Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Mit süffigem Sound

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In der Gestaltung dramatischer Belcanto-Partien Donizettis  (Lucia, Maria Stuarda, Anna Bolena) hat Diana Damrau, offenbar an die Grenze ihrer stimmlichen Möglichkeiten gelangt, eine Pause eingelegt und sich dem „leichten Genre“ zugewandt. Davon zeugte schon das Doppelalbum von 2022 „My Christmas“. Nun bringt ihre Stammfirma ERATO eine neue Platte mit der deutschen Sopranistin heraus, die den schlichten Titel Operette trägt (vielleicht in Anlehnung an Noel Cowards Stück?) und von Januar bis Juli 2023 in München und Salzburg aufgenommen wurde (5054197827983). Einen besonderen Akzent setzt der Untertitel des Albums WIEN . BERLIN . PARIS, denn er steht für die fantastische Reise der Sängerin in die Welt der Operette des 19. Jahrhunderts mit diesen drei wichtigen Stationen. In der Programmfolge sind die Titel, welche für die Metropolen stehen, allerdings vermischt, was freilich eine reizvolle Abwechslung mit sich bringt.

Den Auftakt macht Manons „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ aus Der Favorit von Robert Stolz – ein durch die legendären Interpretationen von Hilde Gueden und Anneliese Rothenberger bekannter Titel. Damrau hält sich im Vergleich dazu achtbar – weniger damenhaft-glamourös, mehr jugendlich-kokett. Auch der folgende Titel, „Schlösser, die im Monde liegen“, aus Paul Linckes Frau Luna ist populär, beispielsweise in der Gestaltung durch Lucia Popp. Auch hier setzt Damrau auf einen kessen Soubrettenton.

Mehrere Nummern stammen aus Werken von Franz Lehár, von denen eine sogar selten zu hören ist: „War es auch nichts als ein Traum“ aus Eva. Hier schwelgt die Solistin im Walzerrausch, lässt in der exponierten Lage freilich forcierte Töne hören. Dagegen sind „Warum hast du mich wachgeküsst?“ aus Friedericke, das in seiner melancholischen Stimmung einer der gelungensten Titel ist,  „Liebe, du Himmel auf Erden“ aus Paganini und „Hör’ ich Cymbalklänge“ aus Zigeunerliebe beliebte und immer wieder gehörte Schlager. Letztere Nummer entspricht in ihrer rasanten Anlage dem Temperament der Sängerin besonders, sie jauchzt und sprüht mit Schwung und Esprit.  Mit verführerischem Raffinement singt sie „Liebe, ich sehn` mich nach dir“ aus Kálmáns Die Faschingsfee, allerdings auch hier mit gestresster Höhe. Sehr gelungen ist das Solo der Titelheldin aus Millöckers Die Dubarry („Ich schenk mein Herz“).  Bemerkenswert der Ausschnitt aus Paul Abrahams Ball im Savoy, „In meinen weißen Armen“, bei dem Damrau ein erstaunlicher weillscher Tonfall gelingt, was ein Ausblick auf künftige Aktivitäten der Sängerin (analog zu Teresa Stratas) sein könnte. Der letzte Beitrag der Programmfolge, „Ich bin eine Frau“ aus Oscar Straus` Manon, ist in seiner auftrumpfenden Diven-Allüre ein stimmiger Ausklang.

Wirkliche Raritäten bieten die französischen Beiträge. Den Anfang macht „Ça fait tourner la tête“ aus Andalousie von Francis Lopez mit frechem Aplomb, gefolgt von „Rossignol, tout comme autrefois“ aus Monsieur Beaucaire von André Messager. Von diesem Komponisten gibt es später noch einen zweiten Titel: „J’ai deux amants“ aus L’Amour masqué. Ein weiterer französischer Beitrag, Aspasies „Mon cher Phi-Phi“, stammt von Henri Christiné aus dessen Operette Phi-Phi und ist ein flottes Couplet, dessen Wirkung sich die Sängerin mit prononcierten Akzenten nicht entgehen lässt.

In illustrer Gesellschaft befindet sich die Sopranistin bei den Titeln von Johann Strauss II (Das Lied der Liebe), Robert Stolz (Im weißen Rössl) und Richard Heuberger (Der Opernball), wo sich der Tenor Jonas Kaufmann zu ihr gesellt. Im „Flirt-Duett“ von J. Strauss II werfen sich die Sopranistin und der Tenor charmant die Bälle zu, im Opernball-Duett bieten sie eine atmosphärische Szene wie aus einer Live-Aufführung.

Bei „Wo die wilde Rose erblüht“ aus Das Spitzentuch der Königin von Johann Strauss II hat Diana Damrau Partnerschaft in der Sopranistin Elke Kottmair und der Mezzosopranistin Emily Sierra. Sie stimmt den walzerseligen Titel sehr atmosphärisch an und wird von ihren Kolleginnen bestens unterstützt. Das Münchner Rundfunkorchester, das mit süffigem Sound zur Reise einlädt, ist der Sängerin ein fabelhafter Partner. Dirigent  Ernst Theis setzt gekonnt eigene Akzente. Bernd Hoppe

Tanzvisionär

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Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest gibt der HENSCHEL Verlag einen prachtvollen Band über das Stuttgarter Ballett und seinen Intendanten John Cranko heraus (ISBN 978-3- 89487-842-9), der für alle Ballettfreunde der Höhepunkt auf dem Gabentisch sein dürfte. Auf fast 300 Seiten und zahlreichen Fotos (vorwiegend in Schwarz/Weiß) beleuchten die Autorinnen Julia Lutzeyer, Petra Olschowski, Angela Reinhard und Vivien Arnold Leben und Werk des Jahrhundert-Choreografen, der durch den tragischen Tod 1973 viel zu früh aus seinem Schaffen gerissen wurde.

Im ersten Kapitel (Vermächtns: Was bleibt von John Cranko?) widmet sich Angela Reinhard seinem künstlerische Erbe. Sie spricht von „Verklärung“ wenn die Rede auf den Choreografen kommt, der in Stuttgart noch heute hymnisch verehrt wird. Sie nennt natürlich die drei großen Handlungsballette (Romeo und Julia, 1962; Onegin, 1965; Der Widerspenstigen Zähmung, 1969), die zu Klassikern geworden sind und immer wieder in Neubesetzungen einstudiert wurden. Reinhard geht auf die technischen Besonderheiten im choreografischen Vokabular Crankos ein, hebt seine Repertoirepolitik hervor. Er lud berühmte Kollegen ein, ihre Arbeiten in Stuttgart zu zeigen, und förderte junge Nachwuchskräfte. Und sie beschreibt das so persönliche Verhältnis, das der Choreograf zu seinen Tänzern hatte. Davon ist im nächsten Kapitel vielfach zu lesen.

Es beinhaltet die Erinnerungen seiner Weggefährten – Tänzer, Ausstatter, Fotografen, Journalisten, Freunde… Da ist natürlich vor allem Marcia Haydée zu nennen, seine Assoluta, die in seinen drei Hauptwerken jeweils die zentrale weibliche Rolle kreierte, 1976 Direktorin der Compagnie wurde und 1987 mit Dornröschen ihr Debüt als Choreografin gab. Sie nennt Cranko „mein Glück im Leben“. Von einem „Menschenformer“ spricht Richard Cragun, der als Erster Solist wesentlichen Anteil am „Ballettwunder Stuttgart“ (so die amerikanische Presse) hatte. Nicht zu vergessen die andere Startänzerin des Ensembles und weltweit als „die deutsche Ballerina“ apostrophiert: Birgit Keil. Sie dankt Cranko, dass er auch in „sehr kritischen Phasen“ an sie geglaubt hat. Zu den wichtigen Mitgliedern der Compagnie zählen Egon Madsen und Ray Barra, für die Cranko viele Rollen schuf. Mit „Es war dieser Blick“ und „John suchte eine Familie“ sind ihre Beiträge sehr privat. Zwei in Stuttgart engagierte Tänzer wurden später gleichfalls bedeutende Ballett-Intendanten: Jirí Kylián und Jon Neumeier. Ersterer resümiert mit „Kreativ, lustig, wunderbar“ das Wesen Crankos denkbar kurz, doch treffend, der zweite empfindet die Zeit mit ihm als „besonders aufregend“. Nicht fehlen darf Jürgen Rose, dem Cranko die Ausstattung vieler seiner Ballette übertrug. Er nennt diese Schöpfungen „zeitlos gültig“ und zitiert Cranko mit „Wir hatten noch viel vor“, was angesichts seines tragischen Endes besonders schmerzlich klingt. Berührend ist der Beitrag von Georgette Tsinguirides, Solotänzerin und später Choreologin, nach deren Notaten die Ballette noch heute einstudiert werden. Er soll hier am Schluss stehen, denn darin wird Crankos Ausspruch „Wir dürfen kein Museum sein.“ zitiert, der für die kreative Zukunft des Stuttgarter Balletts steht.

Es folgt das letzte Interview, welches der Choreograf im Mai 1973 dem Journalisten Hartmut Regitz gab. Es ist ein wertvoller und aussagestarker Beitrag, gibt er doc darin Auskunft über Crankos Beziehung zu Gustav Mahler (dessen 10. Sinfonie er für seine vorletzte Arbeit, Spuren im Todesjahr 1973, nutzte), seine Russland-Erfahrungen und Zukunftspläne. Eine Biografie und das Werkverzeichnis sind nützliche  Nachschlagehilfen und runden den Inhalt ab. Bernd Hoppe

Nicht überflüssig

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Mindestens zwei Gründe gibt es, die Ankunft einer weiteren Tosca auf dem eigentlich übersättigten Markt willkommen zu heißen. Der erste ist das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Carlo Montanaro, der zweite die Sängerin der Titelpartie, Melody Moore. Mit harten Scarpia-Akzenten, drängend, zügig und feine Details ausmalend beginnt das Orchester , um später viele intime Momente zu Wort kommen , die bedrückende Stimmung der meisten Szenen sich dem Hörer mitteilen zu lassen. Eine Atmosphäre des Lauernden, des Bedrückten liegt über vielen Szenen, so der des Salva condotto, und das Vorspiel zum dritten Akt ist bei aller auch hörbaren Poesie ein einziges banges Warten.

Wahrlich kein Star, zumindest nicht in Europa, ist die Sopranistin Melody Moore, die immerhin bereits auf drei Puccini-Einspielungen stolz sein kann mit Butterfly, Mimi und Giorgetta. Für Tosca steht ihr ein breiter Farbfächer einer weich und erotisch klingenden Stimme zur Verfügung, die Mittellage (sie singt auch Amneris) ist hochpräsent, Verletzbarkeit wie auffahrender Stolz werden gleich eindrucksvoll vermittelt, fein hingetupfte Töne wechseln sich mit stolz auffahrenden ab, und für „è l‘ Attavanti“ hat der Sopran einen bewegenden schmerzlichen Klang. Einzig die manchmal zu verwaschene Diktion stört den Gesamteindruck ein wenig, und stellenweise ist die Höhe nicht so präsent, wie sie es sein sollte. Voller Melancholie wird „Vissi d’arte“ gesungen, ein banges Zittern ist im „Ti straziano ancora“, und insgesamt vermittelt der Sopran den Eindruck einer wissenden Stimme, die sich aus dem Geist der Musik heraus vernehmen lässt.

Mit virilem, metallisch klingendem Tenor ist Stefan Pop ein Cavaradossi, bei dem weniger der sensible Künstler als der aufbegehrende Revolutionär zum Ausdruck kommt, sein Squillo ist beachtlich, seine größten Pluspunkte kann er mit „la vita mi costasse“ und dem „Vittoria“ erringen, aber auch im „Recondita armonia“ gefällt das diminuendo am Schluss, während „E lucevan le stelle“ mit schöner Klarinettenvorbereitung mehr Agogik vertragen hätte. Insgesamt geht es dem Tenor eher um die Ausstellung einer potenten Stimme als um feinsinnige Interpretation.

Zwischen bärbeißig und süffig bewegt sich der Bariton von Lester Lynch, der damit dem Scarpia und dessen Zwielichtigkeit gerecht wird. Im zweiten Akt könnte man sich noch mehr Facetten in der Gestaltung der Figur vorstellen, allerdings werden der Triumph im „nel pozzo del giardino“, das Schmeichelnde im „è vino di Spagna“, das tückisch Zärtliche in  „grazia ad un cadavere“ schön herausgearbeitet.

Kevin Short ist ein sonorer Angelotti, und auch alle anderen rollendeckend, und der Rundfunkchor Berlin und der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin tragen das Ihre zum Gelingen von Konzert und Aufnahme bei (Pentatone PTC 5187 055). Ingrid Wanja 

Maria Callas zum 100.

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Und noch mehr Bücher über sie. Hatten wir nicht gerade beteuert, dass über Maria Callas, die Vielbesprochene und Vielausgebeutete, alles gesagt ist? Offenbar nicht, denn allein in diesem, ihrem 100sten Geburtsjahr erschienen erwartungsgemäß mindesten vier neue Bücher, die – so unsere Korrespondenten – von herausragend bis mehr als lässlich zu lesen sind. Diese nachstehend.

