von ihm damals geleiteten Donmar Warehouse ausgezeichnet wurde. Billy Budd war sein Operndebüt, anschließend hat er mehrfach Opern inszeniert. Grandages vorsichtige und werkdienliche Inszenierung gliedert sich insofern in die Reihe von A Midsummer Night’s Dream und Albert Herring ein als sie versucht, eine historisch getreue Abbildung von Bord der Indomitable während des englisch-französischen Seekriegs 1797 zu bieten. Vor allem die Kostüme des Ausstatters Christopher Oram bilden die strenge Hierarchie und Disziplin an Bord ab, wo Captain Vere mit seinen engsten Vertrauten über die Französische Revolution und deren Bedrohung von Disziplin und Ordnung diskutieren. Die Arbeit wirkt aber fade und uninspiriert und verpackt die Geschichte des zu Unrecht gemobbten und der Meuterei verdächtigten Stotterers Billy in blutleere Aktionen (2 DVD OA 1051 D). Musikalisch ist die Aufführung sehr gut. Der damals 32jährige Jacques Imbrailo erlebte als jugendlich-unschuldiger Billy mit dem herzzerreißenden Abschied vom Vere „Starry Vere, god bless you“ seinen Durchbruch. Mit leichtem, gedankentief einfarbigem Tenor verdeutlicht John Mark Ainsley die Erschütterungen des Captain Vere, den die Ideen der Aufklärung in moralische Bedrängnis bringen. Der kanadische Bass Philipp Ens ist ein wuchtiger Claggart, Matthew Rose und Iain Paterson profiliert als Segelmeister und Erster Leutnant. Mark Elder und das London Philharmonic Orchestra boten Brittens größte Orchesterbesetzung durchsichtig und kreieren vor allem in der Gerichtsszene, in der Billy zum Tod durch Erhängen verurteilt wird, an Spannung. Sehen muss man das nicht. Rolf Fath

Milka Stojanović

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Die serbische Sopranistin Milka Stojanović ist in Belgrad gestorben. Sie gehörte zu den großen Verdi-Interpretinnen des 20. Jahrhunderts und gastierte im Osten wie im Westen. Milka Stojanović ist im Alter von 86 Jahren in Belgrad gestorben. Die serbische Sopranistin zählte zu den Stars ihrer Generation. Zwischen 1960 und 1993 sang sie auf den großen Bühnen der westlichen und östlichen Welt, etwa an der New Yorker Met oder dem Moskauer Bolshoi Theater. Auch in der Wiener Staatsoper sowie in München, Berlin, Hamburg und Köln hatte sie Engagements. Ihr Kernrepertoire waren dabei die großen Titelrollen der Opern von Guiseppe Verdi, von der Villa Verdi, dem von Verdis Erben betriebenen Museum in Italien, wurde Stojanovic in die Liste der bedeutendsten Interpreten des Komponisten aufgenommen. Milka Stojanovic wurde am 13. Januar 1937 in Belgrad geboren. Zunächst hatte sie Literatur studiert. Ihr Gesangsstudium absolvierte sie dann unter anderem an der Schule der Mailänder Scala und mit Zinka Milanov in New York. 1993 verabschiedete sie sich von der Bühne im Nationaltheater Belgrad. Am 1. September 2023 ist sie in Heimatstadt Belgrad gestorben. (Quelle: BR Klassik)

Spätromantisches aus Europas Norden

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Viel haben wir in operalounge.de bereits über das schwedische Label Sterling in Einzelrezensionen berichtet. Die Vertriebsfirma Naxos war so liebenswürdig uns weitere Aufnahmen zur Besprechung zu schicken, weil der Katalog von Sterling besonders reichhaltig ist an eben schwedischen Titeln, die es woanders nicht oder kaum gibt -. so Brendlers Oper Ryno, aber auch viele andere – durch die Nähe zur Leipziger Komponistenwerkstatt assoziierten – Komponisten auch deutsche, von denen wir nachstehend einige vorstellen, um den Blick auf schwedische, skandinavische und europäische zu schärfen. G. H.

