Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Cécile Chaminade

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Die Mezzosopranistin Katharina Kammerloher und der Pianist Johann Blanchard haben aus dem umfangreichem Liedschaffen der französischen Komponistin Cécile Chaminade eine Auswahl (bei MDG) zusammengestellt, die nun als Welt-Ersteinspielung vorliegt. Bei drei Liedern stand ihnen die Geigerin Jiyoon Lee, die erste Konzertmeisterin der Berliner Staatskapelle, zur Seite. Aufgenommen wurde schließlich im stilvollen Konzertsaal der Abtei Marienmünster, einem Ort, die sich für den audiophilen Anspruch des Labels Dabringhaus und Grimm besonders eignet. Stefan Pieper traf sich mit Katharina Kammerloher und Johann Blanchard, beide in Berlin lebend, zum Gespräch nach einem Videodreh im schmucken Palais Lichtenau in Potsdam.

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Katharina Kammerloher und Johannes Blanchard im Konzert im Palais Lichtenau in Potsdam/Foto Martin Teschner/youtube

Wie sind Sie auf Cécile Chaminade aufmerksam geworden? Johann Blanchard: Ich kannte diese Komponistin schon vorher, mir lag das Notenmaterial vor. Diese Komponistin hat wahnsinnig viel geschrieben und ist danach weitgehend in Vergessenheit geraten. In Frankreich war sie sehr populär. Sie war zum Beispiel die erste Frau, die in die Ehrenlegion aufgenommen worden ist. Insgesamt hat sie circa 200 Klavierstücke komponiert. Ich habe übrigens schon eine Soloplatte gemacht mit ihr. Dass sie auch 150 Lieder geschrieben hat, hatte ich immer im Hinterkopf. Übrigens sind alle Lieder auf dieser CD Ersteinspielungen.

Frau Kammerloher, was bedeuten Ihnen diese Lieder? Ich habe Cécile Chaminade erst durch Johann kennengelernt. Als ich seine beiden CDs mit Klavier- und Kammermusik hörte, fing ich sofort Feuer. Während des Corona-Lockdowns hatte ich viel unverhofft freie Zeit und konnte mich so sehr intensiv in Chaminades umfangreiches Liedschaffen einarbeiten. Das Konzentrat aus dieser Arbeit sind die 22 Lieder dieser CD. Jedes eine Perle. Sie ist eine so feine Komponistin.

Es ist ja vielfach so, dass Komponistinnen und Komponisten auf ein einziges oder wenige bekannte Werke reduziert werden. K. K.: Ich habe früher Oboe studiert und genau diese Erfahrung habe ich bei diesem Instrument gemacht. Du bist eigentlich ständig gefordert, etwas Neues herauszusuchen. So verhält es sich ja auch bei vielen anderen Instrumenten, z.B bei der Bratsche. Dann habe ich Gesang studiert und ich war überwältigt von der Fülle, die sich hier auftut. Das kann man ja alles gar nicht in einem Sänger-Leben singen. Allein das Repertoire von Cécile Chaminade ist so umfangreich, dass wir ohne weiteres sofort eine weitere Platte aufnehmen könnten.

Handelt es sich bei Saison d’amour um einen Zyklus? K. K.: Nein, es handelt sich um meine eigene Zusammenstellung, die ich aufgrund der Texte getroffen habe. Ich finde, sie passen so gut zueinander, das sich wie von selbst eine Geschichte ergibt. Dabei trägt jedes einzelne Lied ja schon eine Geschichte in sich.

Die Komponistin Cécile Chaminade (* 8. August 1857 in Paris; † 13. April 1944 in Monte Carlo)/Wikipedia

Ein roter Faden ist ja wohl der starke Bezug zwischen jahreszeitlichen Impressionen und der Liebe. K. K.: Genau. Die Gedichte, derer sich Chaminade bedient, schöpfen voll aus dem Geist der französischen Romantik mit ihren starken Bezügen zur Natur, wie wir es ja auch in der deutschen Romantik wiederfinden. Oft ist die Rede vom Wald, vom Wind, vom Himmel, vom Meer und so weiter. Chaminade hat ein feines Gespür für Poesie und verleiht jedem einzelnen Gedicht seine ganz eigene, persönliche Tonsprache. Umso reizvoller war es für uns, durch den programmatischen Rahmen eine größere Einheit zu formen. Von zarten Trieben erster Liebe des Frühlings zum heißen, leidenschaftlichen Sommer, von den Verlusten des Herbstes bis hin zum Abschied und dem wehmütigen Rückblick des Winters, um zum Schluss, mit „Portrait“ den Frühling wieder auferstehen zu lassen.

J. B.: Die Zusammenstellung auf dieser CD macht eine große Vielfalt deutlich. Cécile Chaminade war unglaublich kreativ und alles hört sich sehr natürlich an. Sie muss auch eine sehr gute Pianistin gewesen sein.

K. K.: Ich höre schon so manchen Einfluss von Franz Schubert oder Robert Schumann heraus. Ich denke vor allem an ihre besondere Schlichtheit und Intimität, wenn es um die Aussagen eines Liedes geht. Ihr Ego stellte sie hintenan.

Mein erster Höreindruck der CD bestätigt diese Aussage. Mir kommt es so vor, dass sie eben nicht mit zu vielen exaltierten Gesten oder zu viel Dramatik auftrumpft. K. K.: Genauso ist es. Auch wenn mal Schubert oder Schumann oder auch mal etwas Debussy durchschimmert, bleibt sie immer bei sich selbst.

Kann man ihren Personalstil präzise einordnen? J. B.: Er ist auf jeden Fall der französischen Romantik zuzuordnen. Vielleicht in der Nähe zu Saint-Saens. Auf jeden Fall ist da mehr Leichtigkeit als bei den deutschen Romantikern. Es kann aber trotzdem genauso tiefsinnig sein.

J. B.: Die Musik klingt immer etwas silbrig von den Akkorden her. Und ja, wir haben uns für die Aufnahme sehr bemüht, es noch heller und noch silbriger hinzubekommen. Zuerst sind wir vielleicht etwas zu sehr von der deutschen Romantik an die Sache heran gegangen.

Was bedeutet Ihnen die Arbeit an einem solchen Liederprogramm in Ihrem sonstigen Alltag als vielbeschäftigte Opernsängerin? Gibt Ihnen das auch eine Art Ausgleich? K. K.: Was ich an so einem Liedprogramm liebe, ist die Autonomie. Ich kann alles allein zusammen mit meinem Pianisten erarbeiten. Es gibt keinen Regisseur, der mir Vorgaben macht, kein Dirigent gibt mir das Tempo vor. Johann und ich sind hier einfach unsere eigenen Chefs, wir entscheiden, wie wir es machen. Wir sind beide Suchende und lieben es, tief in eine Sache hinein zu gehen. Ich liebe am Lied einfach die Poesie. Diese hohe Kunst, in der großartige Texte in eine komprimierte musikalische Form gebracht werden. Cécile Chaminades Lieder sind ja oft regelrechte Mini-Opern. Ich mache das vor allem, weil ich einen großen Respekt vor der Kunst von Cécile Chaminade habe.

Cécile Chaminade muss ja wirklich eine markante und selbstbewusste Persönlichkeit gewesen sein und wurde auch so wahrgenommen. Was auch nicht selbstverständlich für Komponistinnen in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts war. K. K.: Es war damals wirklich nicht leicht für Frauen – die durften ja nicht mal ans Konservatorium. Cécile Chaminade hat Privatunterricht bekommen. Sie wuchs in einem wohlhabenden Haushalt auf. George Bizet ist bei der Familie regelmäßig ein und ausgegangen. Er hat schon früh ihr überragendes Talent erkannt hatte und sie „Le Petit Mozart“ genannt. Sie war ein unglaublich begabtes Kind und hat sich später als Komponistin durchgesetzt. Sie war Mitglied in einem Komponistenverband. Ebenso hat sie als fabelhafte Pianistin viele Konzerte in ganz Europa gegeben.

Katharina Kammerloher und Johannes Blanchard im Konzert im Palais Lichtenau in Potsdam/Foto Martin Teschner/youtube

J. B.: Was für eine Ausstrahlung Cécile Chaminade hatte, wird auch dadurch deutlich, dass sie in diversen Filmen und Serien, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, vorkommt. Allerdings wurde sie manchmal auch zu sehr als Salonkomponistin abgestempelt. Das trifft aber nicht die ganze Wahrheit. Sie hat vielseitige Musik für viele Menschen geschrieben. Und ihre Etüden und Sonaten sind pianistisch sehr anspruchsvoll.

Und damit haben Sie ja ganz viel erstaunliches Repertoire jenseits des Standardprogramms entdeckbar gemacht. K. K.: Wir wollten bewusst Repertoire aufnehmen, das es bislang noch nicht auf CD gibt. Man tut Komponistinnen und Komponisten ja auch Unrecht, wenn sie im Repertoirebetrieb immer auf eines oder wenige Werke reduziert werden. Ich habe das Gefühl, dass das heutzutage sogar noch viel mehr als früher der Fall ist. Viele Menschen sind weniger neugierig und oft werden Musikstücke nur nach Anzahl der Klicks im Internet ausgewählt. Aber wie soll man auf dieser Basis noch etwas Besonderes, eine wahre Perle entdecken? Das Interview führte Stefan Pieper

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Sollten etwa im Fahrwasser des mehr oder weniger eindringlichen Bemühens um die Gleichberechtigung der Frauen einschließlich Genderwahnsinns auch kaum oder gar nicht gewürdigte Komponistinnen zu Wort kommen bzw. zu Gehör gebracht werden? Gerade erschienen Auszüge aus den Schriften der englischen Musikerin Ethel Smyth, nun liegt eine CD mit Liedern der französischen Komponistin Cécile Chaminade mit dem Titel Saisons d’amour vor, die der Mezzosopran Katharina Kammerloher eingespielt hat. Gängige Meinung eines Teils der Musikwissenschaftler ist es, dass es einen weiblichen Mozart oder Beethoven nicht gibt, da Frauen daran gehindert wurden, ihr Talent, ja Genie zur Entfaltung zu bringen. Cécile Chaminade wurden keine derartigen Steine in den Weg gelegt, denn der Tochter aus wohlhabendem Pariser Hause wurde zwar nicht der Besuch des Konservatoriums gestattet, wohl aber der Privatunterricht in Komposition, Harmonielehre und Klavierspiel durch einige der renomiertesten Musiklehrer ihrer Zeit. Außerdem verkehrte im Salon ihrer Eltern das musikalische Paris. Bereits mit zwanzig Jahren trat sie öffentlich als Pianistin auf, sie war Mitglied der Société national de musique, die einige ihrer Werke aufführte, ihre Ballettmusik Callirhoe oder die opéra comique La Sévillane  und andere Werke erreichten eine gewisse Bekanntheit, und warum sie sich zunehmend der kleinen Form, Klavierstücken und Lieder, widmete, lässt sich nur vermuten. Tatsache aber ist, dass ihre Stücke nicht nur im Konzertsaal, sondern besonders häufig bei Veranstaltungen mit Hausmusik aufgeführt wurden, das Booklet zur CD berichtet von L’anneau d’argent, der 200 000 Mal gedruckt wurde. Chaminade konzertierte nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, ihre Karriere wurde durch den Ersten Weltkrieg nicht nur unter-, sondern abgebrochen. Noch bis 1944 lebte sie zurückgezogen in Monte Carlo.