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Aber die eigentlichen Schätze finden sich – so meine Meinung – doch bei den Älteren, in der Vergangenheit. Nichts geht für mich über John Ardoins profunde und ungeschlagene Biographie (Maria Callas und ihr Vermächtnis; deutsch mit Verspätung bei Noack-Hübner 1979; ISBN-13 :-978-3884530146) mit seinen immer noch gültigen Einschätzungen, inzwischen auch als Hörbuch (Callas: The Voice the Story; Highbridge & Co, 1997) – für mich das Ultimative über die Sängerin Callas. Als Hörbuch ebenfalls verfügbar (Maria Callas in her own words (Highbridge Audio 1997; SBN-13978-1565112292). Ebenfalls von Ardoin The Callas Legacy (Scribner 1977; ISBN ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0684152974). Gefolgt von dem Bild-/Biographie-Band Callas von John Ardoin und Gerald Fitzgerald (Thames & Hudson Ltd; 1. Edition, 1974). Auch die Biographie von Nadia Stancioff (Maria Callas Remembered; Da Capo Press Edition/ April 2000; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0306809675), der langjährigen loyalen Freundin und Begleiterin,  hat vieles für sich und keine Kolportagen wie nachstehendes Werk von Eva Gesine Bauer. Die beiden wunderbaren, in der alten Edition sehr großformatigen Bildbände von Schirmer & Mosel sind im optischen Bereich unerreicht (ah, die wunderbaren Scala-Fotos!!!). Auch Callas at Juilliard: The Masterclasses von John Ardon (Amadeus Press 2002; ISBN ‏ 0815412282) sagt vieles, auch Kritisches über ihren gegenstandlosen Versuch zu unterrichten. Die Biographie von Stelios Galliopoulos (Maria Callas: Sacred Monster; Forth Estate Press 1988; deutsch bei S. Fischer 2002;  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3100244130) bringt viele Details und gehört zu meinen immer wieder aufgesuchten Standardwerken.

Jürgen Kestings – im deutschen Lesebereich als ultimativ geltendes Buch über die Callas ist mir zu akademisch und nicht sinnlich genug, eher ein Bericht von der Intensivstation, aber dies und seine Radio-Dauersendung über die Künstlerin haben sich einen festen Platz im deutschen Fanbewusstsein erobert (inzwischen als Taschenbuch bei List ISBN-13 ‏ : ‎ 978-354860260).

Absolut nicht zu vergessen ist The Unknown Callas: The Greek Years von Nicholas Petsalis-Diomidis (Hal Leonard Corporation; Illustrated Edition, neu herausgegeben 2001; ISBN-13 – ‎978-3100244130). Dies ist ein besonders spannendes Buch über die Callas, weil die zum Teil beklemmend zu lesenden Details über die italienische und schlimmer noch deutsche Besatzung Athens mehr als deutlich geschildert wird. Hunger-Leichen lagen in den Straßen, und die deutschen Besetzer schossen bei der geringsten Gelegenheit (danach kam der Widerstand und schoss ebenfalls) – kein Ruhmesblatt für uns hier. Die Callas und ihre Mutter sowie Schwester hatten jeweils italienische und dann deutsche Liebhaber, die sie vor dem Schlimmsten schützten. Und sie studierte Tiefland und Leonore mit ihrem Freund ein. Das reich illustrierte Buch, voll mit Zeitzeugen-Aussagen (Mireille Flery, Zoe Vlachopoulou, Constantin Stellakis)

und hervorragend recherchiert, ist absolut habens- und lesenswert. Und ein Exkurs in deutsch-griechischer Geschichte.

Aber ganz eigentlich und ungeschlagen ist der auf seine Weise bewegende Film Maria über Callas (Regie: Tom Volf, Studiocanal 2021) mit sensationellen und bislang unbekannten Live-Rollen-Aufnahmen.

Natürlich gibt es noch unendlich viele Bücher über die Seelige. Mein Freund Sergio Segalini hatte ein gutes, schmales verfasst und Attila Csampais inzwischen zum beklagenswerten Taschenbuch mutierte Bild-Biographe erwähnt Rolf Fath, und dazu nun. G. H.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“: La Divina wird sie genannt, „Die Göttliche“. Sie galt als „Primadonna asso­luta“ und war schon zu Lebzeiten ein Mythos. Maria Callas war eine hollywood­reife Diva, deren glamouröse Er­scheinung, deren gesellschaftliche Skandale und de­ren künstlerischen Erfolge Publikum und Presse (nicht nur die Regenbogen­presse) auf der ganzen Welt in Atem hielten. Maria Callas ist schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden.

Jürgen Kesting, einer der führenden Callas-Biographen (Maria Callas 1990) schreibt in seinem Geleitwort zu Helge Klausers vorzüglichem Callas-Buch  („Maria Callas. Eine Chronik“) zurecht: „Die meisten Versuche, ,,the woman behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehrichtsammlung von Fakten und Fakes hinausgekommen“.

Wie sagte John F. Kennedy: „Der Mythos ist der große Feind der Wahrheit.“  Indeed: „Mythos Maria Callas: Uber keine zweite Musikerpersönlichkeit der letzten einhundert Jahre wurden so viele Bücher in so vielen unterschiedlichen Sprachen geschrieben. Neben den einschlägigen Biographien füllen auch viele Romane, Novellen und sogar Theaterstücke die Regale. Weder Caruso noch Karajan, weder Elvis noch Madonna können es in publizistischer Hinsicht mit ihr aufnehmen. Sie ist die absolute Primadonna in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.“ So schreibt der renommierte Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen in seinem Callas-Buch.

Er unterscheidet in seinem Buch zwischen „Kunst und Mythos“ der Maria Callas und nimmt das sängerische Jahrhundertphänomen einmal mit wissen­schaftlicher Präzision genauer unter die Lupe genom­men. Mit wissenschaftl­icher Genauigkeit, und nicht eingetrübt durch irgend­welche Emotionen trennt er zwischen Le­ben, Kunst und Mythos, Callas heute und Callas morgen, stellt ihre wichtigen biografischen Stationen (New York, Athen, Italien und den Rest der Opernwelt) dar, beschreibt präzise ihre Stimme, ihre Interpretationen und Aufnahmen, schließlich sortiert er noch die unter­schied­lichen Aspekte des Mythos: Liebe, Märchen, Diva, Medien und Opfer.  Jacobshagen zieht eine Summe, er bilanziert und stellt fest:

„Allzu bereitwillig wurden in der Vergangenheit tradierte Fehlurteile und Gerüchte über die Sängerin fortgeschrieben und aufgebauscht. In vielen Fällen eröffnet ein quellenkritischer, musik- und geschichtswissenschaftlicher Blick andere Perspektiven. Die immense Überlieferung macht zugleich eine zeitge­mäße Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Callas-Mythos unumgäng­lich. In seiner eigentümlichen Formulierungskraft hat Günter Grass einmal beklagt, dass in der postmodernen Gesellschaft ‚jeder Scheißhaufen ein Mythos genannt‘ werde. Für unser Thema ließe sich in Anlehnung an diese Metapher die konsequente Entsorgung abwegiger Callas-Fabeln fordern. Neue Untersuchung­en und Forschungsansitze aus den Kultur-, Musik- und Medien­wissenschaften, der Psychologie und Soziologie, der Staranalyse, den Celebrity Studies und der Fanforschung tragen zur Erhellung vieler Fragen bei. Noch wichtiger als die Klärung biographischer Details und Legenden bleibt die Würdigung ihrer einzigartigen künstlerischen Leistungen.“  

Jacobshagen löst diesen Anspruch faszinierend und respektgebietend ein und kommt zu dem Schluss: „Die herausragende Sängerin des 20. Jahrhunderts war Maria Callas nicht wegen der Schönheit, sondern wegen der Expressivität und Unver­wechselbarkeit ihrer Stimme. … Ingeborg Bachmann schrieb über Callas, sie habe mit ihrem Gesang ‚auf der Rasierklinge gelebt’. Erst durch sie, so scheint es, wurde auch der Operngesang zu einer existentiellen Erfahrung.“ Und er betont zurecht, dass „der künstlerische Einfluss von Maria Callas auf die Musik und das Musikleben der Gegenwart“ nach wie vor immens sei.

Über die Stimme der am 2. Dezember 1923 geborenen Maria Callas gehen die Meinungen weit auseinander. Eigentlich hatte sie drei Stimmen. Die drei Register – eine herb-getönte, dramatische Bruststimme, eine dunkel timbrierte, fast animalische, dämonische Mittellage und eine brillante Höhe bis zum dreigestrichenen Es waren je für sich beeindruckend, wenn auch nicht restlos ausgeglichen. Aber mit ihrer vielschichtigen Stimme konnte sie eine irritierende und oftmals schockierende Vielfalt von Klängen und Stimmfarben erzeugen und damit Seelisches zum Klingen bringen wie nur wenige andere Sängerinnen.

Tatsächlich war die Bedingungs­losigkeit, die Intensität, die Ernsthaftigkeit und Kompromiss­losigkeit ihres Singens, aber auch die ihres schauspielerischen Instinkts, und ihrer perfekten Beherrschung der Rolle der Primadonna hat das Publikum, trotz ihrer stimmlichen An­fecht­barkeit, schlichtweg hin­gerissen und überwältigt, denn sie hat mit ganzer Seele gesungen. Das war das Geheimnis der Callas. Das, was die Italiener „Canto espressivo“ nennen.

Sie hat die Sehnsüchte und Bedürfnisse des Publikums erfüllt, und sie hat den von ihr dargestellten Figuren der Vergangenheit eine Stimme unserer modernen Zeit gegeben. Vor allem den Belcantopartien, die sie fürs 20. Jahrhundert wieder entdeckt hat.

Die Karriere der Callas war vergleichsweise kurz. Nur 15 Jahre stand sie erfolgreich auf der Bühne. Sie hat sich durch ihren schonungslosen Einsatz regelrecht verbrannt. Singen war für sie mehr als Beruf und Big Business, auch wenn sie der teuerste Opernstar ihrer Zeit war. Maria Callas hat sich mit den Figuren, die sie darstellte, total identifiziert. Sie war ungewöhnlich fleißig. Sie hatte ein sehr breites Repertoire. Sie sang italienisches Fach, Französisches Fach, sie sang Wagner, Belcanto, Rossini und Spontini. Sie hatte das Leben lieben gelernt, daher hatte sie Raubbau an ihrer Stimme betrieben. Die Begeg­nung mit dem glamourösen Milliardär Onassis, durch die sie zur berühmtesten Frau der Welt wurde, hat ihr schließlich das Genick gebrochen, seelisch wie stimmlich. Ihr erster Mann, Meneghini, war nichts als Vaterersatz und ein skrupelloser Manager gewesen. Onassis war ihre große Liebe. Onassis versprach Maria Callas die Heirat. Sie wollte endlich ein ganz „normales“ Leben als Frau führen. Doch dann hat Onassis schließlich das Interesse an Maria Callas ver­loren und heiratete die ehemalige First Lady der USA, Jacqueline Kennedy. Darüber kam Maria Callas nicht hinweg. Sie war eine gebrochene Frau. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Das war ihr Ende. Darüber berichtet die Yellow Press genüsslich. Es war der Bodensatz, aus dem sich die Callas-Mythen und Legen­den speisten und speisen, bis heute.  Daran beteiligt sich Jacobshagen erfreulicherweise nicht.

Jacobshagen versteht es, diese durch Boulevardpresse, Klatsch und Sensations­gier verzerrte Sicht auf die Sängerin Maria Callas wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen und einzuordnen.

Die Callas, so Jacobshagen, sei ihrer Zeit weit voraus gewesen. „Sie leitete eine Repertoirewende des musikalischen Theaters und einen Paradigmenwechsel der Gesangsästhetik ein, den man als ‚Belcanto turn‘ bezeichnen könnte. Diese Wende ist heute noch längst nicht Geschichte. Im Gegenteil: Sie ist aktueller denn je.“

Last but not least: Jacobshagen nennt Zahlen und Fakten des bis heute andauern­den Medien­rummels, der Mythisierung und der Vermarktung der Callas dreht. Sorgfältige Anmer­kungen, Literaturverzeichnis und Register verstehen sich bei Jacobshagen von selbst. Er hat den Überblick über die vielseitige Auseinander­setzung mit dem Phänomen Callas behalten und eindrucksvoll eine Summe gezogen (Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“ Reclam 366 S.) Dieter David Scholz..