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Mit der Oper Ryno von Eduard Brendler (1800-1831) legt STERLING die wohl erste in schwedischer Sprache komponierte Oper vor. Der Musikhistoriker und Dirigent Anders Wiklund hat Anfang der 90er Jahre zu Brendlers Ryno geforscht und das Ergebnis mit Solisten, Chormitgliedern des Stora Theaters Göteborg sowie dem Sinfonieorchester Göteborg für den Hörfunk 1992/93 eingespielt. Der in Dresden geborene Eduard Brendler kam als Einjähriger mit seiner Familie nach Stockholm, wo sein Vater eine Stelle als Flötist in der Königlichen Hofkapelle antrat. Dieser bildete seinen Sohn im Flötenspiel aus, so dass Eduard 1823 eine Stelle im Orchester der Harmonischen Gesellschaft erhielt. Brendlers kompositorisches Schaffen fiel in die Jahre 1827 bis zu seinem überraschenden Tod im August 1831. Es umfassst neben Liedern, Klavierstücken, einigen Kammermusikwerken und einem Sinfoniesatz wenige Schauspielmusiken sowie acht auskomponierte von 14 geplanten Nummern der Oper Ryno, die im Herbst 1831 Premiere haben sollte. In der Harmonischen Gesellschaft freundete er sich mit Kronprinz Oskar und dessen Privatsekretär Bernhard von Beskow an, die ihn sehr unterstützten. So waren es von Beskow, der das Libretto verfasste, und Prinz Oskar, der die fehlenden sechs Nummern ergänzte und darüber hinaus noch drei passende Ballettmusiken seines Lehrers Edouard Du Puy der damaligen Sitte folgend in den ersten beiden Akten unterbrachte. Stilistisch sind die Nummern Brendlers eher in der deutschen Romantik wie z.B. bei Webers Freischütz verortet, während bei Prinz Oskar, der vor allem die dramatischen Nummern und die Finali geschrieben hat, besonders die Rossini-Affinität erkennbar wird. Das ergänzt sich in der Aufnahme passend und ist eine runde Sache geworden. Anders Wiklund ist auch für das hervorragende Beiheft zu loben: Das gesamte schwedische Libretto ist ebenfalls in Englisch abgedruckt, wie auch die Anmerkungen zu den Solisten und Dirigent. Der sehr informative, intelligente Artikel zu Brendler und Ryno ist zusätzlich in Deutsch und Französisch, also sogar viersprachig vorhanden!

Kurz zu Vorgeschichte und Inhalt: Um 1500 kehrt der Ritter Thure Stenson nach einer Pilgrfahrt nicht zurück, weil er angeblich nach einem Schlaganfall verstorben ist. Sein ganzes Erbe – verbunden mit der Hand seiner Tochter Agnes – geht an Arnold, seinen Pflegesohn. Die Oper beginnt bei den Hochzeitsvorbereitungen für die beiden. Als im Volk gemunkelt wird, Thure sei ermordet worden und dafür käme eigentlich nur Arnold in Betracht, hört der fahrende Ritter Ryno auch davon und möchte Arnold zum Duell zwingen, um ihn von den Anklagen zu erlösen. Ryno gelingt es, als Wahrsager verkleidet mit durchziehenden Zigeunern in Arnolds Schloss zu gelangen und Agnes auf Befehl Arnolds einen Hinweis auf den Verdacht zu geben. Da spitzt sich das Unheil zu: Agnes will Arnold nicht mehr heiraten, Ryno wird eingesperrt und nur durch die Hilfe seines Knappen Snap wird das Ganze schließlich zu einem guten Ende geführt. Nun taucht Thure wieder auf, Arnold wird im Duell von Ryno tödlich verwundet, und Thure gibt dem Paar Agnes/Ryno seinen Segen.

Man merkt, dass Anders Wiklund diese Musik mit dem in allen Gruppen frisch aufspielenden Orchester sehr engagiert angeht: Da werden die elegischen Seiten klangvoll und ruhig ausgeleuchtet, aber dramatische Aufschwünge kommen ebenfalls nicht zu kurz, wenn man sich auch manchmal noch schärfere kompositorische Konturierung vorstellen könnte, was aber eine zu hohe Erwartung an einen Opernerstling ist. Als Titelheld Ryno präsentiert Anders Lundström seinen gut durchgebildeten Tenor zunächst sehr lyrisch und zeigt im weiteren Verlauf, dass er auch dramatische Steigerungen beherrscht. Im Ganzen gelingen ihm Rezitativ und Arie Det är ej samma sol jag skadar mit Violinsolo (hervorragend gespielt von Per Enoksson), wenn ihm auch in der mit Koloraturen gespickten Arie leichte Intonationstrübungen unterlaufen. Dagegen sind die Koloraturen der Sopranistin Ann-Christine Göransson lupenrein und locker; ihre leichte, auch für Naturbeschreibungen ideale Stimme spricht in Naturen hvilar sina andedrag (gut 9 Minuten) sehr gut an und gipfelt in der wunderbaren Kadenz. In ihrer Szene mit Arnold und Chor (Är du ej oss nära) kommt David Aler mit weichem, flexiblem, fast Bass-lastigem Bariton besonders zur Geltung. Rune Zetterström als Thure Stenson erfüllt mit vollem Bass seine wenigen sängerischen Aufgaben, nachdem er vorher zweimal ein als vermeintlicher Geist auftrat. Vier veritable Baritone als Knappen, Gärtner u.a. – Ake Zetterström, Carl-Gustaf Holmgren, Jonas Landström und Charlie T. Borg – ergänzen das Ensemble sicher und passend.

