Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ausstattungsfilm

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Mit der Zürcher Verlobung hat diese Liebesgeschichte nichts zu tun. The Zurich Affair behandelt eine Liebesbeziehung, die sich gut hundert Jahre vor Helmut Käutners Film von 1957 ereignete, die Beziehung Richard Wagners zur Gattin seines Gönners und Mäzens Otto Wesendonck während seines Zürcher Aufenthalts in einem Haus neben der Villa Wesendonck. Im Zuge der Beziehung schrieb Mathilde einige schwärmerische Gedichte, deren Vertonung Richard als Studien zu Tristan und Isolde nutzte.

Trotz seiner 1,66 Meter gelte der Klavierlehrer und Zukunftsmusiker bereits jetzt als der größte lebende Komponist, begeistert sich der mit seiner Frau gerade erst von Düsseldorf nach Zürich übergesiedelte Otto Wesendonck und setzt sich vehement für den Freund Wagner ein. Bald zieht dieser die skeptischen Zürcher Bürger durch eine Lesung seiner Rheingold-Dichtung in seinen Bann. Bei diesem Anlass trifft Wagner erneut auf Mathilde Wesendonck und das, was Regisseur Jens Neubert „Wagner’s one and only love“ nennt, nimmt seinen Lauf (Naxos NBDO170V). Der international besetzte Film dürfte Zuschauer, die mit Wagner und seinen Zürcher Jahren nicht vertraut sind, einigermaßen in gespannte Aufmerksamkeit versetzten, um den Ereignissen in der Villa Wesendonck und der Zürcher Bürgerschaft zu folgen. Neubert hat gut recherchiert. Vor allem Otto Wesendonck ist gut gezeichnet. Neubert zeigt Ottos Großzügigkeit, seine Zuwendungen und Geschenke einerseits und seinen Geschäftssinn auf der anderen Seite, auch seine Versuche, Wagner zum Dirigieren zu überreden und ihm dadurch ein Auskommen zu sichern. Dem stehen die  Kleingeistigkeit der Gegner mit den bekannten Aussagen wie eine artige Zitaten-Sammlung gegenüber, beispielsweise vom „Huren-Aquarium“, oder den Auslassungen über Wagners Marotten, das Baden im kalten See usw. Otto philosophiert über soziale Fragen, Zivilisation und Wohlstand, wobei Rüdiger Hauffe eine gute Figur macht und überhaupt als kultivierter und hoch gebildeter Geschäftsmann viel sympathischer erscheint als man das gemeinhin annehmen mochte. In den Gesprächen verleiht Roland Bonjour dem Schweizer Politiker Johann Sulzer ein wenig Profil, Patrick Rapold dem Franz Liszt. Weitere historische Figuren wie Georg Herwegh, Johann Bernhard Spyri oder Gottfried Keller werden kaum greifbar, auch nicht Cosima und Hans von Bülow. Vielfach belässt es der Film bei blutleer langweiligem Aufsage-Theater. Die Zurich Affair ist ein präsentabler Ausstattungsfilm, der das Hotel Baur au Lac und die Wesendonck Villa in ihrer großbürgerlichen Pracht ebenso erfasst wie die Ansichtskartenbilder der Bergwelt und dabei über Stoffe und Kostüme streift, wie es Wagner wohl gefallen hätte. Aber die Zwischen- und Untertöne in der Richard-Mathilde-Otto Dreierbeziehung werden doch nur gestreift. Da hat so manche Tristan-Inszenierung mehr an Zwischentönen und Spannungsbögen geliefert. So seltsam glatt bleiben auch viele darstellerische Leistungen, vor allem der amerikanischen Schauspielerin und Sängerin Sophie Auster als Mathilde, während der Finne Joonas Saartamo als Wagner vor allem den getriebenen Egomanen gibt. Schön der Auftritt von Michael Volle als Kleinstadt-Sänger in einer kurzen Sequenz mit dem Holländer.   R.F.

Liebeswerk

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Zumindest partiell ein Lebens-, ganz bestimmt aber ein Liebeswerk ist Dieter David Scholz`dreihundert Seiten umfassendes Buch mit dem Titel Jacques Offenbach und dem eine kämpferische Auseinandersetzung vermuten lassendem Untertitel Ein deutsches Missverständnis. Nur partiell, da neben Offenbach auch andere Komponisten, so besonders Richard Wagner , den Autor beschäftigen, allerdings dem Sachsen nicht dessen Zuneigung wie dem Deutschfranzosen zuteil wird, wie nicht zuletzt die Benennung der Wagner-Nase mit „Zinken“ verrät, während das nicht unauffällige Riechorgan Offenbachs keine Erwähnung findet. Ein Text, der in anderer Form bereits in einem Wagner-Buch des Autors erschienen ist, versieht den Leser mit zusätzlichem Material zum Thema Wagner. Mit etwas Stirnrunzeln liest man, dass Wagner die Schwachen verlacht habe, Offenbach die Starken, wobei es zu lachen bei Wagner nicht viel gibt, Beckmesser als Merker und Stadtschreiber so schwach nicht ist.

Die Vielseitigkeit des vorliegenden Bandes zeigt sich darin, dass er auch ein chronologisches Verzeichnis der Werke Offenbachs, eine Übersicht über Werke zu Offenbach und eine Offenbach-Diskographie enthält.

Worin das Missverständnis der Deutschen in Bezug auf Offenbach besteht, wird sehr schnell und immer wieder klar: Es ist einmal die Bezeichnung von Offenbachs sehr unterschiedlichen Werken als Operette, während der  Komponist selbst nur einen Teil seiner Einakter mit dieser Gattungsbezeichnung versah, und  es ist zudem die Annahme, es gebe eine Entwicklungslinie, die von Offenbachs Werken direkt zur Wiener Operette führe. Erst 1950 findet man nach Scholz bei Alfred Einstein den allein zutreffenden Begriff der Opéra bouffe, und noch 2018 musste sich Peter Hawig gegen eine „Willkür von Begrifflichkeiten“ verwehren. Von Matthias Attig stammt das Bekenntnis zur „Offenbachiade“, das noch besser als alle anderen Begriffe die Einmaligkeit des offenbachschen Werks deutlich macht, das in dieser Form, voller Satire, Ironie, Freizügigkeit und Geschliffenheit, nur im Zweiten Kaiserreich entstehen und überleben konnte, nach dessen Ende mit Schrecken sich Offenbach anderen Gattungen, schließlich der Oper Hoffmanns Erzählungen, die unvollendet blieb, zuwandte.

Natürlich äußerten sich bereits Zeitgenossen zu Offenbach, so Heinrich Heine, mit dem ihm vieles, so Herkunft und Exil, verband, Rossini, der ihn als Mozart der Champs- Eliysees bezeichnete, Nietzsche und Karl Kraus, letzterer allerdings kein Zeitgenosse.

War ein verzerrtes Offenbachbild nicht zuletzt wegen dessen Judentums und infolge der im Krieg von 1870/71 gipfelnden deutsch-französischen Erbfeindschaft in Deutschland beinahe eine Selbstverständlichkeit, so kam es doch mit der Zeit zu von Abneigung oder gar Hass freien Einschätzungen, die der Verfasser in chronologischer Abfolge mit Erste Korrekturen eine verzerrten Offenbachbildes, Durchbruch zu einem sachlichen Offenbachbild und Das neue Offenbachbild betitelt. Dabei ist zu beobachten, dass zwar die Wertschätzung des Komponisten und seiner Librettisten immer mehr zunimmt, allerdings von der Nazizeit und in anderer Form auch in der DDR unterbrochen, der Begriff Operette für Offenbachs Werke aber von einer so unverständlichen wie trotzigen Langlebigkeit ist. So werden Autor für Autor oder auch Lexika einer strengen Prüfung unterworfen, für ihre Einsichten in die Bedeutung Offenbachs für die Musikgeschichte gelobt, aber zwangsläufig immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sich des falschen Begriffs Operette für Offenbachs Werke zu bedienen. Genüsslich wird auch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Barcarole nicht in „heimeliger Venedig-Kulisse“, sondern zunächst in Offenbachs erst in den letzten Jahren wieder öfter gespielter Oper „Die Rheinnixen“ auftauchte, und dass der rauschhafte Tanz in „Orpheus in der Unterwelt“ kein Cancan, sondern ein Galopp ist.

Vom Autor oder von Gastautoren stammen interessante Beiträge über Offenbachgesellschaften und Offenbach-Aufführungsorte wie Wien oder Bad Ems, über das Kölner Offenbacharchiv und sein dramatische Geschichte, eine Charakterisierung der offenbachschen opéra bouffe wie der der Wiener Operette, die durchweg nicht gut davon kommt. Auch die Bühnenpraxis wird in die Betrachtungen mit einbezogen, so die Offenbachpflege an der Komischen Oper Berlin mit sehr unterschiedlich zu bewertenden Aufführungen, wobei Barrie Kosky mit den seinen, vom Publikum bejubelten, nicht gut wegkommt, da er nicht nur nach Meinung des Verfassers allzu viel Travestie in seine Inszenierungen einbaut und damit eine andere Art der Verfälschung praktiziert. Weitere Aufführungskritiken schließen das ebenso kenntnisreiche wie gut zu lesende Werk ab, das im Nachwort von Peter Hawig noch einmal Wesentliches zusammenfasst, was die offenbachsche Opéra bouffe ausmacht, die nichts ernst nimmt, was ernst genommen werden will, zugleich zeitbezogen und überzeitlich ist, Karikatur, Parodie und Persiflage zu ihren Merkmalen zählt, Partei für die Schwachen nimmt, lyrische Ruhepunkte hat, utopische Träume ernst nimmt, das lustbetonte Gute siegen lässt, Paris zum Zentrum hat und eine Musik, die für “entgrenzte Leichtigkeit“ steht, dem entzückten Ohr bietet.

Eine Bibliographie und ein Namensregister beschließen das überaus inhaltsreiche, vielseitige und inspirierende Buch, das dazu angetan ist, ein deutsches Missverständnis ein für alle Mal auszuräumen. Jacques Offenbach- Ein deutsches Missverständnis; Dieter David Scholz, Königshausen & Neumann; Würzburg 2023, 300 Seiten, ISBN 978 3 8260 7959 7). Ingrid Wanja

Musikalischer Spass

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L’Heure espagnole/Bolero ist die fünfte Einspielung von Ravel-Werken unter der Leitung des versierten Francois-Xavier Roth mit dem Ensemble Les Siècles bei harmonia mundi. Ravels Vorgaben für das komödiantische Sujet der L’heure espagnole erfüllt Roth mit dem Ensemble, das von feinsten Melodiebögen bis zu größten Ausbrüchen mit passenden Farben malt, aufs Beste. So gerät der hier nur knapp 50 Minuten dauernde Einakter äußerst kurzweilig, der die Rafinesse einer Frau anschaulich macht, die zwischen Ehemann und zwei Verehrern schließlich im zunäcst störend hinzukommenden Vierten dank seiner Kraft als Möbelträger durchaus praktische Vorteile erkennt. Ravel hat für die Protagonisten häufig Sprechgesang gewählt, aber daneben durchaus veritable Arien in Miniformat geschaffen. Die Dame, um die sich alles dreht, ist Concepción – Frau des Uhrmachers – die von Isabelle Druet mit wandlungsfähigem Mezzo-Sopran ausdrucksstark gesungen wird; Gipfel der nuancenreichen Interpretation ist ihre Klage über das „jämmerliche Abenteuer“ mit ihren Liebhabern, wenn sie – unterstützt von teils schrägen, fast schrillen Klänge der Instrumente – durch die Oktaven tobt,. Loic Felix gibt den vor allem in seine Uhren verliebten Torquemada mit hellem Tenor, den er locker und leicht mit elegantem Sprachfluss durch alle Lagen führt. Als ganz von der Poesie beherrschter Gonzalve kostet Julien Behr die Gesangslinien sehnsuchtsvoll aus; der Tenor verfügt über klangvolle, freie Höhe und lässt die Sprache förmlich auf der Zunge zergehen. Sein Rivale, der ob seiner Leibesfülle verhinderte Liebhaber Don Inigo Gomez, hat in Jean Teitgen mit großformatigem Bass einen adäquaten Vertreter. Als Maultiertreiber Ramiro erweist sich Thomas Dolié mit bassgrundiertem, teils kräftigem, teils schmeichelndem Bariton erfolgreich im trubeligen Spiel. Ravels Coup, die Story angelehnt an Boccaccios Moral –  „Von allen Liebhabern ist einer erfolgreich, es kommt der Moment beim Zeitvertreib der Liebe, wo der Maultiertreiber an der Reihe ist“ –  mit einem wirbeligen Quintett enden zu lassen, wird von der Sängerin und den Sängern entsprechend bravourös vorgetragen.

Als starker Kontrast zu dem turbulenten Einakter wird die CD von Ravels „Meisterwerk“, dem Bolero ergänzt, der erst im Sommer 1928 entstand und über den er selbst sagte: „Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.“ Die Tänzerin und Choreographin Ida Rubinstein hatte Ravel 1927 um die Orchestrierung einiger Tänze von Albeniz’ Klavierzyklus „Iberia“ gebeten, was sich aber zerschlug. Da setzte Ravel auf eine schon lange in ihm wachsende Idee, nämlich ein Stück zu schreiben mit nur einem sich neunmal wiederholenden Thema aus zwei gleich langen Teilen, das nicht entwickelt wird, sondern nur durch stetige Steigerungen in Dynamik und Instrumentierung auf  den Höhepunkt zuläuft. Damit hat Ravel die abendländische Musiktradition verlassen, aber auf seine Weise eine kraftvoll bezwingende Musik geschrieben. Wie sich aus dem ursprünglichen Solo der Kleinen Trommel als Rhythmusgeber und Flöte/Klarinette mit dem erstem sowie Fagott/Klarinette in Es mit dem zweitem Thema über gut 15 Minuten lang der Klang vom kleinsten pianissimo bis zum größten fortissimo aufbaut, das entfaltet auch in dieser Aufnahme seine suggestive Wirkung. Mit den in allen Instrumententruppen tadellosen Les Siècles ist  Francois-Xavier Roth eine sehr gute Einspielung gelungen.

Einziger Wermutstropfen ist das sonst instruktive Beiheft, dass das Libretto nur in Französisch und Englisch angefügt wurde, während die übrigen Texte zu Komponist und Interpreten auch in Deutsch angegeben sind. Ein paar Informationen zu den Sängern wären auch hilfreich gewesen, da nicht jeder Kaufinteressent auf google  Zugriff hat (harmonia mundi HMM 905361).  Marion Eckels

Historisches aus Glyndebourne

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Ganz so alt wie Max Reinhardts Hollywood Sommernachtstraum ist Peter Halls Einrichtung von Brittens A Midsummer Night’s Dreamfür Glyndebourne nicht. Doch seine Inszenierung der Oper, die im Sommer 1981 beim Festival in Sussex Premiere hatte, ist auf ihre Weise die ultimative Inszenierung von Benjamin Brittens 20 Jahre zuvor in Aldeburgh uraufgeführten Shakespeare-Oper oder, wie The Guardian meinte, „… the definitive staging of the work“. Die vielfach veröffentlichte Aufnahme ist nun wieder bei Opus Arte greifbar (OA13731 D), wenige Woche nachdem man Peter Halls gleichfalls liebevoll retrospektive Inszenierung des Albert Herring von 1985 wiederbegegnen konnte. Beide Male dirigiert Bernard Haitink, der seinerzeit die musikalische Leitung des Festivals innehatte. Wie stets sind auch für diese Oper einige der bekanntesten britischen Sänger aufs Land gereist, Felicity Lott und Cynthia Buchan singen die Helena und Hermia, Dale Duesing – er freilich ist Amerikaner – und Ryland Davies ihre Liebhaber Demetrius und Lysander. Lott ist überragend als Helena, Duesing verleiht seinen Figuren stets eine besondere Qualität. Alle vier sind in ihren 30ern, wenngleich sie etwas reifer wirken und die Nahaufnahmen ihnen nicht immer zum Vorteil gereichen. Der schwedische Bass Curt Appelgren erlebte den Höhepunkt seiner Karriere offenbar als in Glyndebourne, wo er Rocco, Basilio und bis 1989 den Bottom sang; übrigens immer noch mit Buchan und Davies. Die berühmtesten Namen sind für das Herrscherpaar Titania und Oberon aufgeboten, die durch ihre Eifersüchteleien die Komplikationen im Wald bei Athen mit den beiden verwirrten Liebespaaren heraufbeschwören. Ileana Cotrubas ist eine exquisite Titania, der im März verstorbene James Bowman hatte seine Bühnenkarriere als Oberon begonnen und blieb stets mit dieser Partie verbunden; noch 2021 sang er bei einem allerletzten Auftritt anlässlich eines Gedenkkonzerts für Steuart Bedford Oberons Monolog ‘I know a bank’. Bemerkenswert der 14jährige Damien Nash als Puck. Alle sind mit spür- und hörbarer Freude und Hingabe bei der Sache, so dass die betuliche, betont werktreue und altmodische Aufführung nicht angestaubt wirkt, eher wie ein Erbstück – das in Glyndebourne bis zum heutigen Tag aufpoliert wird (die Presse titelte griffig, „the magic lives on“). Haitink und das London Philharmonic Orchestra lassen den Wald und die Paare flüstern und wispern, dass die Oper, die mir immer ein klein wenig zu lang erschien, selten länglich wirkt. Den Hauptverdienst am Erfolg der Aufführung hat die Mischung aus naturalistischen und phantastischen Elementen in der Ausstattung von John Bury im Stil des populären britischen Märchenillustrators Arthur Rackham. Üppige Renaissancegewänder für die Herrscher, netten Flügelputz für die kleinen Elfen in den Tudor-Kostümen, eine Eselsverkleidung, wie sie heute kein Weihnachtsmärchen mehr hinbekommt, und schließlich ein Landsitz aus der Shakespeare-Zeit. Doch die Hauptfigur scheint der im Mondlicht unmerklich sich bewegende Wald mit seinem weitarmigen Zweigen und geheimnisvollen Blättern zu sein. Es bleibt eine zauberhafte und atmosphärisch dichte Aufführung. Man kann sich sicher sein, dass dieser Traum von einer elisabethanischer Ideallandschaft auch das diesjährige Festspielpublikum, das größtenteils vielleicht noch nicht geboren war, als die Produktion ihre Premiere hatte, entzückt hat.

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Benjamin Brittens Werke wurden regelmäßig in Glyndebourne gegeben. Bereits 1946 fand die Uraufführung von The Rape of Lucretia mit Kathleen Ferrier statt. Erst 2010 rangen sich die Festspiele zu einer Produktion der spröden Männeroper Billy Budd durch, deren Uraufführung 1951 in einer vieraktigen Fassung an Covent Garden stattgefunden hatte. Mark Elder dirigierte in Glyndebourne die heute gebräuchliche Fassung in zwei Akten, die Britten 1964 ebenfalls für Covent Garden erstellt hatte. Es inszenierte der Schauspielregisseur und wenige Male als Filmregisseur hervorgetretene (2022 Der Liebhaber meines Mannes) Michael Grandage, der vielfach für seine Arbeit am dem von ihm damals geleiteten Donmar Warehouse ausgezeichnet wurde. Billy Budd war sein Operndebüt, anschließend hat er mehrfach Opern inszeniert. Grandages vorsichtige und werkdienliche Inszenierung gliedert sich insofern in die Reihe von A Midsummer Night’s Dream und Albert Herring ein als sie versucht, eine historisch getreue Abbildung von Bord der Indomitable während des englisch-französischen Seekriegs 1797 zu bieten. Vor allem die Kostüme des Ausstatters Christopher Oram bilden die strenge Hierarchie und Disziplin an Bord ab, wo Captain Vere mit seinen engsten Vertrauten über die Französische Revolution und deren Bedrohung von Disziplin und Ordnung diskutieren. Die Arbeit wirkt aber fade und uninspiriert und verpackt die Geschichte des zu Unrecht gemobbten und der Meuterei verdächtigten Stotterers Billy in blutleere Aktionen (2 DVD OA 1051 D). Musikalisch ist die Aufführung sehr gut. Der damals 32jährige Jacques Imbrailo erlebte als jugendlich-unschuldiger Billy mit dem herzzerreißenden Abschied vom Vere „Starry Vere, god bless you“ seinen Durchbruch. Mit leichtem, gedankentief einfarbigem Tenor verdeutlicht John Mark Ainsley die Erschütterungen des Captain Vere, den die Ideen der Aufklärung in moralische Bedrängnis bringen. Der kanadische Bass Philipp Ens ist ein wuchtiger Claggart, Matthew Rose und Iain Paterson profiliert als Segelmeister und Erster Leutnant. Mark Elder und das London Philharmonic Orchestra boten Brittens größte Orchesterbesetzung durchsichtig und kreieren vor allem in der Gerichtsszene, in der Billy zum Tod durch Erhängen verurteilt wird, an Spannung. Sehen muss man das nicht. Rolf Fath

Milka Stojanović

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Die serbische Sopranistin Milka Stojanović ist in Belgrad gestorben. Sie gehörte zu den großen Verdi-Interpretinnen des 20. Jahrhunderts und gastierte im Osten wie im Westen. Milka Stojanović ist im Alter von 86 Jahren in Belgrad gestorben. Die serbische Sopranistin zählte zu den Stars ihrer Generation. Zwischen 1960 und 1993 sang sie auf den großen Bühnen der westlichen und östlichen Welt, etwa an der New Yorker Met oder dem Moskauer Bolshoi Theater. Auch in der Wiener Staatsoper sowie in München, Berlin, Hamburg und Köln hatte sie Engagements. Ihr Kernrepertoire waren dabei die großen Titelrollen der Opern von Guiseppe Verdi, von der Villa Verdi, dem von Verdis Erben betriebenen Museum in Italien, wurde Stojanovic in die Liste der bedeutendsten Interpreten des Komponisten aufgenommen. Milka Stojanovic wurde am 13. Januar 1937 in Belgrad geboren. Zunächst hatte sie Literatur studiert. Ihr Gesangsstudium absolvierte sie dann unter anderem an der Schule der Mailänder Scala und mit Zinka Milanov in New York. 1993 verabschiedete sie sich von der Bühne im Nationaltheater Belgrad. Am 1. September 2023 ist sie in Heimatstadt Belgrad gestorben. (Quelle: BR Klassik)

Spätromantisches aus Europas Norden

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Viel haben wir in operalounge.de bereits über das schwedische Label Sterling in Einzelrezensionen berichtet. Die Vertriebsfirma Naxos war so liebenswürdig uns weitere Aufnahmen zur Besprechung zu schicken, weil der Katalog von Sterling besonders reichhaltig ist an eben schwedischen Titeln, die es woanders nicht oder kaum gibt -. so Brendlers Oper Ryno, aber auch viele andere – durch die Nähe zur Leipziger Komponistenwerkstatt assoziierten – Komponisten auch deutsche, von denen wir nachstehend einige vorstellen, um den Blick auf schwedische, skandinavische und europäische zu schärfen. G. H.