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Sonderausgabe von Attila Csampais Callas: Eine solche Gewichtsabnahme um mehr als 20% hätte der Diva gefallen. Äußerlich abgespeckt vom coffee table book zum immer noch großformatigen, aber handlicheren Buch hat die Hommage, die rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Callas am 2. Dezember wieder aufgelegt wurde, nichts von ihrer gediegenen Machart und Schönheit verloren, für die der Schirmer/Mosel Verlag steht („Callas – Gesichter eines Mediums“. 248 Seiten, 165 Duotone-Tafeln, 4 Farbtafeln; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3829609821). Unverändert blickt sie uns auf Cecil Beatons Halbporträt aus dem Jahr 1956 im schwarzen Pullover und den das Gesicht einrahmenden aufgestützten Armen entgegen. Eine Sphinx. Ganz klar. Die Rätsel werden auch durch diese Sonderausgabe des erstmals 1993 erschienen Buches nicht gelöst, mit dem Attila Csampai seinerzeit den angelsächsischen Publikationen mit einer deutschen Veröffentlichung entgegentrat. Entsprechend des Untertitels „Gesichter eines Mediums“ zeigt der nahezu unverändert übertragene Band, der wieder durch Ingeborg Bachmanns „Hommage à Maria Callas“ eingeleitet wird („Es ist schwer oder sehr leicht, Größe anzuerkennen“), worauf Csampais Liebeserklärung-Essay „Augenblicke der Ewigkeit“ folgt, die vielen Gesichter der Callas privat und ihren Bühnenrollen, angefangen von den Familienbildern und Fotos mit Freunden in Griechenland über die ersten Proben und Auftritte, die zunehmend in Schönheit schwelgenden kunstvollen Rollenporträts bis zu den letzten Bühnenauftritten und dem wehmütigen Blick, mit dem sie aus ihrer Pariser Wohnung auf die Avenue Mandel schaut. Der Unterschied gegenüber der ursprünglichen Ausgabe findet sich im sog. Anhang, der auf die dreizehn Seiten mit der wertvolle Auflistung der Bühnenauftritte verzichtet und die aus unzähligen Live- und Studioaufnahmen bestehende und heute sicherlich überholte Diskographie, die Dieter Fuoss auf acht Seiten erstellt hatte, durch einen Hinweis auf die Warner Classics Gesamtedition der Callas-Audioaufnahmen (2014/2017) ersetzt, die ihrerseits inzwischen von einer noch umfangreicheren Studio-Edition „La Divina – Maria Callas in all her roles“ abgelöst wurde. Rolf Fath.

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Helge Klausener: Maria Callas. Eine Chronik: Tag für Tag – Jahr für Jahr. La Divina wird sie genannt, „Die Göttliche“. Sie galt als „Primadonna assoluta“. Sie war zu Lebzeiten schon ein Mythos und sie war eine hollywoodreife Diva, deren glamouröse Er­scheinung, deren gesellschaftliche Skandale und   deren künstlerischen Erfolge Publikum und Presse auf der ganzen Welt in Atem hielten.

Ihr Leben rieb sich zwischen den Polen Kunst und Liebe auf. Ihre filmreife und roman­hafte Vita ist eine bewegende Geschichte von Triumphen, Exzessen und Tragödien. Auch 100 Jahre nach ihrer Geburt am 2. Dezember 1923 bleibt Maria Callas eine der größten Opern-Diven schlechthin.

Maria Callas fasziniert nach wie vor als überragende Künstlerin, aber auch als Stilikone und mit ihrer Persönlichkeit. Dramatischer Gestus und musikalische Authentizität sind die unverwechselbaren Merkmale ihrer Interpretationen. Ebenso einzigartig ist der außergewöhnliche Tonumfang ihrer Stimme, ihr einzigartiges Timbre ist berührend. All dies verbindet sich zu einer Aura, mit der Maria Callas viele Protagonistinnen der Oper verkörperte und sie zum Inbegriff der Primadonna wurde.

Über die Stimme der Callas gehen die Meinungen weit auseinander. Eigentlich hatte sie drei Stimmen. Die drei Register – eine herb-getönte, dramatische Bruststimme, eine dunkel tim­brierte, fast animalische, dämonische Mittellage und eine brillante Höhe bis zum dreige­strichenen Es – waren je für sich beeindruckend, wenn auch nicht restlos ausgeglichen. Aber mit ihrer vielschichtigen Stimme konnte sie eine irritierende und oftmals schockierende Vielfalt von Klängen und Stimmfarben erzeugen und damit Seelisches zum Klingen bringen wie nur wenige andere Sängerinnen.

Die Karriere der Callas war vergleichsweise kurz. Nur 15 Jahre stand sie erfolgreich auf der Bühne.  Sie hat sich durch ihren schonungslosen Einsatz regelrecht verbrannt. Singen war für sie mehr als Beruf und Big Business, auch wenn sie der teuerste Opernstar ihrer Zeit war. Maria Callas hat sich mit den Figuren, die sie darstellte, total identifiziert. Und sie hat sich nicht geschont. Sie war ungewöhnlich fleißig. Sie hatte ein sehr breites Repertoire. Sie sang italienisches Fach, Französisches Fach, sie sang Wagner, Belcanto, Rossini und Spontini. Sie hatte Raubbau an ihrer Stimme betrieben. Die Begegnung mit dem Milliardär Onassis, durch die sie zur berühmtesten Frau der Welt wurde, hat ihr schließlich das Genick gebrochen, seelisch wie stimmlich. Ihr erster Mann, Meneghini, war nichts als Vaterersatz und ein skrupel­loser Manager gewesen. Onassis war ihre große Liebe. Onassis versprach Maria Callas die Heirat. Sie wollte endlich ein ganz normales Leben als Frau führen. Doch dann hat Onassis schließlich das Interesse an Maria Callas verloren und heiratete die ehemalige First Lady der USA, Jacqueline Kennedy. Darüber kam Maria Callas nicht hinweg. Sie war eine gebrochene Frau. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr.

Das Geheimnis der Callas und ihrer immensen Wirkung jenseits der Skandale und Bildzei­tungs­­sensationen, die natürlich auch zum Mythos Callas gehörten, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.  Sie hat ein­mal gesagt: „Die Cal­las hat nicht Rollen gesungen, sondern auf der Rasierklinge gelebt“. Diese Bedingungs­losigkeit, die Intensität, die Ernsthaftigkeit und Kompromisslosigkeit ihres Singens, aber auch die ihres schauspielerischen Instinkts, und ihrer perfekten Beherrschung der Rolle der Primadonna hat das Publikum – trotz ihrer stimmlichen An­fecht­barkeit – schlichtweg hin­gerissen und überwältigt, denn sie hat mit ganzer Seele gesungen. Das, was die Italiener „Canto espressivo“ nennen. Sie hat die Sehnsüchte und Bedürfnisse des Publikums erfüllt, und sie hat den von ihr dargestellten Figuren der Vergangenheit eine Stimme unserer modernen Zeit gegeben. Vor allem den Belcantopartien, die sie fürs 20. Jahrhundert wieder entdeckt hat.

Ihre Skandale und Erfolge haben jahrelang die Schlagzeilen der internationalen Medien, nicht nur der Regenbogenpresse beherrscht. Sie ist dabei selbst zu einer der tragisch-romantischen Heldinnen geworden, die sie auf der Bühne unnach­ahmlich verkörperte. Maria Callas ist ein Mythos geworden, der bereits zu ihren Lebzeiten entstand.  Über den Mythos habe John F. Kennedy einmal gesagt, so zitiert ihn Klausener, er sei „der große Feind der Wahrheit.“  Man kann dies als Motto seines Buches verstehen.

Klausner hat aus gegebenem Anlass eines der bemerkenswertesten Callas-Bücher geschrieben. Er ist inzwischen pensioniert.  Er hat an der Universität Mainz Spanisch, Italienisch, Philo­sophie und Betriebswirtschaft studiert, arbeitete als Diplom-Übersetzer, bei der Bundesagentur für Arbeit, und in diversen Berufen in Italien. Musikwissen­schaftler ist er nicht, auch kein Stimmen- oder Sänger­spezialist. Er ist „nicht vom Fach“ wie er bekennt. „In meinem beruflichen Leben habe ich mit Gesang, Oper, Musik nichts zu tun gehabt.“ Vielleicht deshalb ist ihm gelungen, was so viele Bücher über La Divina vermissen lassen: die Sachlichkeit eines Archivars, der über Jahre gesammelt und geordnet hat

Jürgen Kesting, selbst einer der führenden Calls-Biographen (Maria Callas 1990) schreibt denn auch zurecht in seinem Geleitwort: „Die meisten Versuche, ,,the woman behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehricht­samm-lung von Fakten und Fakes hinausgekommen. … Dem Faszinosum der Sängerin, die Lanfranco Rasponi in seinen Gesprächen mit ,,The Last Prima Donnas“ als ,,The One and the Only“ führt – diesem mythisierten Wesen spürt Helge Klause­ner auf den 440 Seiten einer Akte nach, die sich an eine Maxime des ,,Spiegel“-Günders Rudolf Augstein hält: ,,Sagen, was ist.“

Das Buch von Klausener ist das Ergebnis akribischer Archiv­arbei­ten und Re­cher­chen: eine respektgebietende Sammlung von biographischen Daten, von Erinne­rungen und von Dokumenten (Zeitungs- und Magazin-Artikel, Rund­funksendungen, Erinnerungen von Kolle­ginnen und Kollegen) über die Ausbil­dung der Callas, über ihre ersten Aufführungen und Konzerte, über den Beginn ihrer Karriere, über den Aufstieg zur Primadonna und über ihre ruhmreichen Jahre bis zum Ende ihrer Karriere.

Die Sammlung von Fakten „wird kontrastiert oder auch konterkariert durch Berichte oder Kritiken, durch die sich ihr künstlerischer Weg erschließt. Es finden sich lange (und nicht geschönt zitierte) Passagen aus Kritiken nach wichtigen Premieren und Gastspielen, aus denen nicht zuletzt die Parameter abzulesen sind, nach denen sie beurteilt wurde. … Weiters finden sich Auszüge aus den wichtigsten Essays und Würdigungen bedeutender Connaisseurs, aus Erinnerungen von Dirigenten“ und aus legendären Callas Debatten. (Jürgen Kesting)

Chronologisch geordnet reiht Klausener nichts als Fakten aneinander, die die Konturen des Callas-Bildes deutlicher denn je erscheinen lassen. Wie gesagt: Dies ist keine Callas-Biografie. Es ist eher eine Aufführungs- und Rezeptions­geschichte der vielleicht bedeutendsten Sängerin des vergangenen Jahrhunderts. Gleichzeitig ist es der Versuch, die durch Boulevardpresse, Klatsch und Sensationsgier verzerrte Sicht auf die Sängerin Maria Callas wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen und biographische Fakten zu korrigieren.

Klausener ist bescheiden in seinem Anspruch an sich selbst. Er wolle mit seinem Callas-Buch nicht weniger, aber auch nicht mehr als „eine Chronik ihrer Lebensdaten mit all ihren Aufführungen und Schallplatteneinspielungen in bislang nicht vorliegender Ausführlichkeit und Präzision liefern; ihre Kolle­ginnen und Kollegen, ihre Kritiker, ihre Freunde und Gegner sollten zu Wort kommen. So, stellte ich mir vor, würde aus den Zeugnissen ihrer Zeit ein realitätsnahes und für heutige Leser authentisches Bild der Künstlerin Maria Callas entstehen. … So kann dieses Buch … einen Überblick über die inter­natio­nale Rezeption von Maria Callas geben, und es kann, unterfüttert mit gesi­cher­ten Daten und Fakten, auf meine persönliche Wertung als ,,Autor“ verzichten.“ Chapeau! Das nennt man Understatement.

Register, Quellenverzeichnis, ausführliche Anmerkungen und ein imponierendes Verzeichnis der Erinnerungen, Würdigungen und Porträts der Callas in TV und Radio sind angehängt und vervollständigen dieses vergleichslose Buch. Es herrscht wahrlich kein Mangel an Callas-Büchern. Aber dieses ist konkurrenzlos und wichtig (Helge Klausener: Maria Callas. Eine Chronik: Tag für Tag – Jahr für Jahr, Hollitzer Verlag Wien 2023. 476 S.; ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3990940648). Dieter David Scholz

 

Maria und Maria und Maria: Maria Callas heißt das Buch von Eva Gesine Baur im Beck Verlag, und darunter kann man sich viel vorstellen: einen Roman, eine Biographie, eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Stimme der Leidenschaft ist das Werk untertitelt, und nun erwartet man ein Buch, dass sich mit der Sängerin Maria Callas auseinandersetzt. Eine Biographie liest man in der untersten Zeile, und wieder ist offen, um was es sich bei den immerhin mehr als 500 Seiten umfassenden Werk handelt. Für eine wissenschaftliche Abhandlung sprechen die mehr als fünfzig Seiten Anhang, bestehend aus vierzig Seiten Quellennachweisen, einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und einem Personenregister. Auf einen fiktionalen Text hingegen weisen die Überschriften für die einzelnen Kapitel hin wie Die umschwärmte Verschmähte, denen wiederum drei oder mehr Untertitel folgen wie Omero Lengrini wird entbunden und stirbt, Callas ist noch immer nicht schwanger und zeigt sich in  knappen Bikinis. Dabei fällt auf, dass fortlaufend und in schöner Konsequenz mit Gegensätzen gearbeitet wird, ja dass die Verfasserin das Objekt ihrer Betrachtungen als eine Art Doppelperson, zerfallend in eine Maria und eine Callas, sieht. Sehnt sich Maria nach Liebe und Mutterschaft, so strebt Callas nach Ruhm und Reichtum und vor allem nach künstlerischer Bestätigung, nach Vollkommenheit und die beiden Komponenten   dieses Gegensatzpaars werden in schöner, manchmal auch penetrant wirkender Konsequenz durch das gesamte Buch hindurch begleitet, zu jedem Ereignis, zu jeder neu auftretenden Persönlichkeit werden nacheinander Maria und Callas oder umgekehrt Callas und Maria quasi befragt, wobei vieles belegt ist, wie die Anmerkungen beweisen, vieles aber auch Spekulation zu sein scheint, auf jeden Fall viele Seiten damit gefüllt werden können, ohne dass es immer zu einem bedeutenden Erkenntnisgewinn kommt. Das extremste Beispiel dafür ist der angebliche Sohn von Callas und Onassis, den sie sich, so wollten Gerüchte wissen, vor dem Geburtstermin aus dem Leib schneiden ließ, um dem Erzeuger des Kindes nicht mit dickem Bauch entgegentreten zu müssen. Diese Geschichte wird erst erzählt, damit sie dann ebenso ausführlich widerlegt werden kann. Spektakuläre Gegensätze wie Ausnahmetalent in Kittelschürze oder Musikstudentin auf Abwegen sind besonders beliebt und immer eindrucksvoll.