Neben den guten Solisten und dem stets stilsicher begleitenden Orchesters spielt der Chor in der Einstudierung von Martin Andersson eine entscheidende Rolle, der er ausdrucksstark und in allen Stimmen ausgeglichen mehr als nur gerecht wird; als Volk und Zigeuner geben alle ihr Bestes (STERLING CDO-1031/2-2). Marion Eckels                                                                                                                     

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Die CD mit dem Titel Ouvertüren an königlichen Theatern enthält gleich sieben Ouvertüren von sechs schwedischen Komponisten, die alle als Dirigenten oder Instrumentalisten mit dem 1782 von König Gustav III. eröffneten Stockholmer Opernhaus, der späteren Königlich Schwedischen Nationaloper Stockholm, verbunden waren. Das St. Petersburg Eremitage Orchester, 1988 von Saulius Sondeckis unter dem Namen Kammerorchester des Leningrad Konservatoriums gegründet, spielt unter der anfeuernden Leitung von Mats Liljeford die Konzertouvertüre Nr.3 A-Dur des in Italien geborenen Jacopo Foroni (1825-1858, dazu auch unsere Besprechung von seiner Oper Cristina), der 1850 als Hofkapellmeister Nachfolger von Franz Berwald (1796-1868) wurde. Von diesem sind das wirbelige Vorspiel zur Operette Der Modemacher, ebenfalls vom St. Petersburger Eremitage Orchester flott musiziert, und die gefällige Ouvertüre zur Operette Ich gehe ins Kloster, gespielt wie die übrigen Ouvertüren vom Orchester der Königlichen Schwedischen Nationaloper Stockholm unter dem souveränen Stig Westerberg. Hierzulande weitgehend unbekannt ist der schwedische Komponist und Hofkapellmeister Ludvig Norman (1831-1885), der zum 100-jährigen Jubiläum des Stockholmer Opernhauses 1892 die wahrhaft feierliche Festouvertüre op. 60 komponiert hat, die auch die schwedische Nationalhymne anklingen lässt und ein Thema aus der Oper Gustav Wasa des deutschen Komponisten Johann Gottlieb Naumann enthält, die damals lange Zeit als schwedische Nationaloper galt. Zwei weitere Ouvertüren stammen von vergessenen schwedischen Komponisten: Andreas Randel (1806-1864), Konzertmeister des Opernhauses Stockholm und Professor für Violine, schuf  die Oper Das Volk von Värmland, deren Ouvertüre mit einem auffälligen Horn-Solo ziemlich festlich daher kommt. August Söderman (1832-1876), ab 1862 Kapellmeister am Opernhaus Stockholm, komponierte zu seiner Operette Des Teufels erste vorsichtige Versuchungen eine Ouvertüre, die mit schöner Melodieführung durch alle Instrumentengruppen gefällt. Schließlich ist auf der CD auch der Mozart-Zeitgenosse Joseph Martin Kraus (1756-1792/ oft erwähnt bei operalounge.de, namentlich wegen seines opus summum, Aeneas i Carthago) mit der Ouvertüre zu seiner Oper Proserpine vertreten, die noch deutlich in der Klassik verhaftet ist (STERLING CDS-1009-2).