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Mit der Oper Ryno von Eduard Brendler (1800-1831) legt STERLING die wohl erste in schwedischer Sprache komponierte Oper vor. Der Musikhistoriker und Dirigent Anders Wiklund hat Anfang der 90er Jahre zu Brendlers Ryno geforscht und das Ergebnis mit Solisten, Chormitgliedern des Stora Theaters Göteborg sowie dem Sinfonieorchester Göteborg für den Hörfunk 1992/93 eingespielt. Der in Dresden geborene Eduard Brendler kam als Einjähriger mit seiner Familie nach Stockholm, wo sein Vater eine Stelle als Flötist in der Königlichen Hofkapelle antrat. Dieser bildete seinen Sohn im Flötenspiel aus, so dass Eduard 1823 eine Stelle im Orchester der Harmonischen Gesellschaft erhielt. Brendlers kompositorisches Schaffen fiel in die Jahre 1827 bis zu seinem überraschenden Tod im August 1831. Es umfassst neben Liedern, Klavierstücken, einigen Kammermusikwerken und einem Sinfoniesatz wenige Schauspielmusiken sowie acht auskomponierte von 14 geplanten Nummern der Oper Ryno, die im Herbst 1831 Premiere haben sollte. In der Harmonischen Gesellschaft freundete er sich mit Kronprinz Oskar und dessen Privatsekretär Bernhard von Beskow an, die ihn sehr unterstützten. So waren es von Beskow, der das Libretto verfasste, und Prinz Oskar, der die fehlenden sechs Nummern ergänzte und darüber hinaus noch drei passende Ballettmusiken seines Lehrers Edouard Du Puy der damaligen Sitte folgend in den ersten beiden Akten unterbrachte. Stilistisch sind die Nummern Brendlers eher in der deutschen Romantik wie z.B. bei Webers Freischütz verortet, während bei Prinz Oskar, der vor allem die dramatischen Nummern und die Finali geschrieben hat, besonders die Rossini-Affinität erkennbar wird. Das ergänzt sich in der Aufnahme passend und ist eine runde Sache geworden. Anders Wiklund ist auch für das hervorragende Beiheft zu loben: Das gesamte schwedische Libretto ist ebenfalls in Englisch abgedruckt, wie auch die Anmerkungen zu den Solisten und Dirigent. Der sehr informative, intelligente Artikel zu Brendler und Ryno ist zusätzlich in Deutsch und Französisch, also sogar viersprachig vorhanden!

Kurz zu Vorgeschichte und Inhalt: Um 1500 kehrt der Ritter Thure Stenson nach einer Pilgrfahrt nicht zurück, weil er angeblich nach einem Schlaganfall verstorben ist. Sein ganzes Erbe – verbunden mit der Hand seiner Tochter Agnes – geht an Arnold, seinen Pflegesohn. Die Oper beginnt bei den Hochzeitsvorbereitungen für die beiden. Als im Volk gemunkelt wird, Thure sei ermordet worden und dafür käme eigentlich nur Arnold in Betracht, hört der fahrende Ritter Ryno auch davon und möchte Arnold zum Duell zwingen, um ihn von den Anklagen zu erlösen. Ryno gelingt es, als Wahrsager verkleidet mit durchziehenden Zigeunern in Arnolds Schloss zu gelangen und Agnes auf Befehl Arnolds einen Hinweis auf den Verdacht zu geben. Da spitzt sich das Unheil zu: Agnes will Arnold nicht mehr heiraten, Ryno wird eingesperrt und nur durch die Hilfe seines Knappen Snap wird das Ganze schließlich zu einem guten Ende geführt. Nun taucht Thure wieder auf, Arnold wird im Duell von Ryno tödlich verwundet, und Thure gibt dem Paar Agnes/Ryno seinen Segen.

Man merkt, dass Anders Wiklund diese Musik mit dem in allen Gruppen frisch aufspielenden Orchester sehr engagiert angeht: Da werden die elegischen Seiten klangvoll und ruhig ausgeleuchtet, aber dramatische Aufschwünge kommen ebenfalls nicht zu kurz, wenn man sich auch manchmal noch schärfere kompositorische Konturierung vorstellen könnte, was aber eine zu hohe Erwartung an einen Opernerstling ist. Als Titelheld Ryno präsentiert Anders Lundström seinen gut durchgebildeten Tenor zunächst sehr lyrisch und zeigt im weiteren Verlauf, dass er auch dramatische Steigerungen beherrscht. Im Ganzen gelingen ihm Rezitativ und Arie Det är ej samma sol jag skadar mit Violinsolo (hervorragend gespielt von Per Enoksson), wenn ihm auch in der mit Koloraturen gespickten Arie leichte Intonationstrübungen unterlaufen. Dagegen sind die Koloraturen der Sopranistin Ann-Christine Göransson lupenrein und locker; ihre leichte, auch für Naturbeschreibungen ideale Stimme spricht in Naturen hvilar sina andedrag (gut 9 Minuten) sehr gut an und gipfelt in der wunderbaren Kadenz. In ihrer Szene mit Arnold und Chor (Är du ej oss nära) kommt David Aler mit weichem, flexiblem, fast Bass-lastigem Bariton besonders zur Geltung. Rune Zetterström als Thure Stenson erfüllt mit vollem Bass seine wenigen sängerischen Aufgaben, nachdem er vorher zweimal ein als vermeintlicher Geist auftrat. Vier veritable Baritone als Knappen, Gärtner u.a. – Ake Zetterström, Carl-Gustaf Holmgren, Jonas Landström und Charlie T. Borg – ergänzen das Ensemble sicher und passend.

Neben den guten Solisten und dem stets stilsicher begleitenden Orchesters spielt der Chor in der Einstudierung von Martin Andersson eine entscheidende Rolle, der er ausdrucksstark und in allen Stimmen ausgeglichen mehr als nur gerecht wird; als Volk und Zigeuner geben alle ihr Bestes (STERLING CDO-1031/2-2). Marion Eckels                                                                                                                     

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Die CD mit dem Titel Ouvertüren an königlichen Theatern enthält gleich sieben Ouvertüren von sechs schwedischen Komponisten, die alle als Dirigenten oder Instrumentalisten mit dem 1782 von König Gustav III. eröffneten Stockholmer Opernhaus, der späteren Königlich Schwedischen Nationaloper Stockholm, verbunden waren. Das St. Petersburg Eremitage Orchester, 1988 von Saulius Sondeckis unter dem Namen Kammerorchester des Leningrad Konservatoriums gegründet, spielt unter der anfeuernden Leitung von Mats Liljeford die Konzertouvertüre Nr.3 A-Dur des in Italien geborenen Jacopo Foroni (1825-1858, dazu auch unsere Besprechung von seiner Oper Cristina), der 1850 als Hofkapellmeister Nachfolger von Franz Berwald (1796-1868) wurde. Von diesem sind das wirbelige Vorspiel zur Operette Der Modemacher, ebenfalls vom St. Petersburger Eremitage Orchester flott musiziert, und die gefällige Ouvertüre zur Operette Ich gehe ins Kloster, gespielt wie die übrigen Ouvertüren vom Orchester der Königlichen Schwedischen Nationaloper Stockholm unter dem souveränen Stig Westerberg. Hierzulande weitgehend unbekannt ist der schwedische Komponist und Hofkapellmeister Ludvig Norman (1831-1885), der zum 100-jährigen Jubiläum des Stockholmer Opernhauses 1892 die wahrhaft feierliche Festouvertüre op. 60 komponiert hat, die auch die schwedische Nationalhymne anklingen lässt und ein Thema aus der Oper Gustav Wasa des deutschen Komponisten Johann Gottlieb Naumann enthält, die damals lange Zeit als schwedische Nationaloper galt. Zwei weitere Ouvertüren stammen von vergessenen schwedischen Komponisten: Andreas Randel (1806-1864), Konzertmeister des Opernhauses Stockholm und Professor für Violine, schuf  die Oper Das Volk von Värmland, deren Ouvertüre mit einem auffälligen Horn-Solo ziemlich festlich daher kommt. August Söderman (1832-1876), ab 1862 Kapellmeister am Opernhaus Stockholm, komponierte zu seiner Operette Des Teufels erste vorsichtige Versuchungen eine Ouvertüre, die mit schöner Melodieführung durch alle Instrumentengruppen gefällt. Schließlich ist auf der CD auch der Mozart-Zeitgenosse Joseph Martin Kraus (1756-1792/ oft erwähnt bei operalounge.de, namentlich wegen seines opus summum, Aeneas i Carthago) mit der Ouvertüre zu seiner Oper Proserpine vertreten, die noch deutlich in der Klassik verhaftet ist (STERLING CDS-1009-2).

Der wohl bedeutendste schwedische Opernkomponist war Ivar Hallström (1826-1901/ seine Oper Den Bergtanan haben wir einzeln vorgestellt). Nach sehr frühen Klavierstudien studierte er bis 1849 in Uppsala Jura und war zunächst drei Jahre lang im Staatsdienst tätig, bis er seine Beamtenkarriere abbrach, um sich ganz dem Komponieren und Unterrichten zu widmen. Da er ein ausgezeichneter Pianist und Begleiter gewesen sein muss, wurde sein Name bald allgemein bekannt, auch durch erste Kompositionen. Von 1861 bis 1872 stand er einem Musikinstitut vor; in den Jahren 1881 bis 1885 arbeitete Hallström an der Stockholmer Oper als Korrepetitor. 1861 wurde er Leiter der Königlich Schwedischen Musikakademie und erhielt 1881 den Professorentitel. In seinem Schaffen sind vokale Werke vorherrschend; so schuf er neben Liedern, Kantaten und Chorkompositionen an die sechzehn Opern und Operetten. Hallström komponierte aber auch die drei Ballette En dröm (Ein Traum, 1871), Ett äfventyr i Skottland  (Ein Abenteuer in Schottland, 1875) und Melusina (1882). Bemerkenswert ist, dass die beiden Erstgenannten schon eine Zeitlang vor den großen Handlungsballetten Tschaikowskis erschienen sind. Das Ballett Skottland  spielt in einem Gasthaus im schottischen Hochland, wohin Lord Drummond eine Balletttruppe um die von ihm verehrte Ballerina Mlle. Tourbillon  eingeladen hat. Nach aufregenden Ereignissen bei einem Ausflug in die Berge kommt es zwischen der Ballerina und einem schmucken jungen Schotten unter dem Schutz des Lords zu einem Happyend, das mit fröhlichen Divertissements gefeiert wird. Die Komposition stammt nicht allein von Hallström; auch der schwedische Komponist Conrad Nordqvist (1840-1920) war beteiligt. Das Ballett-Idyll in einem Akt En dröm ist eine hochromantische Geschichte, in der eine Elfenkönigin und ihre Begleiterinnen dafür sorgen, dass ein junges Paar, das durch gesellschaftliche Vorurteile getrennt ist, schließlich doch zueinander findet. Beide Ballette  haben beim munter aufspielenden Malmö Opernorchester unter der Leitung von Michael Bartosch Interpreten gefunden, die die eleganten, teilweise auch schottische Folklore enthaltenden Ballettmusiken kompetent ausdeuten (STERLING CDS-1043-2).

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Aus den 1960er-Jahren stammen die Aufnahmen von sechs Ouvertüren, die STERLING unter dem Titel Romantische Dänische Ouvertüren zusammengefasst hat. Was haben die Komponisten Edouard du Puy (1773-1822), Christoph Ernst Friedrich Weyse (1774-1842), Friedrich Kuhlau (1786-1832), Johan Peter Emilius Hartmann (1805-1900), Peter Heise (1830-1879) und Christian Frederik Emil Horneman (1840-1906) mit Dänemark  zu tun? Alle waren länger oder kürzer am dänischen Königshof als Musiker beschäftigt, vornehmlich als Komponist, obwohl jeder von ihnen Auslandsbezüge aufweist: sie sind in der Schweiz (du Puy) und Deutschland (Weyse, Kuhlau) geboren oder deutschstämmig (Hartmann); Heise und Horneman haben in Leipzig studiert.Das Royal Danish Orchestra deutet unter Johan Hye-Knudsen die unterschiedlichen Stile der Ouvertüren effektvoll aus. So wird die Anlehnung an Rossini in Ungdom og galskap (Jugendsünde) von Edouard du Puy ebenso deutlich wie die Leichtigkeit in Sovedrikken (Das Schlafmittel) von C.E.F. Weyse. Anklänge an die Romantik Carl Maria von Webers finden sich in der Ouvertüre zu William Shakespeare von Fr. Kuhlau; angemessen und durchaus passend ist, dass der Einakter Liden Kirsten nach einem Märchen von Hans Christian Andersen und auch dessen Ouvertüre Volksliedhaftes aus Dänemark enthalten. Schließlich hört man die großformatige Ouvertüre zur dänischen Nationaloper Drog og Marsk (König und Marschall) von Peter Heise und die kompositorisch bereits in die Zukunft weisende Ouvertüre zur Märchenoper Aladdin von C.F.E. Horneman (STERLING CDS-1018-2).

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Sehr verdienstvoll ist es, dass sich das schwedische Label STERLING nicht nur um spätromantische Musik aus Skandinavien kümmert, sondern auch Werke unbekannter oder fast vergessener deutscher Komponisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgegeben hat. In dieser Zeit waren sinfonische Dichtungen besonders beliebt, von denen Lenore von August  (1847-1902) und die Tondichtung Zu einem Drama von Friedrich Gernsheim (1839-1916) nur eingefleischten Spezialisten bekannt sein dürften. Der in Köthen geborene Klughardt erhielt von seinem 10. Lebensjahr an Klavierunterricht; schon in der Schulzeit schrieb er erste Kompositionen. 1863 siedelte er mit seiner Familie nach Dessau über; Nach weiterer musikalischer Ausbildung in Dresden trat Klughardt bereits als 19-Jähriger seine erste Stelle als Hofkapellmeister in Posen an. Nach weiteren Stationen in Neustrelitz und Lübeck ging er für vier Jahre als Großherzoglicher Musikdirektor nach Weimar. In dieser Zeit war die Begegnung mit Franz Liszt für ihn prägend. Nach weiteren neun Jahren als Dirigent in Neustrelitz wurde Klughardt 1882 Hofkapellmeister in Dessau, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Neben fünf Sinfonien komponierte August Klughardt eine ganze Reihe sinfonischer Ouvertüren, vier Opern sowie zahlreiche Lieder, Chorwerke und Kammermusik für unterschiedliche Besetzungen. Sein Kompositionsstil ergibt sich aus seiner Begeisterung für die Neudeutsche Schule um Liszt und Wagner. Allerdings hielt er in seinen Opern an der älteren Form der Nummernoper fest, obwohl er wagnersche Leitmotivik verwendete;  auch ist  seinen Werken stets eine Orientierung an den Werken Robert Schumanns spürbar. Mit seiner Richard Wagner gewidmeten Lenore, Symphonische Dichtung nach G.A.Bürgers Ballade (Symphonie Nr.2 d-moll) op.27, einem viersätzigen, halbstündigen Orchesterwerk, komponierte Klughardt eine „Mischform“ zwischen Sinfonie und sinfonischer Dichtung. Jedem der vier Sätze ist ein Zitat aus Bürgers düsterer Ballade vorangestellt; zusätzlich finden sich in der Partitur am Schluss einige Gedichtzeilen. Die in allen Instrumentengruppen ausgezeichnete Anhaltische Philharmonie unter Manfred Mayrhofer gelingt eine solide, Interpretation, indem die dramatischen Entwicklungen plastisch entstehen, die Klangballungen à la Wagner in den Ecksätzen effektiv ausgekostet und die lyrischen Phasen weich ausgebreitet werden. Friedrich Gernsheim stammte aus einer jüdischen Familie in Worms; nach dem Studium in Leipzig bei Ignaz Moscheles und Ferdinand David sowie in Paris war er ab 1865 Lehrer am Konservatorium in Köln und Kapellmeister am Stadttheater. Ab 1874 wirkte er in Rotterdam als Dirigent, und 1890 wurde er an das Stern’sche Konservatorium in Berlin berufen. Gernsheim, den mit Johannes Brahms eine enge Freundschaft verband, war Mitglied der Akademie der Künste; zu seinen Schülern zählte Engelbert Humperdinck. In Friedrich Gernsheims weit gefächertem Schaffen finden sich vier Sinfonien, zwei Violinkonzerte, je ein Klavier- und Cellokonzert sowie zahlreiche Kammermusikwerke und umfangreiche Vokalmusik, allerdings keine Opern. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden seine Werke nicht gespielt und gerieten in Vergessenheit. Seiner 1902 komponierten und acht Jahre später veröffentlichten Zu einem Drama.Tondichtung für großes Orchester liegt wie beispielsweise auch Brahms‘ Tragische Ouvertüre kein konkretes Drama zugrunde. In gekonnter Ausführung stellt das SWR Radiofunkorchester Kaiserslautern unter Klaus Arp in einer Aufnahme von 1995 die knapp zwanzigminütige sinfonische Dichtung mit ihren sehr unterschiedlichen Themen von kraftvoller Dramatik bis zu melodisch weit ausholender Lyrik vor (STERLING CDS 1096-2).

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Orchestermusik von Flotow bei Sterling

Der Komponist Friedrich von Flotow (1812-1883) ist bis zum heutigen Tag fast nur wegen  seines Welterfolgs, der Oper Martha, bekannt geblieben. Vergessen sind die zahlreichen weiteren Opern und seine Instrumentalwerke, von denen STERLING die beiden 1830/31 entstandenen Klavierkonzerte herausgebracht hat. Die Jugendwerke sind mit knapp 15 Minuten (Nr.1 c-Moll) und 18 Minuten (Nr.2 a-Moll) relativ kurz geraten, wobei das zweite Konzert die Besonderheit aufweist, dass es viersätzig wie eine Sinfonie aufgebaut ist, was es erst später bei Brahms gab.  Beide Konzerte sprudeln vor allem in den schnellen Sätzen gefällig dahin, während es kaum kontemplative Phasen gibt. Den jeweils recht virtuosen Klavierpart spielt sicher Carl Petersson, der von der gut aufgelegten Pilsener Philharmonie unter der Leitung des erfahrenen, auf unbekannte Literatur spezialisierten Hans Peter  Wiesheu begleitet wird. Die CD enthält außerdem die 1857 komponierte, reichlich plakative Jubel Ouvertüre F-Dur und die Musik zum Schauspiel Wilhelm von Oranien in Whitehall von Gustav Edler Gans zu Putlitz, die im 3.Akt das bekannte patriotische Rule Britannia zitiert. Auch in diesen Stücken erweist sich die Kompetenz der Pilsener Instrumentalisten und ihres Dirigenten (STERLING CDS – 1077-2).

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Auch Woldemar Bargiel (1828-1897), ein Halbbruder von Clara Schumann und damit Schwager von Robert Schumann, ist heute weitgehend vergessen. Er wirkte ab 1874 bis zu seinem Tod an der Berliner Musikhochschule und galt als einer der angesehensten Kompositionslehrer seiner Zeit. Bei STERLING gibt es eine Live-Aufnahme

aus dem mexikanischen San Luis Potosi aus 2014 mit der teilweise arg lärmenden C-Dur-Sinfonie (1864), den Ouvertüren zu einem Trauerspiel, von Shakespeares Romeo und Julia inspiriert, und zu Medea, inspiriert von Euripides‘ Tragödie (beides eher sinfonische Dichtungen, um 1860) sowie dem Intermezzo für Orchester (1880). Bargiels an Beethoven und Mendelssohn orientierter Kompositionsstil wird in all diesen Werken deutlich, die das Sinfonieorchester San Luis Potosi unter José Miramontes Zapata trotz mancher interpretatorischer Defizite im Ganzen gediegen ausdeutet (STERLING CDS 1105-2). Gerhard Eckels

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Weitere operalounge-Rezensionen zu Aufnahmen bei Sterling: HALLÉNS „WALDEMARSSKATTEN“; LAILA ANDERSSON-PALME ; MEYERBEERS „ALIMELEK“JOACHIM RAFFS „BENEDETTO MARCELLO“ ; Laila Andersson-Palme ; Vogler „Gustaf Adolf och Ebba Brahe“ ; IVAR HALLSTRÖMS „DEN BERTAGNA“; Laci BoldemannSTENHAMMARS „FEST AUF SOLHAUG“; FORONIS „CRISTINA“ 

Meister raffinierter Inszenierung

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Lorin Maazel (1930 – 2014) war eine schillernde Persönlichkeit. Der im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geborene Sohn einer russisch-jüdischen Familie studierte schon als Kind Dirigieren und stand bereits mit neun Jahren vor einem großen Symphonieorchester. Maazel war ein universal gebildeter hoch-intellektueller Geist, er studierte 1946 bis 1950 Mathematik, Philosophie und Sprachen, setzte seine musikalische Ausbildung fort und trat danach rasch in den USA, Europa und anderen Ländern auf. 1964 übernahm er als Nachfolger von Ferenc Fricsay für 11 Jahre die Leitung des Radio-Symphonie-Orchesters (RSO) Berlin (heute Deutsches Symphonie-Orchester, DSO). Zusätzlich war er 1965 bis 1971 Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin. Maazel gastierte bei großen und berühmten Orchestern und Festivals, band sich für einige Jahre an die Wiener Staatsoper, er war Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra (1988 – 1996), des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (1993 – 2002) und ab 2002 Nachfolger von Kurt Masur beim New York Philharmonic Orchestra. Seinen 2012 auf drei Jahre abgeschlossenen Vertrag als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker konnte er nicht mehr erfüllen. Er starb am 13. Juli 2014 in seinem US-amerikanischen Wohnsitz Castleton, Virginia. Dort hatte er auch 2008 ein Festival zur Förderung junger Musiker gegründet.

