Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Herzensangelegenheiten

 

Ohne Herzensangelegenheit kommt kein Recital aus. Eine solche ist Barbara Emilia Schedel die Figur der Ophelia. Vor allem als weibliche Imaginationsfläche von der ‚reinen Unschuld‘ bis hin zur ‚femme fatale‘ fand Ophelia vor allem in Literatur und Malerei ihren Stellenwert und inspirierte Maler wie Delcroix, Millais, Klimt ebenso wie die Dichter Rimbaud, Bourget, Heym, Nietzsche, Trakl, Benn, Brecht und Huchel“. Nicht nur umfangreicher, sondern auch umfassender fällt Joachim Draheims Einleitung von Schedels Ophelia Songs aus (Telos Music/ TLS 186) aus, die ohne weiteres die Basis zu einem grundsätzlichen Essay über Shakespeare und die Musik bilden könnte. Anschaulich verklammert Draheim Shakespeares Tragödie mit den entsprechenden Kompositionen dieser CD: „Ihren Tod im Wasser…erlebt der Zuschauer nicht auf der Bühne, sondern im Bericht der Königin Gertrude, worauf die Lieder von Robert Schumann, Hector Berlioz, Charles-Camille Saint-Saens und Delphine Ugalde Bezug nehmen. Im Zentrum aber steht die berühmte Wahnsinnszene“. Schedels Auswahl, die von den schlichten Liedern des William Linley über Schumann, Brahms, Strauss, Chausson bis Schostakowitsch und Rihm reicht, beinhaltet manch Rares wie Aribert Reimanns Bearbeitung der Brahms-Lieder für Singstimme und Streichquartett oder die vom Cello begleitete Romanze Schostakowitschs. Mit einer Salonpièce der Delphine Ugalde, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris u. a. Partien von Auber und Thomas kreierte, ist die Verbindung zur berühmteste Opernszene gegeben, war sie doch für Christine Nilsson bestimmt, die die Ophélie in Thomas‘ Hamlet kreierte. Gehört „Pâle et blonde“ zu den Stücken die außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt, so singt Barbara Emilia Schedel Ugaldes Romanze trotz flacher Stimme  mit schönem Gespür, vor allem befindet sie sich in der umfangreichen Szene, zu der Mario Castelnuovo-Tedesco mehrere Ophelia-Lieder zusammengefasst hat, auf Augenhöhe mit dem Werk. In Schostakowitschs Romanze von 1967 und in der Szene von Wolfgang Rihm zeigt sich Schedels Wandlungsfähigkeit im Umgang mit der Klassischen Moderne bzw. neuester Musik. Schedel wird begleitet von Christoph Schickedanz, Zoya Nevgodovska (Violine), Maya Hunziker (Viola), Emanuel Wehse (Cello) und Günther Albers (Klavier).

 

