Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Hommage an Julie Dorus-Gras

 

Zwei neue Recitals von Opera Rara von Joyce El-Khoury und Michael Spyres lassen das Herz des Belcanto-Liebhabers höher schlagen. Beide wurden mit dem Orchestra The Hallé unter Carlo Rizzi aufgenommen und offenbar waren auch beide Interpreten gleichzeitig im Studio anwesend, denn auf jeder Platte gibt es ein Duett mit dem anderen Solisten.

Der französischen Sängerin Julie Dorus-Gras mit belgischen Wurzeln ist ein  Recital gewidmet, das Joyce El-Khoury eingesungen und Echo betitelt hat (ORR252).Die libanesisch-kanadische Sopranistin erinnert in der Einführung zu ihrer CD an das historische Vorbild Julie Dorus-Gras. Diese Sängerin zählte zur Generation solcher Gesangslegenden wie Adolphe Nourrit und Cornélie Falcon – und natürlich Duprez. 1830 verließ sie Belgien und ging nach Paris, wo sie in Rossinis Le Comte Ory debütierte und ein Jahr später in der Premiere von Meyerbeers Robert le diable triumphierte, wo sie sogar beide Sopranrollen, die der Isabelle und Alice, zu interpretieren imstande war. Oft war sie Partnerin von Duprez’ Vorgänger Nourrit, bis dieser von seinem Nachfolger abgelöst wurde.

Die Sopranistin eröffnet ihre Anthologie mit der Lucia, welche zu Dorus-Gras’ Erfolgsrollen in London 1847/48 zählte. Im Auftritt „Regnava nel silenzio“  lässt sie  eine reizvoll verschattete Mittellage und einen beklommen-geheimnisvollen Ausdruck hören. Nur in der exponierten Höhe gibt es grelle Töne und die Stimme klingt dann weniger angenehm. Mit Michael Spyres singt sie das Duett „Lucia, perdona“ und beide Sänger inspirieren sich gegenseitig zu einer leidenschaftlichen Darstellung dieser Szene.

Sehr verdienstvoll ist die Gegenüberstellung der zwei Sopranpartien aus Robert le diable. In der Premiere 1831 sang Dorus-Gras die Alice, ein Jahr danach erstmals die Isabelle und wechselte künftig zwischen den beiden Rollen. El-Khoury beginnt mit der Isabelle und deren „Robert, toi que j’aime“ und lässt später Alices Romanze „Va, dit-elle“ und ihr Couplet „Quand je quittai“ folgen. Ersteres schwingt sich nach melancholischem Beginn auf zu emphatischen Ausbrüchen bei „Grace pour moi“, während Alices Soli zum einen von eindringlich beschwörendem Charakter sind, zum anderen koketten Ausdruck erfordern. Beiden Figuren wird El-Khoury in ihrer Interpretation gerecht. Zwischen den beiden Nummern findet sich Agathes „Ma prière“ aus Webers Le Freyschütz in der Bearbeitung von Berlioz – ein Stück, das die Dorus-Gras gern bei ihren Konzert-Auftritten gegeben hat. Auch hier steht der fein gesponnenen Stimmführung und dem innigen Ausdruck von El-Khoury der verhärtete Klang ihres Soprans im euphorischen Schlussjubel gegenüber.

Nach der Premiere von Rossinis letzter Oper Guillaume Tell 1829 an der Opéra (mit Nourrit als Arnold) sang Duprez die fordernde Tenorpartie erstmals 1837 bei seinem Pariser Debüt. Die Mathilde an seiner Seite gehörte zu Dorus-Gras’ langjährigen Erfolgen. El–Khoury singt deren Romanze „Sombre foret“ mit Beklommenheit und feinen Schattierungen. Der Sopran klingt in dieser Lage besonders reizvoll.

„Les Martyrs“: Michael Spyres und Joyce El-Khoury bei Proben zur Aufnahme bei Opera Rara// Foto Russell Duncan

Le Pré aux clercs ist die letzte Oper von Ferdinand Hérold, die 1832 an der Pariser Opéra-Comique herauskam und dort mehr als tausend Aufführungen erlebte. Da die Interpretin der Partie der Isabelle nach der Uraufführung wegen Erkrankung ausfiel, übernahm Dorus–Gras die Rolle in wenigen Tagen. Die Arie „Jours de mon enfance“ findet sich am Beginn des 2. Aktes und zeigt Isabelle im Konflikt, ob sie ihren Geliebten, den Baron de Mergy, heiraten kann oder auf Geheiß des Königs den Comte de Comminge ehelichen muss. In der von der Solovioline delikat umflorten Arie kann die libanesisch-kanadische  Sopranistin mit fein gesponnenen Linien aufwarten.

Spektakulär war die Besetzung der Uraufführung von Halévys La Juive 1835 in Paris mit Nourrit als Eléazar, Falcon als Rachel und Dorus-Gras als Eudoxie. Die Arie der Prinzessin im 3. Akt „Assez longtemps/Tandis qu’il sommeille“ mit ihren kontrastierenden Abschnitten, dem sanft wiegenden ersten und dem virtuosen zweiten Teil, ist eine Herausforderung an jede Interpretin und El-Khoury zeigt sich dieser Vorgabe beeindruckend gewachsen.

Mit Duprez in der Titelrolle erschien Dorus-Gras als Teresa 1838 auf der Bühne der Pariser Opéra in der Premiere von Berlioz’ Benvenuto Cellini. Deren Arie „Entre l’amour et le devoir“ als Abschluss des Programms folgt dem Vorbild italienischer Machart mit Cantabile und Cabaletta und die Sopranistin setzt hier einen gelungenen Schlusspunkt, demonstriert noch einmal lyrische Qualität und bravouröses Vermögen. Bernd Hoppe

Spontinis „Agnese di Hohenstaufen“

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Das Theater Erfurt bot  am 1. Juni 2018 eine ganz besondere und von Fans mit rasender Spannung erwartete Premiere: endlich und erstmals in moderner Zeit die originale deutsche Fassung von Spontinis Agnes von Hohenstaufen auf das Libretto von Ernst Raupach. Immer wieder gab es Gerüchte, dass Riccardo Muti das im Original an der Scala oder Eve Queler das in Bonn aufführen wollte. Auch Georg Quander  hatte die Oper während seiner kurzen Amtszeit an der Berliner Staatsoper im Auge: Alle Pläne und Überlegungen kamen zu nichts. Nun endlich brachte Intendant Guy Montavon in seinem bezaubernden die Oper im Juni 2018 heraus. Und der Clou ist eben die originale deutsche Fassung für das Berliner Königliche Opernhaus 1829, an dem Spontini Operndirektor war. Das Werk selbst wird hier bei uns anlässlich der Erfurter Aufführung noch eingehend gewürdigt.

agnese

Spontinis „Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ OF 007, 2 CD

Es ist ja ein Phänomen, dass sich die französischen Opern der Napoleon-Zeit besonders in Italien so lange und immer wieder auftauchend gehalten haben. Das liegt vor allem an dem französischsprachigen Hof des Napoleonbruders Joseph (dann Murat) auf dem Thron von Neapel, der für eine Übernahme des Pariser Repertoires in Italienisch für das San Carlo sorgte. In der Landesprache gingen viele der Ttitel wie Medée, Les Abencerages, Olimpie und andere mehr in das nationale Repertoire ein, anders als im heimischen Frankreich, wo sie von der Romantik und den Nachfolgenden der Wagnerbeeinflussten verdrängt wurden, während Wagner im Ganzen keinen wirklichen Nachruck auf italienische Komponisten bis 1900 ausübte.

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Aber im Vorfeld der Beschäftigung mit Agnes stieß ich auf eine Neuausgabe des bekannten Mitschnitts vom Maggio Musicale Fiorentino 1954 unter Vittorio Gui. Den kannte man nur von mehr oder weniger stumpfen Klanggemengen bei Cetra und manchen anderen grauen Labels. Und so war mein Misstrauen gegenüber der relativ neuen Ausgabe vom Theater selbst, der Opera di Firenze, die ich bei jpc entdeckte (preiswerter als bei Amazon, weil ohne Porto), groß. Dennoch – Corelli in seiner Glorie zu erleben und eine ganze Riege von ersten italienischen Sängern der Nachkriegszeit dazu (leider in der italienischen Fassung, die sprachlich wenig vom Original übriglässt) war die Anschaffung wert.

„Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/Vittorio Gui/ Naxos

Und wer beschreibt meine Übrraschung, dass – ähnlich wie bei der Callas-Vespri bei Testament ebenfalls (1951) aus Florenz – die originalen Masterbänder verwendet wurden, der Sound sich absolut drastisch verbessert hatte, die Stimmen und selbst die Chormassen relativ durchhörbar über die Zeit herüberklangen. Eine Offenbarung! Lucille Udovic überzeugt wesentlich mehr als die mulschigen Mitschnitte der Kolleginnen Leyla Gencer und Montserrat Caballé  unter Muti in Florenz und Rom, und die Florentiner Besetzung im Ganzen unter Vittorio Guis energischer, viriler Leitung allemal. Anita Cerquetti, von der es die überirdisch gesungene Arie gibt („Oh re dei cieli“) hat m. W. die Oper nicht ganz gesungen. Wenn man sich einstweilen mit der italienischen Bastardversion begnügen muss, dann mit dieser. Erfurt wartet.

Es gibt noch weitere Aufnahmen aus dem historischen Repertoire der Opera di Firenze auf deren website als Umschnitte von den originalen Masters – einige werden wir hier ebenfalls besprechen, so vor allem die Abengeragi/Abencerages mit Anita Cerquetti oder eine Traviata mit Cecilia Gasdia. Zu haben sind sie bei den bekannten deutschen Anbietern wie jpc. Und nicht nur wegen Corelli ist die Anschaffung wert („Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ OF 007, 2 CD). G. H.

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„Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ Franco Corelli/ Foto OF

Und nun ein Artikel zum Mitschnitt aus Florenz 1954, den wir dem Beiheft (mit schönen Fotos der Produktion) der oben genannten Edition der Opera di Firenze entnahmen:  Agnese di Hohenstaufen –  Eine Herausforderung für den Intendanten des Maggio Musicale,  Francesco Siciliani . Im Jahre 1819, nach sechzehn erfolgreichen Jahren in Paris, wurde Gaspare Spontini vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. nach Berlin eingeladen, um dort Musikdirektor am Hofe und am Königlichen Theater zu werden. Spontini gelang es, sich neunzehn Jahre auf diesem schwierigen Posten zu halten, trotz eines ihm extrem feindlich gesonnenen Milieus, ständiger Auseinandersetzungen mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten Graf Brühl und der wüsten Angriffe durch die Kritiker, angeführt von Ludwig Rellstab, die in ihm einen Antagonisten zur aufkeimenden deutschen Oper erblickten, einer Entwicklung, an welcher der Italiener ironischerweise einen bedeutsamen Einfluss hatte. Diese Epoche, zwischen Neuschöpfungen und der Neubearbeitung vorhergehender Werke, sah ebenso die Komposition der Bühnenmusik zu Thomas Moores Lalla Rookh (1821); Nuramhal, oder das Rosenfest von Kaschmir (1822), eine Oper in zwei Akten; die dreiaktive Fantasieoper Alcidor, komponiert anlässlich der Heirat von Prinzessin Louise mit Prinz Friedrich der Niederlande (1825); eine grandiose Kantate mit Versen von Ernst Raupach zu Ehren des Besuches von Zar Nikolaus I. in Berlin sowie die historisch-romantische Oper in drei Akten Agnes von Hohenstaufen zu einem Libretto, welches derselbe Raupach seiner eigenen Tragödie Kaiser Heinrich VI. entnahm. Diese monumentale Oper, Spontinis letztes Bühnenwerk, erlebte ihre Uraufführung, begrenzt auf den ersten, bereits zweieinhalbstündigen Aufzug, im Königlichen Theater zu Berlin am 28. Mai 1827. Die vollständige Oper hatte am 21. Juni 1829 Premiere und kam zur musikalischen Untermalung der Heirat Kronprinz Wilhelms mit Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach zustande. Eine radikale Überarbeitung führte zur Letztfassung (Erstaufführung am 6. Dezember 1837). Das Werk stieß größtenteils auf Unverständnis, wobei besonders das mittelmäßige Libretto viel Tadel auf sich zog. Dies führte dazu, dass die Oper bald von den Spielplänen verschwand und erst über ein Jahrhundert später wiederaufgeführt wurde.

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Die erste moderne Produktion 1954 hängt mit der Tradition des Maggio Musicale zusammen, vergessene Werke wieder auf die Bühne zu bringen. Dieses Verdienst gebührt hier, wie in anderen Fällen, Francesco Siciliani, künstlerischem Direktor der Florentiner Oper zwischen 1948 und 1957, einem Mann von vollendeter Kultur und Intuition. So brachte Siciliani bereits 1950 die italienische Premiere von Spontinis Olimpia zustande. Niemand Geringerer als Renata Tebaldi sang die Titelrolle; am Pult stand Tullio Serafin.

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„Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ Giangiacomo Guelfi/ Foto OF

Spontinis letzte Oper war indes eine noch größere Herausforderung. Im Jahr seiner Berufung zum Opernchef in Florenz traf Siciliani dank Serafin auf die junge Maria Callas, deren außerordentliches Talent ihn darin ermutigte, den dramatischen Koloratursopran, der in diesem Repertoire typisch ist, wiederzubeleben. 1948 brachte Siciliani die Callas zu ihrem Debüt beim Comunale in Bellinis Norma. Im Jahr darauf sang sie in Perugia in Stradellas San Giovanni Battista und danach in Aufführungen in Florenz, die Geschichte schrieben: 1951 in Verdis La traviata und in I Vespri Sciiliani sowie in Haydns Orfeo ed Euridice (Dirigent Erich Kleiber), 1952 in Bellinis I Puritani, in Rossinis Armida (gerade wieder bei Warner) und schließlich 1953 in Donizettis Lucia di Lammermoor sowie in Cherubinis Medea unter Vittorio Gui. Eigentlich sollte Maria Callas auch bei der Wiederbelebung der Agnese di Hohenstaufen in der Titelrolle agieren, doch sprang sie am Ende ab. Sich den Schwierigkeiten dieser Rolle bewusst, setzte Siciliani schließlich auf die amerikanisch-kroatische Sopranistin Lucilla Udovich, die hier ihr Operndebüt hinlegte. Als besonders schwierig erwies sich die Rekonstruktion der Partitur, fehlte es doch an einer gedruckten Edition. Es bedurfte der Transkription von Mikrofilmen diverser Manuskripte, die in verschiedenen Bibliotheken lagen. Da es sich als unmöglich herausstellte, in der deutschen Originalsprache zu singen, fertigten Filippo Caffarelli und Vito Frazzi eine italienische Übersetzung an. Die Oper erlebte sodann drei Aufführungen ab dem 6. Mai 1954 im Teatro Comunale als Eröffnung des Festivals. Am Pult stand Vittorio Gui. Als Regisseur wirkte Maner Lualdi mit Bühnenbildern von Erberto Carboni und Kostümen von Silvano Tajuti.