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Lorin Maazel war Dirigent, Geiger und Komponist. Er verfügte über ein unbestechliches Gehör und ein fotografisches Gedächtnis. Sein Dirigieren war klar und präzise, dazu elegant, wirkte gelegentlich aber auch manieriert. Maazel war ein Meister der raffinierten orchestralen Inszenierung – nicht nur, aber doch ganz besonders bei Werken von Strauss, Mahler oder Wagner. Gelegentlich griff er noch zur Geige (auch beim Neujahreskonzert der Wiener Philharmoniker). Noch in höherem Alter überraschte er mit veritablen Aufführungen der Violinsonaten von Johannes Brahms. Als Komponist hatte er nur bescheidene Erfolge. In seinen Werken, u. a. virtuosen Konzerten für befreundete Interpreten oder der Oper „1984“ blieb Maazel epigonal, eklektizistisch.

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Die vorliegende Box mag nichts Neues enthalten, bietet aber wohl die Wiederbegegnung mit vor allem früh entstandenen Aufnahmen, die bleibende diskographische Bedeutung haben. Die gewichtigsten Einspielungen sind dabei frühe, ungewöhnliche, großenteils faszinierende Produktionen mit den Berliner Philharmonikern. Mit diesem Orchester, dem seine besondere Liebe galt und dessen Chefdirigent er in Nachfolge Herbert von Karajans gerne geworden wäre – dem er allerdings auch nach der Wahls Claudio Abbados für einige Jahre die kalte Schulter zeigte – ging Maazel zum ersten Mal am 27. Februar 1957 ins DG-Aufnahmestudio, seine letzte Aufnahme mit den Philharmonikern für das Gelblabel fand 1985 statt. Aufhorchen lassen bereits die ersten Einspielungen, „Romeo und Julia“ Kompositionen von Berlioz, Tschaikowsky und Prokofjew. Wann hat man schon die vier Sätze aus Berlioz‘ „Romeo et Juliette“ so spannungs- und kontrastreich, so mitreißend gehört? In markanten Ausschnitten aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballett zeigen sich entscheidende Qualitäten des Dirigenten: seine Aufmerksamkeit, ja Liebe zum Detail, zu Klarheit und Transparenz, das Gespür für die Dramaturgie, die Fähigkeit zu raffinierter Inszenierung.

Von Schubert liegen fast alle Symphonien vor, es fehlen nur die erste und die letzte, die C-Dur-Symphonie D 944. Die Werke werden nie über einen Kamm geschert oder gleichförmig musiziert, sondern ihren Eigenarten gemäß und individuell: vom symphonischen Fast-Beginn (Symphonie Nr. 2), der nichts Unfertiges hat, über die gar nicht „tragisch“ gedeutete Vierte und die zu Unrecht vernachlässigte Sechste bis zur „Unvollendeten“, die hier große, klassische, Symphonie, frei von falscher Romantisierung ist. Schuberts bewegte Sätze sind nicht übertrieben schnell, sondern kraftvoll, energisch bis drängend, die langsamen bleiben nie auf der Strecke. Besondere Merkmale sind bei allen Interpretationen die Klarheit und Durchsichtigkeit. Man hört immer die Struktur der Musik, Themen, Gegenthemen das Miteinander und Ergänzen von Soli, die kammermusikalischen Momente, klanglich wird nicht aufgetrumpft. Solche Eigenschaften bewähren sich auch in den Interpretationen von Beethovens Fünfter und Siebter Symphonie, von Mendelssohns Vierter und Fünfter, Brahms‘ Dritter (der freilich das Leidenschaftliche fehlt) und Tschaikowskys Vierter Symphonie (virtuos, äußerst präzise, oft drängend, aber nie lärmend). Unter den in der Box versammelten Tongemälden stechen vor allem Respighis „Pini di Roma“ (1959) hervor. Was für eine großartige Klang- und Farbenpalette entfalten die Philharmoniker hier!

In den 1980er-Jahren entstanden unter Maazels Leitung exemplarische Einspielungen der drei Symphonien, der Tondichtungen „Der Fels“ und „Die Toteninsel“ sowie der symphonischen Tänze von Sergej Rachmaninow. Maazel nimmt Rachmaninow ernst als symphonischen Komponisten in der klassischen Tradition, als Schöpfer raffinierter Orchestermusik mit vielen Facetten und Stimmungen. Das ist eben nicht (vermeintlicher) Breitwand- oder Hollywoodstil, nicht ein Baden Klang und Schwelgerei, sondern farbige, oft raffinierte, virtuose Musik, leidenschaftlich und auch melancholisch. In der gleichen Zeit kam Berlioz‘ Symphonie „Harold in Italien“ mit dem als beredtem Erzähler fungierenden Solo-Bratscher Wolfram Christ heraus, ferner Tschaikowskys Violinkonzert mit Gidon Kremer (der nicht mit Virtuosentum protzt), Bartóks Konzert für Orchester, in dem die Berliner Philharmoniker ihre Virtuosität, Spielfreude und Reaktionsfähigkeit demonstrieren. Maazel war einer der wenigen Dirigenten, die sich Alexander von Zemlinskys Lyrischer Symphonie annahmen, diesem zwischen Symphonie und Orchesterliederzyklus changierenden Pendant zu Mahlers „Lied von der Erde“ und Schönbergs „Gurreliedern“. Das Orchester entfaltet die Farben und den Zauber der von Chinoiserien geprägten Musik. Das Vokale überzeugt weniger. Dietrich Fischer-Dieskau trifft den Ton der Lieder deutlich besser als Julia Varady. Da ist dann doch die unter Leitung von Bernhard Klee entstandene Aufnahme mit dem RSO Berlin und den Solisten Glenys Linos und Dale Duesing besser gelungen!

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In den frühen Aufnahmen Maazels mit dem Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (RSO) kommen seine dirigentischen und überhaupt künstlerischen Qualitäten besonders eindrucksvoll zur Geltung. Dazu gehören sorgfältige Vorbereitung und meisterhafte Präzision, die Tully Potter in seinem lesenswerten Booklet-Essay als besondere Eigenschaften des Dirigenten hervorhebt. Die DG-Box vermittelt zwar nur einen Ausschnitt von der künstlerischen Potenz und dem hohen Rang des RSO – das zum größten ernstzunehmenden Konkurrenten der Berliner Philharmoniker wurde. Das liegt allerdings daran, dass viele Aufnahmen bei Philips erschienen. Doch was wir hörend erleben, ist exemplarisch. Erstaunlich, zu welch idiomatischer Aufführung das Orchester mit Maazel in Manuel de Fallas „Liebeszauber“ und Tänzen aus „Der Dreispitz“ findet. So subtil inszeniert, farbig, temperamentvoll, zugleich sehr kultiviert hört man diese Werke selten. Exemplarisch sind die Einspielungen der „Feuervogel“-Suite und des „Gesangs der Nachtigall“ von Igor Strawinsky: im Klang, in der Ausdruckspalette, vor allem aber auch, weil hier Geschichten erzählt werden! César Francks einzige Symphonie in d-Moll wird spannend, mit Verve, klangsatt, aber nie schwer musiziert.

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Die auf 10 CD dokumentierte Zusammenarbeit Maazels mit den Wiener Philharmonikern fällt weniger gewichtig aus. Den zwischen 1982 und 1984 aufgenommenen Symphonien Nr. 7, Nr. 8 und Nr. 9 von Antonín Dvořák fehlt insgesamt die böhmische Färbung, die Wärme und Individualität, der Klang ist nicht ideal, meist stark höhenbetont. Wie anders und eindrucksvoller sind da die Einspielungen einiger Orchesterwerke von Richard Strauss. Hier zeigt sich Maazels Kunst der musikalischen Inszenierung besonders gut. Die „Sinfonia domestica“ erlebt man als detail- wie abwechslungsreiche liebevolle musikalische Schilderung des Strauss’schen Familienlebens in Berlin-Charlottenburg. Was in der Tondichtung „Also sprach Zarathustra“ steckt, zeigen die Wiener Philharmoniker unter Maazels Dirigat schlagend – vom äußerst zarten, kaum hörbaren Beginn mit seinen tief(st)en Orgel-Pedaltönen bis zu hymnischen orchestralen Ausbrüchen, die indes nie vulgär oder erschlagend wirken. Der Klang ist brillant, satt, dabei sehr differenziert und durchsichtig, die Dynamik weit gespannt, die von Soli geprägten Passagen werden liebevoll ausmusiziert. Nie gehen wichtige Details verloren. Fünf CDs mit Musik aus Wiener Neujahrskonzerten fallen demgegenüber nicht ins Gewicht.

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Die Einspielungen von Maurice Ravels Operneinaktern „L’heure espagnole“ und „L’enfant et les sortilèges“ mit fabelhaften, zumeist französischen Sängerinnen und Sängern sowie dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française sind immer noch wahre Schätze. Wie auch in der Aufnahme von Verdis Oper „Luisa Miller“ mit prominenten Solistinnen und Solisten (Placido Domingo, Katia Ricciarelli, Elena Obratzsova, Renato Bruson) sowie Chor und Orchester des Royal Opera House Covent Garden, zeigt sich der Operndirigent Maazel von seiner besten Seite.

Sehr gelungen ist schließlich eine ebenso anschauliche wie persönliche Einführung Maazels in die Welt des Symphonieorchesters mittels Benjamin Brittens „Young person’s guide to the orchestra“, an der Alt und Jung, erfahrene und neue Hörer ihre Freude haben können (vorausgesetzt, sie sind des Englischen mächtig!). Und Sergej Prokofjews „Peter und der Wolf“ erzählt der Schauspieler Alec Clunes manchem vielleicht etwas nüchtern, ohne Übertreibungen oder übertrieben affektgeladenem Ton – zu Recht, denn für genügend Spannung und Dramatik sorgt schon die Musik! Helge Grünewald

Renata Scotto

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Genau drei Zentimeter vor dem Matinée-Radio-Mikrophon starb Manon Lescaut in der stimmungsvoll-konservativen Inszenierung an der Met 1979 – Renata Scotto hatte sich durch Pappe und Wüstenersatz genau zu diesem strategischen Punkt der Riesenbühne hindurchgerobbt, um vor dem diskret aufragenden Mikrophon von Texaco unendlich wirkungsvoll an 3 Millionen Radiozuhörer ihre letzten Töne  zu verhauchen. Das war Kunst, das war Chuzpe, das war Können und Raffinement. Publikum wie  auch ich erstarrt, mesmerisiert, sprachlos, um dann in frenetischen Jubel auszubrechen. Diese zierliche Gestalt, die da ebenso gekonnt wie gerührt ihren unendlichen Applaus entgegen nahm („Wie? Ich? Wirklich?“ „Aber nein…“), schien nicht aus dieser Welt zu sein. Und dennoch hatte sie, Renata Scotto, uns drei Stunden lang Magie vorgeführt (Pausen an der Met sind lang), hatte uns glauben machen, sie sei ein junges Ding voller Sehnsucht nach dem Leben, voller Unschuld bis zum Schluss, voller Kraft in der in diesem Stück stark geforderten Stimme.

Renata Scotto und Placido Domingo in „Francesca da Rimini“ an der Met/Met Opera Archive

Ich werde auch nicht ihre Francesca da Rimini vergessen, wie sie in dieser unendlich luxuriösen Produktion (dto. 1984 recht reif an der Met und auf DVD bei DG) neben dem extrem sexy Domingo eine Jugendstil-Elfe gab, voller Poesie, voller rollengerechter Manier und erneut voller Sehnsucht nach der Liebe, nach Sterben auf höchstem Niveau, stimmlich von einer Perfektion der kleinen Noten, der schimmernden Valeurs, die sie mit sparsamen, mädchenhaften Gesten unterstrich.

Ihre Desdemona neben Domingo oder Vickers am selben Haus hatte für mich diese Modena-Entschlossenheit, dieses unglaublich Italienische, das ans Resolute grenzt und gleichzeitig mit festem Glauben am Fatalen festhält – eine wunderbare Charakterstudie einer Frau, die offenen Auges in ihr Verderben stürzt, die wie Carmen weiß, was ihr passieren wird.

Merkwürdiger Weise habe ich bei der Scotto selten nach dem Wie oder Womit gefragt – natürlich, die Stimme als solche wäre eigentlich fast immer zu klein für diese großen Partien gewesen, und die Höhe konnte auch sehr scharf klingen, manchmal auch sauer, zumal zu Beginn der Karriere. Aber die Scotto kompensierte ihre sehr lyrische Herkunft (wie man sie auf frühen Aufnahmen als Lucia oder Gilda hört) mit ungeheurer Intelligenz der Gestaltung, beherrschte ihr Instrument perfekt und über dessen natürliche Grenzen hinaus und machte aus jeder Phrase ein Ereignis, ein Puzzlestück im funkelnden Ganzen. Keine wie sie, möchte man sagen, folgte der Callas dichter nach. Keine wie sie beherrschte die Diktion so unglaublich raffiniert zur Gestaltung eines Charakters, keine wie sie machte beim Singen einen solchen Zauberladen an Illusion und Kunst auf. Sie war eine Magierin. Andere wucherten vielleicht mit mehr Kraft oder runderen Stimmen – die Scotto überzeugte durch Überzeugung. Ihr Illusionstheater war einfach perfekt.

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Renata Scotto als Marschallin in Catania/ Foto Teatro Bellini Catania/Th. Voigt

Über ihren Werdegang kann man alles bei Wikipedia nachlesen  – eine Frau ohne Skandale, privat immer eine Dame und immer eine Künstlerin, immer eine ebenso charmante wie entzückende Person (wie ich selber sie bei mehreren Gesprächen und in Meisterkursen in Italien  in Erinnerung habe). Dazu eine neugierige, die die Grenzen ihres Mediums vor allem gegen Ende ihrer Gesangskarriere auslotete mit der Femme von Poulenc, sogar mit Straussens Marschallin (in Palermo) und Klytämnestra (in Schwerin – che coraggio!) und Wagners Kundry (dto., mit Robenwechsel für den Mittelakt), letztere sehr eindrucksvoll konzentriert und erstaunlich wortdeutlich, selbst wenn dies nicht wirklich ihr Metier war zollte man doch der Künstlerin Bewunderung.

Dieser konsequente Werdegang von der Lyrischen zur Spinto-Sängerin zeitigte so viele glückliche Auftritte und Platteneinspielungen, dass sie für die Nach-Callas-Ära die ganz bestimmende Sängerin war, auch durch ihren klugen Schachzug, die Nachfolge der Tebaldi unter James Levine an der Met anzutreten, wo sie ihre größten Erfolge hatte. Aber eigentlich trat sie, außer als Einspringerin für die Callas-Sonnambula in Edinburgh 1978 (entzückend-charaktervoll hab ich sie in Erinnerung), mit ihrer allerersten Norma unter Muti 1979 in Florenz ins Rampenlicht der Welt (die bezaubernde Margherita Rinaldi als Sopran-Adalgisa nicht zu vergessen). Von nun ging´s voran. Und es gibt manche ihrer Einspielungen, ohne die ich nicht leben möchte – ihre Abigaille/EMI, Traviata/EMI, Butterfly/EMI und Sony, Francesca da Rimini/DG, Manon Lescaut/DG und Luisa Miller/DG, dazu ihre Lady Macbeth aus London und New York und vielleicht noch die für mich unerreichten Porträts liebender Frauen großen Formats auf den verschiedenen Sony-LPs/CDs. Renata Scotto hat exemplarisch vorgeführt, was man mit Willenskraft, einer bombigen Technik und vor allem größter musikalischer Intelligenz erreichen kann: die künstlerische Wahrheit. Sie starb am 16. August im Alter von 89 Jahren in Savona. Grazie Signora. Geerd Heinsen

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Nicht vergessen werden soll ihre pädagogische Tätigkeit in zahlreichen Meisterkursen, vor allem aber auch nicht ihre bedeutenden Regiearbeiten. Dazu fand sich in unserem Archiv ein Gespräch mit Samuel Zinsli anlässlich von Scottos Arbeit an der Wally Catalanis am Stadttheater Bern von 2005, das wir nachstehend noch einmal in Auszügen bringen./G. H.

Renata Scotto als Verdis Elisabetta an der Met/ Foto Davidson

„Die Oper ist für Emotionen gemacht!“: Gerade mal zwei Stunden vor der Premiere ihrer „Wally“­ Produktion am Stadttheater Bern erschien die Künstlerin blendend aufgelegt im stilvollen Foyer des Theaters und nahm sich viel Zeit für ein Gespräch über’s Regieführen, über Catalanis Wally – und natürlich auch über sich selbst.

Lange sind Sie als Sängerin in allen Opernhäusern zu Hause gewesen – nun kommen Sie als Regisseurin. Ist das ein großer Unterschied? Inszenieren ist schwierig. Als Sängerin habe ich die Musik, die mich führt. Auch beim Inszenieren kann ich mich von der Musik führen lassen, aber als Regisseurin bin ich noch jung … Ich habe nun eine neue Karriere, die ich ebenso liebe wie das Singen, aber es sind zwei sehr verschiedene Dinge – jetzt trage ich die Verantwortung für die ganze Produktion, auch für die Auswahl des Bühnenbildners, des Kostümbildners, des Theaters, der Beleuchtung … Und aufs Bühnenbild lege ich besonderen Wert. „La Wally“ in Bern ist nun meine vierte Produktion mit Carlo Diappi, der mein Lieblingsbühnen- und Kostümbildner ist. Ich mag Theater, das modern ist – und auch wieder nicht modern. Das heißt, ich vertraue auf die Musik, deshalb ziehe ich einfache, stilisierende Bühnenbilder vor, die eine klare Idee von der Handlung vermitteln. Und der romanticismo, den die Musik vorgibt, wird in den Kostümen und der Lichtgestaltung wiederaufgenommen. Mich interessiert das Ganze – da sind die Solisten und der Chor, und alle sind Menschen, die es zu respektieren und zu führen gilt. Die Arbeit mit den Sängern fällt mir verhältnismäßig leicht, weil ich ja selbst Sängerin war – sie vertrauen darauf , dass ich die vokalen Anforderungen verstehe und ihnen Bedingungen schaffe, in denen sie singen und spielen können. Denn für mich ist der perfekte Sänger der, der es schafft, singend darzustellen und darstellend zu singen.

Renata Scotto sings Christmas Songs/Vai

Wie sind Sie Regisseurin geworden? Ach, ganz zufällig! Ich hatte die Butterfly an der Met schon unzählige Male gesungen und wurde wieder dafür angefragt. Aber ich wollte es nicht mehr machen und sagte: „Gebt mir eine andere Oper!“ Und da kam die Antwort von der Met: „Dann geben wir dir die ganze Produktion – mach damit, was du willst!“ Ich hab drei, vier Monate lang überlegt. Das war eine sehr schöne Inszenierung von einem Japaner, in der ich oft aufgetreten war, die ich also sehr gut kannte. Aber im Laufe der Zeit hatten andere Regisseure und Assistenten sie verdorben, lauter unnützes Zeug dazugetan. Deshalb habe ich mir schließlich gesagt: Vielleicht könnte man zurück zum Original gehen – und dann habe ich eingewilligt. Das war ziemlich mühsam, aber an der Met kriegt man ja alle Hilfe, die man braucht. Das war 1986. Ich bin also – mit der Met! – ziemlich weit oben eingestiegen. Dann hat man mir schon für’s nächste Jahr eine neue „Butterfly“ in der Arena di Verona angeboten. 80 Choristen, 45 Geishas, 25 ballerine! Und einen künstlichen See haben wir konstruiert – ein schönes, untraditionelles Bühnenbild. Das war eine Erfahrung… Ich habe dabei fünf Kilo abgenommen. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben.

Von da an habe ich versucht, alle Aspekte des Theaters kennenzulernen, auch die Technik, die Arbeit der Bühnenarbeiter und der Elektriker. Dann kamen auch Regiearbeiten, um die Sängerinnen und Sänger mich gebeten haben, z. B. Deborah Voigts Tosca-Debüt in Miami. Und dann eine Traviata, auch in Miami, eine in New York an der City Opera, wo ich einen Emmy für die Fernsehübertragung gewonnen habe, SonnambulaAdriana Lecouvreur in Santiago, eben komme ich von einer Butterfly in Dallas – Sie sehen, ich bin fürchterlich beschäftigt! Ach ja, ich habe auch einmal Regie geführt und selber mitgesungen, das war im Medium von Menotti – da war ebenfalls Carlo Diappi der Bühnenbildner. Mit ihm habe ich dazu Pirata und Norma gemacht. Norma inszenieren – ah, che lavoro! Aber eine schöne Arbeit! Wir hatten zwei sehr gute Sängerinnen, Serena Farnocchia als Adalgisa und Cynthia Makris als Norma – und ihr Mann Raimo Sirkiä als Pollione. Das war eine unglaubliche Anstrengung, aber ich habe es sehr genossen, denn ich liebe Norma. Diappi hat dafür nur Holz verwendet, finnisches Holz in neoklassischen Strukturen, mit neoklassischen Kostümen.