Vor Eva Gesine Baur hatte bereits Pasolini erkannt, dass in Callas‘ Brust zwei Seelen wohnten: die einer antiken Tragödin und die einer modernen Frau, aber das ist eine andere Art der Gegenüberstellung als die von der Verfasserin praktizierte.

Dem Fiktionalen nähert sich die Autorin besonders dann, wenn sie vorgibt, die Gedanken von Callas zu kennen, Spekulationen sind dem Romanautoren durchaus erlaubt, ja erwünscht, auch Pauschalurteile wie die, dass Jackie, die Schwester, nach Geld, Maria aber nach Ruhm strebte. Und auch gewagte Thesen wie die, dass zur antiken Tragödie auch Vernunft gehört, erwecken das Erstaunen des Lesers.

Nicht wirklich sattelfest ist die Verfasserin, was Opernpartien, Opernarien und Opernsänger angeht. So war Benvenuto Franci nicht Dirigent (Das war sein Sohn Carlo.), sondern Bariton, will Amonasro Radames nicht „vernichtet sehen“, sondern zur Flucht animieren, ist Elena aus den Vespri nicht Königs-, sondern Herzogstochter, Imogen nicht Königin, hat Alfredo nur eine und nicht zwei große Arien, ruft Tosca nicht im 3. , sondern im 1. Akt dreimal „Mario“, singt Aida nicht im 1., sondern im 3. Akt „Oh patria“, können di Stefano und Björling nicht gemeinsam im Trovatore aufgetreten sein, ist Butterfly im zweiten und nicht im dritten Akt voller Freude, Norma hat nur zwei und nicht vier Akte, ist Verdis Jago kein Tenor. Das mögen Kleinigkeiten sein, sie zerstören aber das Vertrauen des Lesers in die Teile des Textes, die er nicht kontrollieren kann, weil ihm die Kenntnisse dazu fehlen.

Weite Teile des Buches gelten dem Berichten über Ereignisse, politische oder künstlerische, von denen irgendwann bekannt wird, dass Callas davon keine Kenntnis nahm, seien es Erfolge der Beatles oder seien es Unruhen in ihrer griechischen Heimat. Sie geschehen lediglich zeitgleich mit dem, was von Callas berichtet wird. So wird das Buch gespeist von einfühlsamen Betrachtungen über Karriere und Leben der Callas, aber auch von zum Verständnis ihrer Seelenlage oder ihres Handelns nicht notwendigen Abschweifungen oder Wiederholungen.

Außer Maria Callas ziehen am Auge des Lesers, und das macht einen beträchtlichen Wert des Buches aus, Persönlichkeiten wie Visconti und Zeffirelli, Toscanini und Serafin, di Stefano und Simionato, Gorlinski und Legge, Onassis und …vorbei. Und die Autorin hätte noch mehr über nur am Rande gestreifte Ereignisse erfahren können, so von Fiorenza Cossotto, dass Zeffirelli nie mehr ein Wort mit ihr sprach, nachdem sie ihre Töne länger als Callas‘ Norma gehalten hatte, und Raina Kabaivanska hätte ihr davon berichten können, dass Callas sie nach den misslungenen Vespri in Turin mit nach Paris nehmen wollte, um sie zu einem Star zu machen. Was diese dann auch ohne Nachhilfe wurde.

Leider spricht das Buch zwar von vielen Fotos, es sind aber nicht viele davon in dem Band zu finden. Es ist eine reiche Materialsammlung, informiert sehr ausführlich, wenn auch natürlich nicht mit dem Wahrheitsgehalt eines Dokuments, über den Menschen Maria Callas und lässt denjenigen Leser etwas enttäuscht zurück, der gern mehr über die Besonderheit der Kunst der Ausnahmesängerin  erfahren hätte (Eva Gesine Baur Maria Callas; C.H.Beck Verlag 2023; 510 Seiten; ISBN 978 3 406 79142 0, 2023). Ingrid Wanja 

Francese all´Italiana

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„Favorita del Re“ oder vielmehr „La Maitresse du Roi“  in der französischen und damit ursprünglichen Fassung lautet der Schreckensruf von Fernand, als er erfährt, dass die für keusch gehaltene geliebte Leonor bereits ein aktives Liebesleben hinter sich hat. Jedes Jahr im Herbst wird in Bergamo, der Geburtstag von Gaetano Donizetti, ein ihm gewidmetes Festival veranstaltet, in dem 2022 Valentina Carrasco darüber nachdachte, in welcher Epoche die bittere Erkenntnis von der Nichtjungfräulichkeit der Braut eine Tragödie auslösen könnte. Zwar ist das Personal der Oper historisch nachweisbar, hatte König Alfons XI. tatsächlich eine Geliebte mit Namen Leonora di Guzman, die allerdings nicht jung verstarb, sondern ihm ein knappes Dutzend Kinder gebar.

Die Regisseurin unterstellt der Zeit noch vor der Reconquista mehr Freizügigkeit als der Entstehungszeit der Oper und versetzt deswegen die Handlung in die Lebenszeit Donizettis, womit allerdings noch lange nicht die Frage geklärt ist, wie es einem Novizen gelingen kann, als Feldherr zu brillieren und die Spanien besetzt haltenden Mauren zu besiegen. Als weiterer Stolperstein erwies sich das für eine französische Oper unverzichtbare Ballett, dem Dirigent Riccardo Frizza zwar zumindest teilweise musikalische Qualitäten bescheinigt, das jedoch eigentlich nichts mit der Handlung zu tun hat, außer sie zu unterbrechen.

Die Regie in Bergamo lässt zur Ballettmusik in dieser Version der Favorite eine Gruppe älterer Damen ihren Betten entsteigen und sich einer ausgedehnten Morgentoilette einschließlich Zähneputzen widmen, womit auch die Frage nach dem Sinn von vielen verhüllten Kästen, die in den beiden ersten Akten die Bühne zustellten, beantwortet wird (Bühne Carles Berger und Peter van Pret). Die sich zeitweise in Tüllröcke (Ballett!) hüllenden Damen aus der  Bevölkerung von Bergamo sollen die abgelegten Geliebten des Königs sein und rücken diesem auch einmal bedrohlich auf den Leib. Das Ballett dürfte Anlass für die größte Verlegenheit der Regie gewesen sein, denn ansonsten nimmt die Handlung, abgesehen davon, dass die Kostüme mit Hosenträgern und Kummerbund für die Herren (Silvia Aymonino) nicht ins 14. Jahrhundert passen, mit vielem Schreiten für das Personal ihren Lauf  und stört die Sänger nicht bei ihrer eigentlichen Beschäftigung, dem Singen.

Das allerdings gibt durchaus Anlass zur Freude. Annalisa Stroppa hat einen auch für Rossini bestens geeigneten Mezzosopran mit einheitlicher Färbung für den gesamten Stimmumfang, klar konturiert und von schlankem Ebenmaß. „Oh mon Fernand“ klingt schön und die Herzen berührend, für die Cabaletta steht der attraktiven Sängerin das notwendige vokale Feuer zur Verfügung. Ein optisch höchst attraktiver Alphonse XI ist Florian Sempey, der seinen lyrischen Bariton sehr unter Druck setzt, manchmal recht dumpf klingt, aber die Gewähr für eine idiomatische Verkörperung der Partie bietet. Ebenso attraktiv, dazu balsamisch Glaubensgewissheit verkündend, ist Evgeny Stavinsky als Balthazar, der sich nur im Presto auch einmal hohl anhört. Erfüllen diese Drei optisch alle Anforderungen an heutige Opernsänger, so fällt Javier Camarena in dieser Hinsicht doch etwas aus dem Rahmen, kann es sich jedoch leisten, weil er schließlich Tenor und dazu noch einer der spektakulärsten für dieses Fach ist. Sein Fernand verfügt über eine strahlende Höhe, ein beachtliches Falsettone für die allerextremsten Töne, eine solide Mittellage und singt ein wunderschönes, inniges „ Ange si pur“.  Edoardo Milletti als Don Gaspar und Caterina Di Tonno als Inés sorgen zusätzlich neben dem Chor aus Bergamo und dem Coro dell‘ Accademia Teatro alla Scala und dem Orchestra Donizetti Opera unter Riccardo Frizza dafür, dass sich man doch eher in einer italienischen als einer französischen Oper wähnt und darüber ganz und gar nicht böse ist.

Dem Genueser Label Dynamic ist es einmal mehr zu verdanken, dass man am italienischen Opernleben teilnehmen kann, nicht nachvollziehen allerdings kann man, dass diese Produktion den Abbiati Prize 2022 in Italien gewonnen hat (Dynamic 57992). Ingrid Wanja      

Urfasssung

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Muss es denn noch eine Cavalleria Rusticana sein und dazu noch mit einem Orchester, das bisher nicht gerade als Spezialist für den italienischen Verismo aufgefallen ist? Muss es nicht, aber kann es gern, wenn es sich um die Urfasssung der Partitur des jungen Pietro Mascagni handelt, so wie er seinen Einakter hoffnungsvoll der Kommission, die über den Gewinner des vom Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno zum zweiten Mal veranstalteten Wettbewerbs entscheiden sollte, vorgelegt hatte. Als Sieger stand der Komponist aus Livorno schnell fest, auch weil sein Konkurrent Leoncavallo keinen Ein-, sondern einen Zweiakter eingereicht hatte, aber die Proben erwiesen sich als schwierig, da der Chor des Teatro Costanzi in Rom Schwierigkeiten mit seiner umfangreichen und anspruchsvollen Partie hatte und Sopran und Tenor mit der Tessitura nicht zurechtkamen, eine Transposition um einen halben oder sogar ganzen Ton für Teile ihrer Rolle forderten. Mascagni kam den Forderungen nach, auch wenn es ihm, so berichtet er in einem Briefwechsel, schwer fiel, die geänderten Bruchstücke wieder sinnvoll in die Partitur einzubetten, er verkürzte das Auftrittslied des Baritons um eine der vorgesehenen drei Strophen, so dass am Ende mehr als zehn Prozent der Oper dem Rotstift zum Opfer fielen. Da die dritte Strophe von Alfios Arie eigentlich zum Verständnis des formalen Aufbaus des Stücks notwendig ist, war der Verzicht auf sie auch der für Mascagni schmerzlichste. Cavalleria Rusticana fällt auch durch die Besetzung aller drei Frauenpartien mit einer tiefen Frauenstimme auf. Zwar haben auch viele Soprane, darunter Callas, die Partie gesungen, aber die großen, unvergesslichen Santuzzas waren Mezzosoprane wie Simionato oder Cossotto. Auf der nun vorliegenden CD ist die Partie einem lyrischen Sopran anvertraut, nachdem die Transpositionen rückgängig gemacht worden sind. Außerdem ist das Auftrittslied des Alfio wieder dreistrophig, was eindeutig einen Gewinn darstellt.

Der Balthasar Neumann Choir und das gleichnamige Orchestra unter Thomas Hengelbrock geben sich im November 2022 in Baden Baden  eher sanft melodisch als scharf akzentuierend, das Orchester gewinnt an Gewicht nach Turiddus Preislied, das sehr aus der Ferne erklingt, filigran zeichnet das Zwischenspiel die herrschende Stimmung nach.

Die Santuzza von Carolina López Moreno singt mit zartem, apartem, hellem Sopran, sehr delikat, auch spritzig, sanft verhauchend im „io son dannata“. Insgesamt ist sie verletzlicher, aber auch unbedeutender als Person, der man die leidenschaftliche sizilianische Bäuerin nicht recht abnimmt. Sie mag an Höhe gegenüber den traditionellen Santuzzas gewinnen, nicht aber an Glaubwürdigkeit, zumindest was die inzwischen entstandenen Hörgewohnheiten betrifft. Giorgio Berrugi ist ein italienischer Tenor mit dem entsprechend passenden Timbre, das er aber auch für den Siegmund einsetzt.  Einen schlanken, zunächst gar nicht bärbeißigen Alfio singt Domen Križaj, geht auch mal im Chor unter, steigert sich aber im Verlauf des Geschehens zu dunkel tönender Tragik. Auch einmal eine gute Santuzza war Elisabetta Fiorillo, die nun als Mamma Lucia wesentlich zur angemessenen dichten akustischen Atmosphäre beiträgt und nicht nur Stimmreste anzubieten hat. Eva Zaȉcik tändelt als verführerische Lola durch die Musik.