Intendant Siciliani machte niemals einen Hehl aus seiner Meinung, dass es sich bei Agnes von Hohenstaufen um einen Meilenstein in der Geschichte des deutschen Musiktheaters handle. Viele Jahre später organisierte er eine konzertante Aufführung der Rai di Roma unter Riccardo Muti und Montserrat Caballé in der Titelrolle (30. April 1970). Zu diesem Anlass entstand eine neue italienische Übersetzung von Mario Bertoncini. Zudem erfolgten weitere Korrekturen an der Partitur. Der junge Muti war derart beeindruckt, dass er die Oper 1974 neuerlich beim Maggio Musicale Fiorentino mit Leyla Gencer dirigierte.

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„Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ Anselmo Colzani und Lucille Udovich/ Foto OF

Die 1954er Aufführung bleibt nichtsdestotrotz bahnbrechend in der Wiederentdeckung von Spontini wie auch in der Geschichte des Maggio. Der Mitschnitt von der Aufführung vom 9. Mai 1954 vermittelt einen Eindruck von der opulenten Darbietung mit ihren Höhepunkten sowohl im Florentiner Ensemble als auch in der Auswahl der Sängerbesetzung von exzeptioneller Qualität. Vittorio Gui gelingt es mittels gemessener und feierlicher Tempi, eine majestätische Wirkung zu erzielen. Gewisse Verbindungen mit Webers Euryanthe (1823), nicht zufällig beim selben Festival unter Carlo Maria Giuilini gespielt, und besonders zum jungen Wagner, von Rienzi bis Lohengrin, lassen sich feststellen. Trotz der heftigen Schnitte gelingt es Gui, Spontinis Rückbezüge zur Großartigkeit und zum Dekor der französischen Oper als auch zum ungezwungenen Tonfall der deutschen romantischen Oper herzustellen. Er betont die bewundernswerte Verbindung zwischen der spannungsgeladenen Erzählung der Handlung mit der statischen Monumentalität der großen Chor- und Ensembleszenen. Erwähnenswert ist zudem seine Fähigkeit, die Überlagerung von Klangabschnitten in verschiedenen komplexen Szenen stets unter Kontrolle zu halten, sie es im Bankett des ersten Akts mit den Hörnern abseits der Bühne, die Berlioz vorausahnen lassen, oder im superben Finale des zweiten Akts, welches Philipp Spitta als unvergleichlich bezeichnete, wenn zum gigantischen Orchester im Graben eine unsichtbare Gruppe von Streichern und Kontrabässen, die eine Orgel simulieren, der Chor und die Stimmen von nicht weniger als sechs Solisten hinzutreten.

Nicht unähnlich Wagner, bedarf Spontinis Agnes Stimmen von außerordentlicher Robustheit, die nicht vom massigen Orchesterapparat zugedeckt werden, und in dieser Hinsicht ist die Florentiner Aufführung von 1954 ohne Vergleich. In den Arien „Quando la brezza il volto“ in der zweiten Szene des ersten Akts und „O Re die cieli“ in der zweiten Szene des zweiten Akts beschwört Udovich eine Stimmgewalt herauf, die an die junge Callas gemahnt, auch wenn sie über eine geringere technische Finesse und Eigenart des Timbres verfügt. Selbst in den dichtesten Momenten des Ensembles kann sie problemlos herausgehört werden.

„Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ Szene/ Foto OF

Franco Corelli, hier drei Jahre nach seinem Debut in Carmen in Spoleto, sang bereits 1953 in Florenz die Rolle des Pierre Besuchow in der Weltpremiere von Prokofjews Krieg und Frieden unter Artur Rodzinski. Gleichwohl war es besonders sein Pollione in Norma in Rom und Triest an der Seite der Callas, die ihn aufgrund seiner männlichen Kraft im Tonnfall, seines polierten Timbres und seiner Brillanz in hohen Noten zum idealen Interpreten Heinrichs von Braunschweig machten. Tatsächlich erzielt der Tenor beeindruckende stimmliche Kraft und expressive Passion, ein wenig zu Lasten einer heutigen Hörern überbetont und heftig erscheinenden Phrasierung und besonders nachdrücklicher portamenti.

Der dritte große Protagonist dieser Aufnahme ist Giangiacomo Guelfi in der diabolischen Rolle des Kaisers Heinrich VI., ohne Arien oder Ariosi und stets mit eindrucksvoller Deklatomation. In diesem römischen Interpreten findet man einen Bariton mit bronzenem Timbre und imponierend mächtigem Klang. Es war kein Zufall, dass Siciliani sechzehn Jahre später bei einer weiteren Aufführung in Rom wiederum auf Guelfi setzte. Die restliche Besetzung ist ebenfalls von hohem Niveau: Die Amerikanerin Dorothy Dow (Irmengarda), die in dieser Zeit zwischen dramatischen Sopranrollen und Mezzosopranrollen besonders im deutschen Fach wechselte, der Tenor Francesco Albanese (Philipp von Hohenstaufen) und die Baritone Enzo Mascherini (Herzog von Burgund und an der Scala Mabeth zur Lady von Maria Callas) und Anselmo Colzani (Heinrich der Löwe), wie auch die nachdrückliche Präsenz des Erzbischofs von Mainz, gesungen vom Niederländer Arnold van Mill, eines gefeierten Wagnerbassisten. Alle befinden sich in umwerfender stimmlicher Verfassung und meistern das mörderische Libretto des Werkes, von dem Spontini immer behauptete, es sei sein Meisterwerk, und das er der Person widmete, die ihm am meisten bedeutete: seiner geliebten Frau Celeste Erard. Giuseppe Rossi

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Den vorliegenden Text entnahmen wir dem Beiheft zur bei der Opera di Firenze  herausgekommenen CD  (2 CD OF 007; Übersetzung ins Deutsche von Daniel Hauser; Foto oben: „Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ Szene/ Foto OF)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Auf dem Wasser zu singen…

 

Kaum ist der letzte Ton verhallt, der letzte Scheinwerfer erloschen, scheint die Blu-ray Produktion anzulaufen, so auch die von Bizets Carmen auf der Seebühne von Bregenz am Bodensee. Die ist bekannt für ihre raffinierten Bühnenbilder, das von Tosca schaffte es sogar in einen James-Bond-Film, und auch Es Devlin hat mit den beiden aus dem Wasser ragenden, Karten in die Luft werfenden Händen einen symbolträchtigen Rahmen für das Geschehen geschaffen. Die Regie von Kasper Holten korrespondiert damit, wenn bereits zur Ouvertüre und nicht erst im Karten-Terzett eine Carmen die Karten befragt, mit offensichtlich ähnlich traurigem Ergebnis wie drei Akte später. Im Verlauf des Abends werden dann mehr oder weniger passende Bilder auf die zunächst nur von der Rückseite her sichtbaren Karten projiziert. Leider hat man sich dazu entschlossen, aus der Oper ein pausenloses zweistündiges The Best of Carmen zu machen, d.h., ein Highlight reiht sich an das nächste, der Dialog fällt fast völlig weg. Während der Aufnahme gab es Wasser nicht nur von unten, wo Escamillo mit einem Boot anlandete, oder für ein Zigeunerinnenwasserballett oder den Tod Carmens im nassen Element, sondern auch reichlich von oben, so dass Haare und Kleider der Mitwirkenden schnell durchnässt waren. Besonders die Kostüme von Anja Vang Kragh zeigten die Gratwanderung des Festivals zwischen künstlerischem Anspruch und dem Verlangen, ein auch opernungewohntes Publikum zufrieden zu stellen, gaben dem Unternehmen den Anstrich des Revuehaften.

Vorzüglich war die Besetzung der beiden weiblichen Hauptpartien mit der auch optisch idealen Gaëlle Arquez als muttersprachliche Carmen und mit der anmutigen Elena Tsallagova von der Deutschen Oper Berlin als Micaëla. Und da die Technik eine  vorzügliche ist, konnte man sich auch am elegant-erotisch klingenden des Mezzosoprans wie am lyrisch-duftigen Gesang des Soprans rückhaltlos erfreuen. Eher von der in jeder Hinsicht grobschlächtigen Art waren die beiden Herren. Mit monoton weinerlichem Timbre sang Daniel Johansson einen nicht immer intonationssicheren Don José, und auch  Scott Hendricks bewältigte nur mit Mühe sein Auftrittslied und klang recht krude. Feinheiten im Schmug glerquintett gingen leider  beim Bemühen um vokalen Aplomb verloren, der Beginn des vierten Akts war erbarmungslos zusammengestrichen, obwohl gerade hier der Schaulust des Publikums hätte Rechnung getragen werden können. Die Wiener Symphoniker unter Paolo Carignani sorgten dafür, dass von der orchestralen Seite her keinerlei Abstriche an die künstlerische Qualität der Aufführung gemacht werden mussten. Und die Leiche Carmens, von roten Rosen umspült, sorgte dann doch noch für ein schönes Bild als versöhnlichen Abschluss (Blu-ray C-Major 742304). Ingrid Wanja

Literaturvertonungen

 

Das wird nicht gut ausgehen. Caroline Meeber hat ihr Elternhaus in Wisconsin verlassen, um wie Tausende junger Mädchen in den prosperierenden Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts ihr Glück in der Großstadt zu machen. Die Ouverture zeigt ihre Ankunft in Chicago. Sie findet eine Anstellung in einer Schuhfabrik, wo sie den jungen Handlungsreisenden Charlie Drouet kennenlernt. Der Aufstieg ist vorbereitet. Drouet überzeugt sie, den Haushalt ihrer Schwester und ihres Schwagers zu verlassen und in einer kleinen von ihm bezahlten Wohnung als seine Geliebte zu wohnen. Wir denken spontan an Manon, die freilich schon hundert Jahre zuvor den Ausbruch probte, oder Louise. An den Glanz der Großstadt, die Verführung durch den Luxus. Durch Drouet lernt Carrie den unglücklich verheirateten Restaurant-Manager Hurstwood kennen und beginnt eine Affäre mit ihm. George Hurstwood, der sie aufrichtig liebt, nimmt den Scheidungskampf mit seiner Frau auf und bricht mit Carrie, der er vormacht, sie müssen zu Drouet ins Krankenhaus, im Zug nach New York auf. Monate später leben die beiden unter dem Namen Wheeler in einer luxuriösen Wohnung in New York . Während Hurstwood immer mehr verkommt, Geld unterschlägt, ohne Arbeit ist, steigt Carrie langsam zum Broadway Star auf, sie erfindet sich sozusagen neu, wie Opernlibrettist Herschel Garfein mit Verweis auf einen heutigen Code bemerkt. Nach einer letzten Begegnung mit Carrie geht George in seine armselige Unterkunft in der Bowery und dreht das Gas auf, während Carrie sich im Theater mit ihrem Song „Why I’m Single“ feiern lässt. Theodore Dreisers Roman Sister Carrie von 1901 ist einer der zentralen amerikanischen Roman jener Jahre und ein Hauptwerk des literarischen Naturalismus, der im Sinne von Zola, ein ungeschminktes Bild des Alltags zeigt und seine Protagonisten unter verschiedenen Rahmenbedingungen beobachtet. In einer der letzten Szenen des Romans und der Oper liest Carrie übrigens in Balzacs Père Goriot. Während Carrie über das Theater den sozialen Aufstieg schafft, geht der einst gut situierte und erfolgreiche Geschäftsmann Hurstwood unter. Also doch anders als erwartet.

Dreisers Roman hätte freilich bereits von seinem Bruder Paul Dresser vertont werden können, der seine Songs der Tin Pan Alley anvertraute, doch obwohl bereits die frühen Musicals die Bühne- auf-der-Bühne-Situationen liebten, war die Zeit für eine derart schonungslose sozialkritische Story nicht reif. Berühmter als Sister Carrie wurde freilich auch erst Dreisers An American Tragedy von 1925, die die Vorlage von Tobias Pickers 2005 an der Met uraufgeführter gleichnamiger Oper ist, in der – neben einer illustren Besetzung – Nathan Gunn den wie Carrie nach sozialem Aufstieg gierenden Clyde Griffiths kreierte.

Sister Carrie von Robert Livingston Aldridge wurde unter weniger günstigen Umständen im Oktober 2016 von der Florentine Opera Company in Milwaukee uraufgeführt (Naxos 2 CD 8.669039-40 mit komplettem Libretto und einer lesenswerten Einführung des Librettisten Herschel Garfein), wobei alle Mitwirkenden der Florentine Opera Company einen guten Job machen und vor allem Keith Pharee mit seinem sämigen Bariton zeigt, dass der Hurstwood durchaus für einen ersten amerikanischen Bariton erstrebenswert sein könnte. Das heißt aber auch, dass der 63jährige Aldridge eine gut singbare Musik geschrieben hat und inmitten all der schier unzähligen Szenen, die beispielsweise auch während eines Duetts von einem Ort zum andere wechseln, und den vielen kleinen Partien, Raum für gesangliche Inseln lässt. Sei es Carries „Everything is paid for“ in Drouets Wohnung oder die zahlreichen Soloszenen Hurstwoods, die ihn – angefangen von „My dears, why have you forsaken me?“ bis zum ergreifenden Rezitativ und Arie „You’re a dandy, Hurstwood“ – für mich zur eigentlichen Hauptfigur der Oper machen, während Adriana Zabala mit reif klingendem Mezzosopran als Carrie wenig Profil entwickelt und Matt Morgan als Drouet etwas anämisch bleibt. Anfangs klingt der Zweiakter nach praktikabler Dutzendware, vieles ist einfach nur nett wie die ausführlichen Essenbestellungen, „Sirloin with mushrooms … stuffed tomatoes…Asparagus…hashed brown potatoes“ und schließlich „Yorkshire pudding“ – „We forgot soup“ – sehr gekonnt sind die buntscheckigen Ensembles, die Duette, mehrere Quartette, doch vor allem die von William Boggs mit dem Milwaukee Symphony Orchestra und dem Florentine Opera Corus gut austarierten großen expressiven Chorszenen entwickeln theatralische Sogkraft. Letztlich ist es vermutlich aber doch eher der Roman und nicht die ordentliche Vertonung, die fesselt.

Der 90jährige Dominick Argento (Miss Havisham’s Fire, Postcard from Morocco) könnte vermutlich alles vertonen. Eine Naxos-Ausgabe (8.559828) vereint zwei seiner Gesangszyklen nach Tagebuchaufzeichnungen, die 13 Lieder The Andrée Expedition (1982) und die acht Lieder From the Diary of Virgina Woolf (1974). Die Tagebucheinträge und Briefe um die 1897 tragische gescheiterte Gasballon-Expedition zum Nordpol von Salomon Andrée, Nils Strindberg und Knut Fraenkel – deren Körper 33 Jahre später geborgen wurden, ebenso wie die Aufzeichnungen von Andrée und Strindberg – sowie die Tagebuchaufzeichnungen der Virginia Woolf geben dem mehrfach in Zürich (Sharpless, Jeletzky) und Frankfurt (Golaud, Luna, bald Nelusco) aufgetretenen Brian Mulligan die Möglichkeit, sich vorteilhaft zu präsentieren. Begleitet von Timothy Long, ist er ungemein kraftstrotzend, ein wenig eindimensional und in den leisen Passagen nicht sehr klangvoll im ersten Zyklus, dann etwas subtiler und klangspielerisch in den von Janet Baker kreierten Woolf-Liedern.