Der wohl bedeutendste schwedische Opernkomponist war Ivar Hallström (1826-1901/ seine Oper Den Bergtanan haben wir einzeln vorgestellt). Nach sehr frühen Klavierstudien studierte er bis 1849 in Uppsala Jura und war zunächst drei Jahre lang im Staatsdienst tätig, bis er seine Beamtenkarriere abbrach, um sich ganz dem Komponieren und Unterrichten zu widmen. Da er ein ausgezeichneter Pianist und Begleiter gewesen sein muss, wurde sein Name bald allgemein bekannt, auch durch erste Kompositionen. Von 1861 bis 1872 stand er einem Musikinstitut vor; in den Jahren 1881 bis 1885 arbeitete Hallström an der Stockholmer Oper als Korrepetitor. 1861 wurde er Leiter der Königlich Schwedischen Musikakademie und erhielt 1881 den Professorentitel. In seinem Schaffen sind vokale Werke vorherrschend; so schuf er neben Liedern, Kantaten und Chorkompositionen an die sechzehn Opern und Operetten. Hallström komponierte aber auch die drei Ballette En dröm (Ein Traum, 1871), Ett äfventyr i Skottland  (Ein Abenteuer in Schottland, 1875) und Melusina (1882). Bemerkenswert ist, dass die beiden Erstgenannten schon eine Zeitlang vor den großen Handlungsballetten Tschaikowskis erschienen sind. Das Ballett Skottland  spielt in einem Gasthaus im schottischen Hochland, wohin Lord Drummond eine Balletttruppe um die von ihm verehrte Ballerina Mlle. Tourbillon  eingeladen hat. Nach aufregenden Ereignissen bei einem Ausflug in die Berge kommt es zwischen der Ballerina und einem schmucken jungen Schotten unter dem Schutz des Lords zu einem Happyend, das mit fröhlichen Divertissements gefeiert wird. Die Komposition stammt nicht allein von Hallström; auch der schwedische Komponist Conrad Nordqvist (1840-1920) war beteiligt. Das Ballett-Idyll in einem Akt En dröm ist eine hochromantische Geschichte, in der eine Elfenkönigin und ihre Begleiterinnen dafür sorgen, dass ein junges Paar, das durch gesellschaftliche Vorurteile getrennt ist, schließlich doch zueinander findet. Beide Ballette  haben beim munter aufspielenden Malmö Opernorchester unter der Leitung von Michael Bartosch Interpreten gefunden, die die eleganten, teilweise auch schottische Folklore enthaltenden Ballettmusiken kompetent ausdeuten (STERLING CDS-1043-2).

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Aus den 1960er-Jahren stammen die Aufnahmen von sechs Ouvertüren, die STERLING unter dem Titel Romantische Dänische Ouvertüren zusammengefasst hat. Was haben die Komponisten Edouard du Puy (1773-1822), Christoph Ernst Friedrich Weyse (1774-1842), Friedrich Kuhlau (1786-1832), Johan Peter Emilius Hartmann (1805-1900), Peter Heise (1830-1879) und Christian Frederik Emil Horneman (1840-1906) mit Dänemark  zu tun? Alle waren länger oder kürzer am dänischen Königshof als Musiker beschäftigt, vornehmlich als Komponist, obwohl jeder von ihnen Auslandsbezüge aufweist: sie sind in der Schweiz (du Puy) und Deutschland (Weyse, Kuhlau) geboren oder deutschstämmig (Hartmann); Heise und Horneman haben in Leipzig studiert.Das Royal Danish Orchestra deutet unter Johan Hye-Knudsen die unterschiedlichen Stile der Ouvertüren effektvoll aus. So wird die Anlehnung an Rossini in Ungdom og galskap (Jugendsünde) von Edouard du Puy ebenso deutlich wie die Leichtigkeit in Sovedrikken (Das Schlafmittel) von C.E.F. Weyse. Anklänge an die Romantik Carl Maria von Webers finden sich in der Ouvertüre zu William Shakespeare von Fr. Kuhlau; angemessen und durchaus passend ist, dass der Einakter Liden Kirsten nach einem Märchen von Hans Christian Andersen und auch dessen Ouvertüre Volksliedhaftes aus Dänemark enthalten. Schließlich hört man die großformatige Ouvertüre zur dänischen Nationaloper Drog og Marsk (König und Marschall) von Peter Heise und die kompositorisch bereits in die Zukunft weisende Ouvertüre zur Märchenoper Aladdin von C.F.E. Horneman (STERLING CDS-1018-2).