Was einmal als Ergebnis des Unvermögens der ausführenden Kräfte dem jungen Mascagni Kopfzerbrechen bereitete, scheint doch, insbesondere die Stimmlage der Santuzza betreffend, die bessere, zumindest die lieb gewordene Lösung für den unsterblichen Einakter zu sein (Prosp0088). Ingrid Wanja        

Sohn der Stadt

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Das Schicksal  nicht allzu mutwillig herausfordern wollte wohl Dirigent Federico Maria Sardelli, als er 2022 bei der Aufführung von Jean-Baptiste Lullys pastorale heroique Acis et Galatée beim Maggio Musicale Fiorentino nur zu Beginn und zum Schluss mit dem zu Lebzeiten des Komponisten üblichen Dirigierstock hantierte, solange das Auge der Kamera auf ihm ruhte. Dem Komponisten war bei seiner letzten Amtshandlung die Spitze desselben in den Fuß eingedrungen, was zu Wundfieber und zum Tod von Lully geführt hatte. In der Sala Zubin Mehta beginnt das Werk  in der Regie von Benjamin Lazar als eine Art immer wieder von Tänzchen oder auch einmal einem Blinde-Kuh-Spiel unterbrochenes Picknick, eine riesige Videowand täuscht eine Lichtung im Wald  (Adelin Caron), zwei Gemälde  intimere Räume vor, und die Kostüme von Alain Blanchot wirken gewollt improvisiert. Insgesamt wird keinerlei Virtuosität vorgetäuscht, sondern eher der Eindruck erweckt, Amateure hätten sich mit einer ihre Möglichkeiten übersteigenden Aufführung etwas übernommen. Das hat alles einigen Charme, ermüdet mit der Zeit aber doch durch seine wohl gewollte Unbeholfenheit.

Das Werk beginnt mit der für die  Zeit  typischen Lobpreisung Ludwigs XIV., d.h. eher des Dauphin, der die Uraufführung als Gast aristokratischer Gastgeber auf Chateau d‘Anet, 80 Kilometer von Paris entfernt, erlebte. Erst nach einigen Aufführungen in der Provinz gelangte die Oper nach Paris, wo sie mit allem Bühnenzauber, dessen man damals fähig war, aufgeführt wurde. Auf diesen nun verzichtet man in Florenz bewusst, allerdings leider auch auf eine, was die Sänger betrifft, durchgehend zufriedenstellende Besetzung. Dabei handelt es sich schließlich um die italienische Erstaufführung eines Werks von Jeanbattista Lulli, der ein Sohn der Stadt war. Ganz anders und dem Anlass entsprechend verhält es sich mit dem Orchestra e Coro del Maggio Musicale, denen der Dirigent feierliche Pracht wie graziöse Detailverliebtheit entlocken kann. Die vier professionellen Tänzer Caroline Ducrest, Robert Le Nuz, Alberto Arcos und Gudrun Skamletz  heben sich unter Leitung der Letzteren nicht sonderlich von den tanzenden Sängern ab, was bei der immensen Bedeutung, die das Ballett hat, recht ärgerlich ist.

Insgesamt schlägt sich das weibliche Personal besser als vor allem die hohen Männerstimmen. Der haute-contre Jean-Francois Lombard hat für den Acis recht wenig vokale Substanz, gibt aber immerhin einen liebenswerten, seine Naivität glaubwürdig vermittelnden Hirten. Seinen Kollegen Teléme verkörpert Sebastian Monti mit Schwierigkeiten beim Registerausgleich, der sich stärker noch beim Apollon bemerkbar macht. Außerdem singt er den Priester der Juno. Erfreulich gut schlagen sich die dunkleren Stimmen, so der Polipheme von Luigi De Donato mit markantem Bass oder der Neptune mit götterwürdiger Präsenz von Guido Loconsolo. Eine zarte, aber zu virtuosem Einsatz fähige Sopranstimme hat Valeria La Grotta für Diane, Zweite Najade und Scylla, mehr Glanz und Fülle besitzt der Sopran von Francesca Lombardi Mazzulli, die zutreffend L’Abbondanza, dazu Aminte und Erste Najade singt. Der unangefochtene Star der Aufführung, und das nicht nur wegen ihres langen Solos am Schluss, ist Elena Harsány als Galatée mit lyrischem Feuer und anmutigem Spiel. Das war hoch professionell und stimmte versöhnlich gegenüber mancher Unzulänglichkeit im Geamtablauf (Dynamic 57971). Ingrid Wanja   

Betörend

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Fast immer wird in Einspielungen der Liederzyklus Les Nuits d’été von Hector Berlioz mit Maurice Ravels Shéhérazade kombiniert. Viele Aufnahmen auf dem Markt zeugen von dieser Praxis und so muss sich Marie-Nicole Lemieux mit ihrer Neuaufnahme bei ERATO dem Vergleich mit einer Vielzahl von Konkurrenzversionen stellen. Aber diese Platte, eingespielt im Mai 2021 und Juli 2022 in Monte-Carlo (5054 197659409), weist einen Trumpf auf, denn sie präsentiert als zusätzliches Werk die Mélodies persanes op. 26 von Camille Saint-Saëns, welche auf Tonträgern kaum  anzutreffen sind. Die Neuedition des Palazzetto Bru Zane ist sogar eine Erstaufnahme, denn hier ist Saint-Saëns’  Orchestration der Lieder nach Texten von Armand Renaud, die er ursprünglich für Gesang und Klavier schrieb, zu hören. Außerdem wurden die ursprüngliche Reihenfolge der Titel wieder hergestellt und zwei Zwischenspiele aus der sinfonischen Ode Nuit persane eingefügt. Das begleitende Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo unter Kazuki Yamada malt diese atmosphärisch aus und ist der Garant für ein authentisches Klangidiom. „La Brise“ erinnert in ihrem sinnlichen Rhythmus an Bizets Carmen-Figur und Lemieux kann hier mit lockenden Tönen bezaubern. „La Splendeur vide“ ist von ähnlicher Stimmung, nur hintergründig-verhaltender und lässt den Alt der Sängerin schimmern und schweben. „La Solitaire“ erinnert in seinem spanischen Duktus an eine Zarzuela und gibt der Interpretin Gelegenheit für einen temperamentvollen Auftritt. „Sabre en main“ wirkt dramatischer und verlangt beinahe nach maskuliner Energie für ein martialisches Marsch-Thema. Wie bei Berlioz findet sich auch bei Saint-Saëns ein Stück mit dem Titel „Au cimetière“, aber natürlich mit anderem Text. Die Komposition ist von verhaltener Diskretion, erlaubt der Interpretin fein getupfte Passagen von nobler Zurückhaltung. Den Abschluss bildet „Tournoiement“ – ein Songe d’opium von fiebriger Nervosität.

Zu Beginn der CD erklingt der Berlioz-Zyklus mit seinen sechs Titeln. Der erste, „Villanelle“, ist von pulsierendem Rhythmus und Lemieux kann mit ihrer sinnlichen Stimme einen starken Auftakt bieten. Es folgt der melancholische Gesang „Le Spectre de la rose“, in welchem der Altistin betörende Momente mit schwebenden, flirrenden Klängen gelingen. „Sur les lagunes“ ist von schwermütigem Gestus, die Solistin setzt hier prägnante Akzente und lässt faszinierend dunkle Töne hören. Vom Ausdruck der Sehnsucht getragen ist „Absence“ und auch für „Au cimetière“ findet Lemieux delikate Stimmungen. Den Zyklus beschließt „L’Île inconnue“ mit ihrem schwelgerischen Melos, von der Solistin mit weitem dynamischem Radius erfasst.

Zum Schluss der CD sind die drei Stücke von Ravel auf Texte von Tristan Klingsor zu hören. Geheimnisvoll ertönt Asie, gestattet der Sängerin, die ganze Spanne ihrer stimmlichen Möglichkeiten auszureizen – von intimen Bekenntnissen bis zu dramatischen Ausbrüchen, bei denen dann auch ein greller Spitzenton zu hören ist. „La Flûte enchantée“ beginnt geheimnisvoll flirrend und steigert sich zu schwelgerischem, fremdartigem Melos. „L’Indifférent“ lässt an Debussys Klangidiom denken und bietet der Altistin zum Schluss nochmals Gelegenheit, ihre Ausnahmestimme bewundern zu lassen. Bernd Hoppe

Verstörend und ärgerlich

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Es kostet sehr viel Überwindung, sich das Video von der Inszenierung von Puccinis Tosca aus dem Theater an der Wien bis zum Ende anzugucken, so sehr ist die Inszenierung von Martin Kušej von Willkür gegenüber Inhalt und Text, von dem Streben nach Sex und Crime um jeden Preis geprägt, dass sie Übelkeit verursacht und wütende Verachtung gegenüber ihrem Produzenten. Da werden mehrere Personen zusammengefasst, so wie Sciarrone, der zugleich Mesner und Schließer ist, so dass er im dritten Akt Cavaradossi hohnlachend den Ring vom Finger reißen kann, dieser als Trost dafür aber auch den Hirten singen darf,  da wird eine Figur als szenisch präsente Gestalt hinzu erfunden, die Marchesa Attavanti, die von Anfang an in der Schneelandschaft mit Wohnwagen, in der das Stück nun spielt, umhergeistert, um schließlich Tosca zu erschießen, da offeriert Tosca Scarpia verschiedenste Kamasutrapositionen, ehe überhaupt von einem Handel um das Leben Cavaradossis die Rede ist, sind ihre Kostüme, ehe sie in Reizwäsche den Rest der Oper bewältigt, nicht die einer aus dem Konzert herbei geeilten Operndiva, sondern Herbertstraße letzte Ecke. Und als einziges Detail der Regie ist die Frage, ob die Laufmasche in ihren halterlosen Strümpfen Regieidee oder Bühnenunfall ist, einer Überlegung wert (Kostüme Su Sigmund, die wie viele ihrer Kolleginnen ein Faible für Schiesser-Feinripp hat ). Cavaradossi ist ein rechter Blödmann, weil er auf seine Erschießung wartet, statt in aller Ruhe nach Hause zu gehen, denn der Wohnwagen ist im dritten Akt verschwunden und weit und breit ist  kein Hindernis zu sehen.  Anette Murschetz hat eine kongeniale Bühne geschaffen, die zunächst  Eugen Onegins Duell mit Lenski erwarten lässt, ehe man außer der Schneelandschaft plus knorrigem Eichstamm den blutigen Torso an denselben, weitere abgetrennte Gliedmaßen und ein Marienbild erblickt. Im zweiten Akt öffnet sich die Vorderfront eines schäbigen Wohnwagens mit zwei Stühlen und einem Kofferradio (Schaub-Lorenz), Unmengen von Schergen kommen und gehen, Scarpia hat sich im Schnee ein Feuerchen angezündet und seine povera cena ist  wirklich eine solche, denn es gibt nichts zu essen. Das würde man ertragen, wenn nicht die Regie durch eine Häufung von Schockmomenten jede Aufmerksamkeit von der Musik ablenkt, Tosca nicht einmal gestattet, Vissi d’Arte ins Publikum, sondern mit dem Rücken zu demselben zu singen. Liegt es auch daran, dass die Arie seltsam kühl und flach klingt, auch ansonsten der Sopran zu leicht, eine typische Puccinistimme ist das zumindest in dieser Aufnahme nicht. So ist Kristine  Opolais zwar eine optisch ideale Tosca, aber auch eine mit substanzloser Mittellage und ohne ein schönes Aufblühen in der Höhe. Was für eine Angst müssen Sänger haben, dass sie sich lieber um die Wirkung ihrer Kunst bringen lassen, ehe sie sich Unzumutbarem verweigern, und wo bleibt die Verantwortung der Dirigenten gegenüber Werk und Publikum, das übrigens den Regisseur mit einem Buhorkan bedacht haben soll. Ingo Metzmacher hatte abgesagt, und was Marc Albrecht aus dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien an feinen Stimmungen (Vorspiel 3. Akt) herausholte, wäre einer besseren Optik wert gewesen.

Die vokalen Stärken von Jonathan Tetelmans Cavaradossi zeigen sich im Vittoria und La vita mi costasse, denn sein Tenor ist kraftvoll und klingt mühelos. Anzuerkennen ist auch, dass er für E lucevan le stelle sich um ein agogikreiches Singen bemühte, auch wenn es Piano und mezza voce noch etwas an Farbe mangelt. Gábor Bretz klingt als Scarpia im ersten Akt noch etwas hohl, kann aber zu Beginn des zweiten Akts mit seiner großen Soloszene mit farbigem, substanzreichem Bariton überzeugen. Schön höhnisch hört sich das Scrivete von Rafal Pawnuk als Schließer an, wie ein baritenore klingt Andrew Morstein als Spoletta, Ivan Zinovievs Angelotti darf sich noch lange im Schnee quälen, ein selbstbestimmter Tod im Brunnenschacht ist ihm nicht vergönnt. Diese Aufnahme kann man nur mit spitzen Fingern in der hintersten Schublade versenken, o meglio…. (Unitel 809704). Ingrid Wanja

           

Auf den Spuren einer Legende

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Regelmäßig arbeitet GLOSSA mit Filippo Mineccia zusammen und hat schon mehrere Alben mit dem italienischen Countertenor produziert. Das neueste ist Il castrato del granduca betitelt und bietet Arien, die für den Kastraten des toskanischen Großherzogs, Gaetano Berenstadt, komponiert wurden (GCD 923539). Das Booklet beinhaltet einen Einführungstext vom Sänger selbst in mehreren Sprachen und eine tabellarische Übersicht über die Karriere des Kastraten, welche 1708 in Neapel begann und ihn 1717 nach London führte. Dort trat er zunächst in Opern von A. Scarlatti, Mancini und Ariosti auf, bis er 1717 in Händels Rinaldo die Rolle des Argante übernahm. Der Komponist hatte sie bei dieser vierten Wiederaufnahme des Werkes eigens für Berenstadt von einer Bass- zu einer Altkastratenpartie umgearbeitet. Danach folgte eine mehrjährige Periode in Deutschland und Italien, bis er 1722 in die britische Metropole zurückkehrte und dort in mehreren Opern Händels mitwirkte. Diese Jahre bis 1724 gestalteten sich zum Höhepunkt in der Laufbahn des Sängers. Es waren vor allem Ratgeber, Väter und Schurken, die er interpretierte, auch wegen seiner riesigen Statur, die ihn für Frauenrollen ungeeignet erscheinen ließ. Händel komponierte für ihn die Titelrolle in Flavio (1723), den Adelberto in Ottone (1723) und den Tolomeo in Giulio Cesare (1724). Von London kehrte er nach Italien zurück, das er bis zu seinem Tod 1734 nicht mehr verlassen sollte. Er sang dort in Opern von Vinci, Sarro, Hasse, Giay, Giacomelli und im letzten Auftritt im Jahr seines Todes in Orlandinis La Semiramide.