Etwas ratlos stehe ich der umfassenden Darwin-Hommage Age of Wonders des britischen Komponisten Michael Stimpson (*1948) vis-a-vis. Als Auftragswerk zum 200. Geburtstag des maßgeblichen Naturwissenschaftlers 2009 entstand die Abfolge aus einer Violinsonate (The Man Who walked with Henslow), einem Streichquartett (Streichquartett No. 2 The Beagle), einem dreisätzigen Orchesterwerk (An Entangled Bank) und einem weiteren vierteiligen Orchesterstück (Transmutations), deren Abschnitte sich auf die Biografie bzw. das Schaffen Darwins beziehen. Aufgenommen wurden diese Stücke im Februar 2014 in London mit den Solisten Maya Iwabuchi, Fiona Cornall (Violine), Nicholas Bootiman (Viola), Karen Stephenson (Cello) und Tom Poster (Klavier) sowie dem Philharmonia Orchestra unter Stuart Stratford. Angehängt sind die sechs bereits im Jahr 2009 aufgenommenen Beiträge aus Darwins Autobiografie und seinen Schriften, gelesen vom Komponisten, Robert Tear sowie weiteren Sprechern, komplett nachzulesen im (englischsprachigen) Beiheft, das den Hörer anhand der Musikwerke auch auf eine informative Reise durch Darwins Leben führt (2 CD, Stone Records 5060192780/ 80741). Ich gestehe, ich konnte für die beiden CDs nicht die angebrachte Bewunderung aufbringen und die grauschlierigen Transmutations fand ich geradezu frustrierend.    Rolf Fath

Der klagende Hund

 

Was ist das? Nicht Oper oder Musiktheater, kein Schauspiel mit Musik und keine Performance. Eine Konzert-Installation? Am ehesten erinnert der Abend von  Philippe Manourys kein licht nach Elfriede Jelinek als französische Erstaufführung in Straßburg an die szenischen Aufbereitungen der Stockhausen-Uraufführungen einst in Mailand. Philippe Manoury hat für den Abend, der kürzlich bei der Ruhrtriennale seine Uraufführung erlebte und nun in Straßburg zu sehen ist, mit der englisch-deutschen Wortschöpfung Thinkspiel sein eigenes Ding. erdacht. Der 65jährige, eng mit dem IRCAM verbundene Manoury hatte 2001 an der Pariser Oper mit seiner Kafka-Opera K… Aufmerksamkeit gefunden und an der Opéra National du Rhin vor sieben Jahren mit La nuit de Gutenberg zum großen Exkurs über die Entstehung der Schrift von der Antike bis zur Internetgesellschaft im 21. Jahrhundert ausgeholt.

Nun war er bei Elfriede Jelinek und ihrer „kein licht“– Reaktion auf die Unfallserie 2011 in Fukushima gestrandet, deren Unterzeile „(2011/2012/2017)“ anzeigt, dass der Wortblock 2012 um einen Epilog und aktuell um ein weiteren Teil „Der Einzige, sein Eigentum (Hello Darkness my old friend)“ über einen König, der bekommt, was er will, ergänzt wurde, „Und wenn die Welt einstürzt, er verliert seine Fassung nicht“. Wer wohl? Aphorismen und Hellsichtigkeit, Kalauer und Klischees, Witziges und Schales montiert der Text zu einer Wortflut, die keine lineare Erzählweise kennt. Und im aktuellen dritten Teil mit den Trump-Bezügen fast ein bisschen peinlich wirkt.

Cheery erklettert einen Wassertank und liefert sich mittels der Handzeichen seiner Hundeführerin ein fast wie ausnotiert wirkendes Duett mit der Trompete. Der virtuose Dressurakt mit dem niedlichen, punktgenau jaulenden und schwanzwedelnden Terrier lässt bei diesem Klagegesang nicht nur Hundefreunden das Herz aufgehen. Drei Sätze der dreiteiligen musiktheatralischen Aktion sind explizit als Lamento betitelt, wovon das letzte, das bereits von Mahler in seiner dritten Sinfonie aufgegriffene Nachtwanderlied Zarathustras „O Mensch! Gib Acht!“, hier ebenfalls von einem Alt gesungen wird. Doch auch gegen Ende seines gut zweistündigen Stück sammelt Philippe Manoury mit diesem Nietzsche -Zitat nicht spätromantische Fitzelchen ein, sondern bleibt seinem Ton aus herb ausgesplitterter Moderne und Elektronik treu, mit dem er Elfriede Jelineks Text-Würmer umgib. „Und was haben wir gelernt“ fragt B. „Irgendwas werden wir wohl gelernt haben“ antwortet A., die uns sozusagen durch den Abend geleitet haben und nun, in große, durchsichtigen Ballons gepackt, über die vollgeschwemmte Bühne rollen. Nochmals Bellen.

Philippe Manourys Oper „kein licht“ in Strasbourg/ Szene/ Foto Klara Beck

Manoury untermalt das Textungeheuer mit einer gut hörbaren, ja dann doch fast schon spätromantischen, sanft rieselnden und energisch klopfenden, klangsatten Musik sowie wie in Echtzeit elektronisch produzierten Modulen, deren komplizierte Funktionsweise er im Zwischenspiel ebenso aufgreift wie die Folgen des deutschen Atom-Ausstiegs und die Frage, wie man in Zeiten des Internets, das mehrere „Schichten von Daten, Wirklichkeiten … bereitstellt – und die Wirklichkeit darunter verschüttet“, eine Geschichte erzählen soll. Manourys Versuch beschäftigt ein halbes Dutzend europäischer Bühnen. Neben der Ruhrtriennale und der Pariser Opéra-Comique (Oktober) und der Opéra National du Rhin noch die Grands Théâtres de la Ville de Luxenbourg, die Münchner Kammerspiele, das IRCAM und das Kroatische Nationaltheater in Zagreb, die u.a. das Vokalquartett der Zagreber Oper und das von Julien Leroy geleiteten United instruments of Lucilin-Kammerorchester aus Luxenburg beigesteuert haben. In Straßburg hatte das Publikum vor allem seine Freude an der „Hans und Gretel aus Deutschland“-Sequenz mit viel „o lala“, „amour“ und „Moulin Roge“-Kalauern und Drolerien: „Nous sommes Allemands. Nous n’ aiment pas la égerie atom, Mais les Francais ils aiment la énergie atom“ – welche die wunderbar vielseitige Caroline Peters und der trocken charmante Niels Bormann als clowneske Nummer servieren. Ansonsten bleiben die eloquenten Darsteller in dieser konzertmäßigen Installation (Bühne: Katrin Nottrodt. Lange Konzertkleider für Frauen und Männer von Marysol del Castillo) mit Orchester im Hintergrund, Chorquartett und vier Solisten (Sara Maria Sun, Olivia Vermeulen, Christina Daletska und Lionel Peintre) als Elementarteilchen, Überlebende, Gestrandete und Steinzeitmenschen doch deutlich unterfordert. Den vollgepfropften Abend hatte Jelinek-Spezialist Nicolas Stemann als assoziationsreiche Collage eingerichtet mit vielen Video-Einblendungen, die vom Paris-Sightseeing bis zur Umweltkatastrophe reichen, angereichert mit der Trump-Entourage aus Ivana, Ivanka und Melania und einer Atomi-Handpuppen-Spielerei. Das ist manchmal komisch, witzig, mahnend, aber auch ennuyierend-plump, ein Kessel Buntes für Insider. Der eigentliche Start der auf Marc Clémeur gefolgten Eva Kleinitz folgt in einem Monat mit Mozarts Nozze di Figaro (Foto oben: Philippe Manourys Oper „kein licht“ in Strasbourg/ Szene/ Foto Klara Beck)  Rolf Fath

Mehr oder weniger Gelungenes

 

Vielleicht ist Jonas Kaufmann noch kein Otello, aber ganz sicherlich ist er kein Nadir oder Roméo mehr, und ausgerechnet mit des Letzteren „L’amour“ beginnt er seine neueste CD unter dem Titel „L’Opéra“, die ganz dem französischen Fach gewidmet ist. Die Aufnahme entstand im Frühjahr 2017, also ungefähr zur gleichen Zeit, in der der Tenor seinen ersten Otello vorbereitete, eine Kombination, die sich nicht jeder Sänger zumuten würde. Nicht genau auszumachen ist, ob die natürliche Entwicklung der Stimme oder die Arbeit an der dramatischsten Partie der italienischen Oper oder auch beides der Grund dafür sind, dass der Tenor  zu schwer, zu unbeweglich, zu dunkel und an einigen Stellen auch zu tief im Hals des Interpreten steckend für den Veroneser Jüngling klingt, die Partie hier die eines gestandenen Mannes zu sein scheint, so dass  weder der französische Stil noch die Figur adäquat getroffen werden. Ganz anders sieht es mit dem letzten Track, dem Abschied des Enée (das für Covent Garden geplante Rollendebüt fand leider nicht statt) aus Karthago aus, der von dem klugen Aufbau der Interpretation, der strahlenden Höhe am Schluss und dem lyrisch genommenen „Ah! Quand viendra“ profitiert. Dazwischen liegt mehr oder weniger Gelungenes, so ein weit mehr nach Puccini als Massenet klingender Des Grieux, in dessen Duetten mit Manon nur diese, Sonya Yoncheva, dem französischen Komponisten die Stange hält, womit nichts gegen das durchweg perfekte Französisch des deutschen Tenors gesagt sein soll. Gar nicht gefallen können ein zu baritonal klingender Nadir, der sich erst im Refrain des berühmten Duetts vom Partner Ludovic Tézier abhebt, ein in der Höhe zu hauchiger Mylio, der heller und leichter klingen müsste, oder generell bei vielen Tracks die Durchbrechung einer einheitlichen Stimmung zugunsten harter Kontraste, worüber man bei der Blumenarie, die mit einem schönen Schwellton schließt, durchaus diskutieren könnte.

Bei Werthers „Pourquoi“ zieht man natürlich Vergleiche mit der wunderbaren Aufnahme aus Paris und muss feststellen, dass der Tenor spröder geworden ist und verhangener klingt, erfreulich ist die poetische Seite, die er  bei Vascos berühmter Arie entdeckt, für deren Schluss er dann das wünschenswerte heldische Strahlen hat, von dem auch Le Cid und der im zweiten Teil sehr empfindsam auftretende Éléazar profitieren. Gut zu den Berlioz‘schen Orchesterfarben passt die Stimme nicht nur für den Enée, sondern auch für Fausts „Merci, doux crépuscule“, und nicht nur hier, sondern durchgehend erweist sich das Bayerische Staatsorchester unter Bertrand de Billy  als stilsicherer Partner, so dass es fast als undankbar erscheint, dass der Tenor sich in einem Video zur CD in den Räumlichkeiten des Palais Garnier ergeht – weil die CD ja L´Opéra heißt…(Sony 88985390762). Ingrid Wanja

Genre-Hopping

 

Wieder einmal hat sich der Palazetto Bru Zane in seiner Portrait-Reihe (Vol. 4) um die Erforschung und Darlegung der romantischen Musik in Frankreich verdient gemacht. Ein 3-CD-Buch-Album im gewohnten (wenngleich für CD-Regale etwas unbequemen) Hochformat bietet einen umfangreichen Überblick über Félicien Davids Oeuvre, aus dem bislang Lieder, zwei Opern und die Oden-Kantate Le Désert erschienen sind, Le Désert sogar vor Jahren schon in einer Berliner Aufnahme bei Koch/ Capriccio (1982), eine andere Einspielung gab es im vergangenen Jahr beim Palazetto. Weitere Aufnahmen von David sind die Oper Herculanum bei Ediciones Singulares, Lallah-Roukh aus den USA bei Naxos, Lieder mit Tassis Christoyannis ebenfalls bei Ed. Singulares sowie Klaviermusik bei Naxos. David ist nicht mehr wirklich ein Unbekannter.

 

Félicien David: Portrait vol. 4/ Palazetto Bru Zane/ Ediciones Singulares

Nun dirigiert Francois-Xavier Roth am Pult der Brüsseler Philharmoniker und dem Chor des Fämischen Rundfunks die Kantate Colombe ou La Découverte du Nouveau von 1847, das nachgelassene Oratorium Le Jugement dernier und 7 Motetten; weiters gibt es wieder Lieder und Kammermusik  sowie die Ouvertüre zur Oper Le Perle du Brésil – ein wirklich breites Spektrum, das alle Kategorien abdeckt und das diesen interessanten Komponisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt, der durch seine Reisen namentlich in den Orient eine ganze Stilrichtung hervorgerufen hatte und der zwischen der post-napoleonischen Periode und der Zeit der späteren Romantik in der Musik Frankreichs steht. Mehr als ein deutscher Rezensent kann Alexandre Dratwicki, Musikwissenschaftler und Künstlerischer Leiter des Projektes zur Förderung der romantischen französischen Oper in Frankreich beim Palazetto Bru Zane Venedig zu den hier aufgenommen Stücken etwas sagen, daher folgen im Anschluss seine Ausführungen zu David als Vokalkomponist, die wir seinem Artikel aus der neuen Veröffentlichung in unserer eigenen Übersetzung entnommen haben.

Zu den Vokal-Solisten dieser Aufnahmen zählen Chantal Santon-Jeffery, Julien Behr, Josef Wagner, Jean-Marie Winterling, Cyril Dubois für die Lieder sowie Hervé Niquet am Pult der Brüsseler Philharmonie und dem Chor des Flämischen Rundfunks. Die beigefügten zweisprachigen Artikel (wieder nicht in Deutsch) sind von Ralph Locke (Les horizons d´un voyageur romantique), Gunther Braam (Christophe Colombe, ode symphonique 1847), Alxeandre Dratwicki (Félicien David, d´un genre á l´autre) sowie Erinnerungen von Camille Saint-Saens Nachruf (In mémoriam Félicien David) – außerordentlich lesenswert. Zudem haben wir in operalounge.de viel über David geschrieben. Es lohnt sich nachzulesen, vor allem über seine wirklich bemerkenswerte Oper Herculanum sowie Lallah-Roukh (Félicien David – Portrait Vol 4; 3 CD, Edicones Singulares ES 1020 9788460684398). G. H.

 

Und nun Alexandre Dratwicki: Félicien David (1810–1876) wurde lange Zeit hinsichtlich der Geschichte der französischen Musik gleichsam negiert – ausgenommen die Erwähnung des großen Erfolges seiner sinfonische Ode Le Désert (1844). Er war neben Berlioz nicht nur der Erfinder dieses musikalischen Genres, welches einen signifikanten Anteil an gesprochenem Wort enthält, sondern auch einer der ersten Komponisten der Romantik, der ausgedehnte Reisen in den Orient unternahm. Neben seinem Betätigungsfeld auf dem Gebiet der klassischen Sinfonik und der Komposition von Quartetten und Trios in der österreichisch-deutschen Tradition widmete er sich mit Herculanum (1859) ebenso der Grand Opéra. Dieses CD-Buch zeigt alle Facetten dieses Meisters der Exotik, eines wahrhaftigen Delacroix der Musik. Dem Zuhörer wird es erstmals ermöglicht, die sinfonische Ode Christophe Colombe (1847) zu entdecken wie auch die Schlussapokalypse von Herculanum, die vor der Premiere geschnitten und niemals veröffentlicht wurde: Le Jugement dernier.