Der Bassist Thomas Stimmel/ Weiler Artists

Auch der Bassist Thomas Stimmel stellt seiner RootsAufnahme (ars vobiscum) eine persönliche Aussage voran: „Auf dieser CD sind Werke von ‚klassischen Komponisten‘ mit afrikanischen Wurzeln zu hören, die im deutschsprachigen Raum kaum bzw. gar nicht bekannt sind! …..  Gerade in der heutigen Zeit finde ich es sehr wichtig, diesen wunderbaren Komponisten wieder „Gehör zu verschaffen’“. Gemeint sind Henry Thacker Burleigh, Samuel Coleridge-Taylor, Julia Perry, Harrison Leslie Adams und Will Marion Cook, die Stimmel sorgfältig ausgewählt und gemeinsam mit seinem Pianisten Philipp Vogler und dem Streichquartett von Eroica Berlin ebenso sorgfältig einstudiert hat. Am bekanntesten ist Coleridge-Taylor, dessen große dreiteilige Kantate für Chor, Orchester und Solostimmen Scenes from The Song of Hiawatha sich in England um 1900 ungemeiner Popularität erfreute und die u.a. mit Bryn Terfel aufgenommen wurde. Stimmel verfügt über einen gestandenen Bass (im Frühjahr 2017 hat er in Maribor den Rheingold-Fafner gesungen) mit geschmeidiger Ausdrucksskala und wohlig ansprechendem Timbre, die sich in den Liedern von Coleridge-Taylor und den drei Blumenliedern von Henry Thacker Burleigh vermitteln; Burleigh hatte die Spirituals salonfähig gemacht bzw. den Weg für Marian Anderson und Paul Robeson bereitet, die sie auf den Konzertpodien heimisch machten. Diesen spezifischen, angeraut melancholischen Spiritual-Klang greift der mit selbstbewusstem Ton singende Bassist auch in den sechs Nights Songs von Harrison Leslie Adams auf. Das umfangreichste Stück auf Roots, mit dem Stimmel, Sohn einer deutschen Mutter und eines afrikanischen Vaters, sich auf die Suche nach Musik schwarzer Komponisten gemacht hat, ist das knapp 20minütige Stabat Mater, das Julia Perry (1924-1979) 1951 ursprünglich für Mezzosopran und Streichorchester geschrieben hatte, eine strenge neoklassizistische Komposition, die Stimmel mit ruhig und breit fließender und in allen Lagen, auch in der hier sehr geforderten Höhe, ausgeglichener Stimme singt.

 

Selbstverständlich hat auch die französische Sopranistin Sabine Devieilhe ein Anliegen. Den Visions ihrer Kollegin Véronique Gens lässt sie Mirages folgen: Spiegelungen. Ausgehend von ihrer Begeisterung für Delibes Lakmé stieß Devieilhe auf eine Galerie exotischer Frauen, „westliche Ohren dieser Zeit sind begierig auf klangvolle und poetische Reisen, mit Düften, die von weither kommen“. Da Messagers Madame Chrysanthème, deren Zirkadenwalzer Devieilhe mit Eleganz und Delikatesse singt, und Massenets Thais mit dem in diesem Recital etwas merkwürdigen von den Dienerinnen angekündigten Auftritt der Thais nicht ausreichen, ist Mirages letztlich ein Programm für Koloratursopran geworden, auf dem wir Ophelia (Berlioz und Thomas) ebenso begegnen wie Debussys Mélisande mit ihrem Lied zu Beginn des dritten Aktes. Im Mittelpunkt stehen die drei Nummern aus Lakmé, die Glöckchenarie, die Barkarole und die Sterbeszene der Lakmé, die zusammen mit den „Quatre Poèmes Hindous“ von Maurice Delage aus dem Kriegsjahr 1914 ein stimmungsvollen indischen Schwerpunkt abgeben. Devieilhe ist keine brillante bravouröse Kolorateuse, wie man sie für die Lakmé erwarten könnte, eher eine Lyrische mit Höhe, sicherlich eine bezaubernde Mélisande, eine edle Blanche, doch möglicherweise noch keine Lakmé für ein großes Haus. Sie singt feinsinnig, mit erlesenem Geschmack, mit leichtem Ansatz, quecksilbrigem Timbre. Die Lakmé-Ausschnitte sind tatsächlich am individuellsten geraten (sie hat die Partie mehrfach auf der Bühne gesungen), ansonsten klingen die bleichen Damen doch alle wie gerade aus der Klosterschule entlassen. Francois-Xavier Roth und Les Siècles sind galante Begleiter (Erato 0190295767723).  Rolf Fath

Gefeierter Ludovic Tézier

 

Kürzlich war er – Bariton Ludovic Tézier – in Paris der aufopferungsvolle Freund des Enkels Carlos, auf der Arthaus-DVD von 2014 aus Monte-Carlo ist er der Großvater selbst: Karl V. in dessen Reich die Sonne nicht unterging, in Verdis Frühwerk Ernani und unbestrittener Publikumsliebling im kleinen Saal, obwohl Szenenbeifall offensichtlich der Aufnahme wegen untersagt war, und Zustimmung sich erst am Schluss der Vorstellung äußern durfte.