Die seit vielen Jahren an der Berliner Staatsoper fest engagierte Katharina Kammerloher tat sich bereits des öfteren mit Liederabenden und Aufnahmen von Liedern hervor, und auch bei dieser CD zeigt sich die große Sorgfalt, mit der sie ihre Programme zusammenzustellen pflegt. So ergibt die Reihenfolge quasi eine Geschichte vom Erwachen der Liebe, dem Frühling, über Reifezeit und Welken in Sommer und Herbst bis hin zum Verlust, dem Winter. Die Texte stammen von zeitgenössischen Schriftstellern.

Bereits mit dem ersten Titel, Plaintes d’amour, fällt das schöne Ebenmaß der leicht androgyn klingenden Stimme auf, macht dem Hörer aber auch dir recht verwaschene, sich von Vokal zu Vokal hangelnde Aussprache zu schaffen. Schön wiegt die Stimme sich auf der Melodie, in Avril s’éveille überzeugt sie durch Frische und Beschwingtheit. Schön phrasiert wird in Fragilité, wo der beschriebene Zustand überzeugend vermittelt wird. Wie hingetupft wirken die Töne in Absence, bruchlos steigert sich die Sängerin, was die Lautstärke betrifft, während sie sich in  Sérénade Sévillana vom Rhythmus tragen lässt. Voll jugendlicher Beschwingtheit ertönt der Mezzo in Madrigal, energischer und entschiedener und zugleich dunkler in Mon coeur chante, in L Été herrscht flirrender Übermut. Feine Melancholie überschattet Madeleine, die weiche Wehmut der Stimme wird in Chanson naive vom Piano umspielt.

Auch in einem langen Track wie La Fiancée du soldat kann die Spannung gehalten werden, in Roulis des gréves bleibt die Sägerin der Grundstimmung treu und variiert doch zugleich. Ein sehnsüchtiger Ruf nach verlorenem Glück ist Le beau chanteur, mütterliche Klänge werden in Avenir angestimmt, und ganz zart und liebevoll erklingt  Jadis!.Infini gewinnt durch den Einsatz der Violine (Jiyoon Lee) noch an süßer Melancholie, einen schönen Jubelton gibt es für Portrait, und der durchweg einfühlsame Begleiter Johann Blanchard am Klavier zeigt hier noch einmal seine Qualitäten.

Das Booklet ist informationsreich in drei Sprachen und hilfreich durch die Liedtexte in Französisch und Englisch (MDG 908 2288-6). Ingrid Wanja   

Flimmerkisten

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In den letzten Jahren hat Jonas Kaufmann in Konzerten und Recitals oftmals das Genre der Oper verlassen und sein Repertoire um Operettentitel, italienische Canzoni, Wiener Lieder und Berliner Tonfilmschlager erweitert. Berühmte Tenöre vor ihm haben das auch getan, man denke nur an Joseph Schmidt, Richard Tauber und Luciano Pavarotti. Auch die Aufnahmen mit Mario Lanza, der kein Bühnen-, sondern ein Mikrofonsänger war, werden in der Erinnerung wach. An sie denkt man mit Wehmut, wenn man die neue Platte des  deutschen Tenors bei SONY auflegt. Sie ist mit The Sound of Movies betitelt und wurde im November 2022 in Prag aufgenommen (11526885). Denn der Tenor wird begleitet vom Czech National Symphony Orchestra unter Leitung von Jochen Rieder, der mit den Musikern einen rauschhaften Breitwand-Sound ausbreitet.

Die Musikauswahl aus über 80 Jahren reicht von Ralph Erwins „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von 1929 bis zu Claude-Michel Schönbergs „Bring Him Home“ aus Les Misérables von 2012. Eröffnet wird sie wird mit „The Loveliest Night of the Year“ aus dem Film The Great Caruso, womit an den Jahrhundert-Tenor erinnert wird. Kaufmanns Stimme ist inzwischen in einem kritischen Zustand, klingt oft kehlig und strapaziert. Sein Gesang wirkt forciert und ermangelt der Leichtigkeit, der Nonchalance und des Charmes. Beim folgenden „Where do I Begin?“ aus dem Film Love Story wiederholt sich der Eindruck eines bemühten Singens. Ein diesbezüglicher Tiefpunkt ist die Interpretation von „Nelle tue mani“ (eine neue Textfassung von „Now We Are Free“) aus Gladiator als ständiger Kampf mit den exponierten Noten.

Gelungener erscheinen Titel, welche nicht wie große Opernszenen angelegt sind, so Stanley Myers „She was beautiful“ aus The Deer Hunter, „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ oder der Tango-Klassiker von Carlos Gardel „Por una cabeza“ aus Scent of a Woman und Richard Rodgers „Edelweiß“ aus The Sound of Music. Es fehlen natürlich nicht die legendären Musical-Hits wie „Maria“ aus Bernsteins West Side Story oder „You’ll Never Walk Alone“ aus Carousel (als strapaziöse tour de force) sowie unvergessene Songs wie „What a Wonderful World“ aus Good Morning, Vietnam und Bert Kaempferts „Strangers in the Night“. Von Ennio Morricone wählte der Tenor drei Titel aus, womit die Bedeutung des Italieners als Komponist von Filmmusik unterstrichen wird: „E più ti penso“ aus Once Upon a Time, „Se tu fossi nei miei occhi“ aus Cinema Paradiso und „Nella fantasia“ aus The Mission. Ähnliche Berühmtheit erlangten Nino Rota und Henry Mancini, die hier mit „What is a Youth?“ aus Romeo + Juliet bzw. mit „Moon River“ aus Breakfast at Tiffany’s vertreten sind.

Eine Besonderheit stellt Rachel Portmans Titelthema für The Cider House Rules dar, wofür sie als erste Frau einen Filmmusik-Oscar empfing. Der New Yorker Librettist Gene Scheer schrieb eigens für dieses Album einen neuen Text dazu. Mit dem Mario-Lanza-Evergreen „Serenade“ aus The Student Prince endet das Album nochmals zwiespältig, und man sollte es nur in kleineren Portionen hören. Bernd Hoppe

Jonathan Tetelman zum Zweiten

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Geschniegelt und gebügelt schaut Jonathan Tetelman vom Cover seiner zweiten CD, die ausschließlich Giacomo Puccini gewidmet ist, dessen hundertster Todestag unmittelbar bevorsteht. Eher an Lehár als an den italienischen Opernkomponisten denkt man bei diesen Fotos und erwartet  von einer derartigen Optik viel akustische süßliche Eleganz und viel tenoralen Schmelz, um nicht zu sagen viel Schmalz , doch sowohl optisch im Booklet wie akustisch auf der CD werden die Erwartungen nicht erfüllt, denn die inseitigen Fotos zeigen den amerikanischen Sänger mit chilenischer Abstammung eher leger bis robust und immer dem Betrachter eindringlich in die Augen schauend.

Vier der auf der CD bedachten Figuren hat der Tenor bereits auf einer Bühne verkörpert, Rodolfo, Cavaradossi, Luigi und Pinkerton, die bisher noch nicht bedachten sind zum großen Teil bereits in Vorbereitung. Bei der Auswahl der Arien, aber auch Duette oder Szenen  aus La Bohéme oder Butterfly, fällt auf, dass manchmal bekannte Arien zugunsten weniger geläufiger Szenen wider des Hörers Erwartung nicht vertreten sind. So gibt es von Pinkerton nicht das Fiorito Asil, sondern aus dem dritten Akt eine kurze Szene zwischen Suzuki, Sharpless ( sonor Önay Köse) und Pinkerton und von Des Grieux nicht Pazzo non sono, guardate, sondern einen Ausschnitt aus dem Duett mit Manon aus dem zweiten Akt.

Ansonsten gibt es viele der berühmten Arien wie natürlich Calafs Nessun dorma, nicht nur durch Pavarotti verkommen zur Bravourarie und auch auf dieser CD als imponierender Kraftakt, der beim Vincerò zum Lautstärkenregler eilen lässt, aufgefasst. Da kann es auch der Prague Philharmonia unter dem erfahrenen Carlo Rizzi nicht gelingen, etwas von der nächtlichen Stimmung an den Hörer zu vermitteln. Mehr gefallen kann allerdings Non piangere, Liù, das zumindest im ersten Teil zärtlich verträumt klingt.

Gleich drei Tracks widmen sich La Bohéme, zunächst natürlich Che gelida manina, in der weder jugendlicher Leichtsinn einer povertà lieta, noch der träumerische Glanz der notte di luna zu vernehmen ist, stattdessen zu sehr auf gröbere Effekte hin gearbeitet wird. Im Schluss des ersten Akts klingt Rodolfos Sognar zu geschmettert, le dolcezze estreme findet man eher beim Sopran Federica Lombardi, deren Stimme Charme und Süße hat. Auch in der Schlussszene des 3. Akts klingt der Tenor recht hart, lassen Musetta Marina Monzò und  Theodore Platt als Marcello aufhorchen.

Die beiden Arien des Cavaradossi lassen ein Recondita armonia hören, das ganz auf ein wahrhaft geschmettertes Tosca sei tu hinarbeitet und ein Lucevan le stelle mit schönem Parlando vor Beginn der Arie, mit recht erfolgreichem Bemühen um die für diese Arie so wichtige Agogik, die dann doch wieder abgelöst wird von einem nur auf Überwältigung zielenden Schluss.

Des Grieux ist außer mit dem Ausschnitt aus dem zweiten Akt von Manon Lescaut mit Donna non vidi mai vertreten, das gänzlich der Poesie und Verträumtheit entbehrt, wie unter Überdruck steht, da hätte man anstelle der Kraftentfaltung doch lieber etwas in der Nähe eines sussuro gentil gehört, während aus dem zweiten Akt der Ausbruch der Verzweiflung mit angemessenem vokalem Kraftaufwand bewältigt wird, nachvollziehen lässt, warum die Partie als Otello Puccinis gilt. Auch Dick Johnson aus La Fanciulla del West kommt den vokalen Möglichkeiten Tetelmans, der in vielem an Mario del Monaco erinnert, entgegen mit einem kraftvollen Che ella mi creda und einer kurzen Passage aus dem ersten Akt. Eine eher auch lyrische Qualitäten aufweisende Stimme wünscht man sich hingegen für den Ruggero aus La Rondine und den Roberto aus Le Villi.

Bleibt noch der Luigi aus Il Tabarro, mit dem der Tenor unlängst an der Deutschen Oper Berlin reüssierte. Währen der Sopran Vida Miknevičiũtè ihre Giorgetta bebend in verhaltener Lust und Angst sich äußern lässt, auch das Orchester die Anspannung, die auf der Bühne herrscht, nachvollziehen lässt, äußert sich Tetelmanns Luigi zwar imponierend heldisch, aber doch eher eindimensional und hörbar nur auf den  nicht immer positiven Eindruck kraftprotzenden Singens vertrauend (DG 486 4683/ Foto Jonathan Tetelman DOB Stephen Howard Dillon). Ingrid Wanja

Schreiben statt singen

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Einer der nachdenklichsten Sänger unserer Zeit, im eindringlichen Hinterfragen eines Kunstwerks wohl nur mit Dietrich Fischer-Dieskau zu vergleichen, ist der Engländer Ian Bostridge, der die auftrittsfreie Corona-Zeit dazu nutzte, sich in drei Essays mit ihn bewegenden Problemen zu befassen. Das Lied & das Ich ist der Titel des schmalen Bands, der sich mit Problemen der Interpretation, der  kulturellen Aneignung und schließlich der Gestaltung des Todes befasst, wobei als musikalische Beispiele Claudio Monteverdis Il Combattimento di Tancredi e Clorinda, Robert Schumanns Frauenliebe und –leben, Ravels Chansons Madécasses und verschiedene Werke  Benjamin Brittens, vor allem Der Tod in Venedig, herangezogen werden.

