Aufpolsterung einer dürftigen Quellenlage

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Die Jahrhundertstimme ist der Untertitel zum Buch Kirsten Flagstad, das die Norwegerin Ingeborg Solbrekken geschrieben und das Gabriele Haefs ins Deutsche übersetzt hat. Den Schluss des Buches bildet eine Aussage von Flagstads inzwischen verstorbener Nichte gegenüber der Autorin. „Du hättest Tante Kirsten gefallen!“ „Und sie mir auch“, ist Sobrekkens Antwort. In diesen Schlussworten spiegelt sich Stärke wie Schwäche des Buches wider, denn einerseits wirkt es anziehend durch die unverhohlene Stellungnahme für die künstlerisch so erfolgreiche wie menschlich von Schicksalsschlägen heimgesuchte Sängerin, andererseits erfüllt es nicht den Anspruch des Untertitels, dem Leser die besonderen Qualitäten der Sängerin Kirsten Flagstadt nahe zu bringen. Es gibt zwar hin und wieder Aussagen von Kollegen, auch von Stars der internationalen Opernszene, aber die sind so blumig, so verlegen in poetische Vergleiche sich flüchtend wie Jessie Normans  „flüssiges Gold auf schwarzem Samt.

Statt also etwas über die Einmaligkeit dieses Soprans im Vergleich zu anderen zu erfahren, ihre Rollenauffassung von Brünnhilde, Isolde oder Leonore, wird man bis zum Überdruss informiert über eine Flagstad zwischen Intrigen norwegischer Diplomaten und dadurch Verursacher immer wiederkehrender Schuppenflechte und wird ermüdet mit einer akribischen Aufzählung der Solovorhänge an Met oder Covent Garden. Eher als der Melomane über eine Jahrhundertstimme, es sei denn, dieser interessiere sich auch brennend für all das Unrecht, das Flagstad angetan wurde, kann sich der Historiker und kann sich der Jurist über das von den Nazis seit 1941 besetzte Norwegen und dessen Umgang mit Kollaborateuren wie Widerstandskämpfern oder die Rechtmäßigkeit oder Ungerechtigkeit von Prozessen nach der Befreiung Norwegens informieren. Auch der Literaturwissenschaftler oder der Theologe wird zum Beispiel bei ausführlichen Ausführungen über isländische Mythologie pfündig werden. In dieser Hinsicht kann das Werk tatsächlich hoch gelobt werden, während es als Sängerbiographie im Klappentext nicht ganz zu Unrecht als „hochgelobt“ erscheint. Man kann aber auch die Vermutung äußern, dass es hier wegen eines Mangels an wirklich Neuem und Wissenswertem über die Flagstad um den Versuch einer Aufpolsterung der nicht üppigen Quellenlage geht. Kühn, aber immerhin nachvollziehbar ist die mehrfach wiederholte Behauptung, Flagstad habe durch ihre Kunst die Met mehrfach vor dem Konkurs bewahrt und die Oper als Kunstform für die USA gerettet. Nicht der Verführung von Klischees entgeht die Autorin, wenn sie die Freiheitsstatue aus dem Nebel auftauchen lässt, als Flagstad zum ersten Mal den Atlantik in Richtung Met überquert.

Streckenweise ist der Leser erstaunt über die sprachlichen Formulierungen, weiß nicht, ob er sie der Verfasserin oder der Übersetzerin anlasten soll, so ein vor Sehnsucht berstendes Präludium“ für Lohengrin, eine strahlende Gestalt aus der inneren, archaischen Welt“, einem Haus „wie ein luxuriöser Schwan“ oder auch mal einen Irrtum wie eine im  Brautgemach stattfindende Gralserzählung oder ein Kipnis, der den Stolzing singen soll,  eine Eleonore und eine Marcelline im Fidelio, eine Walküre, die „als Oper für Gleichgültige gegolten“ haben sollte. Auch dass Hitler seine Religion auf dem Parsifal aufbauen wollte, ist eine kühne Behauptung, so wie die, Flagstad habe über seherische Fähigkeiten verfügt.

Die Zusammenarbeit Flagstads mit Furtwängler könnte ein dankbares Thema sein, leider gilt das höchste Lob dessen Skilaufen, allerdings auch folgender Erkenntnis: Furtwänglers „Auffassung stimmt überein mit Platons Welt der Idee und Jungs Archetypen“.  

Kirsten Flagstad wurde nach 1945 ihr Pass entzogen, zwar nicht wegen persönlicher Verfehlungen und obwohl sie während des Kriegs nicht in Deutschland gesungen hatte, sondern wegen der vorübergehenden Mitgliedschaft ihres Mannes in der Quisling-Partei und dessen Zusammenarbeit als Unternehmer mit den Deutschen. Ein Hauptvorwurf gegen sie war die Tatsache, dass sie nach Kriegsausbruch in den USA ein rein deutsches Programm gesungen hatte, ihr Hauptfeind war der norwegische Diplomat Morgenstierne, der es im Verlauf der Geschichte zum Botschafter in den USA bringt und dessen Feindschaft gegenüber Flagstad darauf beruhen soll, dass sie nicht zu einem Empfang nach einer Vorstellung kommen mochte. Ganz nebenbei erfährt der Leser, dass auch die Weste des späteren ersten UNO-Generalsekretärs Lie nicht blütenrein gewesen sein soll. Aber alles ist mit Vorsicht zu genießen, denn weder waren Wien und Budapest „von Nazideutschland besetzte Länder“ noch Hitler auch nach 1940 Gast in Bayreuth.

Ein interessanter Teil des Buches ist der über die Verfolgung, der Flagstad nach 1945 ausgesetzt war, durch protestierende Partisanen vor der Scala oder Demonstrationen vor der Met und anderen amerikanischen Bühnen.

Die Geschichte von Schwarzkopfs hohen Cs für ihre Tristan-Plattenaufnahme ist bekannt, die Feststellung eines „Fehlen(s) eines deutlichen weiblichen Ausdrucks“ in Flagstads Stimme weniger, die Beschäftigung mit Strauss‘ Vier letzte Lieder lässt den Leser wieder aufmerken, die Übergabe ihrer Aufgaben an Astrid Varnay in London ihn Rührung verspüren. Weniger interessant als die Tatsache, dass der Sopran noch 1958 eine Fricka für Decca sang,  ist die, dass sie die Erlaubnis gab, eine Kuh Isolde zu nennen. Man sollte nach der Lektüre eine CD hören, um sich von dem Gedanken zu befreien, Flagstad sei ein höchst bemitleidenswertes Wesen gewesen, nur ganz nebenbei auch eine sehr gute Sängerin (Btb Verlag, 480 Seiten, ISBN: 9783442762712). Ingrid Wanja   5. November 2023