Gibt es Regisseure, die Ihnen besondere Vorbilder geworden sind? Ja, mindestens fünf! Vor allem John Dexter, der mein großer Maestro an der Met war, ein unvergesslicher Regisseur. Piero Faggioni, Mauro Bolognini, Raf Vallone, Peter Hall, mit dem ich Macbeth gemacht habe – unvergesslich , wie er mit mir die Figur der Lady geformt hat. Mit Franco Zeffirelli habe ich leider nur die Musetta an der Met gemacht. Ich erinnere mich auch gern an Renato Castellani, aber das ist länger her. Von Faggioni, Hall und Dexter habe ich besonders viel gelernt – wie ich mich auf der Bühne bewegen muss, wie ich die Worte verinnerlichen kann und sie nicht nur singe. Ich muss sagen, ich habe immer versucht zuzuhören und zu lernen. Oft kann man auch von nicht besonders guten Regisseuren etwas lernen.

Renata Scotto als Marschallin mit Ruthhild Engert/ Octavian/ Foto Teatro Bellini Catania/Th. Voigt

Singen Sie noch? Es gab Gerüchte über eine Pique Dame: No, cantare basta. Ho chiuso. Nein! Ich mag keine alte Frau spielen, auch wenn ich nun eine bin. Genau, ich bin für die Rolle noch zu jung! Nein, ernsthaft, das wäre auch nicht mein Fach. Gut, ich habe Klytämnestra gesungen, aber dann hab ich gesagt: Jetzt ist Schluss! Man braucht zum Singen Körper und Geist, und – ich singe zwar noch gelegentlich in den zwei Kursen, die ich jährlich an der Accademia Santa Cecilia gebe, aber wenn ich heute eine Mädchenrolle interpretieren soll, fühle ich mich dabei nicht mehr wohl – das passt nicht. Und ich bin zufrieden damit, denn nun stehe ich morgens auf und muss nicht sofort testen, ob die Stimme in Ordnung ist, ich kann plaudern, lang aufbleiben … Ich habe so viele schöne Erinnerungen und Aufnahmen, warum also immer noch singen, jetzt, wo meine Stimme nicht mehr so schön ist wie vor 20 Jahren? Mir gefällt mein Leben, wie es ist. Ich bin Großmutter und genieße die Zeit mit meinem Enkel, der schon dreieinhalb ist, ich unterrichte und inszeniere – und ich gehe für mein Leben gern ins Theater, auch ins Sprechtheater, auch Modemes. Diese Woche war ich in Zürich in „Ariane et Barbe­ Bleu“, das hat mir sehr gefallen! Dagegen fällt es mir schwerer, z. B. in eine „Butterfly“ zu gehen – außer, es singt eine meiner Schülerinnen.

Renata Scortto als Norma an der Met/Publicity Photo/ Norman Mitchel/ Met Opera Archive

Wie stehen Sie zu der verbreiteten Meinung, es gebe heute weniger große Sängerpersönlichkeiten als früher? Wissen Sie, ich spreche nicht gern von der Vergangenheit , mich interessiert die Gegenwart. Wir haben heute großartige Sängerinnen und Sänger wie eine Renée Fleming, eine Deborah Voigt , einen Marcello Giordani und andere, und ich glaube, das sind die Künstler, die die Oper weitertragen. Es ist heute anders – die jungen Sänger glauben, sie hätten nur wenig Zeit zum Wachsen, zum Entwickeln. Es gibt unglaublich viel Konkurrenz, man braucht sofort die Aufmerksamkeit der Medien – und das ist nicht die beste Methode für organisches Wachsen, nicht wahr? Was man schnell, schnell aufbaut, hält meist auch nicht lange. Ich rate den Jungen immer, es adagio anzugehen – sie haben ja so viel Zeit. Ich habe aber Angst für das Genre Oper heute – dass das Publikum sich zu sehr an spektakuläre Effekte gewöhnt. Manche jungen Regisseure kennen und lieben die Musik nicht mehr, bedienen sich des Theaters nur noch. Und das ist kein Dienst am neuen Publikum. Das Publikum braucht Emotionen – wenn es kalt aus der Oper kommt, bringen wir das Theater nicht weiter. Auch manche Dirigenten verderben viel mit der Mode, alles ganz präzis und streng im Metrum und genau wie notiert zu nehmen. Die Oper ist doch für Emotionen gemacht , da muss mal eine Note länger gehalten werden, und dann wird applaudiert. Man applaudiert heute weniger in der Oper – warum? Fehlt da der Enthusiasmus, die Emotion? So. Ich habe alles gesagt – jetzt muss ich gehen (Foto oben Renata Scotto als Francesca da Rimini an deer Met/Foto DG Video).

Louise Bertins „Fausto“

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Mit Spannung erwartet ging in Paris Louise Bertins Oper Fausto von 1831 über die konzertanten Bretter des Pariser Théâtre Champs-Elysées am 20. Juni 2023, ein Projekt des Palazetto Bru Zane für seine CD-Veröffentlichung in der Reihe der Romantischen französischen Oper. Beim zehnten Festival Palazzetto Bru Zane präsentierten das auf alte Musik spezialisierte Ensemble Les Talens Lyriques und sein Dirigent Christophe Rousset eine historisch orientierte Aufführung mit Naturtrompeten und -Hörnern. Wie dieser Fausto mit modernem Instrumenten  klingt, kann man im Januar 2024 am Aalto-Theater in Essen hören.

Nach Esmeralda aus Montpellier (bei Accord) und Le Loup-garou (aus Albuquerque) ist dies nun bereits die dritte Oper der Komponistin, die ausgegraben wurde. Aber braucht die Welt nun noch eine derselben Komponistin? Angesichts der vielen, vielen Kenntnis-Lücken im französischen Repertoire der Zeit? Zumal der musikalische Eindruck mich zumindest „nicht vom Hocker“ reißt und sich in der Assoziation viele andere Werke der Epoche positiver und vor allem auch musikalisch interessanter hervordrängen… Und dieses „nur“ weil sie von einer Frau komponiert wurde? Manchmal schüttelt der Sammler doch den Kopf über die Programm-Auswahl des Palazzetto…

Nachstehend eine Einschätzung zum Werk von Charles Jernigan und einige Pressestimmen zur Uraufführung 1831.  Danach ein Blick auf die Aufnahme aus dem Umfeld der Pariser Aufführung.

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Zu Louise Bertins „Fausto“: Die Komponistin/ Wikipedia

Die Karriere der Komponistin Louise Bertin spielte sich in erster Linie auf der Opernbühne ab. Als die Romantik in der Musik zur vollen Entfaltung kam, leuchtete ihr Stern am Pariser Musikhimmel wie ein Meteor. Einige Monate nach den Huit Scènes de Faust von Berlioz ließ Louise Bertin sich ebenfalls von Goethe inspirierten und komponierte eine Oper für das Théâtre-Italien in Paris. Es gab nur drei Aufführungen. Die Uraufführung blieb fast unbemerkt (trotz einer sehr positiven Kritik) und die Oper wurde nicht wiederaufgenommen. Obwohl die Oper mit einem Tenor (Domenico Donzelli) in der Titelrolle uraufgeführt wurde, hat sich der Palazzetto Bru Zane entschieden, die Originalfassung dieser Oper zur Uraufführung zu bringen, aus deren Manuskript hervorgeht, dass die Rolle des Faust von einer Frau (Rosmunda Pisaroni) gesungen werden sollte.

Goethes Faust, Erster und Zweiter Teil, inspirierte im neunzehnten Jahrhundert mehrere Komponisten: Berlioz, Gounod, Schumann, Listz und Boito, um nur einige zu nennen. Die erste Faust-Oper auf der Grundlage von Goethes großem Versdrama stammt jedoch von einer Französin, Louise Bertin. Und sie komponierte sie nach einem italienischen Text. (Quelle Palazzetto/ G. H.)

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Louise Bertins Oper „Fausto“: Für Rosamunde Pisaroni war die Uraufführung 1831 gedacht, sie wurde krank und durch den Tenor Donzelli ersetzt; der Palazzetto Bru Zane folgt mit Konzert 2023 und Aufnahme der Intention der Erstfassung/ Opera Rara

Und nun Charles Jernigan zu Louise Bertins Fausto : Was für eine interessante Komponistin ist Louise Bertin (1805-77)! In ihrer Kindheit verkrüppelt, wahrscheinlich durch Kinderlähmung oder einen Unfall in der Kindheit, schlug sie nicht den traditionellen Weg einer Frau ihres Alters ein – Heirat und Kinder. Sie wurde weder in großem Reichtum noch in der Aristokratie geboren, war aber dennoch das Kind intelligenter Eltern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Pariser Kunstwelt sehr gut vernetzt waren und sich um ihre Tochter kümmerten, indem sie ihr Möglichkeiten des Selbstausdrucks und der Selbstverwirklichung boten, die für eine Frau zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sicherlich ungewöhnlich waren. Ausgebildet von Fétis und Anton Reicha, den wohl besten Musiklehrern der damaligen Zeit in Paris, begann Bertin schon früh eine Karriere als Komponistin und schrieb 1825, als sie 20 Jahre alt war, ihre erste Oper (Guy Mannering nach Walter Scott). Sie wurde privat aufgeführt, aber ihr erstes professionell produziertes Werk – an der Opéra-Comique – war 1827 der Einakter Le loup-garou, mit einem Libretto von keinem Geringeren als Eugène Scribe. (Es wurde im September 2022 von der Opera Southwest in Albuquerque, New Mexico, und im November von der Gothic Opera in London wiederaufgenommen).  1829 begann sie mit der Arbeit an einer Oper auf der Grundlage von Goethes Faust, der kurz zuvor in der französischen Übersetzung von Gerard Nerval erschienen war. Fausto wurde 1831 in Paris am Thèâtre-Italien ohne großen Erfolg uraufgeführt.  Nichtsdestotrotz begann Bertin mit der Arbeit an einer vierten Oper, die sich als ihr Hauptwerk entpuppte: La Esmeralda, eine große Oper mit einem Libretto von Victor Hugo selbst, das auf seinem eigenen großen Roman Notre-Dame de Paris basiert.  La Esmeralda wurde 1838 an der Opéra uraufgeführt und erlebte 2008 ihre moderne Premiere in Montpellier (eine Aufführung, die bei Accord aufgezeichnet wurde und auf youtube verfügbar ist).

Und dann Schweigen. Weder Fausto noch La Esmeralda hatten großen Erfolg, und die Kritiker fragten sich, ob Bertins Talent ihr den Zugang zu den drei großen Pariser Opernbühnen ihrer Zeit verschafft hatte – der Comique, der Italienischen und der Opéra – oder ob ihre Opern aufgrund ihrer familiären Beziehungen und ihrer Freundschaft mit bedeutenden Künstlern der Zeit, darunter Berlioz und Hugo, produziert wurden. Wurde sie kritisiert und sogar verspottet, weil sie eine Frau (und behindert) war, die es wagte, sich in der fast ausschließlich männlichen Welt der Opernkomposition durchzusetzen? Oder war sie eine Amateurin, die sich in einem Bereich bewegte, der ihre Fähigkeiten überstieg?

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Zu Louise Bertins „Fausto“: der originale „Norma“-Cast mit Domenico Donzelli (der in der Uraufführung 1831 die Titelpartie/ Fausto sang), Giuditta Pasta und Guilia Grisi/ zeitgen. Illustration/ Wiki

Fausto ist in vielerlei Hinsicht ein Unikat.  Zunächst einmal war es, soweit ich weiß, die erste Oper, die auf Goethes Faust basierte. (Louis Spohrs Singspiel Faust von 1816 basierte auf den mittelalterlichen Legenden, nicht auf Goethes 1808 entstandenem Versdrama Faust, Teil. Eins.) Gerard de Nervals französische Prosaübersetzung von Faust, Erster Teil, erschien 1828-29; fast gleichzeitig komponierte Berlioz seine Huit Scènes de Faust, sein erstes veröffentlichtes Werk, das schließlich 1845 zum Kernstück seiner „dramatischen Legende“ La damnation de Faust werden sollte. Bertin scheint fast zur gleichen Zeit mit der Arbeit an Fausto begonnen zu haben und plante dessen Aufführung am Thèâtre-Italien im Jahr 1830, die jedoch um ein Jahr verschoben wurde. Zum Vergleich mit anderen, berühmteren Faust-Opern: Gounods Faust wurde erst 1859 uraufgeführt, Boitos Mefistofele neun Jahre später, 1868, also 37 Jahre nach Fausto.

Fausto ist auch insofern einzigartig, als es sich um eine Oper eines französischen Komponisten zu einem italienischen Libretto auf ein damals in Frankreich unbekanntes deutsches Werk handelt. Bertin hatte sie für das Thèâtre-Italien bestimmt, das Werke in italienischer Sprache und im Belcanto-Stil der damaligen Zeit aufführte. Rossini selbst war eng mit diesem Theater verbunden und wurde im Oktober 1831 dessen Direktor. Der Text von Fausto wurde zunächst von Bertin selbst auf Französisch verfasst und von Luigi Balocchi, dem Hauslibrettisten der Italiener, ins Italienische übersetzt.  In einer weiteren Verbeugung vor den italienischen Formaten komponierte Bertin ihr Werk als Opera semi-seria, die Elemente der Komödie in ein ansonsten ernstes Werk einbrachte.

Bertins Werk ist natürlich auch deshalb ungewöhnlich, weil sie eine Frau war. Sie war nicht die erste französische Frau, die eine Oper schrieb, aber 1831 war dies sicherlich ungewöhnlich, ein Novum, das alle zeitgenössischen Kritiker bemerkten, die sie nicht beim Namen nannten, sondern als „demoiselle“ bezeichneten.

Zu Louise Bertins „Fausto“: Henriette Méric-Lalande sang die Margarita (hier in Bellinis „Straniera“)/ BNF Gallica

Interessant ist, dass bei den verschobenen Aufführungen der Oper 1830 die Hauptrolle des Fausto mit einer Sängerin in Travestie besetzt wurde, vielleicht eine weitere Verbeugung vor der italienischen Operntradition. Offenbar sollte Rosmunda Pisaroni den Mezzo-Fausto spielen, aber als die Premiere um ein Jahr verschoben wurde, stand sie nicht mehr zur Verfügung und Bertin schrieb die Rolle für Domenico Donzelli, einen Tenor, um.  Für die moderne Wiederaufnahme beschlossen Palazzetto Bru Zane, zur ursprünglichen Partitur zurückzukehren und die Rolle des Fausto mit der Mezzosopranistin Karine Deshayes zu besetzen. Vermutlich war dies das erste Mal, dass die Originalfassung zu hören war.

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Das Libretto: Opernbesucher, die die Partitur heute hören, werden wahrscheinlich Bertins Libretto, wenn nicht ihre Musik, mit dem bekannten Text von Gounods Faust vergleichen, und sie werden sie überraschend ähnlich finden. Wie Gounods Librettisten Barbier und Carré etwa dreißig Jahre später konzentriert sich Bertin auf Faustos Pakt mit dem Teufel, um seine Jugend wiederzuerlangen, weil er sich zu Margarita hingezogen fühlt, einer attraktiven jungen Frau, die zu einer Waise geworden ist; auf ihre aufkeimende Beziehung und Mefistofele’s Werben um die matronenhafte Catarina (Marthe bei Gounod), um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, während Fausto Margherita umwirbt; Margheritas Scham, als sie von den Dorfbewohnern verspottet wird; die Entdeckung ihrer Verführung durch ihren Bruder Valentino und seine Ermordung durch Fausto mit Hilfe von Mefistofele; ihre Schwangerschaft und ihre Inhaftierung wegen Kindermordes; und ihre Erlösung, die sich gerade dann ankündigt, als Fausto verdammt wird.

Mit anderen Worten: Bertin reduziert Goethes vielschichtigen ersten Teil auf ein überschaubares Opernszenario, das den Erwartungen der Opernbühne seiner Zeit entspricht. Gounods Librettisten wurden lange Zeit dafür kritisiert, Goethes philosophische Ideen auf ein romantisches Opernmelodram zu reduzieren, aber Bertin verstand die Notwendigkeit, die Geschichte an die Formen anzupassen, die das Publikum auf dem Theater erwartete. Ihr Szenario erwies sich als haltbar.

Zu Bertins „Fausto“: Gèrard de Nerval (eigentlich Gérard Labrunie; 22. Mai 1808 in Paris; † 26. Januar 1855 ebenda) hatte 1826 Goethes „Faust“ ins Französische übersetzt/ Gravure von 1830/ Wikipedia

Könnte Bertins Libretto eine Vorlage für Gounods Librettisten Michel Carré gewesen sein, der ein populäres Theaterstück schrieb, das zur Grundlage für das Libretto wurde, das er und Jules Barbier für Gounod verfassten?  Die Ähnlichkeiten werden besonders deutlich, wenn man Fausto mit dem Libretto der ersten Fassung von Faust aus dem Jahr 1859 vergleicht, die Palazzetto Bru Zane 2018 aufgenommen hat und die am 14. Juni desselben Jahres im Théâtre des Champs-Élysées konzertant aufgeführt wurde. Diese erste Fassung, die Gounod für das Théâtre Lyrique schrieb, verwendet umfangreiche gesprochene Dialoge und füllt die Charaktere von Wagner und Dame Marthe aus; sie enthält auch ein gutes Stück mehr Komik als die revidierte Fassung mit begleiteten Rezitativen, an die wir gewöhnt sind – so wie Bertins Oper Semi-Seria viel von der Laune und sogar Komik bewahrt hatte, die in Goethes Mephistopheles zu finden ist.

Es gibt Unterschiede. In Fausto wird Margarita dem alten Fausto gleich zu Beginn vorgestellt, als sie ihn um Hilfe bei der Beschaffung eines Heilmittels für ihre kranke Gefährtin/Vormundin Catarina bittet, und nicht wie bei Gounod durch eine verlockende magische Vision von Méphistophélès.  Sie wird von den Nachbarn und den Frauen des Dorfes in einer Szene auf einem öffentlichen Platz verspottet und nicht von unsichtbaren Teufeln in der Kathedrale. Außerdem endet der erste Akt mit einer Szene, in der eine Hexe den Trank zubereitet, der Fausto verjüngt, anstatt dass Méphistophélès die Verwandlung einfach selbst vornimmt.

Kannten Carré oder Gounod das Libretto-Szenario von Bertin? Gounod hatte in den 1830er Jahren bei Anton Reicha studiert, der auch Bertins Lehrer gewesen war, und wurde von Berlioz beeinflusst, der Bertin nahe stand. Ob Bertins Fausto das Libretto von Gounod beeinflusst hat oder ob alle Librettisten bei der Bearbeitung von Goethes Stück für die Opernbühne nach einem ähnlichen Schema vorgegangen sind.

Es ist erwähnenswert, dass Bertins Libretto viel stärker auf Ensembles setzt als die Norm. Einzelne Arien, die mit einer zum Applaus einladenden Kadenz enden, werden vermieden, so dass wir ein Werk vorfinden, das kontinuierlicher oder durchkomponierter ist als die meisten Opern dieser Zeit. Obwohl wir Arien, Duette, Trios usw. unterscheiden können, scheint es nicht Bertins Absicht gewesen zu sein, einzelne Nummern, wie sie in der Belcanto-Oper üblich sind, zu komponieren.

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Die Musik: Das erste, was an der Musik überrascht, ist, dass sie nicht wie die italienische oder französische Opernmusik dieser Zeit klingt. Es ist eine viel symphonischere, orchestrale Partitur, als wir es 1831 gewohnt sind, und sicherlich germanischer, als man es in einer Oper der Belcanto-Komponisten finden würde.  Tatsächlich gibt es in dieser noch von Rossini dominierten Epoche nur ein einziges Stück, das nach ihm klingt, nämlich Valentinos Tenorarie „Ah! Mi batte il cor nel petto“ im dritten Akt.  Der musikalische Fluss der Oper wird eher durch kurze melodische Phrasen als durch lange, ohrwurmartige Kantilenen erzeugt, und die Orchestrierung ist „dick“, wie Alan Jackson es in einer Rezension der Donizetti-Gesellschaft ausdrückt. Die Musik klingt nicht nach Bellini, dessen La sonambula und Norma im selben Jahr (1831) entstanden, und auch nicht nach Meyerbeers bahnbrechendem Robert le diable, das ebenfalls aus dem Jahr 1831 stammt. Die zeitgenössischen Kritiken (die auf der Website des Palazzetto Bru Zane zusammengestellt sind) sind zwar gemischt, verweisen aber eindeutig auf die Neuartigkeit von Bertins Stil. In der Gazette nationale vom 8. März 1831 heißt es: „… zahlreiche Stücke, die … ein Gütesiegel echter Originalität haben“.  Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Komposition „souvent“ gehört werden muss, um sie voll zu würdigen.  Man könnte erwarten, dass das Journal des debats, das sich im Besitz von Bertins Vater befand, sich wohlwollend äußern würde, und das tut es auch. Es bietet eine ausführliche Rezension der Oper, in der auch die Geschichte detailliert erzählt wird, da 1831 nicht viele Franzosen mit Goethes Werk vertraut waren. In mehreren Rezensionen wird darauf hingewiesen, dass das neue Werk vom Publikum mit großem Beifall bedacht wurde. Charles Jernigan

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Zu Bertins „Fausto“: Konzert in Paris 2023 ( Karina Gauvin, Karine Deshayes, Christophe Rousset, Ante Jerkunica/ Foto Nico Schaumbourg/Palazzetto)

Gegenüber der  öffentlichen Aufführung im Juni 23 in Paris durch die Solisten und Les Talens Lyrique unter der Leitung von Christophe Rousset hat die neue CD beim Palazzetto deutlich gewonnen. Rousset ist ein Meister dieses Fachs nach langen Jahren im Barock. Seine Orchesterbehandlung ist durchsichtig und differenziert, kann aber die langen Strecken von Langeweile nicht verdecken. Man ahnt, warum dieses Werk kein Erfolg wurde. Zum Orchester (etwa 45 Spieler) gehörten eine Harfe, drei Posaunen und mehrere Hörner. Sie machen auch mal einen teuflischen Lärm!