 

Der Komponist David in seiner eigenen ewigen Wüste – Karikatur aus „Le Monde qui rire“/OBA

Werke für Stimme und Orchester: Es war der Erfolg von Le Désert, der Félicien David zunächst in der Pariser und kurz darauf auch in der internationalen Musikszene etablierte. Obschon das Werk zunächst aufgrund seines orientalischen Hintergrundes zu gefallen wusste, betonten die Kommentatoren auch die Präsenz des Sprechers, der einen poetischen Text über einem dezenten orchestralen Hintergrund vorträgt. Dieses theatralische Element überraschte das Publikum im Jahre 1844 nicht über die Maßen, war doch die Technik des Melodrama seinerzeit in den Theatern von Paris weit verbreitet, allen voran in der Comédie-Française. Für Verwirrung sorgt zuweilen die Behauptung, es handle sich bei Moïse au Sinaï und L’Éden um frühere Beispiele für dieses spezifische Genre. Tatsächlich aber waren dies Oratorien; keines von beiden wurde indes dem Pariser Geschmack gerecht. Le Jugement dernier ist ebenfalls keine sinfonische Ode, aber auch weder eine Kantate noch ein Oratorium. Dieses Stück, das für beinahe 200 Jahre nur ein Manuskript blieb, ist die Apotheose der Oper Herculanum (1859), ein derart schwierig aufzuführendes Finale, dass es vor der Premiere kurzerhand gestrichen wurde. In der Art der großen Crescendi von Berlioz geschrieben, stellt es den Chor der Erwählten dem Chor der Verdammten gegenüber und überstieg dadurch die vokalen Möglichkeiten der allermeisten Theater. Die erzählerische Bahn, im Libretto klar vorgegeben, erlaubt es uns, die Auferstehung der Toten zu hören – unglücklicherweise können wir sie nicht sehen –; die Trompete erschallt zum Jüngsten Gericht, die Verdammten stürzen kummervoll in den Abgrund der Hölle, während die Erwählten die Herrlichkeit Gottes preisen. Der cor anglais, an Berlioz gemahnend, färbt die Momente von Pein und Selbstprüfung, während die massierten Blechbläser meisterlich in den gemeinsamen Passagen erklingen. Unter all der Raffinesse der Orchestrierung mögen insbesondere die Streicher (teilweise weitreichend unterteilt) in deren oberstem Register herausstechen, besonders hinsichtlich der Harmonik. Die gebieterischen Themen der Hörner und Posaunen, welche den Trompeten des Gerichts folgen, bilden eine Verbindung zum Herculanum: an diesem Punkt vernehmen wir das Motiv des Magnus aus dem Ende des ersten Aufzugs. Es setzt hier seine volle Bedeutung fort, steht es doch in der Oper für den Untergang der dekadenten römischen Zivilisation und hier nunmehr als Symbol für die Apotheose.

Auch wenn Moïse au Sinaï und L’Éden auf wenig Gegenliebe beim Publikum stießen, sorgte Christophe Colombe (1847) doch für eine aufrichtige Rehabilitierung Davids und führte ihn zurück auf die Straße des Erfolgs. Ursprünglich auf drei Teile ausgelegt, entschied sich der Komponist letztendlich für vier. Tatsächlich ist der zusätzliche Abschnitt, La Révolte, in dramatischer Hinsicht die beste Passage. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass David damit seine herausragenden Fähigkeiten als Opernkomponist demonstrieren wollte. Es waren sodann wirklich die Erfolge von Le Désert und Christophe Colombe, die ihm die Türen des Théâtre-Lyrique öffneten. Als Resultat fand dort im Jahre 1851 die Uraufführung von La Perle du Brésil statt, welches lange Zeit berühmt blieb für eine Koloraturarie der Heldin. Aber auch die Ouvertüre – eingespielt für das vorliegende „Portrait“ – verdient es ebenfalls, Eingang ins Repertoire zu finden. Es handelt sich um eine großangelegte Sonatenform mit einer langsamen Einleitung, die deutlich inspirierter klingt und kunstfertiger umgesetzt ist als es im Potpourri-Modell jener Zeit üblich war. Nach einem feierlichen Marschmotiv, das mehrere Male wiederholt wird, kündigen die Holzbläser eine Melodie an, die von den Celli mit Inbrunst aufgenommen wird. Obgleich der für Davids orientalischen Stil typische harmonische Tonfall hier fehlt, können wir eine leidenschaftliche Romantik genießen, die augenblicklich mitteilsam erscheint. Das nachfolgende erweiterte Allegro vermengt meisterhaft verschiedene lebendige Themen, deren Farbenreichtum von den tiefen Registern der Klarinetten bis zu den höchsten Noten der Piccoloflöten geht. In der Nachfolge von Auber und Hérold, zuweilen aber auch mit einem Hauch von Beethoven, erschafft David hier neben den Ouvertüren zu Le Saphier und Lalla-Roukh einen seiner besten orchestralen Sätze.

 

Der Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki ist der wissenschaftliche Leiter beim Projekt Palazetto Bru Zane/ PBZ

Lieder: Oper, romance, Klavierstück: Im 19. Jahrhundert waren die ästhetischen Grenzen zwischen den verschiedenen Genres Grenzen jenseits des instrumentalen Mediums in gewisser Weise durchlässig. Félicien David komponierte Klavierwerke wie Le Soir (Abend), die den Charakter von „Liedern ohne Worte“ besitzen. In Larmes et Regretes (Tränen und Bedauern) gibt er zu erkennen, dass „die Melodie (le chant) breit und mit großem Ausdruck gespielt werden muss“. Quellen der Inspiration und Gemütsverfassung sind sowohl den Domänen der Vokal- als auch der Instrumentalmusik vertraut: dem Salon und dem Opernhaus. Träumereien sind oftmals mit Melancholie (Le Soir hat den Untertitel Rêverie pour piano), Seelandschaften und Exotik gefärbt; vom Titel oder Gedicht mehr heraufbeschworen als von der Musik selbst. Beispielsweise könnte die Romance Éoline in einer Orchestrierung leicht für eine wirkungsvolle Arie der Opéra-Comique gehalten werden. Ihre Klavierbegleitung scheint danach zu schreien, für Streicher umgeschrieben zu werden, während die bescheidenen Ausmaße die Bühnenhandlung nicht allzu lange unterbrächen. Le Ramier gehört zum selben vokalen Stereotyp, wenngleich heiterer im Charakter.

In den 1840er Jahren verwandelte sich die romance schrittweise in die mélodie. Auch wenn David am Ideal des Schlichtheit á la Rousseau festhielt und sehr oft die quasi-hypnotische Strophenform beibehielt, pflügte er bereits das Feld, in welches Berlioz und Gounod ihre Samen setzen sollten. Daher geht der Rahmen von Lamartines Gedicht Le Jour des morts über die herkömmlichen Dimensionen der romance hinaus und mag mit den großen Schubert-Liedern verglichen werden, die in Paris in französischer Übersetzung in Umlauf kamen, ohne sich vor diesen verstecken zu müssen. Man mag die Dramatisierung des Gedichts unterstreichen, die Emanzipation des Klavierparts und die Erhöhung des Ausdrucks in Bezug auf Harmonik und stimmliche Kontraste. Die romance offerierte David ebenso die Möglichkeit, den orientalischen Stil, der ihm solche Erfolge einbrachte, weiter zu entdecken. Dieser Bezug ist offensichtlich in L’Égyptienne mit ihren hochcharakteristischen Rhythmen und tritt subtiler auch in der großartigen Tristesse de l’Odalisque zu Tage. Ein weiterer Denkansatz, den der Komponist nicht geringschätzte, war die soziale oder politische Dimension, den sich das Liedrepertoire selbst verlieh: die Welle kollektiver Solidarität in Cri de charité oder die patriotische Stimulierung in Le Rhin allemand (nach einem Text von Alfred de Musset). Letzteres wurde Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig neuaufgelegt (mit einem Chorteil, der in der vorliegenden Aufnahme weggelassen wurde).

Die Texte entnahmen wir in Ausschnitten dem Artikel von Alexandre Dratwicki: Félicien David, d´un genre á l´autre. Übersetzung Daniel Hauser; Abbildung oben: Detail aus Michelangelos „Jüngstem Gericht“ im Vatikan/ Wikipedia

Herbstliches

 

Bei seiner früheren Plattenfirma Decca hat Matthias Goerne 1999 ein Album mit Bach-Kantaten aufgenommen, bei dem er von der Camerata Academica Salzburg unter Roger Norrington begleitet wurde. Der Bariton interpretierte in seiner Auswahl drei Kantaten – „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ (BWV 56), „Ich habe genug“ (BWV 82) und „Der Friede sei mit dir“ (BWV 158). Nun legt er bei harmonia mundi france die beiden ersten Kompositionen in einer neuen Interpretation vor und zeigt darin eine deutlich gewachsene Reife der Stimme und des Ausdrucks (HMM 902323). Sie klingt nun dunkler und voller, könnte auch in die Kategorie eines hohen Basses eingeordnet werden. Das lässt an den möglichen ersten Interpreten der Kantaten denken, den Leipziger Studenten Christoph Samuel Lipsius, der als Bassist von 1725 bis 27 in der Leipziger Kirchenmusik wirkte.

Die Kantate BWV 56 beginnt mit der Titel gebenden Arie „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“, die Goerne mit samtiger Tongebung und beschwörendem Ausdruck anstimmt. Klang in der früheren Aufnahme die Stimme fokussierter, wirkt sie hier Raum greifender und spiritueller. Die zweite Arie „Endlich, endlich“ formuliert der Sänger mit energischem Zugriff, muss aber in den langen Koloraturketten das Volumen auffällig verschlanken.  Zu berührend tröstendem Ausdruck findet Goerne im Rezitativ „Ich stehe fertig und bereit“.

BWV 82 beginnt gleichfalls mit der Arie, welche der Komposition den Titel gab: „Ich habe genug“. Deren Jenseitssehnsucht setzt der Bariton mit eindringlich flehendem Ausdruck und unendlich sanfter Stimmgebung um. Davon profitiert auch die große Arie „Schlummert ein“ im Zentrum der Komposition mit ihrem wiegendem Rhythmus, welche sich durch Goernes weichen, besänftigenden Ton nachdrücklich einprägt. Die Todeserwartung der letzten Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“ gestaltete Bach als lebhaft beschwingten Tanzsatz und Goerne findet dafür einen atemlos drängenden, ekstatischen Duktus.

Diesmal begleitet den Solisten das Freiburger Barockorchester unter der kompetenten Leitung von Gottfried von der Goltz. Das Ensemble ergänzt das Programm mit dem Konzert für Oboe d’amore, das eine Rekonstruktion des Konzertes für Cembalo in A-Dur BWV 1055 darstellt. Dem Kopfsatz Allegro von heiter-anmutigem Charakter folgen ein Larghetto als wiegendes Siciliano und das Allegro man non tanto als hurtiges Menuett. Katharina Arfken musiziert das Konzert mit kantabler Tongebung und virtuoser Technik. Bernd Hoppe

Siegfried Köhler

 

Die Nachricht vom Tode Siegfried Köhlers am 12. September 2017 in Wiesbaden überraschte viele Musikfreunde, die den Dirigenten noch aus seiner Wiesbadener Zeit in Erinnerung hatten, wo er – zu meinem Vergnügen und meiner großen Wertschätzung – das „schwere“ Fach ebenso leitete wir das Heitere. Strauss und Wagner mit den Legenden vom Haus ohne ihn schienen gar nicht vorstellbar. Ich verdanke ihm die Erinnerung an viele wunderbare Abende im stimmungsvollen Wiesbadener Haus. Ein bedeutender deutscher Kapellmeister ist gestorben – solche wie ihn gibt es nicht mehr! Für den Verband Deutscher Harfenisten, zu dem Köhler eine besondere Verbindung schon wegen seiner Grundausbildung als Harfenist hatte, schrieb Kai Adomeit  einen liebevollen Nachruf, den wir mit Dank im Folgenden übernehmen. G. H.

 

Er war eine dieser Persönlichkeiten, die zum Kulturleben in Deutschland dazugehörten wie die Noten zur Musik: Das Ehrenmitglied des VDH Siegfried Köhler. Geboren am 30.Juli 1923 in Freiburg im Breisgau, gehörte er noch jener Dirigentengeneration an, die ihr Handwerk von der Pike auf lernte, wenn auch mit einem ganz besonderen instrumentalen Akzent denn anders als die meisten Dirigenten kam er nicht etwa vom Klavier sondern studierte an der Musikhochschule Freiburg – Harfe! An der dortigen Oper war er denn auch bald regelmäßig als Aushilfe im Orchestergraben zu erleben, bevor er 1941 als Harfenist und Solorepetitor ans Theater Heilbronn ging.

Doch auch an ihm ging der Krieg nicht vorüber, und so tauschte er den Frack 1942 für drei Jahre gegen die Soldatenuniform ein. Aus dem Krieg zurückgekehrt entschied sich Siegfried Köhler für die Dirigentenlaufbahn, wurde 1946 Kapellmeister und 1952 erster Kapellmeister in Freiburg. 1954 verließ er seine Heimat, um als Kapellmeister zunächst nach Düsseldorf, 1957 dann nach Köln zu wechseln. Ab 1962 war er dort als stellvertretender GMD bereits im Interim Leiter des Hauses, bevor er 1964 als GMD an das Staatstheater Saarbrücken ging, wo er auch als Professor Leiter der Dirigierklasse an der Hochschule des Saarlands wurde.

1974 wurde Siegfried Köhler dann Generalmusikdirektor des Hessischen Staatstheaters Wiebaden, dessen musikalischer Leiter er für 14 Jahre werden sollte: Die Verbindung Wiesbaden – Köhler wurde nicht nur in Insiderkreisen zu einem Synonym und bis heute hört man noch in Musikergesprächen Sätze wie „Wer ist eigentlich grad dort Chef?“ – „Jetzt? Na, früher war Siggi Köhler da…..“!

1992 dann, in einem Alter in dem moderne Dirigenten oft schon kürzer treten und sich eigentlich gar nicht mehr fest binden wurde Siegfried Köhler Königlicher Hofkapellmeister an der Oper in Stockholm. Für dreizehn Jahre wurde er dort zu einem Garant für grosse Opernabende bevor er, nun doch etwas kürzer tretend, bis in hohe Alter als reisender Gastdirigent tätig  war.

Legendär waren seine Einspringer, in denen er seine ganze Routine und sein Können mit Spontaneität verband, etwa in Nizza, wo er 20 Minuten vor Beginn einer „Walküre“ eintraf und Orchester und Ensemble zu einem unvergessenen Abend mitriss.

Ich hatte das große Glück, Siegfried Köhler etwa ab dem Jahr 1990, selbst in der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz als Pianist sitzend, erleben zu dürfen. Hier war eine Mischung aus Musikantentum und völlig souveränem Dirigieren zu erleben die, wie ich mit den Jahren lernte, keineswegs selbstverständlich war und ist.