Es handelt sich eigentlich um Vorlesungen, die der Sänger, der auch Geschichte studiert hat, in Chicago hielt, und er  beginnt mit der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass jede Interpretation ein bestimmtes Verhältnis zwischen Werk und Interpreten hat, wobei die wünschenswerteste Konstellation die sei, dass das Lied den Sänger singt, wenn nicht nur von der Vergangenheit her die Gegenwart beleuchtet wird, sondern gleichzeitig das Umgekehrte geschieht. Sowohl im Monteverdi-Werk wie in dem Schumanns interessiert Bostridge die Ambiguität der Geschlechterrollen, wenn Clorinda mit dem Tod dafür bestraft wird, dass sie als kämpfender Mann auftrat, einer der Gründe dafür, dass der Tenor sowohl als Testo wie als Tancredi als auch Clorinda auftrat.

Unangemessen mutet heute der Text zu Schumanns Zyklus an und dürfte Feministinnen auf die Barrikaden treiben, nachdem bereits Storm und Mörike die Chamisso-Gedichte peinlich fanden. Bonstridge möchte den Zyklus bald selbst singen, wäre damit aber nicht der erste Sänger, und leitet die Berechtigung dazu unter anderem daraus ab, dass Schumann hin- und hergerissen war zwischen männlichem Überlegenheitsgefühl und dem Bewusstsein, gegenüber seiner Gattin der geistig und künstlerisch Unterlegene zu sein. Das bringt den Autor dazu, in Robert Schumann selbst den Protagonisten des Zyklus‘ zu sehen, woraus zwangsläufig das Vorhaben erwächst, nach Matthias Goerne und Roderick Williams nun selbst diese Lieder zu singen. Mit der Überschreitung der Geschlechtergrenzen hätten allerdings Tenöre und Baritone viel weniger Neuland zu betreten als Sängerinnen mit der Eroberung von Schöner Müllerin und Winterreise.

Bostridge wendet sich auch dem ausschließlich von Männern gestalteten japanischen NO –Theater zu und dem daran angelehnten Werk von Britten, in dem dessen Lebensgefährte Peter Pears eine Mutterrolle sang, für die der Autor die Vokabel Elternteil einsetzt. Nicht nur hier, sondern an vielen anderen Stellen des Buches hat man den Eindruck, es handle sich um eine eigentlich nicht mehr notwendige  Art Rechtfertigung dafür, dass Bostridge sich zu Rollen hingezogen fühlt, die Frauen vorbehalten waren. So kommt er zu dem Schluss,  „Geschlechterrollen werden verwischt und schlussendlich transzendiert.“

Als weißer Mann hat man augenblicklich nicht viel zu lachen und findet auch in Bostridge keinen Verteidiger, ganz im Gegenteil. Es geht um Ravels Chansons Madécasses, deren eines von vielen, von denen wiederum Ravel drei vertonte, von dem französischen Literaten Évariste de Parny einem indigenen Madegassen in den Mund gelegt wird. In ihm warnt er die Weißen davor, seine Insel erobern und die Bevölkerung versklaven zu wollen. Der Dichter wurde auf einer Nachbarinsel geboren und an seiner Erziehung waren auch Inselbewohner beteiligt. Er selbst sprach sich gegen die damals noch herrschende Sklaverei aus, was ihn nicht daran hinderte, eine seiner schwarzen Geliebten zu verkaufen. Bostridges Problem nun ist, ob ein heutiger Sänger zum Ventriloquismus verdammt würde, gleich ein Bauchredner zu sein, würde er sich anmaßen, dieses Lied zu singen, ja eine Art Diebstahl damit  begehen. Die Aneignung der indigenen Perspektive erscheint als eine Art Raub.

Dem Phänomen Tod widmet sich das dritte Kapitel, der Winterreise als einer solchen in den Tod, danach dem Tod als Zentrum in Brittens Schaffen angefangen mit der Sinfonia da Requiem von 1939. Der Komponist begibt sich 1945 mit Menuhin auf eine Konzertreise für überlebende KZ-Insassen, aber auch notleidende Deutsche, und natürlich widmet der Autor auch dem War Requiem, der Gegenüberstellung von lateinischer Totenmesse mit den Gedichten des im Ersten Weltkrieg gefallenen Wilfred Owen, einen Abschnitt. Dabei beschäftigt den Verfasser offensichtlich auch der Kriegsdienstverweigerer Britten und dessen eventuelle Reue, sich der Befreiung Europas versagt zu haben.. Hoch interessant ist der Vergleich von Brittens Oper Der Tod in Venedig mit der Novelle Thomas Manns, aber auch mit dem Film Viscontis, aufschlussreich sind die Vergleiche verschiedener Inszenierungen der Oper, in der auch an der Deutschen Oper Berlin der Tenor den Aschenbach sang.

Das Buch gewährt einen interessanten und berührenden Einblick in künstlerische und von jedweder persönlichen Orientierung bestimmte Entwicklungsprozesse, den Einfluss gesellschaftlicher, in der Wandlung befindlicher Normen auf künstlerische Entscheidungen (ISBN 978-3-406-80866-1; C.H.Beck Verlag 2023; 145 Seiten mit 6 s/w-Abbildungen und 4 Farbtafeln; Hardcover/ Foto oben Wikipedia). Ingrid Wanja     

Librettist Dante

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Unzählige Komponisten insbesondere des 19. Jahrhunderts hat das Schicksal von Paolo il Bello und Francesca da Rimini, die ihr Zeitgenosse Dante in seiner Göttlichen Komödie in die Hölle verbannt sah, beschäftigt und zu musikalischen Werken aller Arten inspiriert. Allein vollständige Opern gibt es von Mercadante ( erst 2016 in Martina Franca uraufgeführt), Goetz, Thomas, Rachmaninow, Mancinelli, Leoni und Zandonai, dazu eine Sinfonische Dichtung von Tschaikowski. Dabei wurde die Unerbittlichkeit des Renaissancemenschen gegenüber seiner Mitbürgerin bald in späteren Zeiten von einer milderen Sicht abgelöst,  so wenn der Poet Mario Rapisardi Francesca trotz der Begnadigung durch den Allerhöchsten freiwillig zu Paolo in die Hölle zurückkehren lässt, wenn gar ein Francesco Gianni sie zur Vorkämpferin für die freie Liebe stilisierte. Nicht vergessen werden darf natürlich auch, dass sie betrogen wurde, indem man sie glauben ließ, nicht sein missgestalteter Bruder, sondern der nur als Brautwerber auftretende Paolo sei ihr zukünftiger Gatte.

Weit weniger interessant fanden die Komponisten das Schicksal des ebenfalls von Dante portraitierten Grafen Ugolino, der von seinem Gegner samt Söhnen und Enkeln in einen Turm eingesperrt und dem Hungertod preisgegeben wurde. Bildliche Darstellungen zeigen ihn an seinen Händen nagend, geargwöhnt wurde, er habe sich von den Kadavern seines Nachwuchses ernährt, der ihn zuvor  ausdrücklich dazu ermuntert hätte. Natürlich regt eine solche Geschichte weit weniger zur Vertonung an, ist aber auf der CD ebenfalls mit einer Cantata von Francesco Morlacchi vertreten. Auch aus der Göttlichen Komödie stammt Pia de‘ Tolomei, die im Fegefeuer auf den Eintritt ins Paradies wartet, nachdem ihr Ehemann sie ermordet hat.

Auf der von Tactus aufgenommenen CD verleiht der Mezzosopran Manuela Custer einer selbstbewussten Francesca von Luigi Confidati ganz in Dur abgesehen vom „Caino attende“ ihre zärtlich-sinnliche Stimme voller Empfindsamkeit, nur am Schluss eine trotzige Aufwallung ins Spiel bringend. Begleitet wird sie vom Quartetto Dafne, das auch im weitaus längsten, dem Grafen Ugolino gewidmeten Stück dessen Verzweiflung beredten Ausdruck verleiht. Dieses stellt an den Mezzosopran höchste Anforderungen, und es ist schön, dass er vom Streichquartett auch hier erfolgreich darin unterstützt wird, alle Phasen der Verzweiflung ob der aussichtslosen Lage im Hungerturm in schöner Ausgewogenheit zwischen Emotion und Verhaltenheit dem Hörer nahe zu bringen. „La Pia“, wie sie auch genannt wurde, widmen sich zwei gleichnamige Stücke. Das von Filippo Marchetti geht tief ins Brustregister hinunter, und über seine gesamte Spannbreite hinweg lässt die Stimme Tragik und Reife vernehmen. Besonders gefordert wird von Antonino Palminteri in seiner La Pia das Klavier, mit dem der Pianist Raffaele Cortesi die Sängerin in ihrem erfolgreichen Bemühen unterstützt, das traurige Schicksal des Mordopfers nachzuzeichnen.

Viele andere, auch dem heutigen Musikfreund bekannte Namen sind auf der CD zu finden, so Puccini, der sich der  Szene annahm, in der es bei der Lektüre der Geschichte von Lanzelot und Ginevra zum ersten Kuss zwischen Francesca und Paolo kommt, außerdem Boito, der sich eines Musikstücks von Robert Schumann als Vorlage bedient, oder Ponchielli, der es ebenfalls vom Lesen zum Küssen kommen lässt. Der Gioconda-Komponist findet im Vergleich zu Puccini einen angemessen hochdramatischen Ansatz, lässt auch das Klavier dräuen, die Stimme tragisch verschattet klingen. Rossini ist mit einem Recitativo ritmato vertreten, Hans von Bülow, der erste Mann von Cosima Wagner mit einem Sonett Dantes.

Man könnte die CD mit einem Booklet, das außer der wertvollen Einführung auch die Texte der Stücke zumindest in Italienisch enthält, noch mehr genießen, aber auch so ist das Hören dieser Liriche su Testi di Dante ein Vergnügen und eine Bereicherung (TC 840003). Ingrid Wanja            

Aus den Barock-Archiven

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Für das neue Album bei seiner Stammfirma ERATO hat Philippe Jaroussky ein reizvolles Programm ausgewählt und in Musikbibliotheken nach vergessenen Werken gesucht, welche dort Jahrhunderte lang „der Welt abhanden gekommen“ waren. Forgotten Arias ist der Titel dieser CD, die im November/Dezember 2022 in Paris aufgenommen wurde (5054197633881). Die Platte ist auch eine Würdigung des Librettisten Pietro Metastasio, denn alle Arientexte stammen aus seiner Feder. Auf dem Album werden die aus dem Spätbarock stammenden Titel als Welterstveröffentlichungen präsentiert. Neun Komponisten sind vertreten, darunter auch unbekanntere wie Andrea Bernasconi, dessen L’Olimpiade die Anthologie eröffnet. Das Solo des Aminta „Siam navi all’onde algenti“ ist eine Gleichnisarie vom Schiff und seinem Steuermann in ungestümen Wogen. Vom Orchester mit erregten Figuren eröffnet, nimmt der Sänger diese Stimmung auf und überrascht vor allem mit seiner nachgedunkelten, gereiften Stimme. Sein früher knabenhafter, keuscher Ton war ja stets Geschmackssache und für heroische Arien weniger geeignet. Später gibt es diese Oper noch in der Vertonung von Tommaso Traetta. Daraus erklingt die Arie des Licida „Gemo in un punto“. Mit aufgewühlten Klängen des Orchesters wird sie eröffnet und der Counter nimmt diese Vorgabe auf, lässt einen dramatisch betonten Gesang hören.