Vor Beginn der Vorstellung sieht der DVD-Betrachter einige Insignien aus dem Drama von Liebe und unversöhnlicher Rache, so ein Schwert oder eine Krone, die seltsamerweise im Wasser versinkt, was befremdet, denn gerade ihr Träger macht die einzige und dazu positive Entwicklung im Drama nach Victor Hugo durch, indem die neue Verantwortung als Kaiser eines Weltreichs ihn von Liebesverlangen  und Vergeltungsstreben Abstand nehmen lässt. Zur Sinfonia dann sieht man die vier Protagonisten statuenhaft erscheinen, ehe der Chor (Stefano Visconti) mit viel Brio temperamentvoll federnd einsetzt, wirkungsvoll unterstützt vom Orchester unter Daniele Callegari, der sich  im Verlauf der Oper als vorzüglicher Verdi-Dirigent schätzen lässt. Die Optik der Bühne bestimmen ein Mosaikfußboden, ein riesiger Spiegel im Hintergrund und von Zeit zu Seit halb durchsichtige Zwischenvorhänge mit Szenen vorwiegend von Kampf (Bühne Isabelle Partiot-Pieri). Zur Szene passen die prachtvollen Kostüme von Teresa Acone, die auch die letzte Chordame noch attraktiv erscheinen lassen  und die Herren natürlich ebenfalls. Dabei fällt auf, dass der hier bereits greisenhafte Silva von ebenso wie er mit weißen Wallebärten ausgestattetem Gesinde umgeben ist.

Die Regie von Jean-Louis  Grinda beschränkt sich auf das Notwendigste, lediglich einige alberne, weil grund- und sinnlose  Armbewegungen des Chors lassen den Zuschauer  befremdet aufmerken. Raffiniert ist die Lichtregie von Laurent Castaingt mit starken Hell-Dunkel-Effekten. Bis auf den angenehm klingenden Bariton Maurizio Pace in der kleinen Partie des Don Riccardo gibt es keine Italiener  bei den Solisten. Inzwischen fast ausschließlich  ins Lirico-Spinto-Fach nach einer erfolgreichen Belcanto-Karriere hat sich Ramón Vargas begeben, optisch natürlich alles andere als der fesche Bandito-Conte-Duca und noch immer mit einem recht hellen Timbre auf seine künstlerische Vergangenheit verweisend. Seine nicht zu bezweifelnde Musikalität erzeugt den Eindruck, dass das Wie des Singens schätzenswerter ist als das Was des Materials , aber in der Cabaletta des ersten Bildes kann er von der Höhensicherheit und der Flexibilität seines Tenors profitieren.  Seinem Schwur und damit dem „Ernani morirà“ kann er bedeutendes vokales Gewicht verleihen.  Die dreifach umschwärmte Elvira ist Svetla Vassilieva mit in der Mittellage angenehm dunklem Sopran, nicht ohne ein leichtes Klirrgeräusch in der Höhe, dazu optisch ideal: eine  große, schlanke Sängerin mit ausdrucksvollem Gesicht, die die kostbaren Kostüme zu tragen weiß. Ein sehr kluger Sänger ist Ludovic Tézier, dem zwar das Strahlende und die Geschmeidigkeit eines  italienischen Baritons abgeht, der aber durch Optik, Haltung und Gestik (da fällt einem sofort die Floskel vom „edlen Anstand ein) vieles wettmacht und natürlich durch die Art seines Singens, so einer schmeichelnden zweiten Strophe von „Vieni meco“ in schöner mezza voce, einem majestätisch klingenden Rezitativ vor den „Oh sogni miei“ und durch einen „Oh, sommo Carlo“ in schöner Feierlichkeit. Optisch ganz auf ehrwürdiger Greis getrimmt ist der noch junge Alexander Vinogradov, einst im Ensemble der Berliner Staatsoper, der mit schlankem Bass schöner Farbe und sicherer Höhe imponiert und dessen „Ernani morirà“ wie die Trompeten zum Jüngsten Gericht klingt. Der Jubel am Schluss ist riesig und besonders ausgeprägt für den Bariton (Arthaus 109344). Ingrid Wanja    