Ohne jegliche Allüren seinerseits – den „Professor“ verbat er sich fast, nannte ihn überhaupt außerhalb der Probe jemand (in allem Respekt, wohlgemerkt!) anders als „Siggi“? – ging es nur um das Werk und seine bestmögliche Umsetzung. Manchmal war durchaus seine Ungeduld zu spüren, wenn er ein Werk dass er aus vollem Herzen dirigierte dem Orchester erst geduldig erklären musste. Wurde es dann in der Probe unruhig hob er dann doch seine Stimme und nie werde ich das Gesicht eines im Dienst schon ergrauten Stimmführers vergessen, der plötzlich ein „Kinder! KINDER! Jetzt seid mal nicht so ALBERN!“ zu hören bekam! Ihm fiel es natürlich leichter als uns, sein berühmtes „steht doch schon alles in den Noten….!“ Und sein ebenso klassisches „leicht, Kinder, alles ganz leicht…“ sind bis heute lebende Erinnerungen an ihn. Doch wenn dann das Konzert anstand, konnte man erleben was hingebungsvolles Musikmachen bedeutet: Mit leuchtenden Augen stand dann ein Dirigent vor dem Orchester der mit so hingebungsvollem Schwung Wagner, Brahms oder auch seine eigenen Werke („ich hab da was geschrieben…“) zelebrierte, dass man sich nach dem Konzert sofort fragte, wann „Siggi“ denn nun wiederkäme.

Wirklich unvergesslich eine konzertante „Elektra“ die der 80-jährige, nach einer etwas mühsamen Probenphase im Konzert, das Orchester und das Publikum einfach mitreißend buchstäblich bis zur Weißglut steigerte.

Als Komponist neigte Siegfried Köhler eher der leichten Muse zu, komponierte einige Musicals  und Orchesterwerke (…kann es denn wirklich einen schöneren Musical-Titel geben als „Sabine,  sei sittsam“?), leider nur wenige Werke für Harfe – die „Humoreske“ ist über den VDH zu beziehen.

Sehr lesenswert ist seine, zur Zeit leider offenbar vergriffene Autobiographie „Alles Kapriolen“, in der er auf seine ganz persönliche, niemals prätentiöse Art aus seinem Leben berichtet. Siegfried Köhler verstarb 94-jährig am 12. September 2017 in Wiesbaden, ein Jahr nach seiner Frau. Er wird der Musik und den Musikern sehr fehlen. Kai Adomeit  (Mit freundlicher Genehmigung des Verbandes Deutscher Harfenisten. Foto oben OBA)

Helga Moira

 

Durch die Todesanzeige erfuhr ich vom Ableben meiner alten Freundin Helga Moira (28.6.1935 Hamburg – 28.8.2017 Berlin), die mit 82 Jahren in einem Berliner Altersheim  verstarb. Wir hatten seit einer Ewigkeit nichts mehr von einander gehört, aber ihre starke Persönlichkeit und ihr selbst für Berliner Verhältnisse exzentrisches Auftreten sind mir im Kopf eingebrannt: Ich hatte sie immer für ihre Kompromisslosigkeit bewundert, für ihren fast übermenschlichen Willen, ihre Träume und Sehnsüchte durchzusetzen, ihre Kunst zu leben. Sie war eine Besessene, die keine Abstriche von ihren Zielen hinnahm. Und sie war eine außerordentlich charmante, liebenswürdige Gastgeberin, eine gebildete Freundin, eine herausfordernde Gesprächspartnerin. Daneben war sie auch eine Zerrissene, Unglückliche, Frustrierte. Beide Seiten gehörten zu ihrem Charakter.

Ich erinnere mich an manche schöne Abendessen in ihrem Haus in Berlin oder in Veronas Restaurants ihrer ganz eigenen Wahl. Sie verbrachte die Sommer mit Blick auf die Arena. Dann riss durch viele Umstände unsere Verbindung ab. Ich sah sie gelegentlich in der Stadt, wenn sie mit ihrem roten Flitzer irgendwo vorbeirauschte. Wir trafen uns nicht mehr, aber  ich hörte, dass sie angefangen hatte zu malen, ganz offenbar mit Erfolg und vielleicht damit auch kompensierend, dass ihre Sängerlaufbahn nicht diesen Weg genommen hatte. Nun ist sie gestorben, und es ist mir ein Bedürfnis, ihr mit dem nachfolgenden Interview einen kleinen Gedenkstein setzen zu können. Mein Kollege Stefan Lauter führte 1981 mit ihr ein Gespräch und fuhr im folgenden Jahr ins spanische Vigo, um sie dort als Lady Macbeth zu erleben und von ihr zu schwärmen. Ich möchte, dass Helga Moira, die mich damals so beeindruckt hat, nicht vergessen wird.

 

Eine Hommage an Helga Moira im „Trentino libero“ 1990

Kompromisslos  –  das  ist  der  Begriff, der  sich bei einem Gespräch mit der charmanten und attraktiven Berliner Sopranistin Helga Moira aufdrängt. Sie ist keine „langweilige“ Schönsängerin; ihre Stimme, die vom hohen Sopran einer Turandot bis zum tiefen Alt einer  Dalila  reicht, ist keine bequeme, sondern verlangt vom Zuhörer ebenso viel Engagement wie von der Sängerin selbst, die sich ohne Schonung gegen sich und gegen ihr Publikum in die Verkörperung ihrer Rollen stürzt. Sie hatte aber auch die besten Pädagogen als Ausbilder ihrer ungewöhnlichen Stimme gehabt: Margarete Klose, Richard Sengeleitner, Margarete Lohmann und Sergio Ravazzin, dem ehemaligen Intendanten der Arena di Verona.

In Deutschland ist Helga Moira – wie der sprichwörtliche Prophet im eigenen Vaterland – erstaunlicherweise weniger aufgetreten als in Italien und in anderen Ländern. Möglicherweise liegt das  an der oben erwähnten Kompromisslosigkeit ihres künstlerischen Credos, vielleicht  aber auch daran, daß ihre Stimme nicht unbedingt den kategorisierenden Vorstellungen eines deutschen    Konzert- und Opernbetriebs entspricht. Ihre Kompromisslosigkeit hat es der  Sopranistin ungarischer Abstammung nie leicht gemacht, in einem normalen Opernbetrieb zwischen Verbeamtung und unzureichenden Probenbedingungen Fuß zu fassen. Ihre Ansprüche an künstlerisch zumutbare Arbeitsbedingungen bei ihren  Auftritten im Opernhaus sind groß. Sie wünscht sich lange Probenzeiten und einen guten  Dirigenten, und sie zählt zu ihren schönsten Gesangserfahrungen  die  Auftritte mit  dem inzwischen verstorbenen Dirigenten Yuri  Ahronovitch in Köln oder ihre zahlreichen Liederabende in Verona.  Arienrecitals führten sie nach Salzburg, Treviso, Soave, Neapel, Rimini und Zevio, wo sie im Rahmen der Maria-Callas·Stiftung  am Eröffnungskonzert teilnahm. Ihre Suor Angelica in  Köln unter  Ahronovitch  zeigte  jedoch  deutlich,  dass  ihre  Stimme gerade im  dramatisch-italienischen Fach zu Hause  ist. Ein  Arien-Abend mit  Ausschnitten  aus Macbeth, Forza  del  Destino,  Aida und Un Ballo in Maschera bescheinigte der Sängerin eine schonungslose Anlage der Partien und ein absolutes Identifikationsvermögen mit der je­weiligen Rolle. Dass sie außer in verschiedenen Operettenauftritten (in Hamburg und Berlin) vor allem im Liedgesang in Deutschland  auffällt  –  besonders in Berlin, ihrem Wohnsitz   –   zeigen die vielen Soloabende, die sie in regelmäßigen Abständen gibt und bei denen sie auf ein festes Publikum rechnen kann. Rundfunkaufnahmen sind ein weiterer Bestandteil  ihrer vielseitigen künstlerischen Arbeit.

Helga Moira als Saffi/ Foto privat

Neben den bereits erwähnten Rollen liebt Helga Moira, wie   diese  Auswahl  aus ihrem Fach bereits zeigt, die dramatischen Partien des italienischen  Repertoires,  in dem sie eine   leidenschaftliche Verfechterin von Oper in der Originalsprache ist (1981 ein  weiterer  Grund für ihre  „Fremdheit“   im  Opernbetrieb  kleinerer deutschsprachiger Häuser!).Ihr langer und häufiger Aufenthalt in Italien sichert ihr die musikalische und  sprachliche Beherrschung dieses großen Repertoires. Ihre Wunschrollen sind die Gioconda, die Turandot (die  ihr vor  allem   auch  von  der psychologischen Anlage der Figur liegt), aber auch die Carmen  oder die  Ortrud stehen  ihre nahe.

Ein Anliegen ist ihr die Wiederbelebung der vergessenen Verismo-Opern (Catalani, Cilea, Mascagni), aber auch Salome oder die  Ariadne  liegen durchaus in ihrem  künstlerischen  und  gefühlsmäßigen Bereich und als Wozzeck-Marie kann man sie sich vorstellen. Unter den modernen Komponisten –  denn  sie scheut  sich nicht  vor  moderner und zeitgenössischer Musik – liebt sie vor allem Aribert Reimann, weil er „einer der  wenigen  Mo­dernen ist , die für die menschliche Stimme zu schreiben verstehen!“. Viel Glück  weiterhin, Helga Moira! Stefan Lauter

 

Opernfestival in Vigo, 23. – 28. März 1982  Spanien, nicht übermäßig reich an Opernspielstätten, hat ein neues Festival in Vigo, das auf die Initiative der Freunde der Oper und der kommunalen Verwaltung Vigo zustande gekommen ist und das seine wesentlichen  Anregungen dem Bariton  Sergio de Salas verdankt, der für einen anspruchsvollen Beginn des ersten Festivals sorgte, als er in zweien der drei ausgewählten Opern (Macbeth, Don Carlo und Il Barbiere di Siviglia) die Baritonpartien verkörperte (Macbeth und Rodrigo). Wenngleich es organisatorisch noch reichlich haperte, und vor allem in der Orchesterleitung sich unüberhörbare Mängel auftaten, muss doch der Wille zu einer geschlossenen Kulturleistung, zu einer anspruchsvollen Opernpräsentation  gelobt  werden, die im einzelnen Achtung – manchmal sogar Bewunderung  –  abnötigte und die, mit mehr Routine und   Organisationserfahrung, sicherlich sehr vielversprechend ist.

Helga Moira mit Sergio de Salas und Kollegen beim „Macbeth“ in Vigo 1982/ Foto OFV

Von drei Opern, die beim ersten Festival aufgeführt wurden, war Verdis Macbeth unzweifelhaft die erfolgreichste. Trotz des weitgehenden Ausfalls des Orchesters (für den der Dirigent Ivan Polidori  nicht unbedingt verantwortlich zu machen war) gelangen den drei Hauptdarstellern außerordentlich packende Leistungen. Helga Moira war eine Lady Macbeth von intensiver Gestaltung, musikalisch absolut sicher, ohne jede Höhenschwierigkeit  besonders  in den finali, sehr eindrucksvoll  in  ihrer  zunehmenden Verwirrung angesichts der Entfremdung von ihrem Gemahl, packend vor allem in der Nachtwandlerszene, in der sie ein faszinierendes Porträt dieser aus der Wirklichkeit verrückten Frau gestaltete. Optisch außerordentlich attraktiv, bot sie eine ausgefeilte und stimmlich wie  schauspielerisch erregende  Rollenstudie. Sergio de Salas als  Macbeth konnte seine markante, höhensichere und gut tragende Baritonstimme mit großem Gewinn einbringen, seine letzte Arie  fand ihn ohne ein Zeichen der Ermüdung, schauspielerisch wie stimmlich war auch er von großer Intensität. Nicola Ghiuselev als Banco nutzte seinen kurzen Auftritt  mit allen Mitteln, sein Solo sang  er mit  schönem schwarzem Bass. Unter den restlichen Mitwirkenden in dieser nicht uninteressanten Inszenierung imponierte zudem der heldische Malcolm von José Gabiel Vivas mit  schmetterndem Tenor. (…)  Stefan Lauter

 

Gewürdigt wurde Helga Moira auch 2016 von der italienischen Zeitung Trentino libero  in einem zusammenfassenden Artikel;  Dank an Wolfgang Denker für die Text- und Fotorecherche!

Zeugnisse grosser Kunst

 

Im Rahmen der Callas Live Remastered Edition der Warner Classics gibt es auch drei Blu-Ray-DVDs mit den Konzerten der Diva in Paris 1958, Hamburg 1959 und 1962 sowie London 1962 und 1964, darin enthaltend jeweils der 2. Akt der Tosca in der Pariser Opéra und in Covent Garden. Letzteres sollte eigentlich eine optische Gesamtaufnahme der Oper werden, aber sie kam nur zum zweiten Akt.

Natürlich sind alle diese Dokumente mehr als bekannt, Fans der Diva werden sich das in verschiedenen Ausgaben bei Arthaus oder EMI bereits gekauft haben. Aber die Blu-Ray-Edition macht schon Sinn, weil die Bilder wirklich gestochen plastisch und scharf sind. Vielleicht manchmal zu scharf, denn die Zeitlichkeit ist auch über die Selige dahin gegangen, und vieles wirkt antiquiert und altmodisch – vor allem die Haartrachten, die von Farah-Dibah-Hochfrisur bis zum kunstvollen Mob rangieren und oft humoristische Kommentare fordern. Auch die Damen des Pariser-Norma-Chores strahlen in ihren weißen Blusen den spießigen Charme von Floristinnen im 10. Arrondissement aus, und niemand kann den von mir so hochgeschätzten Albert Lance gegenüber dem eleganten Renato Cioni für einen strahlenden Herzensbrecher halten. Unglaublich, dass das 1958 als Gala galt . Dennoch – gegen die Pressebälle in Berlin zur selben Zeit ist dies hier la Grande Vie, was man an Funkeln und Glitzern im Publikum der Nerzstolen und Fracks sieht.

Über allem Lässlichen aber triumphiert die Diva. Was sie mit den sparsamen Gesten in den Hamburger Konzerten vor allem in ihrer Vorbereitung vor dem aktuellen Singen schafft, wie sie die Arien andenkt  und mental verinnerlicht  ist nach wie vor umwerfend. Vor ihrer Kunst im Konzert (mehr vielleicht als vor ihrer etwas zu melodramatisch-stereotypen Schauspielkunst in der Tosca gegenüber dem immer noch histrionisch eindrucksvollen Tito Gobbi) verstummt jede spöttische Bemerkung, selbst nach rund 60 Jahren. Auch wenn man manche ihrer Gesten und koketten Seitenblicke auf Maestro Rescigno outriert finden mag. Aber die Essenz, die ureigene Schöpfungskraft der Callas ist in diesen kostbaren Dokumenten bewahrt, den mehr oder weniger einzigen zudem in so hervorragender Bildqualität, sodass diese drei DVDs in jeden Haushalt gehören, der sich mit Oper beschäftigt. Noch immer ist sie die Große, Wunderbare und vor allem Singuläre (Maria Callas in Concert, in den genannten Locations Arien von Bellini, Rossini, Puccini, Verdi, Spontini sowie 2x 2. Akt ToscaWarner Classics  3 DVD Blu-Ray  0190295804206). G. H.