Weniger bekannt ist auch Giovanni Battista Ferrandini, aus dessen 24 Arias Nr. 11, „Gelido in ogni vena“, ausgewählt wurde. Berühmt wurde diese in der Vertonung durch Vivaldi in dessen Oper Farnace. Auch in dieser Version wird das Stück von frostigen Akkorden des Orchesters eingeleitet. Auch der Sänger versucht, eingefrorene Klänge in seiner Stimme zu entfalten, was reizvolle Effekte mit sich bringt.

Catone in Utica existiert in Kompositionen von Vinci, Vivaldi, Jommelli, Leo, Graun, Hasse u. a. Jaroussky wählte die Version von Niccolo Piccinni und daraus die Arie des Arbace „Che legge spietata“. Diese ist von stürmischem Zuschnitt und der Interpret bemüht sich um adäquate Interpretation, die freilich etwas harmlos ausfällt. Auch von Il re pastore finden sich mehrere Versionen, von denen die Mozarts am bekanntesten ist. Hier ist die von Christoph Willibald Gluck zu hören und aus dieser die Arie des Agenore „Sol può dir“. Sie ist getragen von inniger Empfindung, was Jaroussky überzeugend zum Ausdruck bringt.

Ein weiterer Unbekannter ist Michelangelo Valentini, dessen Oper La clemenza di Tito natürlich vor allem in der Vertonung durch Mozart populär wurde. Die ausgedehnte Arie des Sesto „Se mai senti“ gibt es freilich dort nicht. Sie ist von kantablem Charakter und gibt der Stimme mannigfaltige Möglichkeiten zur Entfaltung.

Aus Johann Adolph Hasses Demofoonte stellt der Counter zwei Arien des Timante vor: „Sperai vicino il lido“ und „Misero pargoletto“. Erstere ist ein zunächst getragenes Stück, das sich dann zu lebhaftem Rhythmus wandelt, die zweite von kantablem Charakter und in beiden kann der Interpret mit stimmlicher Schönheit aufwarten.

Zum Abschluss gibt es eine interessante Gegenüberstellung der Oper Artaserse in zwei Vertonungen durch Johann Chrstian Bach und Niccolò Jommelli – aus der ersten „Per quel paterno amplesso“ in zunächst introvertierter, dann explosiver Manier, aus der zweiten „Fra cento affanni“. das in seinem stürmischen Duktus für einen vehementen Ausklang sorgt.

Der Counter wird begleitet vom Ensemble Le Concert de la Loge unter Julien Chauvin – ein neuer Partner also an der Seite des Sängers, der in der kontrastreichen dreisätzigen Sinfonia aus Hasses Demofoonte auch Gelegenheit zu orchestralem Einsatz hat und diesen glänzend absolviert. Bernd Hoppe

Spanische Renaissance

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Doppelt preisgekrönt mit dem Echo Klassik für Nachwuchssänger 2009 und dem Echo Klassik 2012 für ihr Album mit Telemann-Arien ist die katalonische Sängerin Nuria Rial, die erst in Barcelona und dann in Basel Gesang studierte und nun ein neues Album mit spanischer Musik der Renaissance eingespielt hat. Diese ist übrigens nicht ihr einziges Aufgabengebiet, die Sopranistin hat sich auch mit deutschem, spanischem und französischem Liedgut befasst und ist als Mozartsängerin geschätzt.

The Spanish Album bringt auf der ersten der beiden CDs Lieder, die von dem  Gitarristen José Miguel Moreno auf der Vihuelas und der Barockgitarre begleitet werden, während auf der zweiten CD zunächst das Ensemble Ophénica Lyra, ebenfalls unter Leitung von José Miguel Moreno, der Solistin    zur Seite steht, während im zweiten Teil Emilio Moreno El Concierto Espanol mit seiner Violine anführt. Zwei Countertenöre, Carlos Mena  und Jordi Domènech,  stehen der Sängerin  zusätzlich zur Seite.

Es gibt zwar eine ausführliche Einführung im recht umfangreichen Booklet, aber leider sind die Texte, ausgenommen von ganz wenigen italienischen, nur im spanischen Original verfügbar. Eine englische Übersetzung hätte sehr zum Verständnis der Lieder beigetragen. So kann man sich nur von einer bekannten Vokabel zur nächsten hangeln und muss sich ganz auf die Aussagekraft der Musik verlassen.

Für die erste CD nimmt der Sopran ein naiv-kindlich wirkendes Timbre an, wählt einen schlichten Erzählton, der natürlich von den Liedern schon vorgegeben ist, und wird mit sparsamer Agogik einer lieblichen Klage dem Quien te hizo Juan Pastor gerecht, äußert sich graziös hüpfend in En la fuente del rosel und erscheint geschmeidig in Teresica hermana. Von schöner Melancholie ist De Antequera, und im instrumentalen Track kommt die Renaissancelaute wunderschön zur Geltung. Neckisch bis trist geht die Sängerin von Gelosia auf Distanz zum Gegenstand ihrer Neigung, ein wunderschöner Schwellton erfreut in Endechas, durchgehend ist die leichte Emission der Stimme zu bewundern, die sich gern in munterem Geplauder ergeht.  berühren.

Fülliger, runder und mitreißender wirkt die Musik auf der zweiten CD dank eines jeweils zweiten Sängers und einem Quartett von Streichern. El rey moro vermag durch ein sanftes „Ay mi Alhalma“ zu rühren, Verspieltes wechselt sich mit Getragenem ab, das lange Vorspiel zu Con qué la lavaré entzückt durch sein sanftes An- und Abschwellen.

Im Mittelteil bringt diese CD Kompositionen, die in Cervantes Don Quichote erwähnt werden, im ersten Musik von Miguel de  Fuenllana und im Schlussteil von Francisco Corselli, einem aus Italien nach Spanien übergesiedelten Italiener. Von letzterem stammt ein zierliches Rezitativ, gefolgt von einer Arie mit Echolauten mit besonders reizvoller Begleitung. In der Allegro-Arie El Cordero kann man die Fähigkeit der Sängerin bewundern, sich nie mit einem reinen Wiederholen zu begnügen, sondern virtuos zu variieren (Glossa GCD C80036). Ingrid Wanja    

Eine Frau zwischen drei Männern

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„Ernani“ war erst die fünfte Oper von Giuseppe Verdi, wartet aber bereits mit einer Fülle von wunderschönen Melodien, mit vielen effektvollen Arien, Duetten und Terzetten sowie eindrucksvollen Chorszenen auf. Eigentlich müsste sie viel häufiger in den Spielplänen erscheinen. Das war zu Verdis Zeiten anders.

Die vorliegende Live-Aufnahme stammt vom 10. November 2022 aus dem Saal „Zubin Mehta“ im Teatro Maggio Musicale Fiorentino. Die unaufgeregte Inszenierung von Leo Muscato kommt ohne jegliche Mätzchen aus. Sie erzählt die verwickelte Handlung, bei der Elvira gleich von drei Männern begehrt wird (dem Banditen Ernani, dem König Don Carlo und dem Adligen Don Ruy Gomez de Silva), in ruhigen Bahnen. Gemessenes Schreiten und statische Tableaus bestimmen hauptsächlich den Eindruck. Auch wenn es bei leidenschaftlicher Musik vor allem um den Schrei nach Rache und das Schmachten nach Liebe geht, findet das in der Personenführung nur moderaten Widerhall. Das Einheitsbühnenbild von Federica Parolini zeigt aus groben Brettern gezimmerte Holzwände, die bei Bedarf verschoben oder geöffnet werden können. Schauplatzwechsel werden durch variierende Lichtstimmungen und wenige Requisiten markiert. Schattenspiele an den Wänden entwickeln einen eigenen Reiz.

Bei der eher konventionellen Inszenierung kann das gute und zuverlässige Sängerensemble in Gesang und Spiel durchaus fesseln. Francesco Meli überzeugt mit schöner Phrasierung und differenziertem Gesang. Gleich mit „Merce dilette amici“ nimmt er für sich ein. Sehr berührend gelingt ihm die Todesszene. S ein lyrisches Timbre kommt gut zur Geltung. María José Siri schöpft mit ergiebigem Sopran aus dem Vollen und gestaltet die Partie der Elvira mit bebender Leidenschaft. Roberto Frontali gibt den Don Carlo mit markantem Bariton, bleibt im Ausdruck aber oft etwas steif. Seine Arie „Oh de‘verd’anni miei“ gestaltet er hingegen sehr eindrucksvoll als nachdenklichen Monolog. Vitalij Kowaljow ist mit rundem Bass ein würdevoller, unnachgiebiger Silva. Er wirkt auch durch seine ausgeprägte Bühnenpräsenz .Wenn er am Ende bedrohlich aus dem Dunklen hervortritt, denkt man an den Komtur in „Don Giovanni“.

Uneingeschränkte Freude bereitet der von Lorenzo Fratini einstudierte Chor, der seine großen Aufgaben bestens meistert. Mit viel Brio und Sinn für Dramatik leitet James Conlon das Orchester des Maggio Musicale Fiorentino. Das Feuer, das Verdi in seine Musik gelegt  hat, lodert intensiv auf. Insgesamt hat man hier eine Aufführung, die bestens geeignet ist, mit diesem Frühwerk Bekanntschaft zu machen. (Dynamic 3797). Wolfgang Denker

Erst jetzt oder wieder?

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Leidenschaftlicher als für seine spätere Gattin Constanze schlug offensichtlich das Herz Mozarts für eine ihrer drei Schwestern, die Sängerin Aloysia Weber, die bereits mit siebzehn Jahren eine voll ausgebildete Sängerin mit internationaler Karriere war, die sich auch selbst auf dem Klavier begleiten konnte und für die ihr Schwager eine Reihe von Konzertarien komponierte, die im Jahre 1998 die Schweizer Sängerin Cyndia Sieden mit dem Orchestra oft the Eighteenth Century unter Frans Brüggen aufnahm und die 2023 (erneut?) auf dem Markt erschienen sind.

Es geht um sieben Arien, darunter eine in deutscher Sprache, die wohl eine Danksagung an Sponsoren ist, zwei Stücke sind sogenannte Einlagen, d.h. Musikstücke, die reisende Sänger anstelle von ihnen unbequemen oder ungeliebten Arien in bestimmten Opern einsetzen konnten, nicht zu verwechseln mit den Kofferarien.

Ein echtes Konzertstück ist Non, no, che non sei capace, in dem der Sopran viel Glanz zeigt, die Extremhöhe sicher ist, die Intervallsprünge sich als unangestrengt erweisen. Eine Einlage ist Non so d’onde, in der ein König seinem tot geglaubten Sohn entgegentritt und in der Mozart einen Kontrast zur Musik des von ihm verehrten Johann Christian Bach dokumentieren wollte. Obwohl eine Männerpartie, singt Cyndia Sieden das Rezitativ sehr zart, sehr weiblich, Erstaunen und Nachdenklichkeit ausdrückend, während die Arie von schöner Getragenheit ist, wobei die Spannung aufrecht erhalten bleibt und die Instrumente die Solostimme schön umspielen. Für Il curioso indiscreto von Pasquale Anfossi komponierte Mozart für Aloysia Arien, die weit virtuoser als das Original sind. Der Abschied von der Gattin (sposa), fällt sehr ernst aus, in der Arie ist die Diktion etwas verwaschen, aber es werden schöne elegische Vokalgirlanden ausgestellt, ehe die Sängerin mit Nachdruck zum Finale aufbricht und zu erstaunlichen Extremhöhen.