Die Entscheidung, Bertins ursprüngliche Idee aufzugreifen und Fausto mit einem Mezzosopran zu besetzen, war richtig und interessant, aber ich würde das Werk gerne auch mit einem Tenor hören.  Karine Deshayes, die regelmäßig mit dem Palazzetto Bru Zane auftritt, wird in der Titelrolle im Laufe der Aufnahme (die beim Hören mit Kopfhörern deutliche digitale Löcher aufweist, es wurde doch recht viel korrigiert…) immer besser, mir vielleicht im Timbre zu reif, zu „fruchtig“ für eine Hosenrolle. .  Das Gleiche kann man von Karina Gauvin, einer Barockspezialistin, nicht sagen, die mir zu allgemein bleibt – leider versteht man selbst von diesen francophonen Damen nicht genug Text, was vielleicht auch kein wirklicher Verlust ist. Nico Darmanin, der Tenor Valentino, besitzt ein schönes Timbre und meistert seine Koloraturen mit Belcanto-Bravour hervorragend. Ante Herkunja brilliert als Teufel – eine ganze Höllenpracht! Marie Gautrot (Catarina), Diana Axentil (Una strega/Marta) und Thibault de Damas (Wagner) sind in kleineren Partien erfreulich, und der flämische Rundfunkchor leistete seinen erfreulichen Beitrag wie stets. Booklet und Beiträge (nur in französich und englisch, wobei die drei deuschsprachigen Länder Europas einen starken Markt abgeben und ich diese „nur“ zwei sprachen diskriminierend finde) sind informativ wie stets. G.H.

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Zu Bertins „Fausto“: Auch Mephisto wurde von einer Frau gegeben, hier in Schwerin 1979 Wolf-Dieter Lingk und Lore Tappe/ Foto Staatstheater Schwerin (auch das Theater Magdeburg folgte jüngst dem nach)

Pressestimmen zur Uraufführung: Gazette nationale, 8 mars 1831 [Fausto de Louise Bertin]: Es war ein sehr außergewöhnliches Spektakel, das das Interesse der Liebhaber stark erregte, dass eine junge Person es wagte, eine große musikalische Komposition zwischen die Meisterwerke des Italienischen Theaters zu stellen; ihr Versuch war erfolgreich; ihre Partitur bot zahlreiche Stücke von unbestreitbarem Wert, die einen echten Stempel der Originalität tragen. Diese Komposition gehört zu denjenigen, die oft gehört werden müssen, um würdig geschätzt zu werden.

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JOURNAL DE PARIS, 11 MARS 1831 [FAUSTO DE LOUISE BERTIN]: Es gibt Umstände, in denen die reine Wahrheit eine sehr harte Sache ist; in denen der gute Glaube, seine Gedanken zu äußern, eine so strenge Tugend ist, dass im Ausdruck die naive Einfalt hart klingt, die ruhige Diskussion wie eine bösartige Kritik und die unparteiische Darstellung wie ein feindseliger Bericht. Diese Überlegungen stellte ich an, nachdem ich die Musik von Fausto gehört hatte, die übrigens von einem Teil des Publikums, das der Uraufführung beiwohnte, mit großem Beifall bedacht wurde. Dieser Umstand ist an sich ziemlich gleichgültig und man kann es niemandem verübeln, wenn er guten Willen zeigt, denn gute Herzen sind so selten! In diesen feierlichen Tagen der Uraufführung muss man mit dem Lob von Freunden und dem Tadel von Rivalen rechnen und sich darauf einigen, dass die Wahrheit selten in diesen entgegengesetzten Reihen zu finden ist. Was mich betrifft, so schien es mir, dass Töne, die teils von Blasinstrumenten, teils von Streichinstrumenten erzeugt wurden, mit einer gewissen Unregelmäßigkeit aufeinander folgten; dass die Akzente, die der Komponist den Figuren in den Mund legte, eine große Affinität zur Arbeit des Orchesters hatten; und dass das gesamte Werk eine ziemlich unzusammenhängende Mischung aus seltenen Gesangsphrasen, Modulationen ohne bestimmten Zweck, zufällig zusammengewürfelten Rhythmen darstellte, alles beherrscht von einem allgemeinen Gefühl der jungen Unerfahrenheit. Diese Darstellung mag von Strenge geprägt sein; dies ist jedoch die Wirkung, die die zahlreichen, in Arien, Duette, Trios, Quartette, Chöre usw. usw. verteilten Takte, die in der Masse die drei Akte von Fausto bilden, auf den uninteressierten Hörer haben. Ich habe vor, mich in einem späteren Artikel einer etwas ernsthafteren Prüfung dieser Opera semiseria zu widmen. Ich möchte mich hier darauf beschränken zu sagen, dass sie einem Fräulein zugeschrieben wird und dass, wenn man diese Komposition nur unter dem Gesichtspunkt der Mittel und des Ergebnisses betrachtet, genug Überraschung entsteht, um sie zu einer Art Ruhm zu machen. Das Unternehmen war kühn und verdient mehr als nur Ermutigung. Die junge Muse kann ihre Stirn mit einem Kranz schmücken, den nur sie unter ihren Gefährtinnen tragen wird. Bevor dieser Kranz am Abend verwelkt, wird Miss ***, wie ich hoffe, einen anderen Kranz flechten und einige Unsterbliche darunter mischen können. […]

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Zu Bertins „Fausto“ Und auch für die Kids gibts den Faust als Frau (und japanische EMO)/ OBE

JOURNAL DES DÉBATS, 4 AVRIL 1831 [FAUSTO DE LOUISE BERTIN]: Die Saison unseres Italienischen Theaters endete mit dem Monat März. Der Direktor dieses Unternehmens gewährt den Amateuren eine Verlängerung um einen Monat; der Abschluss wird erst in den ersten Tagen des Mai stattfinden. Frau Meric-Lalande und Santini werden nach London berufen. Donzelli wird ein Engagement in Livorno erfüllen. Die Abreise dieser drei Virtuosen stoppt die Aufführungen von Fausto; die schönen Dinge, die diese Oper enthält, wurden von den Kennern geschätzt. Das Publikum, das eine besondere Vorliebe für Musik hat, die mit flinken Strichen und glänzenden Rouladen geschmückt ist, machte alle Zugeständnisse, die die Seltsamkeit des Themas und die dramatische Wahrheit erforderten. Fausto hatte vollen Erfolg, obwohl ihm das sicherste Mittel zum Erfolg fehlte. Das Unternehmen war kühn: Es ist selten, dass ein Autor zu Beginn seines Schaffens einen Weg einschlägt, der dem üblichen entgegengesetzt ist. Es ist ärgerlich, dass der Erfolg von Fausto auf diese Weise unterbrochen wurde und die Kämpfer sich trennten, als noch viele Lanzen zu brechen waren. Meyerbeers Crociato war nicht glücklicher: Dieser tapfere Ritter blieb in seinem Lauf stehen und sah sich gezwungen, den Umständen nachzugeben. Wenn die Handänderungssteuer Millionen in die Registrierungskasse spült, bringt sie die Opern in Unordnung und ruiniert die Autoren. Die drei Schauspieler, die Fausto, Mefistofele und Margarita darstellten, werden in einigen Tagen in einer einzigen Reihe in vierhundert Lieues Entfernung aufgestellt. Zwar könnte Mefistofele durch einen Trick seines Handwerks Fausto und Margarita zu Hilfe rufen; die Teufel haben lange Arme: Mefistofele müsste nur die seinen ausbreiten, und die beiden Flüchtigen würden bald wieder in die richtige Entfernung gebracht, um ein Trio zu singen. Aber die Zeit der Wunder ist vorbei; der Teufel hat gekündigt; er muss sich, wie wir, den Anordnungen der Theaterdirektoren beugen.

Bei der letzten Aufführung von Fausto wurden viele Nachlässigkeiten in der Aufführung bemerkt. Den Schauspielern fehlte in mehreren Szenen das Gedächtnis, die Chöre liefen schief und selbst das Orchester ist trotz des seltenen Talents und des ganzen Eifers seines Dirigenten nicht vor Vorwürfen gefeit. Trotz dieser Abweichungen wurde der so originelle Chor der Zauberer, das Trio, das Duett im zweiten Akt, die Arie der Margarita mit dem Oboensolo stark beklatscht, und Frau Méric-Lalande sprach mit ihrer gewohnten Verve die schöne Gefängnisszene.

Eine Frau, die es unternimmt, eine Oper wie Fausto zu vertonen, und die dies auf diese Weise tut, hat eine glänzende Zukunft vor sich, wenn sie, wie ich gerne glaube, ein besonderes Studium der Partituren der großen Meister betreiben will, um das zu erwerben, was ihr an Erfahrung auf der Bühne und im Orchester fehlt. (Quelle Palazzetto Bru Zane)

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Foto oben: die Schaupielerin Sarah Bernhardt als Hamlet – sie machte daraus eine notorische Berühmtheit/ Wikipedia. .Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hierG. H.

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Wer kennt Paul?

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Bühnenmusik steht im Mittelpunkt des nächsten Teils, bereits Vol. 6 der Paul Wranitzky gewidmeten Edition bei Naxos (8.574454). Mittlerweile ist es fast unnötig, die verantwortlich Zeichnenden, das Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter der Stabführung des Dirigenten Marek Štilec, zu erwähnen. Das eingespielte Team erzielt auch diesmal ausgezeichnete Ergebnisse bei diesen abermaligen Weltersteinspielungen.

Konkret sind diesmal Werke der Jahre 1795 bis 1797, gleichsam zum Höhepunkt des Wirkens Wranitzkys, berücksichtigt worden: Mit August von Kotzebues fünfaktiger Tragödie Die Spanier in Peru, oder Rollas Tod (1795) wird der Anfang gemacht. Es handelt sich um die Fortsetzung des beliebten Stücks Die Sonnenjungfrau und setzt die Geschichte um den berühmt-berüchtigten spanischen Konquistador Francisco Pizarro und die Eroberung des Inkareichs 1532/33 fort. Drei der fünf Ouvertüren zu den einzelnen Aufzügen sind inkludiert, wobei die Introduktion zum dritten Akt vom Komponisten als Adagio in seiner Sinfonie C-Dur op. 33 Nr. 2 (bereits erschienen auf Vol. 3) wie auch die für eine weitere Folge aufgesparte Einleitung zu Akt 5, die wiederum als langsamer Satz einer weiteren Sinfonie Neuverwendung fand, nicht willkürlich ausgelassen wurden. Hinzukommt ein durchaus hörenswerter Marsch. Nur wegen des Fehlens der beiden genannten Ouvertüren kommt diese Bühnenmusik lediglich auf gut 19 Minuten Spielzeit.

Von der Bühnenmusik zu Jolantha, Königin von Jerusalem (1797), einer Tragödie in vier Akten von Friedrich Wilhelm Ziegler, sind hingegen alle vier Akteinleitungen enthalten. Die fiktive Handlung ist in der Heiligen Stadt Jerusalem im Jahre 1135 angesiedelt. Neben dem Auftreten rivalisierender Brautwerber um die Hand der jungen Herrscherin spielen angreifende Sarazenen und die Wahl eines neuen Großmeisters des Templerordens eine Rolle. Tatsächlich hat Wranitzky auch Schlachtenlärm in die Ouvertüre zum zweiten Aufzug eingebaut. Ein Trauermarsch gedenkt der christlichen Opfer der Walstatt. Insgesamt wird der Komponist den religiösen, militärischen und dramatischen Erfordernissen der Bühnenhandlung gerecht. Die Spieldauer fällt hier 24-minütig aus.

Mit Achmet und Zenide (1796) tritt ein weiteres fünfaktiges Drama, dieses Mal von August Wilhelm Iffland, auf den Plan. Es spielt im Gouverneurspalast einer türkischen Provinz. Die Dreiecksbeziehung des Paschas, seiner Lieblingskonkubine und eines europäischen Besuchers sorgt für eine ereignisreiche Handlung. Freilich steht des Sujet damit unter dem Eindruck der seinerzeit sehr populären Türkenoper; der letzte Krieg Österreichs gegen das Osmanische Reich lag nur wenige Jahre zurück. Hier wurden tatsächlich alle fünf Ouvertüren der jeweiligen Aufzüge eingespielt. Gleichsam als Bonus ist der Marsch aus dem vierten Akt beigegeben, was zu einer Spielzeit von gut 25 Minuten führt. Die sinfonisch angelegte Konzeption Wranitzkys wird gerade bei dieser Bühnenmusik deutlich.

Es bleibt auch beim sechsten Male bei Worten des Lobes für die Ausführenden und die Tontechnik (aufgenommen im bewährten Haus der Musik zu Pardubice im Februar 2022). Das englischsprachige Booklet kommt gewohnt gediegen und ausreichend informativ daher. Man darf sich auf weitere Teile dieser bereits jetzt erfolgreichen Reihe freuen. Daniel Hauser

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Nun also der Rest. Die noch ausstehenden beiden Teile der Wranitzky-Reihe bei Naxos, Vol. 3 (8.574289) und Vol. 5 (8.574399), runden das großangelegte und begrüßenswerte Projekt auf dem gewohnten hohen Niveau ab. Wie könnte es anders sein, dass auch dort Marek Štilec und das Tschechische Philharmonische Kammerorchester verantwortlich zeichnen. Eingespielt wurde abermals im Haus der Musik in Pardubice (Juni/Juli 2020 und September 2021).

Im Mittelpunkt stehen in der dritten Folge der Serie jeweils zwei Ouvertüren und zwei Sinfonien, wobei ein Zeitraum von gut zehn Jahren (komponiert zwischen 1793 und 1804) abgedeckt wird. Während sich die zweiaktige Oper Die gute Mutter (1795) mit einem kurzen Vorspiel von kaum vier Minuten begnügen muss, stellte Wranitzky dem sogenannten Liederspiel Mitgefühl (1804) eine doppelt so lange Orchesterintroduktion voran. Das einaktige Werk stellt eine Unterart des Singspiels dar, in welches existierende Gedichte mit neuer Musik untermalt wurden und eine schlichte bäuerliche Geschichte darum gestrickt wurde. Beide Stücke repräsentieren den publikumswirksamen Stil des heute zu Unrecht vergessenen Komponisten.

Gewichtigeren Charakters sind naturgemäß die Sinfonien, wobei diejenige in C-Dur op. 33 Nr. 2 (1798), knapp 33-minütig, nunmehr die Drey grossen Sinfonien beschließt; die beiden anderen waren in Vol. 1 bzw. Vol. 2 enthalten. Die C-Dur-Sinfonie stellt eine Art Wiederverwertung zuvor komponierter Musik für die Bühne dar. Der Kopfsatz beruht auf der Ouvertüre zu Siri Brahe oder Die Neugierigen (1794), das darauffolgende Adagio auf dem Vorspiel zum dritten Akt von Die Spanier in Peru, oder Rollas Tod (1795) und das Finale schließlich auf der Ouvertüre zum Ballett Die Weinlese (1794). Lediglich das Menuett scheint komplett neu geschrieben worden zu sein. Bei der anderen hier inkludierten Sinfonie D-Dur op. 25 La Chasse (1793) begegnet der seit Haydn geläufige Typus der Jagd-Sinfonie, was durch die Hörner verdeutlicht wird. Ursprünglich waren keine Trompeten vorgesehen, doch fügte Wranitzky solche anlässlich einer Aufführung für Ferdinand III. von Toskana, der im Exil in Wien lebte, hinzu, wie im als La Caccia bezeichneten Schlusssatz auch eine große Kesselpauke (timpanone). Glücklicherweise entschied sich Štilec für diese reizvollere Fassung. Ebenfalls viersätzig, jedoch zehn Minuten kürzer, folgt in der Jagd-Sinfonie das Menuett an zweiter und der langsame Satz erst an dritter Stelle, was bereits in die Zukunft weist.

In der fünften Folge der Reihe steht die über 50-minütige Ballettmusik Das listige Bauernmädchen (zwischen 1795 und 1805) im Zentrum. Diese fand sich im Nachlass der musikbegeisterten Kaiserin Maria Theresia, gebürtiger Prinzessin von Neapel-Sizilien und zweiter Gemahlin Kaiser Franz‘ II., und umfasst eine attraktive Ouvertüre und 17 nachfolgende Nummern. Diese untergliedern sich in ländliche Tänze und komplexere Pantomimen. Hinzugesellt sich ein Marsch mit Cello-Solo (Solist: David Matoušek). Beschlossen wird das Werk festlich und fröhlich mit einer Contredanse.

Die beiden anderen auf der CD enthaltenen Stücke entstanden im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten anlässlich des Kaisergeburtstag des besagten Franz II. am 13. Februar 1803. Das Divertissement Vorstellungen dauert 17 Minuten und besteht nach einer kurzen Introduktion aus sechs weiteren Nummern. Eine szenische Darbietung ist absolut naheliegend, auch wenn sich kein Szenarium erhalten hat. Nach dieser Balletteinlage, die interessanterweise ruhig ausklingt, schloss sich mit dem sogenannten Quodlibet ein zweiter Teil an. Hieraus wählte Naxos die abschließende, neunminütige Contredanse zur passenden Abrundung des Ganzen. Dieser Kontratanz ist tatsächlich in mehrere Teile untergliedert, welche folgende Bezeichnungen tragen: Krankheit, Arbeit, Fröhlichkeit, Galopp, Laune, Lastthier, Bär und Beurtheilung. Fanfaren in D-Dur sorgen für einen festlichen Abschluss.

Die informative Textbeilage (auf Englisch) besorgte in beiden Fällen Daniel Bernhardsson. Eine geglückte Abrundung der Reihe und eine weitere diskographische Großtat hinsichtlich eines Komponisten der sogenannten zweiten Reihe. Daniel Hauser

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Mittlerweile bereits bei Vol. 4 angelangt ist man in der Reihe der Orchesterwerke des tschechischen Komponisten Paul Wranitzky (Naxos 8.574290). Abermals zeichnet die bewährte Kombination, bestehend aus dem Tschechischen Philharmonischen Kammerorchester Pardubice unter Dirigent Marek Štilec, verantwortlich und hält das gewohnte hohe Niveau, das durch idiomatischen Zugriff kennzeichnet ist, unterstützt durch den sehr gut eingefangenen Klang (Aufnahme: Haus der Musik, Pardubice, 13.-16. Juli 2020).

Diesmal steht die Musik zur Ballett-Pantomime Das Waldmädchen im Zentrum. Dieses Ballett, das am 23. September 1796 im Wiener Kärntnertortheater seine Premiere feierte, entwickelte sich rasch zum Publikumsliebling und erfuhr in den darauffolgenden Jahren über 130 Aufführungen (selbst Beethovens Geschöpfe des Prometheus lagen mit gerade 28 Vorstellungen weit abgeschlagen zurück). Für die Choreographie sorgte Giuseppe Traffieri. Die Popularität des Stoffes führte 1799 gar zu einer Romanadaption. Kammermusikalische Arrangements besonders des russischen Tanzes, einer Variation der Kamarinskaja, wirkten sich inspirierend auf andere Komponisten aus, darunter den genannten Beethoven, dessen Zwölf Variationen über den russischen Tanz aus Das Waldmädchen WoO 71 1797 entstanden. Die erste, 1800 vollendete Oper des blutjungen Carl Maria von Weber trägt gewiss nicht allein zufällig denselben Titel wie das Werk Wranitzkys. Noch in den 1870er Jahren war Das Waldmädchen nicht vergessen. Auf solch ungewöhnlich langanhaltenden Beliebtheitswerte deutet heutzutage freilich nicht mehr das Geringste hin, wofür schon der Umstand spricht, dass es sich hier tatsächlich um die Weltersteinspielung handelt. Die Handlung dreht sich um den polnischen Fürsten Floresky, der auf die als Kleinkind in den litauischen Wäldern ausgesetzte Azémia stößt, bei der es sich eben um das titelgebende Waldmädchen handelt. Der Fürst nimmt dieses auf sein Schloss mit, wo man sich an den Tanzkünsten der vermeintlich Wilden erfreut. Schließlich wird die wahre Identität des Waldmädchens enthüllt, welches sich als Prinzessin aus dem Hause Floresky entpuppt. Bereits zuvor hatte Fürst Lovinsky, der Bruder der Fürstin Floreska, Gefallen an Azémia gefunden. Am Ende hält Lovinsky um ihre Hand an, worauf die Verlobung der beiden von allen Anwesenden freudig gefeiert wird. Dem Charme, den diese liebliche Musik auch ohne die szenische Umsetzung ausstrahlt, kann man sich auch nach über zwei Jahrhunderten schwer entziehen und ist nun dankenswerter Weise in der Lage nachzuvollziehen, warum dieses Ballett einst so beliebt war.

Gleichsam als kleine Zugabe hat Naxos die Pastorale und Allemande beigesteuert, ein gerade sechsminütiges Stück, das Wranitzky für Maria Theresia von Neapel-Sizilien, die Gemahlin von Kaiser Franz II., schrieb. Tatsächlich hat sich das Werk einzig im Nachlass der Kaiserin erhalten. Die rustikal-dörfliche Pastorale imitiert einen Leierkasten, die Allemande gerät sehr tänzerisch und höfisch.

