Russell Oberlin

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Ganz genau erinnere ich mich daran, als ich in New York bei Sam Goodies eine Cut-out-LP der Columbia kaufte: ein Monteverdi-Programm der New Yorker Pro Musica Antiqua unter Noah Greenberg, damals eine der Pionier-Organisationen in Sachen Alter Musik. Das war in den Siebzigern, und die Aufnahme stammte aus den Fünfzigern. „Zeffiro torna“ war für mich der Hit, in dem zwei hohe Männerstimmen diese aberwitzige Verschnellung der Dynamiken ausführten, die Stimmen sich umschlingend wie Girlanden, wie Arme eines Daphne-Lorbeerbaums. Und das waren Russell Oberlin und Charles Bressler, letzterer damals ein gesuchter hoher Tenor. Aber Russell Oberlin – der öffnete den Himmel für mich. Eine Stimme voller Süße, androgyn, beweglich, ausdrucksvoll-überirdisch – ein natürlicher, sehr hoher Tenor auch er, ein haute contre im französischen Sinn, kein Falsettist/Counter und darin bis heute absolut unerreicht.. Lange bevor ich Paul Esswood erlebte (und der war dann eine Klasse für sich und zudem dunkler, plaintiver) öffenete mir der Tenor Russell Oberlin das Ohr. Und ich versuchte in der Folge, soviel wie möglich von ihm zu sammeln, namentlich die wunderbare Decca-LP mit den Händel-Arien, die nun – gelobt sei Gott – wieder bei DG erschienen ist (477 6541).

Nun hat die Deutsche Grammophon alle seine Amerikanischen Decca Aufnahmen in einer attraktiven Box mit 9 CDs herausgegeben (486 11034) und dabei für Übreraschungen gesorgt, denn es finden sich auch die erstmal auf CD veröffentlichte Facade von William Walton mit der wunderbaren Hermione Gingold, Comediènne sans pareille, sowie rare Lieder-Aufnahmen von Wolf, Jones, Schumann und sogar zwei Musical-/Film-Songs, die zeigen, wie vielseitig der Tenor war.

Und ein ganz prachtvolles Video bei VAI (America´s Legendary Counter Tenor) bietet die optische Verstärkung aus Live-Auftritten bei Festivals und Fernsehen (neben einer CD mit Liedern von Blow und Purcell/ VAIA 1258).

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Russell Oberlin kann als ein ganz, ganz früher Pionier des Haute-contre-Gesangs gelten, eben kein Falsettiost oder Counter, in der selben Generation wie Hans-Ulrich Mielsch (dessen Nerone bei Vox mich ebenfalls elektrisierte) und nicht Alfred Deller. Beide im Gegensatz zu Deller keine Counter, sondern echte Haute-Contres, hohe Tenöre im Sinne der französischen Tradition, die keine Kastraten duldete. Weil sie die Tenorstimme in die obere Falsettlage hochziehen, statt wie Counter diese ausschließlich zu verwenden. Bei Oberlin gibt es keinen Bruch, keine bizarre  tiefe Note. Keine Karikatur, wie sie so oft bei Countern vorkommt. Oberlin – dessen Italienisch zeitbedingt in seiner amerikanischen Generation etwas gewöhnungsbedürftig klingt – hat einen puren, sofort erkennbaren Ton, eine Sicherheit der Stimmproduktion, die für mich einzig ist. Und die berühmte Aufnahme von Bachs „Ach widerstehe doch der Sünde“ mit Glenn Gould oder die überirdisch gesungenen Anteile am Messiah unter Bernstein zählen neben den Händel-Arien zu den Aufnahmen für meine einsame Insel. Nun ist er am 26. November 2016 mit knapp 90 in New York gestorben – ein Leuchtturm in seiner Zeit und ein großer Künstler. Danke für die Begegnung mit ihm.

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Russell Keys Oberlin (* 11. Oktober 1928 in Akron, Ohio; † 26. November 2016 in New York City, New York ) hatte bereits als Kind in verschiedenen Jungen- und Kinderchören gesungen. Im Alter von 14 Jahren veränderte sich Oberlins Stimme zum Bariton, zwei Jahre später sang er Tenor. Nach seinem High School-Abschluss 1946 an der John R. Buchtel High School in Akron, Ohio studierte er Gesang an der berühmten Juilliard School of Music in New York City, wo er 1951 seinen Abschluss machte. Zu jener Zeit sang Oberlin ausschließlich in normaler Tenor-Lage. Erst als Mitglied des 1953 gegründeten New Yorker Vokal- und Instrumentalensembles The Pro Musica Antiqua versuchte sich Oberlin an der Alt-Lage. Damit war er so erfolgreich, dass er bald allgemein (und fälschlich) als Countertenor angesehen wurde. Bekannt wurde Oberlin vor allem mit Interpretationen von Musik aus Renaissance und Barock. Seine Einspielung mit Arien von Georg Friedrich Händel wurde weltberühmt. Oberlin musizierte unter anderem zusammen mit dem kanadischen Pianisten Glenn Gould: Die gemeinsame Aufnahme der Kantate BWV 54 Widerstehe doch der Sünde von Johann Sebastian Bach ist als seltenes Filmdokument der Gesangskunst Oberlins auf der DVD Hereafter, einer Dokumentation über Glenn Gould von Bruno Monsaingeon, zu sehen.