In der ersten Hälfte expressiv mit dramatischer Intensität wird das Rezitativ Popoli di Tessaglia dargeboten, ehe in der Arie Io non chiedo ein lustvoll verspieltes Virtuosentum dominiert. Das „nur ein Weib“ in der Danksagung „geht natürlich heute gar nicht mehr“, wird aber ebenfalls schön gesungen. So ist die CD insgesamt entweder zu Recht wieder auf dem Markt oder wäre zu Unrecht erst so spät, ein Vierteljahrhundert nach der Aufnahme, dort erschienen (Glossa GCD C81133). Ingrid Wanja

Futuristisch

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Bei dieser Turandot gibt es vier Rätsel: Drei stellt Turandot an den Prinzen Calaf, eines stellt der Regisseur Franc Aleu (aus der Künstlergruppe La Fura dels Baus) an das Publikum. Denn diese Turandot vom Gran Teatre del Liceu in Barcelona aus dem Jahr 2019 ist reichlich futuristisch ausgefallen. Man wird eher in die Welt der Science-Fiction-Filme als in die der Oper versetzt. Dabei bleiben die Bezüge zur Oper Turandot oft rätselhaft. Aleu arbeitet überwiegend mit Projektionsmapping und 3D-Technik und erschafft eine an Phantasie kaum zu übertreffende Bilderwelt aus Formen und Farben. Das Geschehen findet oft in einer Art Glaskugel oder Blase statt. Häufig wird der Gaze-Vorhang bemüht. Bei den von Turandot aufgegebenen Rätsellösungen (Hoffnung, Blut, Turandot) taucht Aleu die Bühne in die korrespondierenden Farben Grün, Rot und Blau. Die finden sich auch in den Kostümen der drei Minister, die sich mitunter wie Roboter bewegen und aus fremden Welten zu kommen scheinen. Alle (außer Liu und Timur) tragen Argumented-Reality-Brillen, wie man sie inzwischen aus Bayreuth kennt. Auch Lichtschwerter gehören zur Ausstattung. Mit den sich ständig wechselnden Lichtstimmungen wird dem Auge viel geboten. Aleu sorgt für eine Orgie aus Licht und Farben. Wenn bei Lius Arie Tränen vom Himmel fallen, ist das nachvollziehbar, wenn aber Büsten herunterfallen und am Boden zerschellen, ist es nicht unbedingt so. Man hat mitunter den Eindruck, dass die Technik hier zum Selbstzweck wird und nicht unbedingt im Dienste des Werkes steht. Eines muss man aber zugeben: Interessant und faszinierend ist es allemal.

Ein paar Besonderheiten gibt es in der Inszenierung von Aleu. Liu begeht hier keinen Selbstmord sondern wird mit elektrischen Stromstößen gefoltert und hingerichtet. Die geschundene Leiche weckt das Mitleid von Turandot. Der Prinz Calaf interessiert sie eher nicht . Und Calaf? Der singt nur noch die bizarre Krone an, die er Turandot vom Kopf gerissen hat. Macht scheint wichtiger zu sein als Liebe.

Bei den sängerischen Leistungen ragt die von Ermonela Jaho als Liu heraus. Sie singt zartstimmig und mit schwebenden Tönen. Ihr Darstellung trifft ins Herz. Iréne Theorin punktet als Turandot vor allem mit ihrer messerscharfen und durchschlagskräftigen Höhe. Für ihr hässliches Kostüm kann sie nichts. Beim Calaf von Jorge De León braucht man um die hohen Töne und sein Durchhaltevermögen keine Angst zu haben. Er hat eine wuchtige, virile Stimme, mit der er seine Partie aber mitunter zum reinen Kraftakt werden lässt. Der Timur ist mit Alexander Vinogradov stimmig und zuverlässig besetzt. Ein Wiedersehen gibt es mit Chris Merritt, der als Altoum mit Helm und Brustpanzer immer noch mit altersgerechter Stimme beeindruckt.

Chor und Orchester unter der Leitung von Josep Pons sorgen für eine Ausgefeilte, aber auch wuchtige Wiedergabe. Fazit: Eine Turandot der besonderen Art, die durchaus faszinieren kann. (C-Major 763604 Blu-ray)Wolfgang Denker

Janet Baker zum Neunzigsten

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Nur wenige Stimme haben mich so erreicht wie die von Janet Baker! Diese intensive, nicht einmal auf den ersten Moment wirklich schöne, aber hochintensive helle Mezzostimme gehört für mich zu den unvergesslichen, einmaligen meines langen Musiklebens. Ich hatte das große Glück (die Gnade der frühen Geburt im Westen …) sie als Dido von Berlioz 1969 beim Edinburgh-Festival zu erleben, ein Sommer mit vielen Wundern wie Leyla Gencer als Rossinis Elisabetta, Renata Scotto als Bellinis Amina und zudem Jessye Norman in einem ihrer frühen Liederabende kurz nach ihrem Berliner Debut im Amerika-Haus.

Die Baker (stark erkältet und diskret mit dem Griff nach einem hankie im Décolletée, wenn sie sich umwenden konnte) ließ mit ihrer intensiven, fast manischen Darstellung der verzweifelten  Königin zum Schluss („Rome, Rome…“) alle neben sich verblassen, auch Helga Dernesch als Cassandra im ersten Teil. Sie raste. Sie war die empörte, verletzte, wutschäumende Königin Kartagos, die zuvor mit ihrem Partner Ronald Dowd im Liebesduett  zärtlichste, süßeste Töne gefunden hatte.

Diese Bandbreite der Emotionen zeigte sie auch bei den Auftritten in den Troyens in Covent Garden, sie stets in Englisch neben Josephine Veasey und Jon Vickers in Französisch. Sie blieb (fast) bei allen Opernauftritten bei ihrer Überzeugung, dass ihr britisches Publikum sie auch verstehen sollte, was in den Troyens zu putzigen Situationen führte,

Nur in Glyndebourne, wo ich sie in der mahler-nahen Bearbeitung Raymond Leppards von Monteverdis Ritorno d´Ulisse erlebte, und 1981 am Ende ihrer Karriere eben hier als Orfeo und in Glucks Alceste in Covent Garden (dort auch vorher als Mozarts Vitellia), trat sie in den Originalsprachen Sprachen auf.

Ihre Alceste ist mir eingebrannt, und es ist ein Jammer, dass es nur das akustische Dokument davon gibt – hier noch einmal sah man die Kunst der Baker wie in einer großen Nuss-Schale: Intensität, Diktion, starke Emotionen durch eben die Sprache und eine hochpräsente, stark engagierte Bühnenerscheinung.

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Das klingt jetzt sehr technisch, und ich muss auch sagen, dass ich bei aller Verehrung und Affinität zu ihr auch gelegentlich das Gefühl hatte, dass sie eine Mauer um sich herum hatte. Sie kommunizierte durch ihre überspringende Kunst, nicht durch eine solche Empathie. Martha Mödl hat mal von der von mir heiß geliebten Sena Jurinac gesagt, sie habe stets das Gefühl gehabt, durch eine Glasscheibe von ihr auf der Bühne getrennt gewesen zu sein. Dieses Simile fällt mir bei der Erinnerung an Janet Baker auch ein: Sie war und sang in einer Welt für sich, ihrem eigenen Kosmos, ihre Figuren hatten wenig Kontakt mit den übrigen auf der Bühne – soweit meine Erinnerung. Der ihr anhaftende Ruf der gewissen Humorlosigkeit und Strenge der Interpretation ebenso wie im sozialen Kontakt erklärt sich vielleicht daraus. Dennoch konnte man sie auch gelöst und heiter außerhalb des Theaters erleben. Das Interview mit dem Schauspieler  Simon Callow in der Londoner Wigmore Hall lässt sie in einem viel menschlicheren Licht erscheinen als manchmal dargestellt. Es wurden mehrere Video-Interviews mit Janet Baker online gestellt, und in allen spricht sie mit dieser außergewöhnlichen Mischung aus Autorität, Bescheidenheit, Klarheit, Würde und spiritueller Anmut, die ihren Gesang durchdrungen hat. Dieses ist mein absoluter Favorit, vor allem, weil sie sich mit Simon Callow so ganz offensichtlich wohlfühlt. Dass sie auch unter ihrer Karriere gelitten hat, unter der großen Verantwortung als Künstlerin gegenüber ihrem Publikum und dass diese Beziehung ihr auch Selbstzweifel und Depressionen bereitete,  berichtet sie – sehr anrührend – in ihrem bemerkenswerten Buch „Full Circle“ 1981 nach dem Bühnenabschied mit Alceste, den auch eine ebenso sehenswerte BBC-Dokumentation dieses Abschiedsjahres ihrer letzten drei Partien – Orfeo/Glyndebourne, Mary Stuard/ENO und Alceste/CG – begleitet. Auch die bei youtube verfügbare Dokumentation „Janet Baker – in her own words“ ist absolut ein Muss.

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In den vielen wunderbaren Liederabenden war sie das Zentrum ihres und unseres Erlebens, wo sie akzentfrei eben dieses klassische Konzert-Repertoire (erst italienische, dann französische und zum Schluss deutsche Lieder) durchmaß, auch hier mit ihr eigenen breiten Palette des Ausdrucks und der Intensität. Ich habe sie sehr, sehr oft in Liederabenden gehört und bin ihr auch nachgereist, um mich dieser für mich einmaligen Stimme und Interpretation hinzugeben. An ihrem Kosmos teilzuhaben.

Keine Stimme wie die ihre hat mir Lieder so nahegebracht. Und ich bin dem gebildeten Verkäufer (Peter) im damaligen Berliner Platten-Laden Bote & Bock im Europacenter bis heute unendlich dankbar, mir ihre LPs nahegebracht zu haben. Ihre allererste bei Saga hatte ich mir aus den USA mitgebracht, Brahms, Schubert, Schumann mit Martin Isepp am Klavier, dem Sohn ihrer Lehrerin. Und wie sehr oft bei Stimmen war es diese erste Platte, die meine Verehrung für Janet Baker triggerte. Ihr Musensohn ist mir bis heute die einzige Variante, die ich gelten lasse. Dank eben Bote & Bock dann öffnete sich mir der Himmel mit mehr von Schubert (Ellens Gesänge) und dem klassischen Repertoire, den vielen Aufnahmen bei EMI, namentlich den „Nuits d´éé“ unter Barbirolli (unerreicht das „Spectre de la rose“ mit dem Ritardando von „J´arrive, j´arrive aux Paradis..“), ihr Mahler, Brahms, Elgar später und die vielen anderen Memorabilien.

Bei der BBC hat sie viele Aufnahmen gemacht, von sehr viel Händel bis zu Mahler, oft auch als Mitschnitte aus der Albert Hall, von Festivals und anderen Locations, die kursieren unter Sammlern, so auch der bedeutende Liederabend aus der New Yorker Town Hall 1966, wo sie am nächsten Abend für eine Kollegin als italienischer Smeton neben Marilyn Horne und Elena Suliotis in der konzertanten Anna Bolena in der Carnegie Hall nebenan einsprang (was für zwei Abende für mich, unvergesslich) – so wie später in EMIs Capuleti neben der Sills für die Horne.