In der Summe also abermals ein gelungener Beitrag des Naxos-Labels zur Repertoire-Erweiterung der Hörerschaft. Daniel Hauser

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Wenige Monate nachdem Vol. 1 erschienen ist, folgt nun bereits Vol. 2 der Orchesterwerke von Paul Wranitzky bei Naxos (8.574255). Diesmal ist neben drei zwischen 1791 und 1798 entstandenen Sinfonien noch die Opernouvertüre Der Schreiner von 1799 inkludiert (sämtlich Weltersteinspielungen), die auch den Anfang macht. In ihrer Farbigkeit zeigt das nur gut vierminütige Stück den Komponisten auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Wiederum fühlt man sich zu Vergleichen mit Haydn, Mozart und Beethoven bemüßigt und muss letztlich doch eine eigenständige Tonsprache Wranitzkys konstatieren.

Die d-Moll-Sinfonie mit dem Titel La Tempesta entstand vor 1795, ist als einzige der hier enthaltenen Sinfonien bloß dreisätzig, mit knapp 28 Minuten aber trotzdem am längsten, was sowohl am gewichtigen Kopfsatz wie auch am titelgebenden Finale liegt (beides etwa elfminütig). Die Grundstimmung ist tatsächlich stürmisch und gemahnt an Mozarts Don Giovanni. Die drei Sätze erklangen als Teil der Bühnenmusik zum Schauspiel Die Rache, was ihren in den Ecksätzen ungemein theatralischen Charakter erklärt. Man ahnt bereits den nicht mehr allzu fernen Schritt zur Romantik.

Die vergleichsweise leichtgewichtige viersätzige Sinfonie A-Dur op. 16 Nr. 2 wurde 1791 veröffentlicht und stellt insofern das früheste auf der CD versammelte Werk dar. Ihre Grundstimmung ist von gänzlich anderer Natur, fröhlich und teils verspielt. Stilistisch ist sie noch stark an die Sinfonik Wranitzkys Mitte der 1780er Jahre angelehnt, absolut klassizistisch und ohne revolutionäre Anflüge.

Mit der charaktervollen Sinfonie F-Dur von 1798, ebenfalls viersätzig, wird diesmal die dritte Nummer des bereits aus Vol. 1 geläufigen op. 33 beigesteuert. Allein äußerlich überragt sie die A-Dur-Sinfonie, ist mit 23:30 Spieldauer fünfeinhalb Minuten länger. Schon durch die langsame Einleitung im Kopfsatz entsteht ein feierlicherer Charakter, der sich im Allegro-Teil fortsetzt, ohne ins Pompöse abzugleiten. Im langsamen Satz variiert Wranitzky Hans Georg Nägelis Freut euch des Lebens, ein beliebtes Volkslied von 1795; im Menuett folgen schließlich Variationen des populären Wiener Volksliedes O du lieber Augustin. Der Finalsatz steht in Sonatensatz-Rondo-Form und klingt in der Coda lebensbejahend und strahlend aus.

Wie bei der ersten Folge kam auch diesmal das Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter Marek Štilec zum Zuge. Die präsent und klar klingenden Einspielungen entstanden wie zuvor im Dukla Kulturhaus in Pardubice in der Tschechischen Republik (25.-29. November 2019). Die nur englischsprachige Booklet-Beigabe ist recht spartanisch, aber ausreichend. In Sonderheit die d-Moll- sowie die F-Dur-Sinfonie machen diese Neuerscheinung besitzenswert. Daniel Hauser

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Dem ging die Rezension der ersten CD voran: Der im k. k. Mähren als Pavel Vranický geborene tschechische Komponist, der zwischen 1756 und 1808 lebte, galt als eine der wichtigen Gestalten der Wiener Klassik, obwohl er heutzutage nahezu vergessen ist. Auch als Dirigent erlangte er großen Ruhm, wurde 1785 Konzertmeister des kaiserlichen Hofopernorchesters in Wien und übernahm 1795 die Direktion der Wiener Hofoper im Theater am Kärntnertor. In der zweiten Hälfte der 1790er Jahre galt er in Wien als der fraglos wichtigste Sinfoniker, also in der Zeit, als Haydn keine Sinfonien mehr schrieb und Beethoven noch nicht am Start war.

Naxos startet nun eine neue Reihe mit seinen Orchesterwerken. Den Anfang macht Vol. 1 (Naxos 8.574227), welches zwei Sinfonien, zwei Ouvertüren und eine Serenade enthält. Verantwortlich zeichnet einmal mehr das bewährte Tschechische Philharmonische Kammerorchester Pardubice unter der Stabführung von Marek Štilec. Tatsächlich handelt es sich sämtlich um Weltersteinspielungen, welche die doch sehr überschaubare Wranitzky-Diskographie ergänzen. Im Mittelpunkt steht ohne Frage die auch historisch interessante, knapp halbstündige Grosse Sinfonie bei Gelegenheit der Erhebung Franzens zum Deutschen Kaiser C-Dur op. 19, die anlässlich der Wahl von Franz II. zum (letzten) Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1792 entstand.

Paul Wranitzky/ wranitzky.com

Paukenstark und mit Fanfaren entfaltet sie, gemessen an der Entstehungszeit, durchaus imperialen Glanz. Etwas später, nämlich 1798, wurde die etwa gleichlange Sinfonie B-Dur op. 33 Nr. 1 veröffentlicht, zusammen mit zwei weiteren. Sie ist etwas leichtgewichtiger. Anklänge sowohl an Haydn wie auch an Mozart sind unverkennbar. Besonders der Schlusssatz lässt an ersteren denken. Die restlichen auf der Compact Disc enthaltenen Stücke entstanden zwei im selben Jahre 1794 entstandenen Opern. Zum einen die Ouvertüre zu Die Poststation, zum anderen die Ouvertüre sowie die dreiteilige Serenade aus dem zweiten Akt von Das Fest der Lazzaroni, alles jeweils etwa fünfminütig. Musikalisch am innovativsten wohl die letztgenannte Ouvertüre, in welcher mittels Piccoloflöten heulender Wind und mit einem sogenannten Timpanone Donnergrollen dargestellt wird. Hier fließt unverkennbar auch der Einfluss Glucks mit ein. Entstanden sind die Aufnahmen von 25. bis 28. November 2019 im Dukla Kulturhaus Pardubice in Tschechien; am Klang gibt es nichts zu beanstanden. Das Beiheft (nur auf Englisch) fällt Naxos-typisch recht mager aus. Eine hübsche, nicht weltbewegende Repertoireerweiterung in sehr gediegener Präsentation. Daniel Hauser

Félicien Davids „Lalla-Roukh“

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Während Halevys Shakespeare-Oper La tempesta nicht überzeugen konnte, brachte Davids Lalla-Roukh dem 71. Festival von Wexford 2022 die Ehre zurück. Es ist schwer zu verstehen, warum dieses Werk, das so voller kontinuierlicher und einprägsamer Melodien ist, nicht zum Standardrepertoire gehört, und doch war Wexfords Produktion erst die zweite Wiederaufnahme in der Neuzeit und die erste in Europa. Die erste Wiederaufnahme erfolgte durch die amerikanische Opera Lafayette, die Lalla-Roukh 2013 in Washington und New York aufführte; bei einer späteren CD-Aufnahme bei Naxos dieser Aufführung wurden alle gesprochenen Dialoge gestrichen, die von der frankophonen Besetzung in New York gekonnt vorgetragen worden waren. G. H.

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Dazu zum einen die Rezension der bislang erstmaligen europäischen Aufführung aus Wexford 2022 von Charles Jernigan, zum anderen und zuvor den einführenden Artikel Ralph P. Locke zur Oper anlässlich der Erstaufnahme bei Naxos von der Opéra Lafayette unter Ryan Brown 2013, den wir mit Dank dem Booklet zur Einspielung entnahmen.

Ralph P. Locke: Felicien David (1810-1876) Lalla Roukh. Die Literatur und die Künste reagierten auf dieses wachsende Bewusstsein für die fernen Länder und Kulturen mit einer Flut von Romanen, Kurzgeschichten, Theaterstücken, Gemälden und Buchillustrationen, die alle vorgaben, ein Gefühl für das Leben im „Osten“ (oder „Orient“) zu vermitteln – ein Begriff, der damals alle Länder der riesigen Region von Nordafrika, der Türkei und der arabischen Halbinsel bis nach Südasien, China und Japan umfassen konnte. Museumsbesucher können diese Faszination heute dank der lebendigen Gemälde – von Ingres, Delacroix und anderen – von Haremsfrauen und arabischen Häuptlingen nachvollziehen. Selbst wenn Schriftsteller und Maler die Länder, die sie darstellten, nicht persönlich kannten, fühlten sie sich oft frei, die extravaganten Fabeln zu imitieren, die sie in Tausendundeiner Nacht (erstmals 1707-14 übersetzt) gelesen hatten, Fabeln, die zwar auf Arabisch geschrieben waren, aber manchmal in weiter östlich gelegenen Ländern wie Persien oder Indien spielten.

Davids „Lallah-Roukh“: Bühnenbild zuu Uraufführung/Wikipedia

Die Opernwelt, insbesondere die französische, beteiligte sich aktiv an diesem Trend, „den Orient“ für den westlichen Konsum darzustellen. Georges Bizet basierte seinen exquisiten Einakter Djamileh (1872) auf einer Haremserzählung von Alfred de Musset. Leo Delibes‘ faszinierendes Lakmé (1883) beschreibt die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung zwischen einem englischen Soldaten und der Tochter eines Brahmanenpriesters. („Lakmé“ war vermutlich eine Vereinfachung des gängigen indischen Frauennamens Lakshmi).

Einer der Pioniere des „musikalischen Orientalismus“, wie er manchmal genannt wurde, war Felicien David. Der schüchterne Musiker aus dem Dorf Cadenet in der Nähe von Aix-en-Provence war mit Anfang zwanzig als Mitglied der Saint-Simonian-Bewegung in die Türkei und nach Ägypten gereist, einer frühen sozialistischen (oder „utopisch-sozialistischen“) Bewegung – etwa zeitgleich mit den Fourieristen und den Oweniten -, die versuchte, den Vizekönig von Ägypten davon zu überzeugen, einen Kanal durch die Landenge von Suez zu schlagen. Die Saint-Simonisten argumentierten, dass ein verbesserter Handel zwischen den Nationen eine größere gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Völkern schaffen würde, was wiederum Spannungen abbauen und Kriege verhindern würde. (Das Kanalprojekt wurde schließlich drei Jahrzehnte später von einem internationalen Konsortium aus Regierungen und Banken verwirklicht).

David: „Lalla-Roukh“/ Frontespiece zum  Walzer aus der Oper als Klavierauzug in New York/Wikipedia

Nach der Rückkehr der Missionare aus Saint-Simon nach Frankreich begann David, Klavierstücke und Lieder zu veröffentlichen, die auf Melodien und Trommelrhythmen basierten, die er im Nahen Osten gehört hatte. Im Dezember 1844 machte er in der Pariser und internationalen Musikpresse Schlagzeilen mit der Uraufführung von Le desert, einem weltlichen Oratorium mit gesprochener Erzählung, das eine arabische Karawane, den vom Wind verwehten Wüstensand und die Wonnen der Nacht in einer Oase beschreibt. Le desert ist erst kürzlich durch den Mitschnitt einer Live-Aufführung in Berlin (1989) wieder in das Bewusstsein des musikbegeisterten Publikums gerückt (dazu auch den Artikel in operalounge.de im Rahmen der „Vergessenen Oper“).

Felicien David ließ Le desert weitere Werke folgen, die an Orte erinnern, die im Westen eher als exotisch empfunden werden. Dazu gehören zwei biblische Oratorien (das eine handelt von Moses auf dem Sinai, das andere von Adam und Eva im Garten Eden); ein Werk – wiederum mit gesprochener Erzählung – über Christoph Kolumbus‘ erste Reise in die Karibik (es enthält einen „Tanz der Wilden“ und ein Wiegenlied, gesungen von einer reinen Indianerin); und La perle du Bresil, dessen Hauptfigur eine Eingeborene aus Südamerika ist, die sich in einen portugiesischen Seemann verliebt. Davids nicht exotische Instrumentalwerke – vor allem mehrere Klaviertrios, Streichquartette und kurze Stücke für Streichquintett – wurden vor kurzem mit großem Erfolg in Konzerten und auf Tonträgern wiederaufgenommen. Aber das wohl stärkste seiner Werke ist eine andere exotische (oder spezifisch „orientalistische“) Oper, Lalla Roukh (1862), die dank der Opera Lafayette nun zum ersten Mal seit vielleicht einem Jahrhundert oder mehr wiederaufgeführt wird.

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David: „Lalla-Roukh“/Emma Calvé im Kostüm der Titelheldin/Wikipedia

Lalla Roukh, benannt nach ihrer Hauptfigur, basiert auf einem viel gelesenen literarischen Werk, Lalla Rookh, des irischen Dichters (und Freund von Lord Byron) Thomas Moore. Die Rahmenhandlung in Moores Buch ist eine Prosaerzählung über eine mogulische – also muslimische – Prinzessin aus Delhi, die nach „Bucharia“ (Buchara, im heutigen Usbekistan) reist, um den Mann zu treffen, mit dem sie verheiratet werden soll. Auf dem Weg dorthin singt ihr ein Minnesänger namens Feramorz vier bemerkenswerte Geschichten vor und gewinnt nach und nach ihre Liebe. (Moore hat diese vier Geschichten nicht in Prosa, sondern in Versen verfasst.) Am Ende der Reise erfährt die Prinzessin zu ihrer Freude, dass Feramorz in Wirklichkeit der verkleidete König von Bukarien ist. Moore stellt abschließend fest, dass der König, der ihre Liebe als einfacher Minnesänger gewonnen hatte, es nun verdiente, sie als König zu genießen“, und fügt hinzu, „dass die entzückte Lalla Rookh in Erinnerung an ihre gemeinsamen Reisen den König nie bei einem anderen Namen als Feramorz nannte“.

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Robert Schumann hat eine der vier Erzählungen des Buches als Grundlage für sein Oratorium Paradies und die Peri (1843) verwendet. Die Librettisten von Lalla Roukh, Michel Carre und Hippolyte Lucas, entschieden sich stattdessen dafür, die grundlegende Prosaerzählung der Prinzessin und des Minnesängers zu adaptieren; sie benannten die letztgenannte Figur in Noureddin um und entfernten jede Erwähnung des Islams und der Moguln, wodurch sie die Handlung aus der jüngeren Geschichte herauslösten und ihr eher einen märchenhaften Charakter verliehen. (Der Kämmerer Baskir beschwört mehrmals Brahma und gibt sich damit eindeutig als gläubiger Hindu zu erkennen.) Lalla Roukh wurde 1862 in Paris (an der Opera Comique) uraufgeführt. Es wurde sofort als ein Höhepunkt in Davids abwechslungsreicher Karriere anerkannt und erreichte in weniger als einem Jahr hundert Aufführungen. Eine Musikzeitschrift berichtete, dass der Klavierauszug, der in einer Auflage von 1000 Exemplaren erschien, bereits am ersten Morgen ausverkauft war.

„La perle du Brésil“/Poster für die Oper von David/OBA

Kein anderes Stück aus Lalla Roukh erlangte jemals den dauerhaften Ruhm von „Charmant oiseau“, einer Arie mit Flötenobligato (aus La perle du Bresil), die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von vielleicht einem Dutzend berühmter Sopranistinnen aufgenommen wurde, darunter Luisa Tetrazzini, Emma Calve, Mado Robin und in jüngerer Zeit Sumi Jo. Doch die Partitur von Lalla Roukh ist mit Juwelen gespickt. Häufig bewundert wurden seinerzeit die Nummern mit dem mehr oder weniger komischen „zweiten Paar“: Mirza, Lalla Roukhs Diener, und Baskir, der pompöse und hinterhältige Kammerherr des Königs von Buchara. Baskir erhält zwei melodiöse Strophenlieder, in denen er seinem Ärger („De pres ou de loin“ (CD 1 4)) und später seiner Angst („Ah! funeste ambassade (CD 2 5)) Luft machen kann. In ähnlicher Weise erhält Mirza eine Reihe attraktiver Strophenpaare (Baskir wird als alt und dumm verspottet: „Si vous ne savezplus charmed“. (CD 1 0)).

Besonders bezaubernd ist ein komisches Duett („Tout ira bien demain“ (CD 2 7)) für Baskir und den Minnesänger Noureddin, in dem die beiden einen Plan entwickeln – und darüber lachen -, um den großen König von Buccharie zu überlisten. Da Noureddin in Wirklichkeit eben dieser König ist, ist der wahre Betrüger Baskir, der sowohl dem Publikum als auch seinem (unerkannten) Meister wie wenig vertrauenswürdig er ist. Opernliebhabern mag die generelle Ähnlichkeit zwischen diesem Duo-Bouffe und einem der wunderbarsten komischen Ensembles der gesamten Oper auffallen: dem Quintett des zweiten Aktes in Bizets Carmen (1875) für die Titelfigur und die vier Zigeunerschmuggler („Nous avons en tete une affaire“). Beide Nummern enthalten einen kontrastierenden langsamen Mittelteil, der die Rückkehr der schnellen Eröffnungsmusik (mit im „Patter“-Stil gesungenen Worten) noch atemloser klingen lässt als zuvor. Bizet war sicherlich vertraut mit

Davids Werk vertraut. Die Ähnlichkeit könnte jedoch eher darauf zurückzuführen sein, dass sich beide Komponisten an den Normen der französischen komischen Opern und Operetten zeitgenössischer Komponisten wie Auber und – ab den 1850er Jahren – Offenbach orientierten.

David: „Lalla-Roukh“/Illiustration von David selbst und das Frontespiece zur Ausgabe seiner Oper/Wikipedia

Vielleicht neidisch auf die Aufmerksamkeit, die David immer wieder erhielt, wurde Auber mehrmals mit den Worten zitiert: „Ich wünschte, er würde von seinem Kamel herunterkommen!“ Mit anderen Worten: Gibt es in David mehr als sanfte Beschwörungen von fernen, halb erdachten Schauplätzen? Die vielen Stärken von Davids großer Oper Herculanum (1859, im alten Rom angesiedelt und beim Palazzetto Bru Zane als CD erschienen) sind eine klare Antwort auf Aubers Spott. Aber das gilt auch für die bereits erwähnten effektvollen komischen Nummern in Lalla Roukh, von denen keine im musikalischen Stil exotisch ist.

Das Gleiche gilt für die beiden bemerkenswerten Arien der Titelfigur, die jeweils zu Beginn des jeweiligen Aktes stehen: Sous le feuillage sombre“ (CD 1 3) und „O nuit d’amouf“ (CD 2 2). Die melodischen Linien in diesen beiden Sopranarien sind so schön geformt und so geschickt harmonisiert und orchestriert, dass man sich fragt, warum sie noch nicht den Weg in Arienkonzerte und -aufnahmen gefunden haben. Die emotionale Tiefe von Davids Prinzessin aus Delhi wird hier anschaulich dargestellt und lässt uns an ihrem Schicksal teilhaben. Besonders hinreißend ist die eröffnende Gesangsmelodie der ersten Arie: Auf eine fünftaktige Phrase folgt eine siebentaktige Phrase, die die Unkonventionalität der Prinzessin, aber auch ihre Unruhe andeuten soll. Das Unbehagen von Lalla Roukh ist verständlich: Sie ist einem fremden König versprochen, den sie nie kennengelernt hat, und wird sich allmählich eines einsamen, wortgewandten Mannes bewusst, der Nacht für Nacht in ihrer Nähe süß singt. Die zweite melodische Phrase ihrer Arie dehnt sich über den ersten Taktschlag hinaus – „mes yeux ont pu le voir“ – und lässt die Musik weiterfließen, als wolle sie ihre innere Sehnsucht signalisieren.

David: „Lalla-Roukh“/Buchwerbung für den Roman von Moore/Danaorg

Der aufrichtige, liebevolle Mann, der Lalla Roukh ein Ständchen bringt, ist natürlich Noureddin (d. h. der König von Buchara). Vielleicht weil er sich so sehr bemüht, wie ein Inder von bescheidener Herkunft zu klingen, gibt ihm der Komponist ein Gesangssolo, das mit auffälligen pseudo-östlichen Anklängen versehen ist, die typisch für französische Werke dieser Zeit sind, die im Nahen Osten, in Zentralasien oder in Indien spielen. Diese Romanze, „Ma maftresse a quitte la tente“ (CD 1 9) – aufgeführt von

Noureddin auf Anweisung von Lalla Roukh – dient als Kernstück eines ausgedehnten Szenenkomplexes in der Mitte des 1. Aktes (im 2. Akt wird Noureddin eine nicht weniger attraktive Barcarolle singen: uO! ma mattresse? (CD 2 6).) Wir können diesen exotischen Stil – mit seinen schnellen, trommelähnlichen Rhythmen auf dem Abwärtsschlag, seinen lang ausklingenden Pedaltönen (auf der Tonika, der Dominante oder einer offenen Quinte) und seiner dekorativen Verwendung chromatischer Bewegungen (hier dem Orchester zugewiesen) – als ein identifizierendes musikalisches Merkmal der Unterschicht (oder der niedrigen Kaste) des Ostens betrachten. Viele der gleichen stilistischen Merkmale finden sich in dem klangvollen Chor für die Sklaven der Prinzessin, die das Abendmahl servieren, der dieselbe Szene einleitet und beendet („Voici le repas du soi?“ (CD 1 5)). Einige der gleichen exotischen Elemente tauchen auch in den Ballettnummern des 1. Aktes auf. Hier werden die unaufhörlichen Trommelrhythmen durch Tamburine unterstrichen, und manchmal werden eigenartige melodische Phrasen einer Solo-Oboe zugeordnet, als ob sie ein „nasal“ klingendes Instrument wie die Schlangenbeschwörer des Nahen Ostens und Indiens imitieren sollten, die zu jener Zeit oft gezeigt wurden.