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Russell Oberlin 1961 als Oberon in Brittens „Midsummer Night´s Dream“ in San Francisco/ Foto Thomas/ SFO/ SFO Archive

Dazu auch noch ein Interview mit Russell Oberlin, 2006: Anfang der 1950er Jahre kam ein erstklassiger Blockflötist, den ich damals nur flüchtig kannte, Bernard Krainis, nach einem Konzert, das ich mit Suzanne Bloch, einer bekannten Lautenistin und Spezialistin für Alte Musik in New York, gegeben hatte, hinter die Bühne. Aus seiner Aktentasche holte Bernie (wie ich ihn fortan nannte) ein Exemplar von „An Ode on the Death of Mr. Henry Purcell“ von John Blow hervor und bat mich, es mir anzusehen, um mit ihm eine kommerzielle Aufnahme davon zu machen. Die „Ode“, die für zwei Countertenöre, zwei Blockflöten und Continuo geschrieben ist, ist ein langes Werk in drei Sätzen auf einen Text von John Dryden. Ich war sofort fasziniert, denn die erste Countertenor-Stimme war in einem sehr angenehmen Bereich meines Stimmumfangs geschrieben und enthielt außerdem eine beträchtliche Anzahl von Koloraturen, was meinem wachsenden Interesse an Gesangsmaterial entgegenkam, das diesen Teil meiner Gesangstechnik nutzte, den ich bisher noch nicht wirklich einsetzen konnte. Die zweite hohe Tenor-Partie war bereits dem versierten Sänger Arthur Squires zugeteilt worden, dessen Stimme mehr Tenor als Countertenor war, und während der Proben begann er sich mit dem anspruchsvollen Umfang der Rolle unwohl zu fühlen. Ungefähr zu dieser Zeit kehrte mein Freund aus der Juilliard-Studentenzeit, der Tenor Charles Bressler, mit dem ich in der Schule oft gesungen hatte, von einem Einsatz bei der Marine nach New York zurück, und da ich seine Stimme sehr gut kannte, vermutete ich, dass er die hohe Lage der Rolle ohne allzu große Anstrengung bewältigen könnte, und schlug ihm vor, es zu versuchen. Zu Arthurs Ehrenrettung sei gesagt, dass er, nachdem er Charles bei einer Probe gehört hatte, sofort sagte, dass die Rolle Charles gehören sollte.

Russell Oberlin in Concert/ VAI

Die Aufnahmen fanden also in einer kleinen Einraumkirche im Keller von Greenwich Village statt, in der West Eleventh Street, gleich westlich der Seventh Avenue. Esoteric Records war damals eine von mehreren bescheidenen, jungen Plattenfirmen in der Stadt und hatte die Ehre, mit einem wirklich guten Toningenieur, Jerry Newman, gesegnet zu sein. Ich erinnere mich, dass wir alle Aufnahmen spät in der Nacht machten, wenn der Verkehrslärm am geringsten war. Wir hatten alle eine wunderbare Zeit bei der gemeinsamen Arbeit an The Blow und wurden schnell Freunde. In der Tat, die Entstehungsgeschichte

der New York Pro Musica entstand zum Teil durch unsere Proben und Vorbereitungen für diese Aufnahme.

Das Soloalbum mit Purcell-Liedern entstand etwas später. Die Pro Musica war zu diesem Zeitpunkt bereits gegründet worden, und mehrere der „Ode“-Interpreten waren Gründungsmitglieder dieser inzwischen legendären Gruppe für Alte Musik. Aufgrund des Erfolgs der Blow-Aufnahme fragte mich Esoteric, ob ich ein Soloalbum für sie machen wolle, und wenn ja, was ich gerne aufnehmen würde. Ohne zu zögern schlug ich Henry Purcell vor. Paul Maynard und Seymour Barab würden mich und Maynard, unseren Cembalisten von Pro Musica, den ich sehr bewunderte, begleiten, und ich wählte die Stücke für die Aufnahme aus. Ich erinnere mich, dass ich damals nur wenige der berühmtesten Lieder von Purcell kannte. Das gab mir die Gelegenheit, sein Gesamtwerk durchzusehen, was sich als eine der lohnendsten Lernerfahrungen in meinem musikalischen Leben herausstellte. Es erübrigt sich zu sagen, dass fast alles, was ich mir ansah, meinen Geschmack und meine musikalischen Interessen in jeder Hinsicht mehr als befriedigte. Was für ein tiefgründiger Meister der Musik war Henry Purcell! Die Auswahl war in der Tat so groß, dass es mir schwerfiel, die Auswahl einzugrenzen. Viele der wunderbaren Airs und weltlichen Kantaten (wie einige sie genannt haben), die für diese Aufnahme ausgewählt wurden, sind bis heute nur selten in Programmen zu hören, die den Werken Purcells gewidmet