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Aber die ersten Aufnahmen lagen dann doch bei der Decca unter Anthony Lewis mit der singulären Dido Purcells 1961 unter Leppard mit der Diana Cavallis aus Glyndebourne 1971 oder als unglaubliche Phédre Rameaus (Hippolyte ed Aricie, 1966), die ich mir als Student mit klopfendem Herzen in London mit ebenso blutendem Herzens leistete (das Pfund stand barbarisch hoch für uns) und nach Berlin trug, noch als LP. Was für legendäre Aufnahmen, welche Kunst, welche Interpretation!

Universal/Decca nun – nicht EMI/Warner, da gab´s eine zum 80. – hat eine 21-CD-Box zu Janet Bakers 90. Geburtstag im August 2023 herausgebracht, die diese frühen Decca-Aufnahmen enthält, aber auch ihre (nach der EMI-Phase) späteren bei Philips, vorher Deutsche Grammophon und zuletzt Hyperion, diese sehr reif und abgeklärt.

Janet Baker war ja eng im Kreis von Benjamin Britten und Aldeburgh eingebunden, und ihre Aufnahmen eben dieses Komponisten zählen zu den besten. Aber ihre Bandbreite scheint fast unendlich, wenn man die nachstehende Auflistung der Box liest, von Carissimi oder Purcell bis zur Moderne, Händel oder Gluck nicht vergessend. Wobei manches unter Raymond Leppards Stokowski-Sound-Orchester-Bearbeitung leidet. Das macht die Aufnahmen auch gelegentlich altmodisch. Oder ärgerlich.

Janet Bakers Aussehen hat sich in den langen Jahren ihrer Karriere sehr verändert – aus der etwas provinziell wirkenden jungen Frau mit Hochfrisur der Zeit ist eine elegante ältere Dame mit einem wirklich schönen, durchgeistigten Antlitz geworden, die in ihren wenigen Auftritten dezidiert Kluges sagt. Die Sing-Stimme hatte sich dagegen kaum verändert, gewiss zum Schluss auch lockerer, weiter schwingend geworden, aber immer von dieser unglaublichen Intensität, dieser Verbindung aus Wort und Musik, darin der Kollegin Callas so ähnlich, die im Dezember 100 geworden wäre. Inhalt durch gesungenes Wort zu transportieren, den Zuhörer mit diesen beiden Mitteln zu verzaubern – was für eine Kunst. Happy Birthday, Dame Janet. Geerd Heinsen

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Die wunderbaren Fotos von Janet Baker (mit 86!) sind der BBC-TV-Dokumentation Janet Baker in her own Words bei youtube entnommen (14. April 2019 BBC Four, Regie  John Bridcut)

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Anlässlich des 90. Geburtstages der großen Janet Baker (* 21. August 1933 in Hatfield, South Yorkshire, England) erschien bei Decca eine 21-CD-Edition (4854438), die alle Recitals und Liederaufnahmen der großen britischen Mezzosopranistin bei Philips, L’Oiseau-Lyre, Argo, Deutsche Grammophon und Hyperion enthält. Diese Edition feiert so die vielen Facetten der unvergleichlichen Kunst von Janet Baker – Opernsängerin, Konzertsängerin und eine der letzten lebende Repräsentantinnen des Golden Zeitalters des Gesangs. „Janet Baker – A Celebration“ beeindruckt mit Original Jackets, seltenen Fotografien von Aufnahmesitzungen und Archivfotos sowie umfassenden Booklet-Texten, die diese Edition zu einer besonderen Würdigung der außergewöhnlichen Sängerin machen. (Decca)

Janet Baker – A Celebration (Argo, L’Oiseau-Lyre, Deutsche Grammophon, Philips & Hyperion-Recordings); Mit Werken von : Henry Purcell (1659-1695) , Francesco Cavalli (1602-1676) , Jean Philippe Rameau (1683-1764) , Georg Friedrich Händel (1685-1759) , Johann Sebastian Bach (1685-1750) , Antonio Vivaldi (1678-1741) , Francesco Durante (1684-1755) , Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) , Joseph Haydn (1732-1809) , Christoph Willibald Gluck (1714-1787) , Ludwig van Beethoven (1770-1827) , Franz Schubert (1797-1828) und weitere; Mitwirkende: Janet Baker, Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, Simon Preston, John Shirley-Quirk, Dietrich Fischer-Dieskau, Ian Partridge, Ileana Cotrubas, Gerald Moore und weitere 21 CDs 

1.CD Henry Purcell: Dido and Aeneas (Patricia Clarke, Eilen Poulter, Raimund Herincx, Monica Sinlair, English Chamber Orchestra, Anthony Lewis / 1961)
2.CD „Arie amorose“ – Italienische Lieder & Arien von Giulio Caccini, Alessandro Stradella, Domenico Sarro, Antonio Cesti, Antonio Lotti, Alessandro Scarlatti, Antonio Caldara, Giovanni Bononcini, Franceso Durante, Giovanni Battista Pergolesi, Niccolo Piccinni, Giovanni Paisiello (Academy of St. Martin-in-the-Fields, Neville Marriner / 1978); Francesco Cavalli: 3 Szenen aus La Calisto (Giovanni Faustini, James Bowman, London Philharmonic Orchestra, Raymond Leppard / 1971); Jean-Philippe Rameau: 2 Arien aus Hippolyte et Aricie (English Chamber Orchestra, Anthony Lewis / 1965)
3.CD Georg Friedrich Händel: Kantate „La Lucrezia“; Arien aus Ariodante, Atalanta, Hercules, Joshua, Rodelinda, Serse (English Chamber Orchestra, Raymond Leppard / 1973)
4.CD Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion BWV 244 (Auszüge / Karl Richter); Messe h-moll BWV 232 (Auszüge / Academy of St. Martin in the Fields, Neville Marriner); Georg Friedrich Händel: Judas Maccabaeus (Auszüge / Charles Mackerras)
5.CD Johann Sebastian Bach: Kantaten BWV 159 „Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem“ & BWV 170 „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ (John Shirley-Quirk, Robert Tear, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Neville Marriner / 1966); Kantate BWV 102 „Herr, deine Augen sehen mach dem Glauben“ (Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, English Chamber Orchestra, Benjamin Britten / 1965)
6.CD Antonio Vivaldi: Gloria D-Dur RV 589; Francesco Durante: Magnificat B-Dur (King’s College Choir Cambridge, Academy of St. Martin-in-the-Fields, David Willcocks / 1966)
7.CD Georg Friedrich Händel: Ariodante (Auszüge / Raymond Leppard); Wolfgang Amadeus Mozart: La Clemenza di Tito (Auszüge / Colin Davies); Cosi fan tutte (Auszüge / Colin Davis)
8.CD Joseph Haydn: Scena di Berenice; Arianna a Naxos; Wolfgang Amadeus Mozart: Cosi fan tutte (Auszüge); Abendempfindung; Das Veilchen (Raymond Leppard, Dirigent & Klavier)
9.CD Christoph Willibald Gluck: Arien aus Alceste, Armide, Iphigenie en Aulide, Iphigenie en Tauride, La Recontre imprevue, Orfeo ed Euridice, Paride ed Elena (English Chamber Orchestra, Raymond Leppard / 1975)
10.CD Ludwig van Beethoven: Ah perfido“; No, non turarti; Egmont (Auszüge); Franz Schubert: Arien aus Alfonso und Estrella, Lazarus, Rosamunde; Ständchen „Zögernd leise“ (Raymond Leppard, Dirigent & Klavier)
11.CD Franz Schubert (Duette): Hermann und Thusnelda D. 322; Antigone und Oedip D. 542; Cronnan D. 282; Singübungen D. 619; Selma und Selmar D. 286b; Licht und Liebe D. 352; Hektors Abschied D. 312; Mignon und der Harfner D. 877 Nr. 4; Szenen aus Goethes Faust D. 126 (Dietrich Fischer-Dieskau, RIAS Kammerchor, Gerald Moore / 1972)
12. CD Franz Schubert (Vokalquartette): Der Tanz D. 826; Des Tages Weihe D. 763; Hymne an den Unendlichen D. 232; An die Sonne D. 439; Begräbnislied D. 168; Gott im Ungewitter D. 985; Gott der Weltschöpfer D. 986; Die Geselligkeit D. 609; Gebet D. 815 (Elly Ameling, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore / 1973)
13.CD Franz Schubert (Schiller- & Goethe-Lieder): Der Jüngling am Bache D. 30; Thekla D. 73; Nähe des Geliebten D. 162; Meeres Stille D. 216; Amalia D. 195; Die Erwartung D. 159; Wandrers Nachtlied I D. 224; Der Fischer D. 225; Erster Verlust D. 226; Wonne der Wehmut D. 260; An den Mond D. 296; Das Geheimnis D. 250; Lied D. 284; Der Flüchtling D. 402; An den Frühling D. 587; Der Alpenjäher D. 588; Der Pilgrim D. 794; Sehnsucht D. 636 (Graham Johnson / 1987)
14.CD Gustav Mahler: Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit (Geoffrey Parsons / 1983)
15.CD Gustav Mahler: Das Lied von der Erde (Concertgebouw Orchestra, Bernard Haitink / 1975)
16.CD Hector Berlioz: La Mort de Cleopatre; Herminie; Szenen Nr. 5 & 6 aus L’Enfance du Christ (Auszüge); Non! Que viens-je d’entendre aus Beatrice et Benedict (Pierre-Ange Vieillard, Thomas Allen, John Alldis Choir, London Symphony Orchestra, Colin Davis / 1979)
17.CD Gabriel Faure: Le Papillon et la fleur op. 1 Nr. 1; Chanson du pecheur op. 4 Nr. 1; Reve d’amour op. 5 Nr. 2; Melodies op. 7 Nr. 1-3; Aubade op. 6 Nr. 1; Toujours op. 21 Nr. 2; Les Berceaux op. 23 Nr. 1; Le Secret op. 23 Nr. 3; Aurore op. 39 Nr. 1; Les Roses d’Ispahan op. 39 Nr. 4; En Priere; Les Presents op. 46 Nr. 1; La Chanson d’Eve op. 95; Spleen op. 51 Nr. 3; Green op. 58 Nr. 3; En Sourdine op. 58 Nr. 2; Mandoline op. 58 Nr. 1(Geoffrey Parsons / 1988)
18.CD Maurice Ravel: 3 Poemes de Stephane Mallarme; 3 Chansons madecasses; Ernest Chausson: Chanson perpetuell op. 37; Maurice Charles Delage: 4 Poemes hindous (Melos Ensemble / 1966)
19.CD Gustav Holst: Savitri op. 25 (Kammeroper in 1 Akt); Benjamin Britten: Kantate op. 93 „Phaedra“; Lucretia, Lucretia & Last Night Tarquinius aus The Rape of Lucretia op. 37; ah, Owen, what shall we do aus Owen Wingrave op. 85; Werner Egk: La Tentation de Saint Antoine (Robert Tear, Purcell Singers, John Shirley-Quirk, Benjamin Luxon, Koeckert Quartet, English Chamber Orchestra, Imogen Holst / 1961 / 1965)
20.CD Michael Tippett: A Child of our Time (Jessye Norman, John Shirley-Quirk, BBC Singers, BBC Symphony Orchestra, Colin Davis / 1975)
21.CD Henry Purcell: Dido and Aeneas (in der Fassung von Imogen Holst & Benjamin Britten / Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, London Opera Chorus, Aldeburgh Festival Strings, Steuart Bedford / 1975)