David: „Lalla-Roukh“/Figurine zur Uraufführung/Wikipedia

„Orientalische“ Züge tauchen wieder in der Orchesterbegleitung eines Abschnitts des Liebesduetts für Lalla Roukh und Noureddin auf (bei den Worten „Charmante vallee, de fleurs etoilee“ (CD 1 !): Bezauberndes Tal, mit Blumen übersät). Die „Entscheidung“ des Orchesters, der von Lalla Roukh gesungenen und dann von Noureddin wiedergegebenen Musik diese Färbung hinzuzufügen, verkündet, dass diese beiden Menschen trotz oberflächlicher Unterschiede Seelenverwandte sind, und deutet an, dass Lalla Roukh schließlich die Kraft finden wird, der Welt ihre Liebe zu dem bescheidenen Sänger der Märchen zu erklären. Das kunstvolle Duett wird mit einer kraftvollen Erklärung Noureddins zu den Worten „Ah! je ne suis, helas, qu’un pauvre poete“ (Ach, ich bin nur ein armer Dichter!) fortgesetzt. Noureddins Melodie ähnelt hier Melodien, die Donizetti einigen seiner Tenorhelden zugewiesen hat (z. B. Edgardos letzte Cabaletta in Lucia di Lammermoor „Tu che a Dio spiegasti gl’ali“). Vermutlich wollte der Komponist damit die aufrichtige Hingabe Noureddins an diese Frau betonen, die – wie er behauptet – weit über seinem bescheidenen Stand steht. Wenn Noureddins erstes Solo ihn als einen „Orientalen“ aus einer niedrigeren Kaste auswies, so hilft uns dieser temperamentvolle Schrei italienischer dolore zu spüren, dass er – d. h. der König in der Verkleidung des Spielmanns – voll und ganz verdient.

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David: „Lalla-Roukh“/Buchillustration aus der Ausgabe von Thomas Moores Roman Paris 1886/Doverpress

Dass Davids Oper an einem magischen Ort spielt, wird durch die Musik verdeutlicht, die sofort erklingt, wenn sich der Vorhang hebt. Ebenso wie die Bühnenbilder und Kostüme (in der ursprünglichen Inszenierung gehörten dazu eine gemalte Kulisse mit Gipfeln des Himalaya und, was noch merkwürdiger ist, Bananenstauden), erzeugt auch Davids Musik den Eindruck einer fernen Andersartigkeit – wiederum ohne exotische musikalische Mittel. Die Diener der Prinzessin staunen über das fruchtbare Land, in dem sie, müde von der Reise, übernachten können („C’est ici le pays des roses“ (CD 1 2): Hier ist das Land der Rosen“), und ihre Melodie, die so anmutig und formschön ist wie jede in der leichten Oper des 19. Jahrhunderts, entführt uns in die besondere, halb imaginäre Welt, die Moore und die Pariser Librettisten erdacht haben.

In diesem geheimnisvollen Land hielten sich Davids Zeitgenossen gerne auf. Den Opernliebhabern von heute geht es vielleicht genauso. Lalla Roukh hat viel zu lange darauf gewartet, wiederentdeckt zu werden. Leon Durocher, der die erste Inszenierung in der Revue etgazette musicale de Paris besprach, hatte absolut Recht: „Alles an ihr ist fein, vornehm, edel und elegant. Die Melodie fließt reichlich, und die Harmonie ist immer einfach und natürlich, aber nie banal. Die Orchestrierung breitet geniale und prächtige Farben vor unseren Augen aus (sozusagen)“. Welch eine Freude, diese Oper aus den verstaubten Regalen zurückzuholen, in die sie zu lange verbannt warRalph P. Locke

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Den Artikel von Ralph P. Lockes entnahmen wir mit Dank aus der Naxos-Aufnahme der Oper von 2013/8.660338-39;  übersetzt durch DeepL/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Und nun Charles Jernigan zur Aufführung der Oper in Wexford 2022: Lallah-Roukh balanciert die Liebesgeschichte mit einer Reihe von komischen Figuren aus: dem Botschafter, der die Prinzessin nach Samarkand bringen soll, Baskir (ein Bass) und der Hofdame der Prinzessin, Mirza.  Die Musik ist üppig und melodiös und geschickt instrumentiert.  Die „orientalische“ Atmosphäre wird durch den Einsatz bestimmter Instrumente und Harmonien erreicht, wobei keine authentischen indischen oder persischen Melodien verwendet werden.  Es ist schwer zu verstehen, warum eine Oper, die einst so beliebt war, nach 1900 so schnell und vollständig von der Bildfläche verschwand, obwohl sie in den letzten 40 Jahren des 19.

Lalla Roukh war auch sehr einflussreich, da sie praktisch die erste der „orientalischen“ Opern war.  Man kann Bruchstücke davon in Berlioz‘ Les Troyens (Berlioz war voll des Lobes über das Werk), in Les pêcheurs des perles und Carmen sowie in Lakmé hören.  Wenn Davids Werk überhaupt überlebt hat, dann nur durch die Werke anderer, bekannterer Komponisten.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Wexfords Inszenierung, wie auch die der Opera Lafayette vor einem Jahrzehnt, trug der lautstark geäußerten Kritik Rechnung, dass „orientalische“ Opern Artefakte des Kolonialismus seien (???) und verbannt werden sollten (sogar Madama Butterfly!). Die Musik bietet jedem Hauptdarsteller eine Arie in jedem Akt.  Die beiden Arien der Lalla Roukh sind erstaunlich abwechslungsreich und schön: „Sous le feuillage sombre“ und „O nuit d’amour“.   Noureddin, der Minnesänger-König, singt im ersten Akt eine Romanze in typischer Couplet-Form („Ma maitresse a quitté la tente“), um die Prinzessin zu unterhalten, und im zweiten Akt singt er außerhalb der Bühne eine Barcarolle („O, ma maitresse“), ein äußerst charmantes Stück, das sicherlich von Ernestos Serenade in Donizettis Don Pasquale inspiriert wurde.  In beiden Akten gibt es Duette, und eines davon, ein komisches Duett zwischen Baskir und Noureddin, in dem ersterer darüber lacht, wie er den König überlisten wird, ohne zu wissen, dass er dem König in Verkleidung gesteht, könnte uns an das Schmugglerquintett in Carmen (1875) erinnern, würde aber die frühen Zuhörer von Carmen an Lalla-Roukh erinnern.  Das Liebesduett im zweiten Akt endet mit einem Abschnitt, der Ralph Locke, einen Musikwissenschaftler, der über David geschrieben hat, an Edgardos „Tu Che a Dio spiegasti l’ali“ in Lucia di Lammermoor erinnert. In Davids Händen sind all diese Nummern von einzigartiger Schönheit und suggestiver Wirkung.

Davids „Lallah Rouk“ in Wexford 2022/ Szene/ Foto Clive Barda

Gabrielle Philiponet, ein hervorragender französischer lyrischer Sopran mit einem kraftvollen unteren Register, führte die Besetzung an. Sie war eine wunderschöne und ausdrucksstarke Lalla Roukh, die das Märchen im Märchen überzeugend spielte. Pablo Bemsch, Mitglied des Young Artist Program am Covent Garden, war ihr Nourreddin, der Barde, der in Wirklichkeit ein König war. Seine Stimme war sanft im französischen Stil und hätte für die zarten Melodien, die er singt, ein wenig süßer sein können, aber auch er war überzeugend. Ben McAteer sang und spielte die komische Rolle des Baskir mit viel Humor und einer Stimme, die der Aufgabe leicht gewachsen war. Die vierte bemerkenswerte Rolle ist Mirza, der Diener von Lalla Roukh, dessen Duett mit Lalla an das Blumenduett aus Lakmé erinnert, das zwanzig Jahre später erscheinen wird. Die Mezzosopranistin Niamh O’Sullivan spielte die Rolle mit Bravour. Der bekannte Schauspieler Lorcan Cranitch gab den Erzähler mit gutem Humor und anrührender Empathie. Emyr Wyn Jones und Thomas D. Hopkinson spielten die Nebenrollen von Bakbara und Kaboul gekonnt. Stephen White dirigierte mit absoluter Überzeugung und einem Gespür für die hinreißenden Melodien.  Der Wexford Festival Opera Chorus wurde in seinen wilden, zirkusähnlichen Kostümen zu Individuen. Charles Jernigan/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

Nachrichten

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HERE IS THE PROGRAMME  OF THE ROSSINI OPERA FESTIVAL 2024
During the second ROF Talks 2023, the programme of the 45th edition of the Rossini Opera Festival was announced. The Festival, which will take place in the year that Pesaro will be the Italian Capital of Culture, will offer five operas for a total of thirty performances from August 7th to 23rd 2024. A new production of Bianca e Falliero, directed by Roberto Abbado and staged by Jean-Louis Grinda, will open the festival. The opera has been absent from the ROf since 2005. It will be followed by another new production, Ermione, conducted by Michele Mariotti and directed by Johannes Erath. The title has not been performed at the Festival since 2008.

Two operas will be revived: L’equivoco stravagante, created for ROF 2019 by Moshe Leiser and Patrice Caurier and directed by Michele Spotti, and Il barbiere di Siviglia by Pier Luigi Pizzi, created for ROF 2018 and this time directed by Lorenzo Passerini.

The festival will close with the celebration of the 40th anniversary of the first modern performance of Il viaggio a Reims, with Diego Matheuz conducting.

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Klaus Heymann als Kommandeur des Rio-Branco-Ordens ausgezeichnet. Hongkong, 26. Juni 2023: Klaus Heymann, Gründer und Geschäftsführer der Naxos Music Group, wurde von der brasilianischen Regierung mit dem Auszeichnung „Kommandeur des Rio-Branco-Ordens“ für seinen Beitrag zum klassischen Musikerbe Brasiliens durch die preisgekrönte Reihe „The Music of Brazil“ des Plattenlabels Naxos geehrt.
„Als ich jung war, war Brasilien das Land meiner Träume, und ich hatte vor, auszuwandern und dort zu leben.“ Der Traum, in Brasilien zu leben, wurde nicht Wirklichkeit, aber das Interesse an dem Land blieb. „Die brasilianische Musik muss in der Welt mehr gehört werden. Die Musikverlage, die die Werke der großen Komponisten kontrollieren, müssen sich stärker dafür einsetzen, dass die Musik aufgeführt wird. Und wir brauchen mehr brasilianische Musikerinnern und Musiker auf internationaler Ebene, die dazu beitragen können, die Musik des Landes bekannt zu machen“, betonte Heymann, der das Projekt vom ersten Moment an befürwortete.

Botschafter Manuel Innocencio de Lacerda Santos Jr, brasilianischer Generalkonsul in Hong Kong and Macau und Klaus Heymann/ Naxos

In Anerkennung des Engagements von Herrn Heymann und seiner Bemühungen, die klassische Musik Brasiliens einem weltweiten Publikum vorzustellen und zu fördern, hat der Generalkonsul Brasiliens in Hongkong und Macau, Botschafter Manuel Innocencio de Lacerda Santos Jr., Herrn Heymann letzte Woche die Insignien des Ordens verliehen. Der Orden von Rio Branco zeichnet verdienstvollen Einsatz und bürgerliches Engagement aus, indem er zu Handlungen und Taten anregt, die einer ehrenvollen Erwähnung würdig sind. Zu den früheren Empfängern gehören Laurindo Almeida, Ryuichi Sakamoto, Toots Thielemans und Ban Ki-moon. Generalkonsul Lacerda Santos Jr. sagte: „Im Namen der brasilianischen Regierung und des brasilianischen Volkes gratuliere ich Herrn Heymann zur Verleihung des Ordens „Kommandeur des Rio-Branco-Ordens“, einer der höchsten Auszeichnungen, die Brasilien an einen ausländischen Bürger vergeben kann. Wir feiern nicht nur seine außergewöhnlichen Leistungen, sondern danken ihm auch von ganzem Herzen für seinen unschätzbaren Beitrag zur kulturellen Bereicherung unserer Gesellschaft. Diese Anerkennung zeugt von seinem unerschütterlichen Engagement für die Künste, seinem unermüdlichen Einsatz für die Förderung des kulturellen Verständnisses und seiner tiefen Wertschätzung für das klassische Musikerbe Brasiliens. Er ist ein Beispiel dafür, wie ein einzelner Mensch durch seine Arbeit und seine Ideale die Welt verändern kann. Er ist eine Inspiration für uns alle, die wir an die Kraft der Musik glauben, Menschen zusammenzubringen und unsere Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ In seiner Dankesrede sagte Herr Heymann: „Brasilien ist ein Land mit 220 Millionen Einwohnern, und die meisten von ihnen sind Musikliebhaber. Es ist ein musikbegeistertes Land, wahrscheinlich mehr als jedes andere Land in der übrigen Welt. Ich hoffe, dass dieses Projekt nicht nur dazu beitragen wird, die brasilianische Musik in der Welt bekannter zu machen, sondern auch, Brasilien als ein Land der Kultur und mit einem großen musikalischen Hintergrund zu präsentieren.“

Das ehrgeizige Projekt Brasil em Concerto, das vom brasilianischen Außenministerium entwickelt wurde und zu dem auch die Reihe „The Music of Brazil“ gehört, fördert die Musik brasilianischer Komponisten, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Die Reihe hat bereits die Hälfte der 100 Orchesterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts fertiggestellt, die vom São Paulo State Symphony Orchestra, dem Minas Gerais Philharmonic Orchestra und dem Goiás Philharmonic Orchestra aufgenommen werden, sowie eine Auswahl an Vokal- und Kammermusik mit brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern, etwa der mit dem Latin Grammy ausgezeichneten Pianistin Sonia Rubinsky. Die meisten der waren außerhalb Brasiliens noch nie auf Tonträger erhältlich; viele andere sind und werden Weltersteinspielungen sein. Ein wichtiger Teil des Projekts ist die Vorbereitung von Neu- oder sogar Erstausgaben der aufzunehmenden Werke, von denen viele trotz ihrer Bedeutung bisher nur in den Manuskripten der Komponisten verfügbar waren. Diese Arbeit wird von der brasilianischen Musikakademie und von Musikwissenschaftlern in Zusammenarbeit mit den Orchestern durchgeführt. (Quelle Naxos)

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Eine neue Franchetti-Gesellschaft schreibt:  Nachdem wir uns zuvor als loser Haufen definiert hatten, sind wir nun zum Entschluss gelangt, die Freunde Franchettis künftig als eingetragenen gemeinnützigen Verein zu betreiben. Zu diesem Zweck fand am 15. Juli 2017 in Berlin Charlottenburg die Gründungsversammlung statt. Weiterhin gilt: die Mitgliedschaft wird durch formlosen Antrag per Mail erworben, Verpflichtungen entstehen keine. Die Vorsitzende der Freunde Franchettis e.V. ist Cornelia Wolter, Sachsenwaldstraße 3, 12157 Berlin; 0176-20506296; freundefranchettis@web.de

Wenn Sie den Freunden Franchettis helfen wollen, so freuen wir uns darüber. Auf Wunsch kann jedem Spender eine CD mit Musikbeispielen aus dem Schaffen Franchettis zugesandt werden. Alle Spender, es sei denn, sie möchten anonym bleiben, werden namentlich unter den Freunden Franchettis erwähnt.

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“IL BELCANTO RITROVATO”: la nascita di un festival a Pesaro II^ Edizione
24 agosto – 3 settembre 2023

L’Italia è il Paese per eccellenza della musica lirica, ma del suo periodo più fertile, la prima metà dell’Ottocento che comunemente va sotto il nome di “Belcanto”, si eseguono oggi solamente Rossini, Bellini, Donizetti e il primo Verdi, che rappresentano però la punta di un grande iceberg.

Questo periodo è stato, infatti, popolato anche da tantissimi altri compositori, che all’epoca erano importanti e famosi ma che poi la storia ha messo ingiustamente da parte. Contando solo i più noti si arriva ad oltre 60 nomi per un’imponente produzione di oltre 1300 opere praticamente tutte dimenticate o mai eseguite in tempi moderni. Questi compositori con le loro musiche infiammavano i teatri italiani, europei e spesso anche d’oltremare, contribuendo così largamente alla diffusione ed alla fama internazionale dell’opera lirica italiana. Solo per citarne alcuni, in rigoroso ordine alfabetico, vorremmo ricordare Carafa, Coccia, Fioravanti, Generali, Mercadante, i fratelli Mosca, Pacini, Pavesi, Persiani, Pucitta, Raimondi, i fratelli Ricci, Rossi e Vaccai.

Nel 2021 nacque l’idea di riscoprire e riproporre questo prezioso patrimonio italiano della musica; a partire da Rudolf Colm, passando per Daniele Agiman e arrivando a Saul Salucci, l’idea prese vita e si trasformò in un vero e proprio progetto intitolato “Festival Nazionale Il Belcanto ritrovato”.
Da subito l’Orchestra Sinfonica G. Rossini si è messa a disposizione per inserire nelle proprie iniziative questa nuova ed affascinante impresa.
Fu chiaro fin dall’esordio che le Marche e più in particolare il territorio pesarese caratterizzato da numerosi festival musicali e tanti riconoscimenti nell’arte, tra i quali quelli dell’UNESCO, offrivano le premesse ideali per la straordinaria disponibilità di competenze artistiche ed organizzative. La prima edizione ha previsto spettacoli a Pesaro, Fano, Urbino, Arcevia e Montemarciano.
Era però anche chiaro, fin dall’inizio, che questo festival avrebbe dovuto affrontare, rispetto a tutti gli altri, una sfida più complessa che prevedeva oltre all’esecuzione pubblica attraverso gli eventi del festival, una fase propedeutica di ricerca storica e musicologica e la selezione del materiale da eseguire attraverso la produzione di revisioni critiche.
In questa grande “caccia al tesoro” delle bellezze nascoste dell’opera lirica italiana è stata determinante la possibilità di collaborare localmente con istituzioni straordinarie come il Rossini Opera Festival, la Fondazione Rossini, l’Accademia Rossiniana Alberto Zedda, la Fondazione Teatro della Fortuna ed altre ancora. Il primo lavoro di riscoperta è stato il recupero dopo 199 anni di oblio della farsa in un atto del 1810 “Cecchina suonatrice di ghironda” del piemontese Pietro Generali. I Sovrintendenti Rudolf Colm, Saul Salucci/ https://youtu.be/FUuUBS2Ev-s?list=PLi2jd34Xa07eKOZn76lcH7SstT5pn4Dvi

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“LE INTERVISTE IMMAGINARIE”: introduzione

Il nuovo Festival Nazionale “Il Belcanto ritrovato” (IBR) che ha aperto i battenti al Teatro Rossini di Pesaro il 23 agosto 2022, vuole essere il primo palcoscenico integralmente ed esclusivamente dedicato a quei compositori più sopra citati che con le loro opere hanno infiammato all’epoca i teatri italiani, europei e spesso anche d’oltremare, contribuendo largamente alla diffusione e alla fama internazionale dell’opera lirica italiana.

Abbiamo quindi deciso di pubblicare, in occasione di questa prima edizione del Festival, alcune interviste immaginarie, realizzate dal Team IBR, con un primo gruppo di 14 compositori – circa un quarto della sessantina che abbiamo individuato – che sono stati riscoperti insieme al pubblico nelle serate del Festival. La prima intervista di questa serie è dedicata a Pietro Generali, il “main composer” della prima edizione del Festival, e per questa ragione anche più approfondita delle altre. Di Generali sono state eseguite nella prima edizione la farsa “Cecchina suonatrice di ghironda” del 1810 e una serie di brani tratti da sette delle sue opere più belle che coprono l’intero arco della sua produzione. Abbiamo così l’opportunità di mettere particolarmente a fuoco il profilo artistico di questo grande musicista piemontese. Tramite le interviste a questi compositori conosceremo particolari della loro vita, dei loro successi e delle loro traversie e, in generale, alcuni aneddoti che faranno sentire più attuali e a noi vicini questi artisti che, con le loro musiche, dimostrano di trasmettere emozioni in musica oggi come allora.
Rudolf Colm

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Die andere Salome

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Wer Florent Schmitts Drama Salomé und überhaupt diese Musik hört, der wird sich fragen (müssen), warum der Komponist Florent Schmitt so sträflich vernachlässigt wird, nicht nur hierzulande. In unseren Konzertsälen wird seine Musik nur ausnahmsweise aufgeführt. Dabei hätte sie es verdient, auch aufgrund der ungewöhnlichen künstlerischen Position ihres Schöpfers.

Schmitts Oeuvre besteht aus 138 mit Opuszahlen versehenen Kompositionen und einigen nicht veröffentlichten Werken. Er komponierte für fast alle Gattungen der Musik. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Schmitt einer der führenden Komponisten Frankreichs. Trotz seines eigenen und eigenwilligen Stils, trotz der Unabhängigkeit von Trends und Moden in der Musik der 1920-er bis 1950-er Jahre und trotz der Originalität und Qualität seines Komponierens spielte er nicht nur im französischen, sondern auch im internationalen Musikleben kaum eine Rolle.