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Sehr verdienstvoll ist es, dass sich das schwedische Label STERLING nicht nur um spätromantische Musik aus Skandinavien kümmert, sondern auch Werke unbekannter oder fast vergessener deutscher Komponisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgegeben hat. In dieser Zeit waren sinfonische Dichtungen besonders beliebt, von denen Lenore von August  (1847-1902) und die Tondichtung Zu einem Drama von Friedrich Gernsheim (1839-1916) nur eingefleischten Spezialisten bekannt sein dürften. Der in Köthen geborene Klughardt erhielt von seinem 10. Lebensjahr an Klavierunterricht; schon in der Schulzeit schrieb er erste Kompositionen. 1863 siedelte er mit seiner Familie nach Dessau über; Nach weiterer musikalischer Ausbildung in Dresden trat Klughardt bereits als 19-Jähriger seine erste Stelle als Hofkapellmeister in Posen an. Nach weiteren Stationen in Neustrelitz und Lübeck ging er für vier Jahre als Großherzoglicher Musikdirektor nach Weimar. In dieser Zeit war die Begegnung mit Franz Liszt für ihn prägend. Nach weiteren neun Jahren als Dirigent in Neustrelitz wurde Klughardt 1882 Hofkapellmeister in Dessau, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Neben fünf Sinfonien komponierte August Klughardt eine ganze Reihe sinfonischer Ouvertüren, vier Opern sowie zahlreiche Lieder, Chorwerke und Kammermusik für unterschiedliche Besetzungen. Sein Kompositionsstil ergibt sich aus seiner Begeisterung für die Neudeutsche Schule um Liszt und Wagner. Allerdings hielt er in seinen Opern an der älteren Form der Nummernoper fest, obwohl er wagnersche Leitmotivik verwendete;  auch ist  seinen Werken stets eine Orientierung an den Werken Robert Schumanns spürbar. Mit seiner Richard Wagner gewidmeten Lenore, Symphonische Dichtung nach G.A.Bürgers Ballade (Symphonie Nr.2 d-moll) op.27, einem viersätzigen, halbstündigen Orchesterwerk, komponierte Klughardt eine „Mischform“ zwischen Sinfonie und sinfonischer Dichtung. Jedem der vier Sätze ist ein Zitat aus Bürgers düsterer Ballade vorangestellt; zusätzlich finden sich in der Partitur am Schluss einige Gedichtzeilen. Die in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Anhaltische Philharmonie unter Manfred Mayrhofer gelingt eine solide, Interpretation, indem die dramatischen Entwicklungen plastisch entstehen, die Klangballungen à la Wagner in den Ecksätzen effektiv ausgekostet und die lyrischen Phasen weich ausgebreitet werden. Friedrich Gernsheim stammte aus einer jüdischen Familie in Worms; nach dem Studium in Leipzig bei Ignaz Moscheles und Ferdinand David sowie in Paris war er ab 1865 Lehrer am Konservatorium in Köln und Kapellmeister am Stadttheater. Ab 1874 wirkte er in Rotterdam als Dirigent, und 1890 wurde er an das Stern’sche Konservatorium in Berlin berufen. Gernsheim, den mit Johannes Brahms eine enge Freundschaft verband, war Mitglied der Akademie der Künste; zu seinen Schülern zählte Engelbert Humperdinck. In Friedrich Gernsheims weit gefächertem Schaffen finden sich vier Sinfonien, zwei Violinkonzerte, je ein Klavier- und Cellokonzert sowie zahlreiche Kammermusikwerke und umfangreiche Vokalmusik, allerdings keine Opern. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden seine Werke nicht gespielt und gerieten in Vergessenheit. Seiner 1902 komponierten und acht Jahre später veröffentlichten Zu einem Drama.Tondichtung für großes Orchester liegt wie beispielsweise auch Brahms‘ Tragische Ouvertüre kein konkretes Drama zugrunde. In gekonnter Ausführung stellt das SWR Radiofunkorchester Kaiserslautern unter Klaus Arp in einer Aufnahme von 1995 die knapp zwanzigminütige sinfonische Dichtung mit ihren sehr unterschiedlichen Themen von kraftvoller Dramatik bis zu melodisch weit ausholender Lyrik vor (STERLING CDS 1096-2).

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Orchestermusik von Flotow bei Sterling

Der Komponist Friedrich von Flotow (1812-1883) ist bis zum heutigen Tag fast nur wegen  seines Welterfolgs, der Oper Martha, bekannt geblieben. Vergessen sind die zahlreichen weiteren Opern und seine Instrumentalwerke, von denen STERLING die beiden 1830/31 entstandenen Klavierkonzerte herausgebracht hat. Die Jugendwerke sind mit knapp 15 Minuten (Nr.1 c-Moll) und 18 Minuten (Nr.2 a-Moll) relativ kurz geraten, wobei das zweite Konzert die Besonderheit aufweist, dass es viersätzig wie eine Sinfonie aufgebaut ist, was es erst später bei Brahms gab.  Beide Konzerte sprudeln vor allem in den schnellen Sätzen gefällig dahin, während es kaum kontemplative Phasen gibt. Den jeweils recht virtuosen Klavierpart spielt sicher Carl Petersson, der von der gut aufgelegten Pilsener Philharmonie unter der Leitung des erfahrenen, auf unbekannte Literatur spezialisierten Hans Peter  Wiesheu begleitet wird. Die CD enthält außerdem die 1857 komponierte, reichlich plakative Jubel Ouvertüre F-Dur und die Musik zum Schauspiel Wilhelm von Oranien in Whitehall von Gustav Edler Gans zu Putlitz, die im 3.Akt das bekannte patriotische Rule Britannia zitiert. Auch in diesen Stücken erweist sich die Kompetenz der Pilsener Instrumentalisten und ihres Dirigenten (STERLING CDS – 1077-2).