Ich fühle mich geehrt, jetzt, mehr als fünfzig Jahre nachdem ich das große Vergnügen hatte, diese beiden Aufnahmen zu machen, sie wieder zu hören und in der Lage zu sein, diese herrliche Vokalmusik mit einer ganz neuen Generation von Musikliebhabern zu teilen. Ich hoffe, dass die vorliegende CD dem Hörer einen kleinen Teil der Freude vermitteln kann, die ich erlebte, als ich sie vor vielen Jahren mit meinen Freunden in der kleinen Einraumkirche im Keller sang und aufnahm. Russell Oberlin/ Venedig, 2006 (aus der CD mit Blow und Purcell bei VAIA 1258) www.vaimusic.com

 

Und auch noch:Russell Oberlin – Eine Diskographie/ Konzeption & Recherche:Pierre-F. Roberge/ Letzte Aktualisierung: 23.08.2009 / Russell Oberlin, Thomas Hunter, ehemaliger Musikprofessor und Direktor des Collegium Musicum am Hunter College, ist ein international gefeierter Sänger, der als Amerikas führender Countertenor gilt. Russell Keys Oberlin wurde am 28. Oktober 1928 in Akron, Ohio, geboren. Als Absolvent der Juilliard School of Music lernte er dort in den frühen 50er Jahren Noah Greenberg, einen der prominentesten Spezialisten für Alte Musik, kennen. Oberlin war Gründungsmitglied von Greenbergs New Yorker Pro Musica, wo er sich schnell einen Namen machte. Einer seiner bemerkenswertesten Erfolge war die Mitwirkung in „The Play of Daniel“.

Er begann, mit einer kleinen Firma namens „Expériences Anonymes“ Aufnahmen zu machen, aus denen später das bekannte Lyrichord-Label hervorging. Er machte 10 Aufnahmen für EA, hauptsächlich von mittelalterlichem Repertoire; er war der erste, der eine komplette LP der Cantigas de Santa Maria aufnahm, eine LP, die meiner Meinung nach immer noch eine der lebendigsten Interpretationen ist, auch wenn der Ansatz eher minimal war (Stimme und Laute). Mitte der 50er und Anfang der 60er Jahre machte er zahlreiche Aufnahmen, gab Liederabende und trat als Solist mit führenden Orchestern in den USA und im Ausland auf (von den meisten Aufnahmen gibt es leider immer noch keine Neuauflagen im CD-Format) und sang Purcell, Händel-Arien, Bach und Schumann.

Im Gegensatz zu Deller war er ein echter Schauspieler: Er spielte sogar Sprechrollen bei der American Shakespeare Company. Zu seinen Opernrollen zählen Auftritte am Royal Opera House und am Convent Garden, wo er in der Londoner Premiere von Benjamin Brittens „Sommernachtstraum“ die Rolle des Oberon sang (Alfred Deller fühlte sich offenbar zutiefst gedemütigt, weil er nicht für die Rolle ausgewählt wurde). Im Gegensatz zu Deller war er auch kein Falsettist, sondern ein echter hoher Tenor (a la John McCormack) oder das, was man in der Vergangenheit manchmal als irischen Tenor bezeichnet hat. Während der amerikanischen Erstaufführung in San Francisco nahm er Bachs Werke mit Leonard Bernstein und Glenn Gould auf. Ein Kritiker sagte sogar, dass „Deller ein Engel war, Oberlin ein Mann“. Mitte der Sechzigerjahre hörte er auf, Aufnahmen zu machen und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Er begann eine Karriere als Pädagoge und bildete Willard Cobb und den verstorbenen John Ferrante aus. Als hochrangiger Fullbright-Forschungsstipendiat hat Oberlin in den USA und in England gelehrt und Vorträge gehalten. Der eine wurde heiliggesprochen, der andere vergessen…, zumindest in letzter Zeit, und vielleicht hilft diese Website ein wenig dabei, die Anerkennung zu fördern, die dieser große Künstler verdient.