Mineccia hat die Reihenfolge der Arien in seiner Anthologie streng chronologisch geordnet, was dem Hörer Gelegenheit bietet, die Karriere des legendären Sängers in ihrer Entwicklung zu verfolgen. Zu Beginn erklingen drei Arien des Argante aus Händels Rinaldo, also jener Oper, welche 1717 einen Wendepunkt in der Karriere des Kastraten markierte. Die erste, „Sorte amor“, bietet einen vehementen Einstieg in das Programm und erlaubt dem Sänger, auch seine tiefe Lage auszureizen. Auffällig ist ein zuweilen heulender Ton, der früher nicht zu bemerken war. Er findet sich in der zweiten Arie, „Ogni tua bella“, besonders stark. Das  dritte Solo, „Pregio è sol“, ist von lebhaftem Charakter und virtuosem Anspruch. Es folgt die Arie des Oreste „L’incauto che non teme“ aus Lottis Ascanio (Dresden, 1718). Sie ist von rasendem Duktus, den das Orchester mit stampfendem Rhythmus unterstützt. Mineccia kann den Erregungszustand der Figur plastisch einfangen. Die Arie des Pilade, „Vezzosetta tra questi fiori“, stammt aus Gasparinis Astianatte, in der Berenstadt 1719 in Rom auftrat. Sie gibt sich kontemplativ-gemessener. 1722 kam es in Venedig zur Aufführung von Giulio Flavio Crispo von Capelli, in der Berenstadt die Rolle des Flavio Costantino sang. Dessen Arie „Piaccia agli astri“ verlangt eine flexible Stimmführung für die Verzierungen, was Mineccia keine Probleme bereitet. Danach präsentiert er mit der Arie des Adelberto, „Bel labro formato“, aus Händels Ottone wieder ein Glanzstück des Kastraten, kann in seiner Interpretation aber einen jammernden Tonfall nicht vermeiden. Besser gefallt die folgende, munter hüpfende Arie des Sicino  „Nel tuo figlio“ aus Ariostis Oper Cajo Marzio Coriolano. Sie wurde 1723 in London gezeigt wie auch Bononcinis Farnace, in der Berenstadt den Osmano sang. Dessen Arie „O della sorte“ ist ein Klagegesang – für Mineccias Stimme wie geschaffen.

Die letzten vier Beispiele stammen aus Werken, die in Italien zur Premiere kamen: Hasses Astarto 1726 in Neapel, Vincis Didone abbandonata 1726 in Rom, Sarros Siroe 1726 in Neapel und Giays Demetrio 1732 in Rom. In der Arie des Jarba aus Vincis Oper ist der Einsatz baritonal tiefer Töne effektvoll, bei Cosroas Arie „Gelido in ogni vena“ aus Siroe ist der Vergleich mit Vivaldis Vertonung dieses Textes aufschlussreich. Stürmisch wird die Anthologie beendet mit der tobenden Arie „Non fidi al mar“ aus Demetrio – eine jener Gleichnisarien vom schwankenden Schiff auf stürmischer See, welche dem Interpreten neben starkem Ausdruck auch virtuoses Zierwerk abverlangt. Mineccia setzt hier einen glänzenden Schlusspunkt.

Mit dem Ensemble I Musici del Gran Principe unter Leitung von Samuele Lastrucci tritt ein hierzulande weniger bekannter Klangkörper in Erscheinung, der das Programm mit orchestralen Beiträgen schmückt, so mit der lebhaften Ouverture zu Tito Manlio von Ariosti, der Ouverture zu Händels Ottone und der aufgewühlten zu Hasses Astarto. Das Ensemble legt hier mit engagiertem und affektgeladenem Spiel hohe Ehre ein. Bernd Hoppe

Zwischen Paradiesen

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Ralph Fischer (promovierter Pädagoge, Buchhändler und Privatgelehrter) gehör­te zu den besten Offenbach-Kennern weltweit. Als Journalist, Vortragender und Publizist (vor allem beim Offenbachfestival Bad Ems) hat er sich über Jahre gro­ße Verdienste erworben. Im vergangenen Jahr erlag er, viel zu jung, einem Krebsleiden. Seit Jahren hatte er daran gearbeitet, sein Lebenswerk in Sachen Offenbach herauszubringen. Der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand. Glück­licherweise hinterließ er mehrere Computerdateien, die zusammenge­nommen so etwas wie sein summum opus darstellten, welches er bereits 2019, zu Offenbachs 200. Geburtstag veröffentlichen wollte.

Fischer gehörte zu den bedeutenden deutschen Kennern des CEuvres von Jacques Offenbach, den er als Person verehrte und dessen Musik er seit seinem ersten Klavierunterricht zutiefst in sich aufgesogen hatte. Mit der ihm eigenen Wissbegierde und seinem Hang zu ungewöhnlichen Wegen ist er seit Schul­zeiten sinnend, forschend und schreibend allem, was Offenbach betraf, nach­gegangen. Ein imponierendes Textcorpus ist die Frucht dieser jahrzehnte­langen Denkarbeit. Sie schlug sich vielfach in Veröffentlichungen im Rahmen der ,,Bad Emser Hefte“ nieder, mit deren Herausgeber, Dr. Ulrich Brand, Fischer ein freundschaftliches Verhältnis verband. In gewisser Weise ist der hier vorli­egende Band die logische Fortsetzung und Vollendung der Arbeit mit den Bad Emser Heften“, so Peter Hawig (selbst einer der renommiertesten Offenbach-Spezialisten). Er hat die Texte aus dem Nachlass geordnet, zusammen­geführt und postum als Buch herausgebracht, nicht ohne zu betonen:

„Insgesamt kann und soll das Fragmentarische der vorliegenden Veröffentli­chung nicht geleugnet werden. In diesem Sinne belassen wurde: kleine, eher liebenswürdige Inkonsequenzen des Autors, etwa die Werktitel einmal in Kur­sivschrift, einmal in Kapitälchen zu schreiben. Das verweist auf unter­schiedliche Entstehungs­zeiten der Texte. Der Leser wird sich zurechtfinden. Schließlich hat er, allem Fragmentarischen zum Trotz, ein Buch imponierenden Umfangs und Gewichts in den Händen, und ‚Gewicht‘ versteht sich hier auch in qualitativem Sinne. Denn Ralph Fischers summum opus weist so viele innovative Zugänge und Untersuchungsweisen, so viele gründliche Ergebnisse, einen so weiten Fun­dus an Informationen auf, dass es trotz seines unvollendeten Status einen erheblichen Fortschritt in der Offenbach-Forschung darstellt.“ Tatsächlich ist das im wahrsten Sinne des Wortes schwergewichtige Buch überwältigend. Die perspektivische Weite des schon ob seines Fleißes bewundernswerten Werks, seine Anlage, für jedermann eicht verständliche Sprache (sein überwältigender Informationsgehalt und seine Übersichtlichkeit der Gliederung machen das Werk zu einem konkurrenzlosen Nachschlage­werk in Sachen Offenbach, auf das man gewartet hat, denn immer noch scheiden sich an Offenbach (wie an Wagner) die Geister. Das hierzulande weit verbreitete Vorurteil, seine Werke seien anspruchs­lose, seichte „Operetten“, scheint nahezu unausrottbar. Das Offenbach-Ver­ständnis der Deutschen, das vorherrschende Offenbachbild hierzulande ist weitgehend verzerrt, verharmlost, ja falsch. Und der Umgang mit Offenbach ist schlichtweg respektlos. Wobei der Offenbach-Missbrauch, die Offenbach-Missachtung meist auf Unkenntnis und unhinter­fragten Vorurteilen beruht. Dem arbeitet das Buch von Ralph Fischer engagiert entgegen

Der obige Titel übrigens bezieht sich auf Siegfried Kracauers Gesellschaftsbiographie des Zweiten Kaiserreichs (Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Amsterdam 1937). Darin heißt es: „Offenbach erfüllt sie (die ,,Operette“, DDS) mit einer Musik, die das Paradies verspricht. Auch Halévy (Ludovic Halévy, Offenbachs wichtigster Librettist, DDS) ist dem Paradies zugewandt, wenn er der Operette (das gilt auch für die Opera bouffe, und die meint er, DDS) den Stempel seiner Skepsis aufdrückt; aber einem Paradies, das verloren ist. Zwischen verlorenem und verheißenem Paradies gaukelt so die Operette dahin – eine plötzlich auftauchende, rasch verschwindende Erscheinung, die sich dem groben Zugriff entzieht (…) Frivoler Doppeldeutigkeit voll (…) geht (sie) überhaupt nicht ganz ins gesellschaftliche Leben ein, schwingt sich vielmehr, im vergangenen und künftigen Paradies beheimatet, ungreifbar durch die Zeit und aus der Zeit hinaus.“

Fischers These lautet daher: „Ofenbachs Werk ist ein Werk des ,Dazwischen‘: ideell zwischen den Paradiesen, real zwischen den Kulturen. Es ist aber auch ein Werk zwischen den Gattungen.“+

Karl Kraus, auch einer der bedeutendsten Offenbach-Versteher, meinte in der Zeitschrift „Die Fackel“: Offenbachs Musik habe mehr Menschlichkeit als (…) sämtliche sozialen Heilsehren, deren Opfer erbarmungswürdig, deren Nutznießer erbärmlich bleiben.“

In diesem Sinne widmet Fischer gerade das Jüdische bei Offenbach, das schon Anton Hen­seler, der erste und wichtigste deutschsprachige Offenbachbiograph (Jakob Offenbach, Berlin 1930) herausstellte, besondere Aufmerksamkeit.  Die genealogischen Recherchen Fischers sind respektheischend. Vor allem des erste seiner fünf Kapitel widmet sich in diesem Sinne der Herkunft, Kindheit und Jugend des Komponisten „zwischen Offenbach und Köln“.

„Zwischen Oper und Operette“ ist das zweite Kapitel überschrieben, in dem der Versuch einer gattungsspezifischen Einordnung der Bühnenwerke Offenbachs gemacht wird. Hier könnte man Fischer eine gewisse Inkonsequent in der Ver­wendung der Gattungsbezeichnungen vorwerfen. Sei´s drum. Die Ent­wicklung von den Vorläufern Offenbachs bis zu seinen Nachfolgern wird zutreffend dargestellt.

Verdienstvoll sind auch seine Ausführungen zur Kompositions­weise und zur theaterpraktischen Arbeit des Komponisten, „weil es sie in dieser Kompaktheit bisher nicht gibt.“ ((Peter Hawig). Man erfährt interessantes über Komposi­tionstechnik, Formen der Bühnenwerke, Orchesterbesetzung und bekommt Einblicke in die „Kompositionswerkstatt“.

Fischer weist zurecht darauf hin: „Die Verengung Offenbachs allein auf Satire und Parodie verdeckt nicht nur Qualitäten seines Werks, die mit diesen Kate­gorien nicht zu fassen sind, sie sorgt auch für Missverständnisse. So ist mancher Autor geneigt, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit, ‘Satire!‘ oder, Parodie!‘ zu rufen und jedes nur erdenkliche Rezitativ, das sich in Offenbachs Werken finden lässt, gleich zur Verspottung der Oper seiner Zeit zu erklären.” 

Der enormen Spannweite des Offenbachschen Œuvres zwischen Synagoge und Pariser Boulevard ist das vierte Kapitel gewid­met. Das fünfte ist ein Werkführer, der selbst mit seinen Lücken, „innerhalb der Forschung einzig“ dasteht, wie Peter Hawig zurecht betont.

Auf nahezu 450 Seiten werden Werk und nahezu vollständiges Werkverzeichnis, Gattungen und Phasen der Entstehung sowie Inhaltsangaben und Kommentare geliefert. Das allein macht das Besondere des Buches aus und sichert ihm seinen Stellenwert als Standardnachschlagewerk.

Ganz davon abgesehen, findet man in ihm diverse Literaturverzeichnisse unterschiedlicher Medien, ein Werkregister und einen Bildteil. Der Herausgeber hat auf eine Bebilderung des Buches abseits der üblichen ikonographischen Pfade Wert gelegt. Er zeigt im weitesten Sinne ,,Memoriale“, also Büsten, Gedenktafeln, Reliefs, Ausmalungen und Illustrationen, die auf verschiedene Weise und an verschiedenen Orten an Offenbach erinnern.  Es sei angemerkt, dass das bemerkenswerte Coverfoto des Buches die Offenbach-Büste aus dem Théâtre des Variétés zeigt, die man meines Wissens in der Offenbachliteratur nie sah.