Der Kritiker Pierre Petit hat Schmitt und sein Komponieren sehr treffend charakterisiert: Schmitt „hätte auch ein Anhänger von Strawinsky oder gar von Schönberg werden können. Stattdessen gelang es ihm, er selbst zu bleiben. Für den Musikwissenschaftler ist er daher ein einzigartiger Fall, ähnlich wie Paul Dukas. Schmitts Werk ist von den ersten Takten an unverkennbar. Es lässt sich in keine Schublade stecken, nicht einmal in eine Tendenz, trotz unvermeidlicher Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Werken… Es gibt absolut nichts Außergewöhnliches oder Unerhörtes in seinem Vokabular: dennoch ist die Art und Weise, wie er es einsetzt, ganz persönlich – und in diesem Sinne ist Florent Schmitt wirklich klassisch… Seine Tragédie de Salome nimmt zwar spätere Werke anderer Komponisten vorweg, aber das war nicht beabsichtigt. Er war ein Einzelgänger und ist ein Einzelgänger geblieben. Die Bezeichnung ‚revolutionärer Anarchist‘ wurde mit böser Absicht auf ihn angewandt, ist aber in Wirklichkeit ziemlich zutreffend, da ein Anarchist ein Einzelgänger ist und die Revolution keine Sache der Nachahmung ist.“

La Tragédie de Salomé wurde als Ballett komponiert und am 9. November 1907 im Theâtre des Arts unter Leitung von Désirée Émile Inghelbrecht uraufgeführt, allerdings in einer kleinen Orchesterbesetzung. Die endgültige Form erhielt es 1910, um die Hälfte gekürzt und für großes Orchester instrumentiert als symphonische Suite. Deren Uraufführung fand 1911 in den Concerts Colonne unter Leitung von Gabriel Pierné in Paris statt. Das Werk basiert auf einem Gedicht von Robert d’Humières. Ihm liegt die bekannte Handlung zugrunde: Salome, die Tochter der Herodias, verführt ihren Onkel Herodes, um den Kopf des Propheten Johannes des Täufers zu fordern und büßt am Ende für ihre wahnsinnige Idee mit ihrem Leben.

„Schmitt nutzt dieses Thema, um ein Porträt zu zeichnen, das eine vor Sinnlichkeit strotzende Exotik mit einer Brutalität verbindet, die in den dunklen Instinkten der menschlichen Psyche wurzelt. Ein üppiges „Prélude“ beschreibt die Landschaft von Judäa, die den Palast des Herodes umgibt. Allein die Arabesken und die berauschende Klangfülle dieser Nummer machen Schmitt zu einem der führenden französischen Orientalisten. In „Les enchantements sur la mer“ (Die Verzauberungen des Meeres) erklingt eine eindringliche Threnodie („am Ufer des Toten Meeres aufgenommen“, wie es in der Partitur heißt) für einen Solosopran (oder Oboe). Nach dem „Danse des éclairs“ (Tanz der Blitze), der die Enthauptung von Johannes dem Täufer darstellt, bricht der „Danse de l’effroi“ (Tanz des Schreckens) mit unerwarteter Gewalt aus. Diese Nummer sollte bis zum Erscheinen eines gewissen Sacre du printemps (Frühlingsritus) sechs Jahre später einzigartig bleiben, dessen innovative rhythmische Merkmale ohne die großartige Tragédie de Salomé nicht denkbar gewesen wären.“ (Bru Zane)

Schmitts Werk vorangestellt – gleichsam als zeitgenössisches Präludium – ist die 2021 entstandene zweiteilige Komposition Loie des Zeitgenossen Fabien Touchard. Das passt zwar gut, zumal das Werk sehr atmosphärisch ist. Freilich kommt es doch nicht an die Wirkmächtigkeit der Schmitt‘schen Komposition heran. Les Apaches nennt sich ein Instrumentalensemble mit variabler Besetzung, das von dem Dirigenten Julien Masmondet gegründet und geleitet wird. Ziel des Ensembles ist es, Aufführungen zu kreieren und zu verbreiten, die Werke des Repertoires mit Uraufführungen heutiger Komponisten zu aktuellen Themen mischen und dabei Künstler mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen: Komponisten, Sänger, Regisseure, Schriftsteller, Dichter, Videokünstler, Tänzer, Schauspieler, Architekten und Free-Runner. Dabei knüpfen sie an jene Künstlergruppe des frühen 20. Jahrhunderts an, die sich ebenfalls Les Apaches nannte – Maler, Schriftsteller, Musiker und andere Künstler, darunter die Komponisten Manuel de Falla, Maurice Ravel, Igor Strawinsky und eben Florent Schmitt.

So verdienstvoll und eindrucksvoll der Einsatz aller Beteiligten ( darunter die Sopranistin Sandrine Buenda) für das Werk ist, so sehr man von Schmitts Musik gepackt wird, so sehr bedauert man zugleich, dass die Texte des als „Booklet“ fungierenden Faltblatts nur in Französisch und Englisch abgedruckt sind, aber wie immer nicht auch auf Deutsch, was man doch als Diskriminierung des potenten deutschen Marktes werten kann (b.records LBM 049/ 15. 08.23).  Helge Grünewald

Geistliches Polnisch

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Bei MDG ist unter dem Titel Requiem Aeternam eine interessante CD mit viel zu selten gespielten geistlichen Werken von Stanislaw Moniuszko herausgekommen: Kernstück der Aufnahme sind drei der vier Litaneien von Ostra Brama, die mit vier einzelnen kürzeren Stücken von Gesangssolisten, Sängern und Sängerinnen des Gellert Ensembles sowie dem Goldberg Baroque Ensemble unter der kompetenten Leitnung von Andrzej Szadejko erfrischend munter vorgetragen werden. Obwohl Moniuszkos kompositorischer Schwerpunkt die Oper war, beschäftigte er sich als gläubiger Mensch ebenfalls mit geistlicher Musik und begann um 1860 herum mit der Veröffentlichung eines Kirchen-Gesangbuches. Die Litaneien von Ostra Brama entstanden in den Jahren 1843 – 1855, als er noch in Vilnius lebte, bevor er 1858 mit seiner großen Familie nach Warschau übersiedelte. Für die inständigen Bitten und Gebete entwickelte er einen großen Melodienreichtum, der durch den häufigen Wechsel von intensiv ruhig und unruhig drängenden Gebeten stets lebendig bleibt und so große Spannungsbögen schlägt. Damit wirken die Litaneien ein wenig wie ein Vorläufer der 1863 verfassten Petite Messe Solennelle von Giacchino Rossini, der von Moniuszko sehr geschätzt wurde.

In der ersten Litanei eröffnet der Chor nach einem kurzen Vorspiel das tänzerische Kyrie, in dem die Dringlichkeit der Bitte durch Drive und ansteigende Tonlagen deutlich gemacht wird; erst dann treten die Solisten insistierend hinzu: Ingrida Gápová mit schlankem Sopran, die voll-timbrierte Altistin Marion Eckstein, der solide Tenor Sebastian Mach und Maximilian Argmann mit grundiertem Bariton. In dem getrageneren  Sancta Maria agieren sie als Vorsänger. Das pulsierende Salus infirmorum wird vom ruhigen Agnus dei abgelöst, bevor die Litanei nach einem eindringlichen Aufschrei des Chores Christe audi nos leise erlischt.

Eingefügt ist hier Sub tuum praesidium (Unter deinem Schutz), eine am Karfreitag 1857 in Vilnius uraufgeführte Antiphon zur Verehrung der Heiligen Jungfrau Maria von der Ostra Brama. Ursprünglich für Bariton und Orgel geschrieben, ist sie auf dieser CD in einer von Moniuszkos Schüler Zygmunt Noskowski erstellten Fassung mit Orchester eingespielt. Maximilian Argmann gibt der eher schlichten Melodie mit leichten Verzierungen ausdrucksvoll Gestalt.

Die beiden übrigen Litaneien ähneln im Aufbau und mit ihren Tempowechseln der ersten. Es seien hier nur einige Dinge hervorgehoben: In der zweiten Litanei zieht das melodiöse Kyrie mit positivem Schwung klangvoll vorbei; Solisten und Chor sind besonders ausgewogen. Mit Nachdruck werden die Bitten im Christe audi nos vorgetragen. Mit dem fast walzerartigem Agnus Dei endet die zweite Litanei gefällig. Ebenfalls von Noskowski instrumentiert wurde die Motette Ecce lignum crucis für Bariton, Chor und Orchester, die – obwohl erst 1868 komponiert – an dieser Stelle der CD eingesetzt wurde; der gut durchgebildete Bariton klingt hier in den Höhen allerdings angestrengt. Der folgende instrumentale Trauermarsch zu Ehren von Antoni Orlowski scheint nicht unbedingt von Moniuszko zu sein. Es ist möglicherweise ein Marsch von dem Verstorbenen selbst, den Moniuszko nur instrumentiert und bei der Beerdigung dirigiert hat. Witzig ist, dass der Marsch im Verlauf Tempo aufzunehmen scheint, als ob man es eilig hätte; dann wird das Tempo wieder eingefangen und führt über eine grandiose Steigerung zum ruhigen Schluss.

Das kurze, titelgebende Requiem Aeternam ist eine Kantate für 11 Solostimmen, Chor und Orchester. Ungewöhnlich durch die Kürze – nur 4’42 Minuten – ist es ein besonders eindringliches Werk, das mit intensiver Interpretation beeindruckt. Besondere Melodieführung und chromatisch auf- und absteigende Linien gelingen sehr gut.

Die dritte Litanei beschließt die Aufnahme; im Kyrie besticht abermals der homogene und ausgewogene Chorklang. Sehr flott akzentuiert kommt das Sancta Maria daher, schlichte Melodik beherrscht das Janua caeli. Das abschließende Agnus Dei überzeugt ebenso in den dramatischen Phasen wie in den ruhigeren Teilen bis zum eindrucksvollen Schluss.

Die ausgezeichnete Gesamtleistung aller Akteure macht diese Aufnahme besonders, so dass man gerne mehr von Moniuszko hören möchte (MDG 902 2278-6). Marion Eckels

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Darf sich ein Rezensent bei der Beschäftigung mit einer CD zunehmend mehr für das Leben des Komponisten interessieren als für das ihm vorliegende Werk?  So geschehen mit Feliks Nowowiejskis Oratorium Der verlorene Sohn, dessen 1877 im Ermland geborenem Schöpfer der ihn sein ganzes Leben begleitende Konflikt bereits in die Wiege gelegt worden war mit einer deutschen Mutter und einem polnischen Vater. Der junge Nowowiejski konnte besser Deutsch als Polnisch, sich schriftlich nur im Ersteren äußern, als er nach den Stationen Wartenberg und Allenstein nach Berlin ging, um seine musikalischen Studien zu vollenden, nachdem er bereits als Geiger und Komponist für das Preußische Grenadier-Regiment in seiner Heimat gewirkt hatte. In Berlin wurde Max Bruch sein Mentor, wirkte er als Organist an der St.-Hedwigs-Kathedrale und danach an St. Paulus in Moabit, wo eine Tafel an ihn erinnert. Gleichzeitig verkehrte er in polnischen Emigrantenkreisen, ging 1909 nach Krakau und schrieb 1910 zur Feier des Jahrestags der Schlacht von Tannenberg ein patriotisches Lied gegen die Germanisierung ursprünglich slawischer Gebiete. Davor hatte er bereits erste Erfolge als Komponist, für Der verlorene Sohn den Giacomo-Meyerbeer-Preis erhalten, und sein Oratorium Quo Vadis wurde in ganz Europa und sogar in der Carnegie Hall aufgeführt. 1914 zog er wegen der Anfeindungen durch seine polnischen Landsleute nach Deutschland und tat als Musiker Dienst im deutschen Militär, 1918 siegte die polnische Seele in ihm, seine davon diktierten propolnischen Äußerungen kosteten ihn die Freundschaft Max Bruchs, 1939 floh er vor den Deutschen nach Krakau, kehrte 1945 nach Posen zurück und verstarb dort 1946. In Polen wird seiner an vielen Orten und oftmals gedacht, in Berlin fanden immerhin 2009 und 2014 Festivals zu seinen Ehren statt.

Das Libretto zum Verlorenen Sohn stammt von Theobald Rehbaum, ist also in deutscher Sprache verfasst, in der es auch in der vorlegenden Aufnahme aus Allenstein, heute Olsztyn, gesungen wird. Die polnischen Solisten bemühen sich um eine gute Diktion, was ihnen nicht immer gelingt, so dass man den Text nicht durchgehend versteht,  beim Chor ist ein Verstehen völlig ausgeschlossen. Deshalb wäre ein Abdrucken des Librettos in der Originalsprache und natürlich in Polnisch eigentlich unverzichtbar. Auch demjenigen, der bibelfest ist und die Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium gut kennt, ist nicht viel geholfen, denn sie wird hier mit den Protagonisten Vater-Mutter-Sohn und einem Chor erzählt, womit der Konflikt zwischen den Brüdern ausgespart wird, der Komponist wohl zugunsten der vokalen Vielfalt darauf verzichtete.

Das eher spröde Thema hindert den Komponisten nicht daran, im Vorspiel ungeheure spätromantische Klangwogen zu entfesseln, virtuose Soloeinlagen voller Raffinesse anzubieten, mit Orgel- wie Harfenklängen den Eindruck ungebändigter Naturgewalten oder  ungebremster erotischer Ergüsse zu erwecken, als nahe der Welt Ende, ehe die Vokalsolisten zu Wort kommen. In den Kapiteln Der Sohn, Die Mutter und Der Vater, wird also wohl Zerknirschung, Bitte um Vergebung und der Sieg mütterlicher und väterlicher Liebe dargestellt, ehe sich der Chor, ca. 70 Personen umfassend, noch einmal in monumentaler Weise eindrucksvoll zu Wort meldet. Die Solisten können mit robusten, gesunden Stimmen aufwarten: Agnieszka Rehlis mit sattem, tragfähigem Mezzosopran, Arnold Rutkowski mit frischem, slawisch herbem Tenor und Lukasz Konieczny mit kraftvollem, manchmal  etwas dumpfigem Bass. Der Szymanowski Philharmonische Chor Krakau unter Piotr Piwko ist mit viel Drive bei der Sache und weiß zu imponieren, das Sinfonieorchester der Feliks-Nowowiejski-Warmia-und-Masuren-Philharmonie unter Piotr Sulkowski kann man für die die Bewältigung der anspruchsvollen Partitur nur bewundern. Gut kann man sich die Ouvertüre als Teil eines Sinfoniekonzerts vorstellen (Dux 1693). Ingrid Wanja

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PS.: Zu Nowowiejski gibt es bei operalounge.de ebenfalls zwei sehr ausfühlichen Artikel zu Leben und Werk anläßlic seiner Oper Quo vadis (Die vergessene Oper 62) und seiner Baltischen Legende (Die vergessene Oper 123), diese nun in Polnisch, weshalb man Dux und Piotr Piwko nicht genug Anerkennung zollen kann, den Verlorenen Sohn im  originalen Deutsch herausgebracht zu haben. Das ist auch im heutigen Polen immer noch keine Selbstverständlichkeit. G. H.

Guerrinis „Enea“

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Guido Guerrini? Wer? 401Dutchoperas.com füllt die Wissenslücke mit eine Aufnahme des Enea von Guido Guerrini (1890 – 1965), ein Titel, den Fans von Franco Corelli erinnern werden, der darin an der Scala für Aufsehen gesorgt hatte. So ist denn diese RAI-Aufnahme ihm gewidmet und mit seinem Foto geziert. Die vorliegende Einspielung bei 401DutchOperas.com/FrancoCorelli.NL stammt von 1960 und bietet bei etwas gewöhnungsbedürftigem (für mich etwas sehr bearbeitetem, elektrischem) Klang Renato Gavarini in der Titelrolle, dazu Mario Petri, Renata Mattioli, Floriana Cavalli und alles was in Italien Füße hatte in jener Zeit unter der Leitung des bewährten Armando La Rosa Parodi bei der RAI Roma. Auch hier freut man sich über das umfangreiche historische Material wie auch das Libretto. Die Oper kostet 15.- Euro, ist per Paypal zu bezahlen und anschließend zum Downloaden bereit. G. H.

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Herausgeber, Musikwissenschaftler und Corelli-Fan René Seeghers schreibt auf der website der Firma: Zum Gedenken an Franco Corellis Geburtstag am 8. April 2014 haben wir eine äußerst seltene Aufnahme in unser Archiv aufgenommen: die Aufnahme von Guerrinis Enea, in der Franco Corelli einst die Rollen des Turno und des Orfeo verkörperte (daher das sexy Foto für die Fans).

Wir feiern Francos Geburtstag mit dem 2CD langen MP3 Download von Guido Guerrinis Oper Enea, die von Franco Corelli am 11. März 1953 kreiirt wurde. Leider sind keine Aufnahmen der Uraufführung aufgetaucht, aber wie in (meinem Buch) Franco Corelli Prince of Tenors erwähnt, gibt es zumindest eine Chance, die Musik als solche zu hören, und zwar durch eine spätere Radiosendung, die auf 1960 zurückgeht.

Diese Aufnahme zeigt Renato Gavarini in Corellis Rolle des Königs Turno von den Rutuli, den ursprünglichen Bewohnern der Region Lavinium, in der Eneas nach seiner Flucht aus Troja landete. Turno fordert Lavinias Wahl für Enea heraus, was in einem Duell im Stil eines epischen Films gipfelt. Corellis zweite Rollenschöpfung in der Oper, die Stimme des Orfeo, wurde leider aus der Aufführung von 1960 gestrichen, aber wir haben das Duett zwischen Orfeo und Euridice als Bonus auf Disc 1 hinzugefügt, das aus der Aufführung von Tiemin Wang und Vera Ramer bei der Prince of Tenors Buchpräsentation in Amsterdam 2008 stammt.

Guerrini: „Enea“/Armando La Rosa Parodi/youtube

Was die Musik betrifft, so wird die Besetzung von dem wohlklingenden Bass Mario Petri angeführt. In der Hauptrolle des Protagonisten Enea ist er sowohl stimmlich als auch körperlich ein überragender Riese. Um ihn herum spielt das Beste, was Italien außerhalb der international bekannten Top 10 zu bieten hatte. Wichtig aus unserer Sicht war Renato Gavarinis Darstellung des Königs Turno von den Rutuli. Er kommt erst im dritten Akt auf die Bühne, aber es gelingt ihm sehr gut, Turnos Aufregung über den drohenden Verlust von Lavinia an Enea zu vermitteln. Das Duell zwischen Turno und Enea ist in einem epischen Filmstil gehalten, der an solche Spektakel wie Blasettis 1860 (1934) und Carmine Gallones Scipio Africanus: The Defeat of Hannibal (1937) erinnert, um nur die bekanntesten zu nennen. Bei den Damen sticht Floriana Cavalli in der Dreifachrolle der Creùsa, Didone und Lavinia hervor, wenngleich die größte Wirkung von der kämpferischen Mezzosopranistin Dora Minarchi als Sybille von Cuma ausgeht.

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Guerrini: Renato Gavarini singt den Enea/OBA

Die Handlung beginnt mit der Flucht der Trojaner vor den plündernden Griechen in Troja. Der erste Akt endet mit Creusas Prophezeiung „Doce mio sposo“, in der sie ihren Mann Enea auffordert, dorthin zu segeln, wo der Tiber ins Meer fließt; dort wird Enea seine wahre Bestimmung in der Schaffung einer neuen Nation finden! Der zweite Akt mag den Librettisten Adolfo Angeli dazu inspiriert haben, die Oper als „Mito in tre atti“ zu bezeichnen. Der Akt beginnt mit einer Szene, in der Faune und Dryaden Eneas Ankunft in Cuma, in der Nähe von Neapel, willkommen heißen. Als Enea die elysischen Felder betritt, erhält die Musik eine ansprechende, an Tarzanfilme erinnernde Atmosphäre. Nachdem Orfeos „Hymne an Apollo“ bedauerlicherweise unterbrochen wurde, setzt die Aufnahme bei der „Hymne der gefallenen Helden“ ein, nach der Enea auf Didone trifft. Kaum ein paar Minuten nach ihrem Liebesgeflüster beginnt die Königin von Karthago ihre berühmten Komplimente gegen unseren trotzigen Helden, dessen einziger Wunsch es ist, sie nach Italien zu verlassen! Der dritte Akt beginnt mit den Trojanern in der Siedlung, die heute als Lavinium bekannt ist, so benannt nach Lavinia, der lokalen Schönheit, die das Herz von Enea erobert hat. Neben dem trojanischen Anführer wird sie auch vom örtlichen König der Rutuli, Turno, begehrt. Als sie ihn erneut zurückweist, gerät er in einen Streit mit Enea, der schließlich zu einem packenden Duell im Hollywood-Stil führt, bei dem Turno unterliegt. Nachdem die Kröte die Völker unter seiner Regierung vereint hat, singt Enea weise Worte über die blühende Nation, die aus den Böden der neu gegründeten Stadt, die er Lavinium nennt, entstehen wird.

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Guerrini: „Enea“/Mario Petri singt die Titelpartie/youtube

Faszinierend an Angelis Text ist der psychologische Aufbau von Enea, dessen Besetzung mit einer Bassstimme darauf zurückzuführen ist, dass Angli ihn eher als Philosophenkönig denn als Krieger sah. Dies verlangte vom Publikum damals wie heute viel Flexibilität, aber wenn man es akzeptiert, ist es zumindest ein originelles Konzept. Bei der Uraufführung mit der zunächst lyrischen, dann dramatischen (in der Hymne an Apoolo) Tenorpartie des Orfeo herrschte noch ein gewisses Gleichgewicht in der Verteilung. Dieses Gleichgewicht wurde leider durch die Streichung der Rolle des Orfeo bei der Aufführung 1960 gestört. Was bleibt, ist ein faszinierender Versuch, die Oper neu zu erfinden, und zwar nicht auf der avantgardistischen Linie der gleichzeitig komponierten Dallapiccola-Oper Il progioniero, sondern durch die Verbindung klassischer Opernidiome von der Antike bis zu Gluck mit italienischer epischer Filmmusik der späten 1930er und 40er Jahre. Obwohl die Oper in der Presse, beginnend mit dem „statischen Libretto“, verrissen wurde, kamen solche fantasievollen mythischen Ansätze Jahrzehnte später in Mode (man denke an Henzes Bassariden). Wer unvoreingenommen ist und wer einmal Filme wie Tarzan und die Amazonen, Tarzan und die Leopardenfrau oder Tarzan und die Meerjungfrauen genossen hat, wird in Guerrinis Enea viele fantastische Momente erleben!