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Auch Woldemar Bargiel (1828-1897), ein Halbbruder von Clara Schumann und damit Schwager von Robert Schumann, ist heute weitgehend vergessen. Er wirkte ab 1874 bis zu seinem Tod an der Berliner Musikhochschule und galt als einer der angesehensten Kompositionslehrer seiner Zeit. Bei STERLING gibt es eine Live-Aufnahme

aus dem mexikanischen San Luis Potosi aus 2014 mit der teilweise arg lärmenden C-Dur-Sinfonie (1864), den Ouvertüren zu einem Trauerspiel, von Shakespeares Romeo und Julia inspiriert, und zu Medea, inspiriert von Euripides‘ Tragödie (beides eher sinfonische Dichtungen, um 1860) sowie dem Intermezzo für Orchester (1880). Bargiels an Beethoven und Mendelssohn orientierter Kompositionsstil wird in all diesen Werken deutlich, die das Sinfonieorchester San Luis Potosi unter José Miramontes Zapata trotz mancher interpretatorischer Defizite im Ganzen gediegen ausdeutet (STERLING CDS 1105-2). Gerhard Eckels

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Weitere operalounge-Rezensionen zu Aufnahmen bei Sterling: HALLÉNS „WALDEMARSSKATTEN“; LAILA ANDERSSON-PALME ; MEYERBEERS „ALIMELEK“JOACHIM RAFFS „BENEDETTO MARCELLO“ ; Laila Andersson-Palme ; Vogler „Gustaf Adolf och Ebba Brahe“ ; IVAR HALLSTRÖMS „DEN BERTAGNA“; Laci BoldemannSTENHAMMARS „FEST AUF SOLHAUG“; FORONIS „CRISTINA“ 

Meister raffinierter Inszenierung

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Lorin Maazel (1930 – 2014) war eine schillernde Persönlichkeit. Der im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geborene Sohn einer russisch-jüdischen Familie studierte schon als Kind Dirigieren und stand bereits mit neun Jahren vor einem großen Symphonieorchester. Maazel war ein universal gebildeter hoch-intellektueller Geist, er studierte 1946 bis 1950 Mathematik, Philosophie und Sprachen, setzte seine musikalische Ausbildung fort und trat danach rasch in den USA, Europa und anderen Ländern auf. 1964 übernahm er als Nachfolger von Ferenc Fricsay für 11 Jahre die Leitung des Radio-Symphonie-Orchesters (RSO) Berlin (heute Deutsches Symphonie-Orchester, DSO). Zusätzlich war er 1965 bis 1971 Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin. Maazel gastierte bei großen und berühmten Orchestern und Festivals, band sich für einige Jahre an die Wiener Staatsoper, er war Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra (1988 – 1996), des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (1993 – 2002) und ab 2002 Nachfolger von Kurt Masur beim New York Philharmonic Orchestra. Seinen 2012 auf drei Jahre abgeschlossenen Vertrag als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker konnte er nicht mehr erfüllen. Er starb am 13. Juli 2014 in seinem US-amerikanischen Wohnsitz Castleton, Virginia. Dort hatte er auch 2008 ein Festival zur Förderung junger Musiker gegründet.

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Lorin Maazel war Dirigent, Geiger und Komponist. Er verfügte über ein unbestechliches Gehör und ein fotografisches Gedächtnis. Sein Dirigieren war klar und präzise, dazu elegant, wirkte gelegentlich aber auch manieriert. Maazel war ein Meister der raffinierten orchestralen Inszenierung – nicht nur, aber doch ganz besonders bei Werken von Strauss, Mahler oder Wagner. Gelegentlich griff er noch zur Geige (auch beim Neujahreskonzert der Wiener Philharmoniker). Noch in höherem Alter überraschte er mit veritablen Aufführungen der Violinsonaten von Johannes Brahms. Als Komponist hatte er nur bescheidene Erfolge. In seinen Werken, u. a. virtuosen Konzerten für befreundete Interpreten oder der Oper „1984“ blieb Maazel epigonal, eklektizistisch.