Hervorheben möchte ich, dass fortlaufender Text samt zugehöriger Fußnoten jeweils auf derselben Seite gedruckt sind was dem Lesekomfort enorm zugute­kommt.

Man könnte einwenden: Die umfassende musik­geschichtliche Beschlagenheit des Autors zeigt sich in seinen aus­führ­lichen, vielleicht allzu ausführlichen Einordnungen und Exkursen. Aber wohl nur in dieser umfassenden Gründl­ichkeit vermittelt sich „der weit-gespannte Kosmos, in dem Offenbach sich bewegte, aus dem heraus er allein verständlich ist und in dem wir als Leser uns immer besser auskennen, fast wohlfühlen“ (Peter Hawig).

Um das klarzustellen: Das Buch von Ralph Fischer ist kein Buch der musik­wissenschaftlichen Analyse. Es will eher „Appetit machen auf die Musik Offenbachs“ (Hawig). Und das in einer Sprache, die frei ist von jeglichem musikologischen Fachjargon.

Ralph Fischer ist – wie der Herausgeber betont – nicht unparteiisch Offenbach gegenüber, „er wirbt fort­lau­fend für ihn… Er wirbt darum, dass man ihn anhöre, ihm zuhöre, auf sich wirken lasse, im Konzertsaal und vor allem im Musik­theater — nicht im Entziffern von Noten, sondern im neugierigen Sich-Einlassen.“

Ich darf daran erinnern, was Martin Geck in seiner Wagnerbiographie bekannte: „Ich kann nur über die Kunst schreiben, die mich, bei all ihrer Widersprüchlich­keit letztendlich fasziniert.“ Um das Wort “Liebe“ nicht zu gebrauchen. Warum denn auch nicht, nur wer von Liebe zu einem Komponisten erfüllt ist, hat einen Sinn für dessen Intimstes und die Nuancen seines Werks.

Man kann nach der Lektüre des Buches von Ralph Fischer nur Peter Hawig zustimmen, der als letzten Satz in einem seiner Offenbach-Bücher schrieb: „Offenbach macht glücklich.“ Dieter David Scholz (mit Dank an den Autor und das online-Magazin Der Opernfreund)

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Ralph Fischer: Ein Wegweiser zu Jacques Offenbach: Herkunft und Leben, Werk und Wirkung; Aus dem Nachlas herausgegeben von Peter Hawig. Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2023,926 S.,

Vor neuen Rollendebüts?

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Dass der deutsche Tenor Daniel Behle Spaß am Spiel mit der Sprache hat, kann man vermuten, wenn man von CD-Covern wie MoZart oder UN-ERHÖRT Kenntnis nimmt, und auch seine neueste Aufnahme gibt sich optisch verspielt mit einem in der Mitte thronenden Richard, der von einem Strauss und einem Wagner flankiert wird. Sicher ist der große Respekt des Sängers vor den Texten, die er singt, und zwar so ausgeprägt, dass man selbst bei üppiger Orchesterbegleitung, wie bei beiden Komponisten üblich, jedes Wort versteht, man tatsächlich einmal auf den Abdruck der Texte im übrigens liebevoll und vorzüglich gestalteten Booklet verzichten könnte.

Beworben wird die CD übrigens mit einer Aussage des Dirigenten Thomas Rösner, der das Lob des von ihm geleiteten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra singt und dieses als  mit einem „sound…wonderfully soft and malleable“ begabt sieht und es damit für besonders geeignet für die Wiedergabe von deutscher romantischer Musik hält. Davon kann man sich beim Hören überzeugen, auch bei dem des Vorspiels zu Wagners Meistersingern, dem einzigen reinen Orchesterstück auf der CD, das eher leichtfüßig als stampfend, eher duftig als schwül daher kommt.

Drei Opernarien von Wagner in aufsteigender Linie vom Lyrischen über das Noch-Zwischenfach zum Heldischen, was die Anforderungen an die Stimme betrifft, sind auf der CD. Den Lohengrin hat Behle bereits auf der Bühne gesungen, Stolzing und Tannhäuser noch nicht. In der Gralserzählung ist die reine, klare, Stimme von müheloser Emission in allen Lagen und bei allen geforderten Lautstärken gleich präsent, gleich farbig, werden auch die kleinen Notenwerte präzise wiedergegeben, entzücken eine ätherische „Taube“ und ein strahlender „Gral“. Sehr berührend ist das schmerzlich umflorte „muss er von euch ziehn“.  Auch bereits bühnenreif dürfte der Stolzing sein, dessen Preislied sich zwischen Erzählton und Emphase bewegt, „Parnass“ wie „Paradies“ zum Strahlen bringt und nie der Versuchung eines Einheitsfortes erliegt. Bei der Romerzählung des Tannhäuser erscheinen vor dem geistigen Auge und auch dem Ohr des CD-Hörenden die bereits recht abgekämpften, sich mehr oder weniger schwer tuenden Heldentenöre vergangener Vorstellungen und scheinen sich anklagend zu äußern über so viel Ungerechtigkeit, einem frischen, von keinerlei Mühsal durchlebter Aufführungen berührten Kollegen zuhören zu müssen, dessen ausgeruhte, für die Partie recht leichte und helle Stimme nichts von der Mühsal zweier Preislieder für Venus und unzähliger „Erbarm dich mein“ verrät.

Die drei Wagner-Arien sind eingestreut in eine Auswahl bekannter Orchesterlieder von Richard Strauss, beginnend mit Cäcilie, die rauschhaft, sich von Strophe zu Strophe steigernd, Einzelheiten präzise hervorhebend wie diese in den Gesamtzusammenhang einbettend und die große Linie nie vernachlässigend daher kommt. Die Mittellage des Tenors hat im Vergleich zu frühen Aufnahmen bedeutend an farbiger Substanz gewonnen, es stehen ihr viele Ausdrucksmittel, so  das Hellerwerden für „lichter Sonnenschein“ im anschließenden Ruhe, meine Seele, zur Verfügung. Das bekannte Ständchen erfreut mit ganz lichtem und leichtem Beginn, um umso rauschhafter am Schluss zu klingen, eine ähnliche Entwicklung nimmt die Heimliche Aufforderung, die im Plauderton beginnt, um sich zu einem großen Bogen für die Schlusszeile zu steigern. Wunderschön ist die feine Differenzierung von einem zum nächsten, dann zum abschließenden „Welch ein Glück“, das ätherisch klingende Lächeln in Befreit. Den Abschluss für diese den Hörer beglückende CD bildet Morgen , in dem „stummes Schweigen“ zum Klingen gebracht wird (Prospero 0072). Ingrid Wanja  

Geld regiert auch Venedig

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I due Foscari ist Verdis sechste Oper, sie wurde 1844 in Rom uraufgeführt. In mancher Beziehung ist sie die „kleine Schwester“ seines 37 Jahre später entstandenen „Simon Boccanegra“, denn beide Opern behandeln das Schicksal eines Dogen. Bei den „Foscari“ ist es Francesco Foscari, der Doge von Venedig, dessen Sohn Jacopo unschuldig in die Verbannung geschickt wurde. Aus der kehrte er heimlich zurück, wird aber sofort erneut verurteilt. Das Flehen seiner Gattin Lucrezia bleibt fruchtlos, denn in dem Ankläger Loredano haben die Foscaris einen mächtigen Feind. Jacopo stirbt, bevor die Verbannung vollzogen wird. Und Loredano betreibt erfolgreich die Absetzung des Dogen Francesco, der völlig gebrochen tot zusammenbricht.

Man sollte dieses Frühwerk nicht unterschätzen. „I due Foscari“ bietet eine Fülle herrlichster Musik, in der große Duette eine ebenso breiten Raum einnehmen wie die eindrucksvollen Chorpassagen. Und Verdi arbeitet mit seinen thematischen Reminiszenzen mitunter fast leitmotivisch. Auch Carlo Bergonzi hat diese Oper offenbar sehr geschätzt und das von ihm gegründete Restaurant in Busseto „I due Foscari“ genannt.

Die vorliegende Aufnahme entstand 2022 bei den Opernfestspielen Heidenheim und überzeugt vor allem durch ihre musikalischen Qualitäten. Marcus Bosch am Pult der von ihm gegründeten Cappella Aquileia musiziert hier mit viel Impetus, mit großem Bogen und besonders mit viel Sinn für die Feinheiten der instrumentalen Details. Seine Interpretation ist von Gefühl und Spannung gleichermaßen getragen. Einen großen Anteil an dem positiven Eindruck hat auch der famose Tschechische Philharmonische Chor Brünn, der klangvoll und präzise singt.. Die Leistungen der Solisten bewegen sich durchweg auf hohem Niveau. Die Lucrezia verlangt eine Sängerin mit kraftvoller, aber auch koloraturfähiger Stimme. Beides seht Sophie Gordeladze zu Gebote. Mühelos überstrahlt sie Chor und Orchester. Darstellerisch kann sie den verzweifelten, hochemotionalen Kampf für ihren Mann Jacopo überzeugend verdeutlichen. Die Figur des Jacopo ist etwas eindimensional – eigentlich lamentiert er nur ständig über sein Schicksal oder nimmt Abschied von seiner Familie. Verdi hat dazu aber wunderschöne Arien und Duette geschrieben, die Héctor Sandoval mit sehr schöner Tenorfarbe und ansprechender Gestaltung auskostet. Francesco Foscari ist eine der vielen, berührenden Vaterfiguren Verdis. Der Konflikt, dass er wie ein Vater fühlt, aber wie ein Doge handeln muss, wird bei der sensiblen Gesangsleistung von Luca Grassi nachvollziehbar. Der Intrigant Loredano hat nur wenig zu singen, was man bei Robert Pomakov bedauern mag. Dafür ist er als diabolischer Strippenzieher omnipräsent. Musa Nkuna und Julia Rutigliano komplettieren als Barbarigo und Pisana das Ensemble.

Nicht ganz so viel Freude macht die szenische Seite. Regisseur Philipp Westerbarkei hat den Grundgedanken, dass Geld die Welt und insbesondere auch Venedig regiert, doch überzogen. Alle sind hier bestechlich – das Volk, der mächtige Rat der Zehn und auch Pisana, die eigentlich eine Vertraute von Lucrezia ist. Die lässt sich sogar auf ein Verhältnis mit Loredano ein. Scheine wechseln ständig den Besitzer, das Geld wird laufend aus Kübeln über die Bühne geschüttet. Das ist dann doch irgendwann zu viel des Guten. Der Chor und Loredano sind ständig präsent, auch bei den eigentlich intimeren Szenen. Jacopo wird mit einer Schlinge um den Hals hereingeführt, was nichts Gutes ahnen lässt. Warum Lucrezia mehrfach Kleider und Perücken wechselt, bleibt unklar. Ansonsten ist die Personenführung oft starr.

Die Bühne (von Tassilo Tesche) liegt weitgehend im Dunkel. Sie wird nur wenig variiert. Von Venedig ist nichts zu spüren, nur ein Holzsteg deutet auf die Anwesenheit von Wasser hin. Für Jacopos Verbannung wird ein gelbes Schlauchboot auf die Bühne gehievt. Störend ist die mitunter etwas unruhige Kameraführung. Insgesamt eine vor allem hörenswerte Aufführung. (Coviello Classics COV92314 Blu-Ray)

Wolfgang Denker

In einer anderen Welt

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In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht Erato neue Alben  mit ihrem Exklusivstar Jakub Józef Orlinski. Die aktuelle Ausgabe mit dem polnischen Countertenor ist Beyond betitelt und präsentiert Kompositionen des Frühbarock, des italienischen seicento, darunter mehrere Entdeckungen und Weltersteinspielungen. Wirklich bekannt in der Auswahl sind nur Claudio Monteverdi, Giulio Caccini und Francesco Cavalli. Von ersterem erklingen zu Beginn Ottones Auftrittsarie „E pur io torno qui“ aus der Poppea und die Canzone a voce sola „Voglio di vita uscir“. Der klangvollen Stimme ist ein klagender Ton eigen, der vielen Titeln der Anthologie entgegen kommt, so auch den beiden Monteverdi-Auszügen. Der zweite verlangt dazu eine äußerst flexible Stimmführung, über welche der Sänger souverän verfügt. Von Caccini ertönt das populäre Madrigale a voce sola „Amarilli, mia bella“, welches in allen Sammlungen der Arie antiche zu finden ist und unzählige Male interpretiert wurde. Seine Schlichtheit findet in Orlinskis Interpretation adäquaten Ausdruck. Von Cavalli gibt es eine Arie aus der seltenen Oper Pompeo Magno – die des Titelhelden „Incomprensibil nume“, eine der Weltpremieren des Albums. Den ernsten, getragenen Duktus der Komposition nimmt der Counter in seinem schmerzlichen Gesang auf.