 

Maria Callas in Concert, Paris 1958/ youtube

Nachstehend noch ein paar Informationen zu den hier festgehaltenen Konzerten aus dem beiliegenden Booklet zur 3-DVD-Blu-Ray-Ausgabe bei Warner. Paris 1958: Maria Callas debütierte erst recht spät in ihrer Karriere in Paris. Sie sang ihre erste Oper im Jahr 1939, erlebte ihren ersten Erfolg auf der italienischen Bühne 1947 in Verona, gab 1949 ihr Debüt in Südamerika, schaffte es 1950 an die Scala und wurde 1952 in London, 1954 in Chicago, 1955 in Berlin und 1956 in Wien bejubelt. Auch ihr heiß ersehntes, lange überfälliges Debüt an der Metropolitan Opera in New York gab sie 1956, bevor sie im darauffolgenden Jahr in ihre Heimat Athen zurückkehrte. In Venedig, Rom, Palermo, Mexico City, Philadelphia, Dallas, Madrid, Lissabon und Edinburgh waren die Erfolge und Kontroversen dieses Ausnahme-Jahrzehnts ebenfalls zu erleben. Paris war Maria Callas‘ letzte Station: Hier ließ sie sich bis zu ihrem Tod nieder.

Wollten ergebene Pariser das späte Debüt in ihrer Stadt verteidigen, konnten sie argumentieren, dass der Zeitpunkt keine Rolle spielte. Ausschlaggebend war, dass Maria Callas‘ erster Auftritt an der Opéra den krönenden Abschluss ihrer Karriere, ihre letzte Eroberung darstellte, was die prachtvolle Aufführung im Palais Garnier an jenem Abend bezeugte. Hatte ihr je eine andere Stadt einen solch überragenden Empfang bereitet? Wo sonst hatte sich ein Staatsoberhaupt im strömenden Regen zu einem Opernhaus begeben, in dem sich alles drängte, was Rang und Namen hatte, um eine Aufführung mitzuerleben, die jenseits des Saals auf dem ganzen Kontinent übertragen wurde? Als ihr Auftritt kam, schritt diese schlanke, elegante Erscheinung in ihrem verschiedentlich als scharlachrot oder champagnerfarben beschriebenen Kleid, geschmückt mit geliehenen Juwelen im Wert von einer Million Dollar, die Stufen hinab und präsentierte sich diesem hochkarätigen Publikum — eine Szene wie im Märchen. Die Bühne, auf der sie im Rampenlicht stand, schien für diesen Moment das kulturelle Zentrum Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt zu sein.

Das Frühjahr 1958 brachte Erfolge in Amerika mit sich, wenngleich diese von einer vorherigen Gerichtsverhandlung wegen eines Vertragsbruchs in San Francisco und einem Verweis durch die American Guild of Musical Artists überschattet wurden. Später hatte Maria Callas Ärger mit ihrer Mutter und dem Operndirektor Rudolf Bing, erlebte sowohl Erfolge als auch Kränkungen in Mailand, ihren bittersüßen Abschied von der Scala und eine angespannte, gesanglich dürftige und doch unvergessliche Darbietung von La traviata in London. Nach einer Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten, die eine hervorragende, aber kräftezehrende Medea in Dallas und einen ebenso strapaziösen, von zahlreichen Schlagzeilen begleiteten Vorfall an der Met mit sich brachte, war sie bereit für Paris.

Maria Callas, Konzert in Hamburg 1962/ Still Warner

Ein weiterer Faktor bereitete ihr damals kontinuierlich größere Sorgen als jedes dieser vereinzelten Vorkommnisse. Schließlich hing alles von ihrer Stimme ab, die sie in der Vergangenheit arg strapaziert hatte: Die Isoldes, Brünnhildes und Turandots aus früheren Jahren hatten unweigerlich ihre Spuren hinterlassen, und auch die Verausgabung im höchsten Register während ihrer kurzen bravourösen Zeit als dramatischer Koloratursopran forderte ihren Tribut. Selbst in ihren besten Jahren, die wohl in den Erfolgen von 1955 gipfelten, hatte manch einer Bedenken an ihrer stimmlichen Darbietung geäußert, die sie nur durch die offensichtliche Genialität ihrer Interpretation ausräumen konnte. Doch Paris hatte sie in jenen Jahren verpasst, und die Stimme, die vor dem dortigen Publikum als Norma die kriegslüsternen Druiden zurechtwies, war bei Weitem nicht die lieblichste der Welt, und auch nicht so mächtig oder fest wie manch andere. Auch als sie die „Casta diva“ sang, kamen wohl einigen Zuhörern redliche Zweifel. Nach all der Publicity, der Keilerei um Karten, der aufwendigen Kostümgestaltung, den Fanfaren und dem Ehrengeleit war dies also nun die Stimme, um die solches Aufhebens gemacht wurde?

Die Kenner der Callas ließen sich von dieser Erfahrung allerdings nicht beirren: Das war nichts Neues, und sie wussten, dass der Glaube an die Sängerin sich am Ende auszahlen würde. Bald würde es wieder einen jener Momente geben, in denen sie ihr unvergleichliches Können mit einer Phrase, bei der Verkörperung einer Rolle oder mit einer besonderen klanglichen Interpretation bewies. Tatsächlich mussten die Pariser auf die Arie aus II trovatore und das „Miserere“ warten, um bestätigt zu sehen, dass sie wirklich die sagenhafte „Kaiserin des Belcanto“ in ihrer Mitte hatten. Es stimmt, dass sie dem Pariser Publikum (in dem sich unter anderem auch Charlie Chaplin, Aristoteles Onassis, Brigitte Bardot, Jean Cocteau und die Windsors befanden) viel Gesprächsstoff bot. 450 Gäste waren hinterher zu einem Galadinner eingeladen: Ich frage mich, wie viele Diskussionen um ihre Darbietung der Kantilene aus Normas Beschwörungsarie, der schelmischen Rosina, der gequälten Tosca oder der Melodiebögen in Leonoras bitteren Klagen vor dem Verlies ihres Geliebten zu den „Miserere“-Gesängen der Mönche kreisten …

 

Maria Callas in Hamburg/ Foto EMI

Hamburg 1959 & 1962: Maria Callas trat erstmals am 7. März 1949 im Auditorium des öffentlich-rechtlichen italienischen Radiosenders RAI in Turin zusammen mit einem Orchester auf. In den Folgejahren gab sie weitere Konzerte in Turin, Rom, San Remo und Mailand, die RAI übertrug. Später sang sie allmählich auch in anderen Ländern Konzerte mit Orchesterbegleitung, die gemeinhin große Ereignisse darstellten. So wurde beispielsweise das Konzert im Odeon des Herodes Atticus in Athen am 5. August 1957 als Heimkehr der Sopranistin gefeiert, die zwar in den USA geboren wurde, jedoch als Vollblutgriechin galt. Einige Monate später weihte sie die Dallas Civic Opera mit einem Konzert in der State Music Fair Hall ein, und trat ab diesem Zeitpunkt bis 1964 regelmäßig in Konzerten auf der ganzen Welt auf, selbst in der Phase, in der sie keine Opernrollen annahm.

Im Mai 1959 unternahm Maria Callas eine Konzerttournee durch Spanien und Deutschland, die in Madrid und Barcelona begann und sie später nach Hamburg, Stuttgart, München und Wiesbaden führte. Am Anfang dieser Tournee litt sie an einer Erkältung, deren Auswirkungen sich noch in Hamburg bemerkbar machten. Dennoch gelang ihr eine reife gesangliche Leistung: Sie meisterte höllisch schwierige Musik mit vollkommener Sicherheit, und ihre Besorgnis über die Konsequenzen der Erkältung auf ihr hohes Register schmälern kaum den beachtlichen Gesamteindruck, den die Sängerin hinterließ.

Anfang 1962 war Maria Callas‘ Bühnenkarriere praktisch zum Erliegen gekommen, und bis 1964, als sie die Tosca in Covent Garden sang, trat sie lediglich bei Konzerten öffentlich auf. Ihre größte Konzerttournee im Jahr 1962 begann am 27. Februar in der Londoner Royal Festival Hall und setzte sich bis März mit Auftritten in München, Hamburg, Essen und Bonn fort.

In den drei Jahren seit ihrem vorherigen Konzert in Hamburg hatte ihre Stimme zwar merklich an Volumen eingebüßt, doch die Sängerin beherrschte sie immer noch vollkommen und gab mit ihrer einzigartigen Mischung aus musikalischem Feingespür, interpretativem Können und schierer mitreißender Kraft, die nur die Callas in Höchstform bieten konnte, ein Konzert, das die Hamburger Fans nicht enttäuschte.

Maria Callas und Tito Gobbi in „Tosca“, London 1964/ Still Warner

London 1962 & 1964: Maria Callas gab ihr internationales Operndebüt 1947 als La Gioconda in Verona und sang während der 1950er Jahre mit wachsendem Erfolg an allen großen Opernhäusern der Welt. Ihre künstlerische Heimat war jedoch die Mailänder Scala, wo ihr Repertoire eine wirklich bemerkenswerte Bandbreite aufwies: von den Klassikern Gluck, Cherubini, Spontini und Mozart über die Belcanto-Opern von Rossini, Bellini und Donizetti bis zu den dramatischen Meisterwerken Verdis und Ponchiellis sowie den Verismo-Werken von Giordano. Zum letzten Mal stand sie in der Saison 1961/62 in Cherubinis Medea auf der Bühne der Scala. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Opernkarriere schon beinahe zugunsten der Verlockungen eines glamouröseren Lebens im internationalen Jetset unter der Führung der amerikanischen Gesellschaftsgastgeberin Elsa Maxwell aufgegeben. Die Hauptattraktion für die Callas war jedoch der griechische Schiffsmagnat Aristoteles Onassis, mit dem sie mittlerweile eine enge Beziehung verband.

Bevor sie 1957 Onassis traf, hatte sich die Callas ausschließlich ihrem Gesang gewidmet. Doch auf der Kreuzfahrt, zu der Onassis sie und ihren Ehemann 1959 auf seine Yacht einlud, verliebte sie sich plötzlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Ehemann, der italienische Industrielle Giovanni Battista Meneghini, den sie 1949 geheiratet hatte, war 28 Jahre älter als sie und eher eine Vaterfigur als ein Objekt romantischer Liebe für die junge Maria, deren gerade beginnende Karriere Meneghini so sehr fördern sollte. Doch jetzt, nachdem sie die Opernwelt erobert hatte, war sie geblendet von der Welt der High Society, zu der sie nun gehörte, und vom charismatischen Onassis, von dem sie fest annahm und erwartete, er werde sie nach ihrer Scheidung von Meneghini heiraten. Da sie immer mehr Zeit mit Onassis verbrachte, nahmen ihre Bühnenauftritte rapide ab, bis sie sie 1962 schließlich ganz und gar einstellte und das Publikum sie nur noch gelegentlich bei Konzerten erleben konnte. Am 27. Februar 1962 gab sie in der Royal Festival Hall in London ein Konzert mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Georges Pretre. Das Konzert war ein Erfolg, obwohl die Kritiker sich teilweise negativ äußerten, und manche Leute begannen zu vermuten, die Callas bleibe der Opernbühne fern, weil ihre Stimme allmählich nachlasse. Dieser Eindruck wurde durch eine missglückte Aufführung von Medea an der Mailänder Scala am 29. Mai bestätigt, als ihre Stimme wirklich in schlechter Verfassung war; der Grund hierfür war jedoch eine schwere Sinusitis, an der sie schon seit mehr als einem Jahr litt. Es sorgte daher für einige Aufregung, als sie neben anderen Kollegen am 4. November 1962 überraschend an der TV-Liveübertragung eines Galakonzerts aus dem Royal Opera House, Covent Garden, teilnahm.

Maria Callas in Hamburg 1962/ Still Warner

Während des Jahres 1963 gab die Callas noch mehrere Konzerte und nahm bei ein paar Studioaufnahmen für EMI in Paris auch weiterhin sporadisch auf, aber ihre Beziehung zu Onassis wurde allmählich gespannt, und sie begrüßte die Chance, Anfang 1964 in einer neuen Inszenierung von Puccinis Tosca nach Covent Garden zurückzukehren. Diese sollte sich als ihr letzter Triumph erweisen.

Nach den sechs Aufführungen von Tosca wurde für Sonntagabend, den 9. Februar 1964, eine „Golden Hour“-TV-Gala in Covent Garden arrangiert, die den gesamten zweiten Akt der Tosca enthalten sollte. Nachdem dies eine Liveübertragung war, gab es keine Gelegenheit zum Schneiden, und in jenen Tagen war die Kameraführung bei so einem Ereignis noch recht primitiv, und die Kamera war meist auf das Gesicht der jeweils singenden Person gerichtet, selbst wenn dies bedeutete, dass man die Reaktion der Callas in gewissen dramatischen Augenblicken nicht sehen konnte. Aber trotz dieser Unzulänglichkeiten ist dieser Mitschnitt der Callas im zweiten Akt von Tosca ein unbezahlbares Dokument, das zumindest einen Teil jenes letzten Bühnentriumphs der großen Diva in einem ihrer Kunst würdigen Rahmen bewahrt.

Aus Texten von J.B. Steane (Paris) und Tony Locantro (Hamburg, London) Übersetzungen: Stefanie Schlatt (Paris, Hamburg), Johanna Mayr (London)/ Quelle Warner Classics)

Great Australian Voices

 

So aufwändig wie sichtbar mit großer Liebe gemacht sind die CD-Bücher oder wie man sie sonst nennen mag bei Desirée Records, die dem Andenken großer australischer Sänger gewidmet sind. In dem den CDs angemessenen quadratischen Format, durch die braun-gelbe Farbgebung vergilbt erscheinend, verbergen sich ein umfangreicher Text des Produzenten Brian Castles-Onion über den Werdegang des jeweiligen Künstlers, oft viele, manchmal weniger Fotos, das letzte eines aus der Zeit nach der Karriere, und Anmerkungen zu den einzelnen Tracks, darüber, wo, wann und mit welchen Partnern eine Partie gesungen wurde. Manchmal taucht ein Stück auch mehrmals auf, um die Entwicklung der Stimme zu dokumentieren, oder es gibt eine originale und eine englische Version. Jedem Sänger sind drei CDs gewidmet, deren technische Qualität recht unterschiedlich ist, die am wenigsten vollkommenen wurden wohl heimlich und damit nicht unter den besten Bedingungen aufgenommen (zu beziehen über: https://fishfinemusic.com.au/).

Nance Grant GAV 001

Die erste Dreifach-CD ist der Sopranistin Nance Grant zugedacht, die zunächst Klavier studierte, ehe sie sich dem Gesang zuwandte, und die an der Australian Opera Karriere machte, nachdem Edward Downes dort Direktor geworden war. Von Händel bis Britten sang sie alles, was die Musikliteratur für einen recht dramatischen Sopran bereit hält, ihre Karriere beendete sie im Jahr 1991.  Gluck, viel Mozart, Verdi und Wagner, aber auch Richard Strauss gehörten zu ihrem Repertoire, und als Orfeo offenbart die erste CD eine sehr reiche Stimme mit dunklem Grund und melancholischem Touch. Eine ausgesprochene Mozartsängerin dürfte sie nie gewesen sein, besonders als Donna Anna sprengt sie das stilistische Mozart-Korsett mit leidenschaftlicher Klage, erkämpft sich die Höhen und klingt auch manchmal scharf, während die Contessa auf die Wehmut in der farbenreichen Stimme bauen kann. Vorzüglich geeignet erscheint sie für die Senta mit der notwendigen Hysterie in der Stimme, und als Sieglinde, leider nur konzertant, thront der Sopran siegreich über dem Orchester. Ortrud war die letzte Partie der Grant, die Elsa auf der CD süß-malizös betört, für Elisabeth klingt der Sopran nicht keusch genug, leider ganz schlecht ist die Aufnahme als Marschallin, und auch als Fidelio hätte man gern eine jünger klingende Stimme. Auf der dritten der drei CDs überrascht die Sängerin mit einer schlanken Lucia, interessanten Verzierungen, wenn auch nicht so weich klingend wie ein italienischer Sopran, und als Violetta des 1. Akts prunkt sie mit zusätzlichen hohen Tönen und einer Cabaletta wie aus einem Maschinengewehr. Ihre Blonde ist ganz Kratzbürste und kein bisschen zu soubrettig (GAV 001).