Martial Singher

 

Eine Lektion in französischer Diktion und Phrasierung bietet angesichts der vielen Aufnahmen französischer Werke im Moment (so die neuen Troyens von Berlioz bei Warner/Erato oder Pelléas et Mélisande bei LSO) der französische Bariton Martial Singher (1904-90), der in den 1940er und 50er Jahren regelmäßig an der Met sang und später ein fast ebenso einflussreicher Pädagoge wie sein Landsmann Pierre Bernac wurde – Singher war mit der Tochter Fritz Buschs verheiratet und das Ehepaar war diesem 1941 in die Emigration gefolgt. Den Dapertutto, mit dem er 1943 an der Metropolitan Opera debütierte, wo er u.a. neben Lawrence Tibbetts Golaud auch den Pelléas sang (später auch den Golaud), erleben wir auch auf der 1945 entstandenen Sammlung französischer Opernarien (wieder herausgegeben von Pristine Audio PACO004), bei der er vom Orchester der Met unter Paul Breisach, der 1941-46 an dem Haus wirkte, begleitet wird.

Allerdings hatte die österreichische Firma Preiser in Sachen Martial Singher auch hier die Nase vorn und veröffentlichte in den Sechzigern die LP mit dem identischen Programm der amerikanischen LP-Erstaufnahme/ Amazon

Hier finden sich aus seinem Met-Repertoire auch der Mercutio (mit der Ballade de la Reine Mab) aus Roméo et Juliette sowie Escamillo. Bei seinem Debüt hatte der Komponist und Kritiker Virgil Thomson geschwärmt, “Mr. Singher gave a stage performance of incomparable elegance and did a piece of singing that for perfection of vocal style had not been equaled since Kirsten Flagstad went away.“ Singher selbst äußerte sich bescheidener, war sich seiner schwachen Höhe und guten Tiefe und der durchschnittlichen Qualität seiner Stimme durchaus bewusst, aber “it was a matter of being able to color the voice appropriately for each challenge“. Die Auswahl bestätigt dies alles. Die Vorzüge von Singhers guter Atemführung zeigen sich bei Lully und Grétry. In den drei Szenen des Méphistophélès aus Damnation de Faust bewundern wir die plastische Gestaltungskraft, wobei die Stimme erstaunlich hell und leicht und tatsächlich nicht sonderlich attraktiv ist, sie klingt spröde und ein wenig rissig, aber der Gesang besitzt Spannkraft und Energie. Singhers Mercutio ist ein eleganter Verführer, sein Hamlet ein Gefährdeter. Für „Vision fugitive“ des Hérode aus Hérodiade, und nicht nur dafür, hat Singhers Schüler Thomas Hampson fraglos die schönere Stimme. Auch seine Dapertutto-Stimme klingt recht reizlos und wackelig, aber welche Magie verströmt Singher hier wie im für machohaftere Stimmen gemachten Torero-Lied des Escamillo. Stets hört man gespannt zu.   Rolf Fath

Nachtstück

 

2008 an der Berliner Staatsoper sowie zwei Jahre später an der Metropolitan Opera hatte sich Simon Rattle für seine Debüts Claude Debussys einzige vollendete Oper Pelléas et Mélisande ausgesucht. So auch im Januar 2016 sozusagen als Einstand beim London Symphony Orchester, dessen Leitung er im September 2017 übernahm; wie in New York mit Magdalena Kožená und Gerald Finley als Mélisande und Golaud. Noch bevor er auf Maeterlincks Drama gestoßen war, hatte Debussy gegenüber Ernest Giraud seine Vorstellung von seiner Oper präzisiert, „Mein Ideal wären zwei mit einander verbundene Träume. Keine Zeit. Kein Ort. Keine große Szene… In der Oper tritt die Musik zu stark in den Vordergrund. Zu viel Gesang, und die Vertonungen sind zu bemüht… Mir schwebt ein kurzes Libretto mit beweglichen Szenen vor“. Ein Ideal auch für die Konzerthalle, wenngleich Rattle seinen regelmäßigen szenischen Begleiter für semi-staged Performances, Peter Sellars, hinzugezogen hatte (beide brachten die Oper bereits 1993 in Amsterdam heraus, Rattle gab sie konzertant auch 2006 in Salzburg).