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Die vorliegende Box mag nichts Neues enthalten, bietet aber wohl die Wiederbegegnung mit vor allem früh entstandenen Aufnahmen, die bleibende diskographische Bedeutung haben. Die gewichtigsten Einspielungen sind dabei frühe, ungewöhnliche, großenteils faszinierende Produktionen mit den Berliner Philharmonikern. Mit diesem Orchester, dem seine besondere Liebe galt und dessen Chefdirigent er in Nachfolge Herbert von Karajans gerne geworden wäre – dem er allerdings auch nach der Wahls Claudio Abbados für einige Jahre die kalte Schulter zeigte – ging Maazel zum ersten Mal am 27. Februar 1957 ins DG-Aufnahmestudio, seine letzte Aufnahme mit den Philharmonikern für das Gelblabel fand 1985 statt. Aufhorchen lassen bereits die ersten Einspielungen, „Romeo und Julia“ Kompositionen von Berlioz, Tschaikowsky und Prokofjew. Wann hat man schon die vier Sätze aus Berlioz‘ „Romeo et Juliette“ so spannungs- und kontrastreich, so mitreißend gehört? In markanten Ausschnitten aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballett zeigen sich entscheidende Qualitäten des Dirigenten: seine Aufmerksamkeit, ja Liebe zum Detail, zu Klarheit und Transparenz, das Gespür für die Dramaturgie, die Fähigkeit zu raffinierter Inszenierung.

Von Schubert liegen fast alle Symphonien vor, es fehlen nur die erste und die letzte, die C-Dur-Symphonie D 944. Die Werke werden nie über einen Kamm geschert oder gleichförmig musiziert, sondern ihren Eigenarten gemäß und individuell: vom symphonischen Fast-Beginn (Symphonie Nr. 2), der nichts Unfertiges hat, über die gar nicht „tragisch“ gedeutete Vierte und die zu Unrecht vernachlässigte Sechste bis zur „Unvollendeten“, die hier große, klassische, Symphonie, frei von falscher Romantisierung ist. Schuberts bewegte Sätze sind nicht übertrieben schnell, sondern kraftvoll, energisch bis drängend, die langsamen bleiben nie auf der Strecke. Besondere Merkmale sind bei allen Interpretationen die Klarheit und Durchsichtigkeit. Man hört immer die Struktur der Musik, Themen, Gegenthemen das Miteinander und Ergänzen von Soli, die kammermusikalischen Momente, klanglich wird nicht aufgetrumpft. Solche Eigenschaften bewähren sich auch in den Interpretationen von Beethovens Fünfter und Siebter Symphonie, von Mendelssohns Vierter und Fünfter, Brahms‘ Dritter (der freilich das Leidenschaftliche fehlt) und Tschaikowskys Vierter Symphonie (virtuos, äußerst präzise, oft drängend, aber nie lärmend). Unter den in der Box versammelten Tongemälden stechen vor allem Respighis „Pini di Roma“ (1959) hervor. Was für eine großartige Klang- und Farbenpalette entfalten die Philharmoniker hier!

In den 1980er-Jahren entstanden unter Maazels Leitung exemplarische Einspielungen der drei Symphonien, der Tondichtungen „Der Fels“ und „Die Toteninsel“ sowie der symphonischen Tänze von Sergej Rachmaninow. Maazel nimmt Rachmaninow ernst als symphonischen Komponisten in der klassischen Tradition, als Schöpfer raffinierter Orchestermusik mit vielen Facetten und Stimmungen. Das ist eben nicht (vermeintlicher) Breitwand- oder Hollywoodstil, nicht ein Baden Klang und Schwelgerei, sondern farbige, oft raffinierte, virtuose Musik, leidenschaftlich und auch melancholisch. In der gleichen Zeit kam Berlioz‘ Symphonie „Harold in Italien“ mit dem als beredtem Erzähler fungierenden Solo-Bratscher Wolfram Christ heraus, ferner Tschaikowskys Violinkonzert mit Gidon Kremer (der nicht mit Virtuosentum protzt), Bartóks Konzert für Orchester, in dem die Berliner Philharmoniker ihre Virtuosität, Spielfreude und Reaktionsfähigkeit demonstrieren. Maazel war einer der wenigen Dirigenten, die sich Alexander von Zemlinskys Lyrischer Symphonie annahmen, diesem zwischen Symphonie und Orchesterliederzyklus changierenden Pendant zu Mahlers „Lied von der Erde“ und Schönbergs „Gurreliedern“. Das Orchester entfaltet die Farben und den Zauber der von Chinoiserien geprägten Musik. Das Vokale überzeugt weniger. Dietrich Fischer-Dieskau trifft den Ton der Lieder deutlich besser als Julia Varady. Da ist dann doch die unter Leitung von Bernhard Klee entstandene Aufnahme mit dem RSO Berlin und den Solisten Glenys Linos und Dale Duesing besser gelungen!