Robert Allman GAV 004

Nur eine der vier (bisher?) erschienenen Aufnahmen ist einem Sänger, dem Bariton Robert Allman (Desirée Records GAV 004), gewidmet, der von 1927 bis 2013 lebte, u.a. in Paris studierte und ab 1955 an Covent Garden sang, aber auch in Deutschland oder in Zürich. Eine Tournee mit Joan Sutherland und Luciano Pavarotti dürfte auf dem Höhepunkt seiner Karriere stattgefunden haben. Die Fotos zeigen einen äußerst attraktiven Sänger mit markanten Zügen, sein Repertoire war umfangreich, reichte von Mozart über Verdi bis hin zu Wagner. Er wird oft als Bassbariton bezeichnet, hört sich aber eher wie ein Heldenbariton an, und eines der Glanzstücke ist die Auftrittsarie des Holländers, die er mit viel Dämonie in der Stimme und in perfektem Deutsch gestaltet. Für den Gunther klingt die Stimme fast zu markant, dem Wolfram, von dem er „Blick‘ ich umher in diesem edlen Kreise“ singt, traut man ein lyrisches Lied an den Abendstern nicht so recht zu. Für den Amfortas hat die Stimme schöne Schmerzenslaute, für den Jochanaan überzeugend Prophetisches und im Deutschen generell eine gute Diktion. Ganz in seinem Element ist der Sänger in „Nemico della Patria“ mit viel Metall, imponierendem Material und nur eine Spur zu sehr in der Kehle gesungen. Große Bögen und eine sichere Höhe zeichnen die „Cortigiani“ aus, recht veristisch beklagt Macbeth „Pietà, rispetto, amore“ oder vielmehr deren Fehlen, generell, so auch beim Simone, wird dem „Ausdruck“ die eine oder andere Gesangslinie geopfert, während Scarpia und Telramund auch stilistisch ganz auf der Höhe sind. Berlioz (Trojans) auf Englisch klingt doch sehr fremd (und ein wenig proivinziell), Orest auf Deutsch vorzüglich, weil dunkel umnachtet und eindringlich. Für Leporello war die Stimme, wenigstens zum Zeitpunkt der Aufnahme, nicht mehr besonders geeignet. Die Bekanntschaft mit diesem Sänger lohnt sich auf jeden Fall.

June Bronhill GAV 003

June Bronhill, eigentlich mit Nachnamen Gough, den sie zugunsten des Namens ihres Geburtsortes ablegte, war ein Koloratursopran mit häufigen Ausflügen in Operette und Musical namentlich in England mit Star-Status im leichten Fach, was sich anhand ihrer drei CDs überprüfen lässt. Sie führt sich beim Zuhörer mit einer reichlich neckischen Martha ein, mit höhensicherer und klarer Stimme, die besser noch zur Norina, die folgt, passt. Diese hat wie die Blonde die akustischen Krallen für die Rolle, während Maria Stuarda einfach zu soubrettenhaft klingt, auch wenn die Partie technisch bewältigt wird. Mehr als bei dem Bariton wird hörbar, dass auch Singen modisch vom jeweiligen Zeitgeschmack abhängig sein kann. Das macht sich auch bei den beiden Arien Gildas bemerkbar, wo auch in der zweiten die stupenden Höhen wichtiger zu sein scheinen, als die Situation, in der gesungen wird, die Tiefen bei den Intervallsprüngen nach unten matt klingen. Heute  würde man eine Stimme mit mehr corpo bevorzugen. In La Rondine verfügt der Sopran über eine tolle Höhe, ist aber eher Kammerkätzchen als Herrin und ohne das Geheimnis, das die Figur umgeben sollte. Die Erfahrung mit der Operette wird unter anderem mit der Lustigen Witwe dokumentiert, es schadet nichts, wenn der Vortrag leicht manieriert klingt, Una voce poco fa stammt wohl von einer Platte mit einem Knacks, Lucia und Mimi stellen sich mit Klavierbegleitung vor und beweisen, dass sie, mehr noch die Erstere, ins Repertoire von June Bronhill gehören (GAV003).

Jenifer Eddy GAV 006

Bereits mit 36 Jahren musste Jenifer Eddy 1974 wegen einer Krankheit von der Opernbühne in das Büro einer Künstlervermittlung wechseln, wo sie allerdings auch eine beachtliche Karriere machte. In ihrem Booklet taucht auch ein Foto mit Widmung von Dietrich Fischer-Dieskau auf, mit dem sie nicht nur die Begegnung zwischen  Zerlina und Don Giovanni vereinte, sondern auch die Liebe zum deutschen Lied, wovon der größte Teil der letzten CD Kunde gibt. Schumann, Wolf und Schönberg sind hier vertreten und werden sehr einfühlsam und in perfektem Deutsch gesungen. Besonders die berückenden Pianissimi lassen den Hörer staunen. Hier hört man auch nicht, dass sie nach Harald Rosenthal „die beste englische Soubrette“ ihrer Zeit war, sondern freut sich wie auch bei ihrer doppelt vertretenen Adele über eine reine, klare, süße Mädchenstimme von schöner Zartheit. Von Zerbinetta gibt es leider nicht die „Großmächtige Prinzessin“, aber auch in den „Huguenots“ kann sie diese Qualitäten und dazu eine stupende Technik unter Beweis stellen (GAV006)

Man hört also alle zwölf CDs mit großem Gewinn, bewundert die Qualitäten der vier Stimmen und konstatiert, inwieweit die Hörgewohnheiten seit der gar nicht so weit zurückliegenden Zeit, in der sie wirkten,  sich geändert haben. Weitere Veröffentlichungen wären zu begrüßen.  Ingrid Wanja

 

Und als nachgereichten Bonus gibt es im selben Format noch eine Joan-Sutherland-Veröffentlichung bei Désirée Records GAV (004)/ Cover oben: Live-Mitschnitte in zum Teil wirklich schwierigem Sound, was rabiate Fans der Diva vom Kauf nicht abhalten wird. Wegen der akuten Seltenheit nehmen diese Ausschnitte aus Lucia, Sonnambula, Faust, Semiramide, Elisir und – ungemein selten – Eugen Onegin anlässlich ihrer großen Australien-Tournee 1965 besonderen Platz in der Diskographie für Freunde ein, namentlich für die „Aussies“, die an berühmten Sängern nicht sonderlich gesegnet sind und die Joan Sutherland zu recht für die legitime Nachfolgerin der anderen großen australischen Sängerin halten, Nellie Melba. 1965 feierte die Sutherland-Williamson-Grand-Opera-Season rauschende Erfolge in den Hauptstädten des Kontinents, und viele der Besucher werden sich diese Live-Mitschnitte als Memoramibilien hinlegen. Ausgestattet ist das 3-CD-Album luxuriös mit schönen Fotos,  Bekenntnissen der Diva sowie ein detallierter Bericht über den Ablauf und die Aufnahme der Tour. Umgeben ist La Stupenda in diesen reifen Tagen ihrer Karriere von illustren wie kompetenten Kollegen: Luciano Pavarotti strahlt routiniert neben ihr in der Traviata, John Alexander gibt die Tenorfolie in weiteren Auftritten, dazu kommen Cornelius Opthof,  Richard Cross, die wunderbare Lauris Elms und die unerschütterliche Monica Sinclair, Elizabeth Harwood, Spiro Malas, Alberto Remddios, der Kanadier Joseph Rouleau, John Ward neben Ortsansässigen wie der bezauberndernden Margreta Elkins, Australierin wie Sutherland, mit der sie ja oft gesungen hat. Unter den Dirigenten finden sich neben Ehemann Bonynge vor allem auch der von mir sehr geschätzte John Matheson (der die hinreißenden Verdi-Original-Fassungen bei der BBC leitete) und andere mehr. Was für eine großartige Sache war doch die Grand-Season-Tour 1965. Und Dank an Brian Castle Onions, dem spiritus rector dieser Zusammenstellungen, der ja bereits manche Alben der Stupenda herausgebracht hat.  G. H.

Interessante Parallelen

 

Igor Strawinsky gilt als Revolutionär des Balletts, Werke wie der „Feuervogel“ sind bis heute auf der Bühne und im Konzertsaal sehr populär. Jetzt ist ein anderer Vogel von ihm auf CD wiederauferstanden, Le Rossignol (Die Nachtigall), eine frühe Kurzoper. Es ist sich kein Zufall, dass Strawinsky eine Schwäche für magische Vögel hatte. Das hängt vermutlich mit seinem Lehrer Nikolai Rimski-Korsakow, dessen späte Oper Der goldene Hahn tiefen Eindruck auf Strawinsky gemacht hat.

Die Nachtigall ist eine kleine Märchenoper nach Hans-Christian Andersen, in der Strawinsky den Vogel als Symbol der Schönheit und Reinheit von einem Koloratursopran singen lässt, in diesem Fall ist das Mojca Erdmann. Der erste Akt, der in einem Wald spielt, ist noch ganz im Geist der russischen Moderne komponiert. dann hat Strawinsky das Werk lange liegengelassen, um es  später in Paris weiterzuschreiben. Das Werk wurde dann als eine Art Konglomerat russischer und französischer Avantgarde 1914 in Paris uraufgeführt. Diese Spuren beider Kulturen trägt es auch heute noch in sich, was sich zum Beispiel darin niederschlägt, dass der Titel französisch geblieben ist, während in der Regel auf russisch gesungen wird, weil das von Strawinsky vertonte Originallibretto russisch ist.

Interessanter Stilbruch: Der Stilbruch zwischen erster und zweiter Hälfte der Oper (Vier Jahre Erfahrungen, zumal in Paris, machen bei einem jungen Komponisten hörbar viel aus),  ist ähnlich frappant wie der in Wagners Siegfried. Der frühe Strawinsky des ersten Aktes hat einfacher, geradliniger geschrieben, mehr an Rimsky orientiert, der Pariser Strawinsky ist viel frecher, urbaner, expressiver – aber grade dieser Sprung von der Naturschönheit des Waldes zur künstlichen Welt des chinesischen Hofes ist so herrlich brutal, dass man schon von einem Glücksfall der Moderne sprechen muss. Ein reifer Komponist mit all seinem Kalkül hätte diesen Effekt vermutlich nicht erreicht. Die beeindruckende Szene im 2. Akt, in der eine künstliche Nachtigall die echte am Hof verdrängt, schildert Strawinsky mit ostinater Oboe, eingerahmt von einer steifen Pentatonik, die schon die Turandot-Stimmung Puccinis um zehn Jahre vorwegnimmt.

Bemerkenswert ist auch die seltsame Parallele ausgerechnet zu einer italienischen Buffa – Strawinsky und die Gebrüder Ricci dürften die einzigen Opernkomponisten gewesen sein, die den Tod durch eine Frau verkörperten (hier düster-herb gesungen von Mayram Sokolova). Ich bezweifle, dass Stravinsky Crispino e la Comare gekannt hat, aber es ist faszinierend zu hören, dass Komponisten zu unterschiedlicher Epochen und Schulen sich auf ähnliche Effekte besinnen, um die Zeitgenossen zu frappieren.

Scharfe Töne: Es gibt durchaus schon frühere Versionen auf Tonträgern von Le Rossignol, allerdings nicht so viele, dass eine Neueinspielung überflüssig wäre. Der komplizierte Part der Nachtigall für Koloratursopran ist nicht einfach zu besetzen, weil er eben nicht klingen darf wie die Puppe Olympia in Hoffmanns Erzählungen,  man braucht eine seelenvolle und dennoch agile hohe Stimme, im Grunde Königin der Nacht und Pamina in einer Person. Da auf den schlanken Sopran  Mojca Erdmanns zurückzugreifen, die in den letzten Jahren eine hervorragende Zerlina und Sophie war, liegt erst einmal nahe. Und doch enttäuscht sie hier; selbst diese kluge Sängerin kann den von Strawinsky erträumten Charme nicht einlösen, die Vision des Komponisten von der Inkarnation der Naturkräfte in glasklaren Vokalisen wird hier nicht ganz befriedigend umgesetzt,  Mojca Erdmann klingt zuweilen etwas kantig in der Rolle. Doch kann diese Vision überhaupt jemand perfekt Realität werden lassen? Vielleicht wird die Sängerin hier das Opfer einer noch zu weltfernen Musiksprache Strawinskys, der sich wenig um Machbarkeit und Theaterpraktiken schert.

Wesentlich unglücklicher besetzt ist der Fischer mit Evgeny Akimov. Diese Figur ist ein lyrischer Tenor, eine Art Erzähler, und da die Orchesterpartitur oft sehr harsch ist, muss der Tenor möglichst weich und sinnlich dagegenhalten – dieser hier ist so schroff, dass ein Teil der Wirkung des Werks dabei leider verlorengeht. Das WDR-Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste muss sich nichts vorwerfen lassen – ein  jugendstiliger, voluminöser Sound, plus Mut zur Brutalität, wo sie angebracht ist. Ergänzt wird die kurze Oper sehr stimmig durch Orchester-Lieder aus der Zeit der Komposition der Nachtigall, gesungen von Katrin Wundsam und Hans Christoph Begemann.

Booklet nur für Experten?: Bedauerlich, dass auch die Verantwortlichen von Orfeo nun auch am Elite-Koller leiden  und anscheinend der Meinung sind, jeder potenzieller Käufer sei ein geprüfter Opernexperte. Anders ist es nicht zu erklären, dass den Sängern/Rollen im Booklet kein Fach mehr zugeordnet wird. Sopran, Baß oder Tenor? Wir müssen raten. Irgendwas wird’s schon sein. Schade, diese Firma produzierte einst exzellente Booklets, die auch für Nicht-Akademiker gut lesbar waren. Matthias Käther

Staubiges aus Glyndebournes Archiven

 

Naja, ich hatte mehr erwartet. Klanglich vor allem. Nimbus ist ja berühmt für seine (nicht immer unangezweifelte) Technik der Hörbarmachung antiker Schellacks, und viele vergrabene Schätze kamen durch ihre Groß-Trichter-Behandlung ohrenschmeichelnd  wieder zu Tage. Aber vielleicht war mit dem BBC-Band von 1954 des Don Giovanni unter Georg Solti aus Glyndebourne nicht mehr herauszuholen. Die Stimmen sitzen sehr dicht am Lautsprecher in den Rezitativen (die vielleicht für die Radioübertragung nachaufgenommen wurden?). Und die Tutti und mächtigeren Dynamiken wirken auf mich kratzig-übersteuert.

