Es bleibt noch viel zu tun

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1898 und 1938 und 2018 sind die Jahreszahlen auf der Stele, die an die mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nicht nur aus der Wiener Volksoper, sondern auch aus Österreich vertriebenen oder, noch schlimmer, in einem der Konzentrationslager umgebracht wordenden Künstler erinnern soll. Die erste Zahl ist die der Gründung der Volksoper, die letzte die der Rückbesinnung auf ein dunkles Kapitel der Geschichte des Hauses und des Versuches einer Aufarbeitung, zu der auch die erste Ausgabe von Marie-Theres Arnboms BuchIhre Dienste werden nicht mehr benötigt gehört, von dem nun die zweite, erweiterte Auflage erschienen ist.

Die letzte Aufführung in der Volksoper, bevor diese einen Großteil ihres Personals verlor, war Jara BenesGruß und Kuss aus der Wachau, 2023 nun ließ man sich mit der Uraufführung von Lasst uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 von den Lebensgeschichten der ehemaligen Mitglieder inspirieren, wie die derzeitige Direktorin des Hauses, Lotte de Beer, in ihrem Vorwort bekundet. Christoph Ladstätter, Geschäftsführer der Volksoper, weist in dem seinen darauf hin, dass nur durch die Beschränkung auf die Mitwirkenden von Gruß und Kuss die Fülle des Materials bewältigt werden konnte.

Vom Direktor bis zum Souffleur, von der Primadonna bis zum Dirigenten reicht die Reihe der der Herkunft, viel seltener dem Glauben nach jüdischen Mitwirkenden. Das Titelfoto zeigt ein Gruppenbild des Ensembles vor 1938, auf dem die jüdischen Mitglieder nur noch als weiße Schatten erscheinen. Am Schluss des Buches gibt es eine Liste  mit den Lebensdaten aller jüdischen Künstler an der Volksoper in dieser Zeit, und nur bei ungefähr jedem Zehnten ist Auschwitz als Todesort genannt, die meisten haben das Schicksalsjahr 1945 überlebt, allerdings nicht in Wien, sondern in den USA, in Südamerika, kaum ein Teil der Welt ist nicht vertreten. Erst auf einer der letzten Seiten wird darauf hingewiesen, wie viel leichter  Musiker mit der ihnen zur Verfügung stehenden Sprache, der Musik, es in allen Breiten der Erde hatten, wieder Fuß zu fassen, dass die fremde Sprache oft ein Grund war, dessetwegen Juden bis zum bitteren Ende hofften, in Deutschland überleben zu können, auch nicht über die internationalen Verbindungen verfügten, die Musiker bereits in besseren Zeiten geknüpft hatten.

Liest man die vielen Erfolgsgeschichten, so eines  Kurt Pahlen, Fritz Fall, Kurt Herbert Adler oder Walter Herbert, die mit den berühmtesten Opernhäusern der USA verbunden sind, die sogar zu Opernhausgründern wurden oder sogar dafür sorgten, dass die schwarze Bevölkerung zumindest im Bereich der Musik sich Rechte erkämpfen konnte, dann könnte leicht ein zu positives Bild entstehen, vor allem wenn immer wieder betont wird, dass die aus Europa Geflohenen Wesentliches dazu beitrugen, dass sich die europäische Musik in der ganzen Welt verbreiten konnte.

 Marie-Theres Arnbom ist österreichische Historikerin, Autorin, Kuratorin, Kulturmanagerin und seit Jänner 2022 Direktorin des Theatermuseum Wien/ Foto Thalia/Buchmesse Wien

Dass dem nicht so ist, dafür sorgt zum Glück das umfangreiche Kapitel über das Künstlerpaar Victor Flemming und Ada Hecht, die die letzten ihnen verbliebenen Preziosen ihrem Sohn nach Amerika mitgaben, der verzweifelt versuchte, den Eltern Visa und Schiffspassagen zu beschaffen, was ihm zu spät erst gelangt, so dass beide in Auschwitz umkamen. Der umfangreiche, von wachsender Verzweiflung geprägte Briefwechsel zwischen Eltern und Kind, Berichte und Dokumente wie Theaterplakate aus Theresienstadt, wo Ada Hecht noch bis zur Deportation nach Auschwitz als Micaela oder Tosca auftrat, sind ein berührendes, nein aufwühlendes Zeugnis dafür, was es bedeutete, von heute auf morgen aus einer glücklichen, erfüllten Existenz in eine völlig rechtlose, von ständiger Todesangst geprägte geworfen und am Ende noch voneinander getrennt zu werden. Die Autorin spürt empfindsam den Spuren eines immer mehr der Verzweiflung anheim gegebenen Lebens nach, sieht in der Veränderung der Schrift in den Briefen das Nachlassen der Lebenskraft und kommt zu dem Schluss, es sei „ein Verschulden der ganzen Welt, dass Menschen….nicht rechtzeitig entkommen können.“ Doch selbst wer entkommen war, war nicht in Sicherheit, wie das Schicksal von Hans Holewas, des „Botschafters der Moderne“,  Bruder zeigt, der von Schweden ausgewiesen wurde und in Auschwitz starb. Übrigens wiederholte sich diese Haltung der um ihre Neutralität kämpfenden Skandinavier 1945, als die auf deutscher Seite kämpfenden Balten an die SU ausgeliefert wurden. Wer sich nicht vor dem Abtransport das Leben genommen hatte, verschwand in sibirischen Arbeitslagern. Aber das gehört in ein anderes Buch.

Das letzte Foto in Arnboms Buch ist das der 99jährigen Tänzerin Elissa Fuchs, Gattin von Peter Paul Fuchs, der in die USA emigrierte, 1954 mit einem Forschungsauftrag nach Deutschland kam, sich in Bayreuth mit Wieland und Wolfgang Wagner anfreundete und das Buch The Music Theater of Walter Felsenstein schrieb. Letzterer führte an der Komischen Oper Fuchs‘ White Agony auf. Der Nachlass von Fuchs wartet noch auf eine Aufarbeitung, die sicherlich zu weiteren wertvollen Erkenntnissen führen dürfte, das Buch von Marie-Theres Arnbom sollte dazu ermutigen, sich seiner anzunehmen und damit nicht zuletzt ein Stück Wiedergutmachung zu leisten (Amalthea Verlag 2023, 208 Seiten; ISBN 978 3 99050 263 1). Ingrid Wanja