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In den frühen Aufnahmen Maazels mit dem Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (RSO) kommen seine dirigentischen und überhaupt künstlerischen Qualitäten besonders eindrucksvoll zur Geltung. Dazu gehören sorgfältige Vorbereitung und meisterhafte Präzision, die Tully Potter in seinem lesenswerten Booklet-Essay als besondere Eigenschaften des Dirigenten hervorhebt. Die DG-Box vermittelt zwar nur einen Ausschnitt von der künstlerischen Potenz und dem hohen Rang des RSO – das zum größten ernstzunehmenden Konkurrenten der Berliner Philharmoniker wurde. Das liegt allerdings daran, dass viele Aufnahmen bei Philips erschienen. Doch was wir hörend erleben, ist exemplarisch. Erstaunlich, zu welch idiomatischer Aufführung das Orchester mit Maazel in Manuel de Fallas „Liebeszauber“ und Tänzen aus „Der Dreispitz“ findet. So subtil inszeniert, farbig, temperamentvoll, zugleich sehr kultiviert hört man diese Werke selten. Exemplarisch sind die Einspielungen der „Feuervogel“-Suite und des „Gesangs der Nachtigall“ von Igor Strawinsky: im Klang, in der Ausdruckspalette, vor allem aber auch, weil hier Geschichten erzählt werden! César Francks einzige Symphonie in d-Moll wird spannend, mit Verve, klangsatt, aber nie schwer musiziert.

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Die auf 10 CD dokumentierte Zusammenarbeit Maazels mit den Wiener Philharmonikern fällt weniger gewichtig aus. Den zwischen 1982 und 1984 aufgenommenen Symphonien Nr. 7, Nr. 8 und Nr. 9 von Antonín Dvořák fehlt insgesamt die böhmische Färbung, die Wärme und Individualität, der Klang ist nicht ideal, meist stark höhenbetont. Wie anders und eindrucksvoller sind da die Einspielungen einiger Orchesterwerke von Richard Strauss. Hier zeigt sich Maazels Kunst der musikalischen Inszenierung besonders gut. Die „Sinfonia domestica“ erlebt man als detail- wie abwechslungsreiche liebevolle musikalische Schilderung des Strauss’schen Familienlebens in Berlin-Charlottenburg. Was in der Tondichtung „Also sprach Zarathustra“ steckt, zeigen die Wiener Philharmoniker unter Maazels Dirigat schlagend – vom äußerst zarten, kaum hörbaren Beginn mit seinen tief(st)en Orgel-Pedaltönen bis zu hymnischen orchestralen Ausbrüchen, die indes nie vulgär oder erschlagend wirken. Der Klang ist brillant, satt, dabei sehr differenziert und durchsichtig, die Dynamik weit gespannt, die von Soli geprägten Passagen werden liebevoll ausmusiziert. Nie gehen wichtige Details verloren. Fünf CDs mit Musik aus Wiener Neujahrskonzerten fallen demgegenüber nicht ins Gewicht.

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Die Einspielungen von Maurice Ravels Operneinaktern „L’heure espagnole“ und „L’enfant et les sortilèges“ mit fabelhaften, zumeist französischen Sängerinnen und Sängern sowie dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française sind immer noch wahre Schätze. Wie auch in der Aufnahme von Verdis Oper „Luisa Miller“ mit prominenten Solistinnen und Solisten (Placido Domingo, Katia Ricciarelli, Elena Obratzsova, Renato Bruson) sowie Chor und Orchester des Royal Opera House Covent Garden, zeigt sich der Operndirigent Maazel von seiner besten Seite.

Sehr gelungen ist schließlich eine ebenso anschauliche wie persönliche Einführung Maazels in die Welt des Symphonieorchesters mittels Benjamin Brittens „Young person’s guide to the orchestra“, an der Alt und Jung, erfahrene und neue Hörer ihre Freude haben können (vorausgesetzt, sie sind des Englischen mächtig!). Und Sergej Prokofjews „Peter und der Wolf“ erzählt der Schauspieler Alec Clunes manchem vielleicht etwas nüchtern, ohne Übertreibungen oder übertrieben affektgeladenem Ton – zu Recht, denn für genügend Spannung und Dramatik sorgt schon die Musik! Helge Grünewald