Mit Girolamo Frescobaldi beginnt die Reihe der Titel weniger bekannter Tonsetzer. „Così mi disprezzate?“ ist eine Aria di passagaglia aus seinem Primo libro d’arie musicali per cantarsi. Orlinski serviert das Stück mit Verve und erregtem Ausdruck. Eines der ältesten Stücke der Sammlung (von 1620) ist „Udite, lagrimosi spirti“ aus Claudio Sacracinis Le seconde musiche. Es  steht für die damals gängige Monodia accompagnata. Auch hier besticht die farben- und affektreiche Gestaltung durch den Sänger. Rhythmisch reizvoll ist eine Tarantella, „Chi vuol ch’il cor gioisca“, aus Pietro Paolo Cappellinis Raccolta di Ariette. Der Sänger entspricht mit ausgelassen temperamentvollem Gesang ideal dem Charakter dieses Stückes. Als Ersteinspielung sind drei Arien aus Giovanni Cesare Nettis Oper La filli zu hören. Erstere, „Misero core“, ist ein wehmütiges Klagelied, die zweite, „Sí, sì, sciolga“, auftrumpfend, die letzte, „Dolcissime catene“, wiederum  wehmutsvoll. Später folgen noch zwei Szenen aus seiner Oper Crinalba als Kabinettstücke mit verstellter Stimme und imitiertem Gelächter. Pompeianos Arie „La certezza di sua fede“ aus Antonio Sartorios Antonino e Pompeiano ist ein tänzerisch inspirierter Gesang von fröhlicher Art. Wirklich heroisch mit seinem Trompetengeschmetter und dem fulminanten Gesang ist Eugerios „A battaglia“ aus Giuseppe Antonio Bernabeis Il segreto d’amore in petto del Savio – ein musikalischer Höhepunkt der Platte. Perfekt dazu passt das folgende Concerto „Tamburetta“ von Adam Jarzebski in seiner martialischen Verve. Die drei Arien in Giovanni Battista Vitalis Huldigungskantate „Donde avvien che tutt’ebro di vera gioia“ verlangen dem Interpreten ein Höchstmaß an Bravour ab und lassen Orlinskis Virtuosität hell erstrahlen. Mit einem Klagelied des Amore, „Lungi dai nostri cor“, aus Sebastiano Moratellis La faretra smarrita endet die Sammlung besinnlich.

Bei dem im Dezember 2022 in Padova entstandenen Album begleitet das renommierte Barock-Ensemble Il Pomo d’Oro. Dem Sänger ist es ein inspirierender Partner und mit mehreren Instrumentalbeiträgen von Johannes Hieronymus Kapsberger, Johann Caspar von Kerll, Carlo Pallavicino, Biagio Marini und Adam Jarzebski bietet es nicht nur veritable Raritäten, sondern auch exquisite musikalische Genüsse.

Aufwändig gestaltet ist das Artwork der CD (5054197726453) mit mehreren durch Wasserspritzer und Blattgoldteilchen verfremdeten Fotos. Wirklich ärgerlich ist die winzige Schriftgröße der Texte, zudem auf nervösem schwarz/grauem Fond, im Booklet. Bernd Hoppe

FRÉDÉRIC CHASLIN

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Frédéric Chaslin ist ein wahrer Tausendsassa. Seit Jahrzehnten einer der gefragtesten Dirigenten, ist der Franzose auch ein vielbeschäftigter Komponist mit einem beeindruckenden Werkverzeichnis, das unter anderem mehrere Opern beinhaltet. Auch als Pianist bestreitet Chaslin regelmäßig Konzerte und macht Studioaufnahmen, außerdem hat er verschiedene Bücher geschrieben. Zurzeit leitet er „Les Contes d’Hoffmann“ an der Dresdner Semperoper. Beat Schmid hat mit dem Künstler über Offenbachs Oper und deren verschiedene Fassungen gesprochen, sowie über seine Tätigkeit als Komponist, seine Ausbildung als Assistent Barenboims und Boulezs und vieles mehr.

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Im Oktober und November kehren Sie wieder an die Dresdner Semperoper zurück. Auf dem Programm steht „Les Contes d’Hoffmann“, in der Produktion, die unter Ihrer musikalischen Leitung in der Spielzeit 2016/17 dort Premiere feierte. Sie dirigieren diese Oper seit Jahrzehnten, in Häusern wie der Metropolitan Opera, der Wiener Staatsoper bis zuletzt in diesem Jahr an der Mailänder Scala. Könnten Sie Ihre Herangehensweise an diese Oper erklären, den Unterschied zwischen den verschiedenen Versionen und ob Sie sich letztendlich für eine bestimmte Ausgabe entschieden haben? Beabsichtigen Sie, eine eigene kritische Ausgabe zu veröffentlichen? Es gibt eigentlich nur noch drei offizielle Fassungen. Die ursprüngliche französische (Choudens), die damalige von Oeser für Alkor, für die viel Material plötzlich aufgetaucht ist, und natürlich die Fassung von Schott, die ein Haufen von Manuskripten auf den Markt gebracht hat. Ich bemühe mich seit Jahren darum, ein wenig Ordnung und Klarheit hinein zu bringen, aber das ist eine sehr schwierige Sache. Denn es ist völlig unklar, was Offenbach wirklich geschrieben hat und was seine Pläne für Hoffmann Erzählungen gewesen wären. Es ist wirklich eine Detektivarbeit « à la Sherlock Holmes ». Ich bereite eigentlich eine neue Edition vor, in der ich alles klar vorstellen werde, und mich besonders bemühen werde, die Orchestrierung zu vereinigen. Denn es gibt zu viele Hände, die sich im 20. Jahrhundert eingemischt haben. Und man spürt das stilistisch an manchen Stellen. Ich habe damit bereits im März für die Mailänder Scala begonnen, aber dann hat die Zeit gefehlt, diese neue Edition bis dahin fertigzustellen.

Ich habe den „Hoffmann“ in mehr als 30 verschiedenen neuen Produktionen und über 500 Vorstellungen im Laufe von 25 Jahren dirigiert. Für meine Herangehensweise ist sowohl meine Erfahrung, als auch meine eigene Ausbildung als Komponist, und natürlich als Dirigent zentral. Nachdem ich zwölf Opern selber geschrieben habe, und vieles von anderen Komponisten gründlich studiert habe, erlaube ich mir nun, ein wenig tiefer in diese Partitur zu schauen. Wie gesagt, ich bereite meine eigene Fassung vor. Ich bin der Meinung, dieses Stück wird für immer und ewig unvollendet bleiben, man muss aber eine richtige Anzahl von möglichen Kombinationen anbieten, sodass jede Produktion sich das Stück wieder „zusammenbasteln“ kann. Nur wichtig für mich ist, ganz genau zu wissen, was Offenbach ist, was 50 % Offenbach ist und was null Prozent Offenbach ist. Das ist das Ziel meiner zukünftigen Edition. Aber um Ihre Frage genauer zu beantworten:

Die „originale“ Choudens-Edition ist eine Mischung aus dem, was Offenbach und seine engen Freunde, Ernest Guiraud und Raoul Gunsbourg hinterlassen haben. Es hat bis zu 20 Jahre gedauert, bis der Antonia-Akt zu dem « vollendet » war, wie man es heute hören kann. Die « Barcarolle » zum Beispiel, war in der ersten Partitur im Antonia-Akt, denn es gab noch keinen Giulietta-Akt. Das kann man sogar auf IMSPL.COM nachlesen, unter Hoffmanns Erzählungen, ganze Partituren.

Dann hat Fritz Oeser für Alkor ein paar « Erfindungen » gemacht, besonders die « Violinen » Arie im Antonia-Akt für die Rolle des Nicklausse, und den ziemlich pompösen Schluss der Oper, der sehr wagnerisch klingt, wenig nach Offenbach. Aber jetzt liebt jeder dieses Finale. Ob es echt Offenbach ist, kann ich nicht sagen, denn ich habe umsonst mehrmals um das Manuskript gebeten und nie eine Antwort bekommen. Eines ist sicher: das Arrangement und die Orchestrierung sind von Oeser, denn Offenbach hat NUR die Arie des « Kleinzack » orchestriert. Das, zum Beispiel, wird bearbeitet, damit es nach einem echten Offenbach klingt.

Dann kam die Schott-Fassung mit extrem viel neuem Material. Die Quelle habe ich gefunden, und sie liegt nun in der Bibliothek der Universität Stanford, wo man sie online lesen kann. Mehrere hundert Seiten, die nicht aus Offenbachs Feder sind. Die Schott-Fassung hat auch sehr viele Fehler, manchmal «italienische Ausdrucks-Hinweise» wie « meno molto », was im Italienischen nicht existiert. « Wenig viel », oder « less much » oder « moins beaucoup » funktioniert in keiner Sprache. Ein kleines Beispiel von vielen anderen Fehlern.

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Sie sind ja auch Komponist und haben unter anderem mehrere Opern geschrieben. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben? Schreiben Sie lieber Instrumentalmusik oder Vokalmusik? Ich schreibe zwar Instrumentalmusik, aber meine Vorliebe geht zur Stimme, zur Oper, zu Liedern. Alles, was ursprünglich aus einem Text stammt. Das Drama interessiert mich mehr als alles andere, darum bin ich Opern-Dirigent geworden. Ebenso denke ich, dass eine Sinfonie ein inneres Drama hat, das man wie ein Opern-Dirigent oder Opernregisseur betrachten kann. Mein Stil würde ich etwas zwischen Britten und Bernstein ansiedeln, manchmal extrem in Richtung Popmusik gehend, aber immer durch den Filter meiner klassischen Ausbildung.

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Sprechen wir über Ihre neueste Oper, Monte Christo. Wie ist sie entstanden? Wie sind Sie auf das Thema gekommen, und was können Sie unseren Lesern über die Charakteristika dieser Oper erzählen? Es ist eigentlich nicht mehr meine neueste Oper, denn ich habe inzwischen ein 60 minütiges Stück nach Jean Cocteau für Mezzosopran und Orchester komponiert. Sozusagen der Zwillingsbruder von La Voix Humaine. Eine komische Oper für Lissabon, mit einem Text von Jose Saramago. Das Stück wird nächstes Jahr uraufgeführt. Und gerade schreibe ich die letzte Seite von „Der kleine Prinz“ nach Saint-Exupéry. Monte Christo habe ich vor drei Jahren fertig geschrieben und ich bin froh, dass das Werk noch nicht uraufgeführt worden ist. Denn vieles habe ich inzwischen verbessert. Es handelt sich um eine Oper, die eine Brücke zwischen der klassischen Oper und der musikalischen Komödie schlägt. Ein wenig wie Bernsteins Candide

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Zuletzt sind zwei Alben erschienen, für die Sie sowohl Musik geschrieben haben, als auch als Pianist beziehungsweise als Dirigent vertreten sind. Können Sie uns mehr über das Poulenc Album erzählen und über Rendez-Vous? Rendez-vous ist ein Zyklus von 6 Melodien für Sopran, Trompete und Klavier, nach drei verschiedenen Dichter. Die Idee war, das Repertoire für dieses Mini-Ensemble auszuweiten und ein richtiges Konzertprogramm zusammenzubauen. Deswegen haben wir auch sechs Texte schreiben lassen, die zu jeder Melodie passen.

Das Poulenc Album, das in Venedig am Teatro La Fenice aufgenommen worden ist, besteht aus « La Voix Humaine » mit Juli Cherrier-Hoffmann, meine Frau, und sieben Melodien von Poulenc, ursprünglich für Klavier, die ich für das Album orchestriert habe, damit nun auch ein Poulenc-Zyklus zum Konzertrepertoire für Sopran und Orchester zählt.

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Und welche Beziehung haben Sie zum deutschen Repertoire? Ich bin ja quasi im deutschen Repertoire geboren. Als Pianist, als Assistent in Bayreuth (1988), als Student in Salzburg, als Generalmusikdirektor in Mannheim (2004-2007) und generell in 22 Jahren an der Wiener Staatsoper.

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Sie waren der Assistent von Daniel Barenboim und Pierre Boulez. Wie war Ihre Beziehung zu diesen musikalischen Giganten und wie war die Zusammenarbeit mit ihnen? Diese Zusammenarbeit ist der Boden, auf dem ich jetzt stehe. Drei Jahre mit jedem. Barenboim hat mir alles über die Kunst des Klanges beigebracht, mit Boulez habe ich gelernt, die verschiedenen Aspekte der Musik gründlicher zu betrachten und die Organisation der Arbeit optimal vorzubereiten. Die beiden waren bzw sind extrem verschieden. Für mich deshalb wie zwei Seiten einer Medaille.

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Sie dirigieren gleichermaßen Opern und Symphonien: Haben Sie eine Vorliebe für eines der beiden Genres? Nein, beide sind notwendig, um ein kompletter Dirigenten zu sein. Und es ist wichtig, regelmäßig zur Symphonie zurückzukehren, denn nur da arbeitet man gründlich und bis zum Kern…

Und drei Worte zu ihrem musikalischen Werdegang? Wie haben Sie zur Musik gefunden? Wir wissen, dass Sie eine Art Wunderkind und mit 9 Jahren der jüngste Organist Frankreichs waren… Es hat mit fünf angefangen, mit Klavier und « Komposition ». Ich schrieb mit Zeichnungen, die für mich eine Bedeutung hatten. Das Heft habe ich noch immer, kann es leider nicht mehr entziffern. Die Orgel war eine Art Mini-Orchester für mich und eine Vorbereitung für das, was später gekommen ist. Regelmäßig kehre ich zurück zur Orgel, sowohl um die Technik nicht zu verlieren, als auch, weil ich einfach Lust darauf habe. (alle Fotos Martinez)