Wir hören eine muntere Aufnahme vom 17. Juli 1954, sehr lebendig im Rezitativ, was auf die Regie (Ebert) schließen lässt, aber auch eine sehr robuste. Meine Vorurteile gegen Georg Soltis uncharmante, ruppige  Art der Musikführung namentlich bei  Mozart werden hier nicht widerlegt. 1954 war Fritz Busch bereits zwei Jahre tot, und John Pritchard übernahm einige Mozart-Produktionen (so Idomeneo/EMI), andere fielen an Vittorio Gui (so der wunderbar poetische und herrlich besetzte Figaro, der ein Jahr später bei EMI herauskam und der für mich immer noch in seiner Gesamtsumme zu meinen Favoriten unter den Figaro-Aufnahmen zählt). Georg Solti hat nun 1954 den Don Giovanni unter sich und rumst sich viril hindurch. Sicher ist alles sehr spannungsvoll, aber eben: Mit Fritz Busch oder Vittorio Gui im Ohr ist man „not amused“.

Soltis „Don Giovanni“ aus Glyndebourne 1954: James Pease singt die Titelpartie/ DK Musicas

Die Besetzung birgt Überraschungen und Schwächen. Da ist zum einen die Amerikanerin Margaret Harshaw als Donna Anna, und die ist kein Gewinn mit ihrem säuerlichen, unruhigen Ton – ein Misserfolg wie ihre Kollegin Rise Stevens als Cherubino bei Gui. Da ist ein ältlich-bröckeliger Hervey Allen als Commendatore (alles in Italienisch natürlich). Thomas Hemsley (gerne Purcells Aeneas auf manchen Aufnahmen) macht einen spielfreudigen, aber stimmlich uninteressanten  Masetto. Glanz kommt mit Léopold Simoneau als etwas schwachbrüstigem Don Ottavio auf – sehr stilsicher, etwas larmoyant, stimmschön wie bekannt. Die Überraschung bietet der Amerikaner James Pease als erotischer, wendiger und eleganter Don Giovanni mit sehr gut produzierter, typisch amerikanisch-geschulter Baritonstimme, sehr überzeugend (wie in manchen Auftritten in Hamburg). Meine stets geliebte Sena Jurinac  gibt eine entschlossene Donna Elvira mit schon recht abgedunkeltem Ton – vielleicht liegt es am Duck der Rolle oder der Regie, dass sie weniger charmant als ihre Ilia klingt, die sie noch zur selben Zeit singt. Vielleicht sang sie einfach (zu) viel in diesen Jahren.  Aber sie ist eine stimmlich makellose, sehr präsente Elvira, wenngleich ich ihre Figaro-Contessa jener Jahre oder auch die dunkle, poetische Ilia vorziehe.

Für die deutschen Hörer kommen zwei  Importe ebenfalls als Überraschung. Da ist zum einen der polternde Benno Kusche, mehr Baculus denn  Leporello, ein wenig teutonisch-kraftvoll und eine ganz andere Farbe als der Rest – interessant. Und natürlich Anny Schlemm. Ich kann sie nicht hören, ohne an ihre schenkelschlagende Boulotte an der Komischen Oper Berlin zu denken, und bei dieser Zerlina hat Masetto später nichts zu lachen. Aber sie klingt mehr als präsent, vielleicht die Lebendigste von allen Beteiligten, mit tollem Italienisch und Mutterwitz. Eine wirklich gute Leistung.

Die Aufnahme hat eine merkwürdige Genesis – von der BBC laut Kommentar im dürftigen Booklet als 90-Minuten-TV(1954 ???)-Feature zusammengekürzt, wurde sie als Audio von der BBC noch einmal gesendet und ist die Quelle für diese Nimbus-Ausgabe. Aber man kennt ja andere BBC-Mitschnitte aus der Zeit, und die klingen einfach besser. So also freut man sich über die Schlemm, ich immer über die Jurinac, auch über Pease. Dass Georg Solti nur diese Don Giovanni-Serie in Glyndebourne 1954 dirigierte war vielleicht für Glyndebourne nicht der große Verlust. Auch seine späteren Mozart-Aufnahmen lassen mich nicht in Entzücken ausbrechen. Aber Nimbus ist eine britische Firma, und die Veröffentlichung mit dem Produktionsdatum von bereits 1999 ist wohl in erster Linie für den britischen Markt gedacht (3 CD Nimbus NI7964).

Angehängt sind Mozart-Konzert-Arien mit Italo Tajo von 1947 von der alten Cetra-LP unter Mario Rossi bei der RAI. Die werden sicher ihre Liebhaber finden, aber da Tajo hier nicht mitmacht (allerdings bei anderen Glyndebourne-Produktionen der Zeit durchaus), wären vielleicht frühe Zeugnisse der wirklich Beteiligten sinnvoll gewesen (Jurinac, Simoneau, Pease oder Schlemm?). G. H.

Russell Thomas

 

In der Titelpartie einer Mozart-Oper in Salzburg zu debütieren – noch dazu in der Eröffnungsproduktion der Festspiele – ist für jeden Sänger eine enorme Herausforderung. Auch für Russell Thomas bedeutete das Engagement für die Hauptrolle in La clemenza di Tito einen Meilenstein in seiner Karriere. Zudem trug diese Inszenierung den Stempel des Besonderen durch die Zusammenarbeit des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars. Beide hatten bei ihrer Deutung in der Felsenreitschule dem Stück jeden feierlichen Krönungspomp ausgetrieben, die Handlung in einem Flüchtlingslager unserer Tage angesiedelt und mit schockierenden Bildern von Terror, Tod und Trauer für divergierende Publikumsreaktionen gesorgt. Thomas sollte in seiner Interpretation weniger den heroischen als den verwundbaren Herrscher betonen, der am Ende den Folgen des auf ihn verübten Attentats erliegt. Der Sänger musste den gesamten 2. Akt im Krankenbett liegend absolvieren, seine körperlichen Leiden äußerten sich in existentiellem Gesang mit gebrochenen, gequälten, ersterbenden Tönen und Koloraturen wie schmerzvolle Zuckungen.

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“, Salzburg 2017/ Foto Walz/ Salzburger Festspiele 2017

Thomas ist ein Verfechter des zeitgenössischen Regie-Theaters und hat daher auch Sellars Konzept verstanden und akzeptiert. „Ich liebe diese Art von Theater, und ich brauche sie für meine eigene künstlerische Arbeit. Ich will solche eigenwilligen, auch seltsamen Ideen und Komponenten. Das fordert mich heraus, mein Bestes zu geben. Und es hilft mir vor allem in meiner szenischen Darstellung, denn ich bin kein besonders guter Schauspieler. Auch für die Zuschauer bedeutet es eine Herausforderung. Man kann doch ein Werk nicht immer nur in derselben Manier zeigen und sehen. Im Zeitalter des Fernsehens muss man ein Stück relevant machen für das heutige Publikum. Tito mit seiner Großmut, seiner Milde und der Gabe zu verzeihen entspricht dem Ideal eines Herrschers. Aber solche Charaktereigenschaften gibt es heute nicht mehr, die Realität in unseren Zeiten sieht ganz anders aus. Historisch gesehen, war Tito kein freundlicher, gütiger Mensch. Bei der Figur in Mozarts Oper fehlt der teuflische Aspekt. Currentzis hat bei den Proben immer wieder gesagt: ‚Aggressiv singen! Sei kein schöner Mozart-Sänger!’ Das war ein enormer Anspruch, den ich zu erfüllen hatte. Wie zeige ich, dass in diesem idealisierten Herrscher auch ein Teufel steckt? Schaut man sich die Partie an, findet man in der ersten Arie eine schöne Linie, aber bald einen zornigen, sogar aggressiven  Ausdruck in seinen Soli. Mit Sellars und Currentzis habe ich über sechs Wochen intensiv geprobt, obwohl ich die Partie bei meinem Debüt an der New Yorker Met schon gesungen hatte. In Salzburg zu sein und die Stadt Mozarts zu erleben war ein großes Glück. Dieser Ort mit seiner reichen Geschichte, den vielen Kirchen, der reichen Tradition an Dirigenten und Solisten, die hier wirkten, ist einfach phänomenal und einzigartig. Und ein Auftritt in Salzburg ist für die Karriere eines Künstlers eben enorm wichtig.

Mozart spielte in meiner Laufbahn von Beginn an eine wichtige Rolle. Den Tamino habe ich über hundert Mal gesungen, wobei mir meine Deutsch-Kenntnisse, die ich beim Studium der Sprache am Goethe-Institut in Rothenburg ob der Tauber erworben hatte, zugute kamen. Probleme mit der Technik sollte man bei Mozart nicht haben, seine Musik auch nicht in schwacher stimmlicher Verfassung singen. Mozart macht einen Interpreten zum ehrlichen Sänger.“ Auch den Idomeneo hat Thomas bereits gesungen, darüber hinaus die Tenorsoli in der c-Moll-Messe und im Requiem sowie mehrere Konzertarien des Komponisten.

Betrachtet man das Repertoire von Russell Thomas, erstaunt dessen enorme Vielfalt. Man findet italienische, französische und deutsche Partien, einige von lyrischem, andere von heldischem Charakter, einige mit virtuosem Anspruch an die Koloraturfähigkeit, andere, die eher dem Charakterfach zugeordnet werden. Für den Sänger ist solche Mannigfaltigkeit ganz normal. Er braucht die Abwechslung. Gleich nach der letzten Salzburger Aufführung reiste er zum Tanglewood Festival für ein Gala-Programm mit dem 2. Akt der Tosca als Partner von Kristine Opolais und Bryn Terfel sowie der 9. Sinfonie von Beethoven. Nur einen Monat später gibt er sein Rollendebüt als Verdis Otello in Atlanta, kehrt danach zurück an die Met für den Rodolfo in La bohème und beendet das Jahr an der Oper Frankfurt mit dem Henri in Verdis Les Vepres Siciliennes.

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“/ Szene mit Golda Schultz/, Salzburg 2017/ Foto Arte

„Jeder möchte heute Spezialist sein – im Rossini- oder Mozart-Fach, als Verdi- oder Wagner-Sänger. Für mich wäre es langweilig, immer nur dasselbe Repertoire zu singen oder mich auf drei, vier Partien zu konzentrieren. Ich will mein Leben interessant machen. Ich bin kein Heldentenor, aber ich liebe den Otello und finde diese Herausforderung reizvoll und spannend. Dabei sehe ich mich nicht in der Tradition von Del Monaco oder Vickers, eher in der Nachfolge von Bergonzi als lirico-spinto-Tenor. Das Rollendebüt in Atlanta wird in einer konzertanten Aufführung stattfinden. Danach entscheide ich, wie es mit der Partie weiter geht. An der Met würde ich sie erst nach mehreren Versuchen vorstellen wollen. Natürlich habe ich Erfahrungen im Verdi-Fach (Ismaele an der Met, Manrico an der Cincinnati Opera, Gabriele Adorno in Covent Garden, Carlo in den Masnadieri an der Washington Concert Opera), aber der Otello ist durch die Länge der Partie etwas Besonderes. Die Herausforderung liegt weniger in der Höhe oder Tiefe, sondern vor allem in der emotionalen Beanspruchung, der man als Interpret ausgesetzt ist. Fast die ganze Zeit muss man mit stentoraler Stimme singen, und es ist wichtig zu entscheiden, wo man alles geben muss und wo man sparen kann. Im gesamten 2. Akt gibt es keine Pause für den Sänger, da wird totaler Einsatz verlangt. Dagegen kann man sich im 3. Akt erholen. Ich trage mir in die Partitur private Zeichen ein, wo ich flüstern oder in der mezza voce singen kann. Noch einmal: Ich weiß, dass ich kein großer Schauspieler bin, bei mir geschieht die Darstellung durch den Einsatz der Farben und die Phrasierung.“

Auch im deutschen Repertoire sucht Thomas Wagnisse. In einer konzertanten Aufführung des Rheingold bei der New York Philharmonic rühmte die Presse seinen ‚terrific Loge with personality and energy’. „Nachdem ich schon einige  Male den Florestan gesungen habe, möchte ich in einigen Jahren den Tannhäuser probieren. Erik und Siegmund interessieren mich weniger, aber ich liebe den Steuermann! Nichts soll und darf nach eingefahrenen Regeln gehen.“

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“/ Szene mit Marianne Crebassa, Salzburg 2017/ Foto Arte

So interessiert Thomas auch das slawische Repertoire, obwohl er bisher nur eine Erfahrung damit gemacht hat – mit dem Prinzen aus Dvoráks Rusalka an der North Carolina Opera, was die Presse mit ‚commanding voice and physical presence’ kommentierte. „Ich würde gern Janácek-Rollen erarbeiten und damit vielleicht zu einem besseren Darsteller werden. Janáceks Opern, Jenufa oder Katja,  sind menschliche Geschichten mit Figuren, die einen dazu bringen, besser zu agieren.“

Es gibt dennoch Rollen, von denen Thomas träumt, sie aber als unrealistisch für seine Karriere einschätzt. „Schon viele Angebote hatte ich für Rossinis Otello, aber die Partie liegt für mich zu tief. In dieser Lage singe ich nicht gut. Jahrelang war meine Traumrolle der Don José, denn die erste Oper, die ich live sah, mit 12 Jahren, war Carmen. In Toronto konnte ich meinen Wunsch realisieren. Ähnlich begeistert hat mich der Hoffmann, den ich bisher bereits in drei Produktionen gesungen habe. Trotz der Länge und exponierten Tessitura der Partie war ich nie müde, hatte auch keine Probleme mit der Höhe, eher mit der Stamina für die langen Solonummern, aber ich bekam das Gefühl, dass mich danach nichts mehr erschüttern kann. So denke ich an so unterschiedliche Rollen wie Edgardo in der Lucia, Enzo in La Gioconda, Radames, Canio, Andrea Chénier und den Faust in Mefistofele.“

Russell Thomas/ Foto Fay Fox/ http://www.russell-thomas.com/

Russell Thomas studiert seine Partien akribisch, liest zuerst das Libretto, auch in englischer Übersetzung, um den Inhalt genau zu verstehen. Ebenso beschäftigt er sich mit Sekundärliteratur, um zu verstehen, wo eine Geschichte ihren Ursprung hat. Bei Otello vergleicht er Shakespeare mit Verdi, um zu sehen, auf welche Szenen des Dramas der Komponist in seiner Vertonung verzichtet hat. Erst dann studiert er den Notentext, hört dabei vergleichend mehrere Aufnahmen. „Mein Favorit für Otello ist Del Monaco, aber das ist nicht meine Stimme, ebenso wenig wie die Galusins. Solche Sänger führen mich in die von mir gewünschte Richtung, aber es wäre hoffnungslos, sie kopieren zu wollen. Ich würde meine Stimme ruinieren.“

Zu Deutschland hat Russel Thomas eine besondere Affinität. Er liebt Berlin und möchte sich hier eine Wohnung kaufen. Einige Auftritte an der Deutschen Oper Berlin sind bereits fixiert, so sein erster Alvaro in der Forza oder der erste Otello in Europa 2019. Auch den Salzburger Tito wird er an diesem Haus interpretieren, denn Sellars Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, Amsterdam, und der Deutschen Oper Berlin. (Foto oben: Russell Thomas/ Foto Fay Fox/ http://www.russell-thomas.com/)