(Dieser Text wurde frei aus einer Notiz im Booklet der Decca-Lyrichord-CDs und aus einem Artikel von Yvan A. Alexandre in der französischen Zeitschrift Diapason (Oktober 1995) übernommen. Auch ein sehr interessanter Artikel über Expériences Anonymes/Lyrichord in seinen Anfängen und das Debüt von R. Oberlin erschien in Fanfare, Vol. 18 # 1.)

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Russell Oberlin – The Compete Recordings on American Decca. Mit Werken von: Thomas Tallis (1505-1585) , Georg Friedrich Händel (1685-1759) , Josquin Desprez (1440-1521) , Dieterich Buxtehude (1637-1707) , Georg Philipp Telemann (1681-1767) , Henry Purcell (1659-1695) , Robert Schumann (1810-1856) , Hugo Wolf (1860-1903) , William Walton (1902-1983); Mitwirkende: Russell Oberlin, New York Pro Musica Antiqua, Baroque Chamber Orchestra, Noah Greenberg, Thomas Dunn; 9 CDs DGG, ADD, 1957-1964 (9 CDs 486 11034)

»Music of Medieval Court and Countryside (for the Christmas Season)« – Leonin: Viderunt omnes; Guillaume Dufay: Hostie Herodes; Vergille bella; Ave Regina; Martin de Rivaflecha: Salve Regina; Pierre Attaignant: 4 Dances; Richard Smert: Nowell, Nowell; Anonymus: 2 French Dances; There is no Rose; Saltarello; Riu, Riu; Te Deum (1957 / The New York Pro Musica Antiqua, Noah Greenberg)
+»The Play of Daniel – A Twelfth Century Musical Drama« (1958 / The New York Pro Musica Antiqua, Noah Greenberg)
+Thomas Tallis: Lamentationes Jeremiae; Mass for four Voices; Motette »In jejunio et fletu« (The New York Pro Musica Antiqua, Noah Greenberg)
+»Elizabethan and Jacobean Ayres, Madrigals and Dances« – Werke von Thomas Morley, John Dowland, William Byrd, Tobias Hume, Orlando Gibbons, John Coperario, Robert Jones, John Farmer, Thomas Campion, Anonymus (The New York Pro Musica Antiqua, Noah Greenberg)
+Georg Friedrich Händel: But who may abide the day of his coming & How beautiful are the feet aus Der Messias; Their land brought forth frogs & Theo shalt bring them in aus Israel in Egypt; Ah, dolce nome aus Muzio Scevola; Vivi, tirammo & Pompe vane di morte…Dove sei, amato bene aus Rodelinda; Ombra cara aus Radamisto (1960 / Albert Fuller, Baroque Chamber Orchestra, Thomas Dunn)
+Josquin Desprez: Missa pange lingua; Fama Malum; Dulces exuviae; La Bernadina; Tu solus; Fanfare for Louis XII; Anonymus (flämisch): Heth sold ein meisken; Si j’ai perdu mon ami (New York Pro Musica Motet Choir & Wind Ensemble, Noah Greenberg)
+»Baroque Cantatas« – Georg Philipp Telemann: Kantaten TVW 1: 213 »Deine Toten werden leben« & TWV 1: 694 »Gott will Mensch und sterblich werden«; Dieterich Buxtehude: Kantate BuxWV 64 »Jubilate Domino«; Georg Friedrich Händel: Kantate HWV 162 »Siete rose rugiadose« (George Ricci, Cello; Morris Newman, Fagott; Douglas Williams, Cembalo)
+»A Russell Oberlin Recital« – Robert Jones: Love is a Bable; Ite caldi sospiri; As I lay lately in a Dream; Goe to Bed sweete Muze; Henry Purcell: Hark! The Echoing Air aus The Fairy Queen; I love and i must; Music for a While aus Oedipus; Robert Schumann: Sängers Trost; Meine Rose; Ihre Stimme, Dein Angesicht; Hugo Wolf: Auch kleine Dinge können uns entzücken; Ach, im Maien war es; Auf ein altes Bild; Verschwiegene Liebe; Nun wandre, Maria; Er ist’s; Anonymus: The Saint Godric Songs; Love is a Many splendored Thing aus Love is a many splendored Thing; Little Girl blue aus Jumbo; More and more aus Can’t help singing; You always love the same Girl aus A Connecticut Yankee (Joseph Iadone, Laute; Paul Maynard, Cembalo; Martha Blackman, Viola da gamba; Douglas Williams, Klavier)
+William Walton: Facade (1961 / Hermione Gingold, John Solum, Theodore Weis, Charles Russo, Vincent J. Abato, Charles McCracken, Harold Farberman, Thomas Dunn)

Künstler: Russell Oberlin, New York Pro Musica Antiqua, Baroque Chamber Orchestra, Noah Greenberg, Thomas Dunn;