Künstler: Janet Baker, Robert Tear, Felicity Palmer, Felicity Lott, Peter Pears, Norma Burrowes, Simon Preston, John Shirley-Quirk, Dietrich Fischer-Dieskau, Ian Partridge, Ileana Cotrubas, Gerald Moore, Elly Ameling, Peter Schreier, Cord Garben, Graham Johnson, Geoffrey Parsons, Benjamin Luxon, Richard Cassilly, Jessye Norman, London Opera Chorus, Regensburger Domspatzen, RIAS Kammerchor, Purcell Singers, Academy of St. Martin in the Fields, Aldeburgh Strings, Orchestre symphonique de Montreal, London Philharmonic Orchestra, Münchener Bach-Orchester, Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden, London Symphony Orchestra, Melos Ensemble, Koeckert Quartett, BBC Symphony Orchestra, Steuart Bedford, Neville Marriner, Karl Richter, Charles Mackerras, David Willcocks, Colin Davis, Bernard Haitink, Imogen Holst, Decca, ADD, 1961-1988

Biblisches aus der Küche

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Nach ihrer CD-Einspielung bei Erato im September 2021 verkörperte Joyce DiDonato die Rolle der Irene in Händels Theodora auch in einer szenischen Produktion des Oratoriums am Royal Opera House Covent Garden im Februar 2022. OPUS ARTE hat die Aufführung mitgeschnitten und auf einer Blu-ray Disc herausgebracht (OABD7313D). Regisseurin Katie Mitchell hat das Geschehen um die standhafte Christin Theodora im Römischen Reich ganz in die Gegenwart verlegt. Hier ist sie Angestellte in der Römischen Botschaft mit dessen Führer Valens, plant, diese zu zerstören. Schauplatz (Chloe Lamford) ist eine modern eingerichtete Küche, wo Theodora und Irene in roten Schürzen (Sussie Juhlin-Wallén) den Boden wischen und andere Arbeiten im Haushalt verrichten. Die Arbeit ist ein exemplarisches Beispiel für die zahlreichen Profanierungsversuche heutiger Regisseure. Gyula Orendt, eigentlich nicht auf Alte Musik spezialisiert, singt den Botschafter mit robuster, fast brutaler Tongebung. Während seines Airs „Racks, gibbets, sword and fire“ vergnügt er sich auf dem Tisch mit einer Angestellten – eine der vielen geschmacklosen Szenen in dieser Inszenierung. Auch bei seinem Air in Part II, „Wide spread his name“, rekeln sich leichte Mädchen in körperlichen Verrenkungen auf der langen Tafel. Stimmlich kann Jakub Józef Orlinski als Römer Didymus, der Theodora liebt, danach einen Kontrast schaffen mit seiner lieblichen Eingangsarie „The raptured soul“, auch wenn sein Counter oft einen jaulenden Beiklang aufweist. Am besten gelingt ihm das liebliche „Sweet rose and lily“ in Part II. Sein Freund, der römische Offizier Septimius, ist der Tenor Ed Lyon mit angenehm weicher Tongebung und stilistisch ganz der Tradition britischer Oratoriensänger verpflichtet. Die Titelrolleninterpretin Julia Bullock muss bis zur 3. Szene auf ihren Einsatz warten, kann dann aber bei „Fond, flattring world, adieu mit obertonreichem Sopran von schöner Fülle rundum überzeugen. Berührend ist ihr Solo „The pilgrim’s home“ im 2. Teil. Das folgende Duet mit Didymus, „To thee“,  bei dem sie ihre Kleidung tauschen, um Theodora die Flucht zu ermöglichen, und Didymus nun wie ein Transvestit im Fummel mit blonder Perücke daherkommt, lässt eine perfekte Verblendung beider Stimmen hören.

Joyce DiDonato wiederholt ihre Glanzleistung als Irene auf der Erato-Aufnahme und imponiert hier noch mit einer szenischen Darstellung von faszinierender Präsenz und packender Intensität. Gelegentlich, so gleich in ihrem ersten Air, „Bane of virtue“, riskiert sie auch derbe Akzente in Verismo-Nähe. Während Irenes Nummer baut Theodora an ihrer Bombe, unterstützt von den anderen Frauen. Irenes zweites Air, das gefühlsstarke As with rosy steps the morn, welches DiDonato betörend vorträgt, wird gestört durch Botschaftsangestellte, die die Frauen mit Pistolen bedrohen und fesseln. Darunter ist auch Septimius, der im an Koloraturen reichen Dread the fruits vehement auftrumpft und den zwiespältigen Charakter der Figur deutlich umreißt. Von ihm und den Sicherheitsleuten werden Theodora und Irene in einem Nebenraum erniedrigenden körperlichen Prozeduren ausgesetzt. Im zweiten Teil, der in ein Bordell mit roten Wänden und Table dance führt, tritt Theodora im silbernen Glitzerfummel und hellblonder Perücke auf, nun zur Prostituierten degradiert. Bedrängt von Septimius und gar in ein rotes Bett gedrängt, singt sie mit fiebriger Erregung „Oh, that I on wings could rise“.

Es musiziert das Orchestra of the Royal Opera House, also kein Originalklang-Ensemble. Aber mit Harry Bicket steht immerhin ein Spezialist für Barockmusik am Pult. Schon in der Overture setzt er markante Akzente mit flüssigem, Tempo betontem Spiel. Später trägt er die Sänger mit Verständnis und großem Einfühlungsvermögen, ohne dass sein Dirigat als reine Begleitung abzustempeln wäre.

Der Royal Opera Chorus (William Spaulding) singt engagiert und klangvoll, beschließt Part I mit dem feierlichen Go, genrous, pious youth, bei dem Didymus von Irene getauft wird. Am Ende von Part II singt er den Chorus  He saw the lovely youth, welchen der Komponist selbst noch über sein „Halleluja“ stellte. Und auch die letzte Nummer fällt dem Chor zu: „O love divine“ – zur erhabenen Musik sind der Schauplatz eines Schlachthofes mit aufgehängten Schweinehälften sowie die Bilder von Blut und Pistolen herbe Kontraste. Bernd Hoppe

Triumpf des Gesangs

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Seitdem Cecilia Bartoli künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele ist, zeichnet sich das Programm dieses Festivals durch eine originelle Programmkonzeption aus. 2019 feierte man die Kunst der Kastraten unter dem Motto „Voci celesti“. Im Mittelpunkt stand Nicola Porporas Oper Polifemo, welche an die Interpreten exorbitante Anforderungen hinsichtlich ihrer Gesangskunst stellt. Ein erlesenes Ensemble führte das Unternehmen zu triumphalem Erfolg – nach zu hören nun auf der CD-Einspielung der Oper beim Label parnassus arts productions, die im Juli/August 2021 (nach Aufführungen beim Festival Bayreuth Baroque) und August 2022 in Athen entstand (PARARTS003, 3 CDs). Bis auf die Nebenrolle der Nerea entspricht die Besetzung jener in der Salzburger Felsenreitschule 2019, wo der Counter Max Emanuel Cencic das Geschehen halbszenisch arrangiert hatte.

Das Werk wurde 1735 im Londoner King’s Theatre am Haymarket uraufgeführt, brillant besetzt mit den zwei führenden Kastraten der Zeit: Senesino als Ulisse und Farinelli als Aci. Letzterem fiel jene Arie zu, welche der berühmte Sänger der Legende nach jede Nacht dem  depressiven spanischen König  Philipp V. vortrug und ihn damit aus seiner Melancholie befreite. Porporas Musik ist ein Fest für Gesangsvirtuosen und viele seiner Arien wurden von renommierten Interpreten in deren Konzerte und Recitals aufgenommen.

Das Libretto von Paolo Antonio Rolli fußt auf der von Ovid in seinen Metamorphosen geschilderten Dreiecksgeschichte mit der Nymphe Galatea, die den Hirten Aci liebt, und dem Zyklop Polifemo, der Galatea begehrt und Aci aus Eifersucht mit einem Felsbrocken erschlägt. Dieser aber wird in einen Fluss verwandelt, dessen Wellen die Nymphe auf ewig umspielen. Schon Händel hatte diese Geschichte 1732 in seiner Serenata Aci and Galatea in Musik gesetzt. Porporas Vertonung aber ist eine Huldigung an die Sänger und deren Bravour.

Gesanglich wird die Neuaufnahme von Yuriy Minenko als Aci diminiert – durchaus kein unbekannter Sänger, doch rangiert er bei weitem nicht in der Liga um Fagioli, Cencic, Jaroussky und Sabada, wohin er zweifellos gehörte. Schon in seinem Auftritt mit „Dolci, fresche aurette grate“ betört er mit schmeichelnden Tönen, wunderbar untermalt vom Orchester mit wiegendem, kosendem Melos. Am Ende des 1. Aktes setzt er in „Morirei del partir“ mit schmerzlichem Ausdruck einen einprägsamen Kontrast. Furios trumpft er auf bei „Nell’attendere il mio bene“ im 2. Akt, feuert die Koloraturen mit Attacke ab und kann auch seinen enormen Stimmumfang demonstrieren. Jeder Zuhörer wartet natürlich auf „Alto Giove“ im 3. Akt, in der Minenko magische Momente schafft mit überirdisch schwebenden Tönen und höchster Kunstfertigkeit im Vortrag. Und mit dem letzten Solo der Oper, der Aria „Senti il fato“, kann er noch einmal mit stürmischen Koloraturrouladen brillieren. Der zweite Counter, Max Emanuel Cencic als Ulisse, hat mit „Core avvezzo“ einen stürmischen Auftritt zu absolvieren, was ihm blendend gelingt. „Fortunate pecorelle“ im 2. Akt ist von getragenem Zuschnitt und profitiert von delikater Tongebung und feiner Phrasierung. „Quel vasto“ im 3. Akt verlangt wiederum Vehemenz im Ausdruck und furios herausgeschleuderte Koloraturläufe, was Cencic souverän meistert. Die anhaltende Hochform des Sängers ist erfreulich und soll hier explizit erwähnt werden.

Die russische Sopranistin Julia Lezhneva ist seit längerer Zeit eine feste Größe in den Produktionen von Max Emanuel Cencic. Auch hier als Galatea besticht sie wiederum mit ihrer scheinbar grenzenlosen Virtuosität, die sie schon in ihrer ersten, zärtlich getupften Aria, „Se al campo e al rio“, ausstellen kann. Mit der vehementen Aria „Ascoltar no“ beendet sie den 1. Akt in fulminanter Manier. Genüsslich kostet sie die Aria im 2. Akt „Fidati alla speranza“ mit kosenden Trillern und raffinierten Vorschlägen aus. Ein weiteres Glanzlicht setzt sie im 3. Akt mit ihrem letzten Solo „Smanie d’affanno“, welches sie mit schmerzerfüllten Tönen ausbreitet. Mit Aci hat sie im 2. Akt zwei Duette: In dem lieblichen „Placidetti zeffiretti“ umschmeicheln sich die Stimmen bezaubernd, in „Tacito movi e tardi“ ist die Stimmung geprägt von bangen Gedanken an die Zukunft. Am Ende des Werkes gibt es sogar ein Terzetto („La gioia immortal“), in welchem sich die Stimmen von Galatea, Aci und Ulisse höchst kunstvoll vereinen.

Selten wurde die Titelfigur einer Barockoper vom Komponisten einem Bassisten anvertraut – Pavel Kudinov absolviert sie mit Glanz und stilistischer Kompetenz. Mit der Aria „M’accendi in sen col guardo“ führt er sich Achtung gebietend ein. Im 3. Akt hat er mehrere Soli, von denen das pochende Arioso „Crudel“, die energische Aria „Dun disprezzato amor und das träumerische Arioso „Ma i piè“ in ihrer kontrastreichen Charakteristik hohe Anforderungen an den Interpreten stellen.

Die Besetzung komplettieren zwei weitere Nymphen – Calipso und Nerea -, die von der Mezzosopranistin Sonja Runje und der Sopranistin Narea Son wahrgenommen werden. Letzterer fällt, gemeinsam mit Galatea, die erste Nummer des Werkes zu – Aria e Duetto „Vo presagendo“, in der Lezhneva mit klagenden Tönen aufwartet, während Son eine sinnliche Stimmung beisteuert. Mit „Sorte un’umile capanna“ hat sie auch ein träumerisches Solo, in welchem die angenehme Stimme zu schöner Wirkung kommt. Reizend ist ihre muntere Aria Una beltà che sa zu Beginn des 2. Aktes, die sie kokett vorträgt und mit feinen Verzierungen schmückt. Calipso hat mit „Giusata non ha delle tue forze“ eine sublime Aria, die sie mit schwebender Stimme ungemein delikat singt. Alle Sänger vereinen ihre Stimmen in den tutti-Passagen – mit dem Ergebnis eines ausgewogenen Zusammenklanges.

Wie oft bei parnassus-Produktionen steht George Petrou am Pult des Ensembles Armonia Atenea und erweist sich einmal mehr als Spezialist für das Barockgenre. Sogleich in den beiden einleitenden Ouvertüren setzt er markante Akzente, differenziert prägnant zwischen den gravitätischen  und lebhaften Tempi. Das zeichnet insgesamt seine Interpretation aus, die von vielfachen Stimmungen und spannenden Affekten geprägt ist. parnassus gebührt Dank: Nach der Einspielung von Porporas Carlo il Calvo ist dieser Polifemo eine weitere Großtat. Bernd Hoppe

HERBERT HANDT

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Mit Bedauern hörte ich vom Tode des us-amerikanischen Tenors und Dirigenten Herbert Handt. Ich hatte noch das Glück ihn sowohl als Sänger wie auch als Leiter der Akademie in Lucca zu erleben, ein sehr liebenswürdiger älterer Herr, der sich freute, dass ich seine frühen Aufnahmen kannte und schätze. In Grossetto oben auf dem Berg, wo die feuchte Nachtluft das zirpende Cembalo im Laufe des Abends um einen Tod tiefer klingen ließ erlebte ich ihn in einer Oper des Settecento, ich kann mich nicht mehr an den Titel erinnern. Cimarosa? Matrimonio? Egal, er ist mir im Gedächtnis geblieben, auch weil ich seine Aufnahmen unter Loehrer oder Prohaska mein eigen nenne und er defintiv ein Bestandteil  italienischer Musikgeschichte war. Ein wichtiger und formativer. Geerd Heinsen

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Herbert Handt (Tenor, Dirigent), Geboren: 26. Mai 1926 in Philadelphia starb am 4. Oktober 2023 in Rom. Der amerikanische Tenor (und Dirigent) war ein Cousin des Dirigenten Otto Ackermann (1909–1960) und erhielt seine Ausbildung an der Juilliard School of Music in New York, dann an der Wiener Musikakademie. Herbert Handt gab 1949 sein Operndebüt an der Wiener Staatsoper. Als lyrischer Tenor trat er in den 1950er Jahren mit Erfolg an bedeutenden europäischen Opernhäusern auf. Er trat auf deutschen, italienischen und französischen Bühnen auf und gastierte in Belgien und Holland. 1957 sang er am Teatro della Pergola in Florenz in der Uraufführung von Venere Prigioniera von Gian-Francesco Malipiero. Im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung nahm er im August 1958 an der Uraufführung der Oper Maria Golovin von GC Menotti Teil. Er spielte Rollen in Werken moderner Komponisten wie Gian-Francesco Malipiero, Alban Berg, Ferruccio Busoni, Hans Werner Henze und Benjamin Britten. Auch im Konzertbereich hatte er eine große Karriere, wobei er sich besonders als Oratoriensolist auszeichnen konnte. 1966 wirkte er in Zürich bei der Uraufführung des Oratoriums Jeremia von E. Hess mit.

Höhepunkte seines Repertoires auf der Bühne waren die lyrischen Partien in Opern von WA Mozart und in den Belcanto-Opern von Rossini, Bellini und Donizetti. Besonders hervorzuheben sind sein Don Ottavio in Don Giovanni , sein Orfeo in Orfeo ed Euridice von J. Haydn und im Otello von Rossini neben Virginia Zeani.

Herbert Handt, der lange Zeit seinen Wohnsitz in Rom hatte, trat ab 1960 auch als Dirigent in Erscheinung. 1960 schuf er in Rom eine eigene Gesangs- und Instrumentalmusik, mit der er ausgedehnte Konzertreisen unternahm. Mit seinem Ensemble führte er alte und selten gehörte italienische Partituren auf, für die er Aufführungsausgaben vorbereitete (darunter Opern von Boccherini, Geminiani und Rossini). Später lebte er in Lucca, wo er in den Sommermonaten das Associazione Musicale Lucchese Opera Festival organisierte. Er war außerdem Gründer und Gründer des Lucca Chamber Orchestra und des Marlia International Festival. Quelle Bachtrack

Aufnahmen: RCA (Aufnahme der Oper Maria Golovin, anlässlich der Uraufführung 1958 in Brüssel), Nixa/NE (Ottavio neben Grub-Prandl in Don Giovanni, Orfeo ed Euridice von Haydn, Idomeneo von WA Mozart erneut neben Grob-Prandl ), Edition Schwann/NE ( Giuseppe, figlio di Giacobbe von Luigi Rossi), EJS/div CD-Firmen ( Otello von Rossini) , Voce/NE und andere CD-Firmen ( Temistocle von Johann Christian Bach , Viva la Mamma von Donizetti), Vox (Sesto in Giulio Cesare von Georg Friedrich Händel ), Vanguard ( Saul von GF Händel ), Fonit Cetra div., weitere bei Angaben bei Discogs. G. H.

Früher Belcanto aus den Marken

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Bei Bongiovanni ist der Mitschnitt von Pietro Generalis „Straßenmusikantin Cecchina“ beim noch jungen Festival Il belcanto ritrovato in Pesaro im Jahr 2022 herausgekommen. Das verdienstvolle Angehen, „kleinere“ italienische Komponisten aus der Belcanto-Periode wieder zu entdecken und zum Leben zu erwecken, ist dem Festival-Intendanten Rudolf Colm zu verdanken (s.o. das Interview mit ihm in operalounge.de).

Der am 4. Oktober 1783 in Masserano geborene Pietro Generali wuchs in Rom auf, wo er eine musikalische Ausbildung erhielt, die neben der geistlichen Musik auch Opernkompositionen umfasste, und die er am Konservatorium von S.Pietro a Majella in Neapel noch kurz fortsetzte. Wieder in Rom, begann seine Laufbahn als Opernkomponist im Jahr 1800 (a.a.O. 1802) mit seiner ersten Oper Gli Amanti ridicoli, der noch mehr als 40 Opern folgten. Generali schrieb für italienische und ausländische Städte auf Bestellung, wirkte aber auch im europäischen Ausland und leitete u.a. 1817-1821 das größte Theater in Barcelona. Er soll einen sehr liederlichen Lebenswandel geführt haben, dessen Folgen ihm Einbußen an Gesundheit und Laufbahn brachten. 1823 war sein Opernschaffen nahezu beendet; 1827 wurde er Domkapellmeister in Novara, wo er sich bis zu seinem Tode 1832 immer mehr der Kirchenmusik und dem Unterrichten zuwandte.

Gaetano Rossi – der Librettist mehrerer Opern Rossinis – schrieb auch für Generali die Vorlage zu der einaktigen „farsa“ Cecchina, die 1818 im Teatro Nuovo in Neapel uraufgeführt wurde. Im Inhalt geht es um soziale Unterschiede: Da sind zunächst Cecchina aus Savoyen, die es in Paris als einfache Straßenmusikantin mit der Drehleier unauffällig zu einem gewissen Reichtum gebracht hat, und der sich als mittellosen Maler ausgebenden Enrico, die sich lieben; ein Consigliere umschwärmt seinerseits Cecchina, während der Duca di Rosmond (Onkel Enricos) sich gegen eine Verbindung beider stellt. Sozusagen als Buffopaar gesellen sich das Kammermädchen Fiorina und Andrea, ein junger Mann aus Cechinas Heimat (ihr Bruder) dazu. Das Ganze findet ein positives Ende, als Papiere auftauchen, die die edle Herkunft Cecchinas bescheinigen, so dass der Verbindung der Liebenden nun nichts mehr im Wege steht,.

Die musikalische Leitung der Aufführung lag in den Händen von Daniele Agiman, der das Orchestra Sinfonica G.Rossini zu Top-Leistungen anspornte. Von der Sinfonia an gelingt lockeres, leichtes Musizieren durchgehend in allen Instrumentengruppen. Die Titelrolle war der Sopranistin Jolanda Massimo anvertraut, die über eine klare, höhensichere Stimme verfügt, die bestens durchgebildet die lyrischen Phasen ihrer Rolle (Dico, Giannetta) ebenso beherrscht wie die glitzernden Koloraturen (Mi ritornai il buon umore); man leidet echt mit ihr in der Szene Che scopersi!. Ihr geliebter Enrico wird von dem jungen Tenor Pierluigi D’Aloia verkörpert, der ebenfalls die Palette von lyrischer Anbetung bis zu dramatischer Emphase ausreizt (z. B. Ah, tu sei tutto). Paolo Ingrasciotta als eitler Consigliere verfügt über einen eher weichen, schwärmerischen Bariton, der sich aber auch energisch durchzusetzen weiß. Dazu passt sehr gut der etwas dunklere Bariton des russischen Sängers Alan Starovoitov, der als Duca die Wandlung vom feindlich energischen zum liebenswürdig schmeichelnden Onkel Enricos hörbar macht. Der aus Buenos Aires stammende Ramiro Maturana (Andrea) als naiver Junge aus Savoyen erfreut mit flexibler Stimmführung; sehr gelungen ist seine große „Tanzszene“ Noi salziamo al far del giorno. Das junge Solistensextett wird abgerundet durch Annya Pinto, die als Fiorina mit hörbarem Charme und geläufigen Koloraturen ihres sauberen Soprans begeistert. Dieser Einakter ist eine lohnende Ausgrabung, die sicher noch häufiger nachgespielt werden wird. Durch die kleine Solistenbesetzung, ohne Chor und Ballett bietet er sich für publikumswirksame Aufführungen an kleineren Theatern und Hochschulen an. Die Einspielung wird ergänzt durch zwei Boni von Generali: Die flott gespielte Sinfonia zu La Testa meravigliosa und die Arie Sorgerà la nuova aurora aus Pamela nubile – mit leuchtenden Soprantönen gesungen von Annya Pinto – machen Lust auf mehr von Pietro Generali (Bongiovanni, GB 2607/8-2).     (3.10.2023)  Marion Eckels