Offenbar geschah die halbszenische Umsetzung so behutsam, dass dem Mitschnitt aus der Barbican Hall keine Bühnengeräusche anzumerken sind und die Rattles Mentor Boulez gewidmete Aufführung mit den präsent platzierten Stimmen so ausgewogen wie aus dem Aufnahmestudio (LSO 3 SACD & 1 Audio Blueray LSO0790) daherkommt. Pelléas et Mélisande klingt unter Rattle wie der Gegenpart zum expressiven Nachtstück Tristan und Isolde, das er vermutlich ebenso häufig dirigiert hat, und bringt besonders seine Fähigkeiten, Farben und motivische Spannungen zwischen Stimmen und Instrumenten ruhig auszuleuchten und den dramatischen Höhepunkten und Kraft und Volumen zu geben, zur Geltung. Die Zwischenspiele werden vom London Symphony Orchestra mit hinreißender Sensibilität und Fluss gespielt. Magdalena Koženás leichter Mezzosopran klingt für die Mélisande etwas zu reif und aufgerieben, zu mütterlich, nicht geheimnisvoll genug, sie singt aber mit Hingabe und verkörpert eine fast aufbegehrende Mélisande. Während ihr Französisch etwas maunschig anmutet, phrasiert Christian Gerhaher um so musterschülerhaft bemühter, nachdrücklicher, dadurch auch etwas unfrei. Er singt den Pelléas mit großer Subtilität und Genauigkeit, spontan im Wechsel der Farben und Stimmungen, allerdings nicht durchgehend auf gleichem Niveau. Beide sind keine idealen Interpreten, gestalten das Drama aber mit großem Ausdruck. Meisterhaft dagegen die Diktion des Kanadiers Gerald Finley, dem mit energisch geballtem Bariton und vokaler Bandbreite ein beachtliches Porträt des zerrissenen, bedrohlichen und verwundeten Golaud gelingt. Geneviève und Arkel sind mit Bernarda Fink und Franz-Josef Selig ausgezeichnet besetzt. Insgesamt eine spannende Aufführung, die manche Akzente nachdrücklicher und auch grandioser setzt als gekannt.  Rolf Fath

Das Beste herausgeholt

 

Nicht alles, was Mozart komponierte, ist genial. Besonders im Frühwerk finden sich viele routnierte Gelegenheitsarbeiten. Ist da trotzdem noch was zu retten? Ja! Findet eine enthusiastische britische Opern-Truppe – und hat Recht. Schon mal sehr sympathisch: Der Dirigent der neuen Aufnahme des Sogno di Scipione  Ian Page bietet in seinem Booklet-Text  diese weitgehend wenig bekannte Oper nicht wie sauer Bier an. Er hält den Ball flach. Und macht keinen Versuch, aus einer der (für mich) am wenigsten guten Opern aus Mozarts Feder ein sensationelles Meisterwerk herauszudeuten. Die überstrapazierte Floskel „Zu Unrecht vergessen“ wird nicht benutzt. Sachlich denkt  er darüber nach, was hier falsch gelaufen sein könnte und hat eine interessante Idee: Dieses Werk war eine Huldigungsoper für einen Salzburger Fürstbischof, also so ziemlich das Ultrakonservativste, was man sich an Events im 18. Jahrhundert überhaupt vorstellen kann: Da konnte man nicht mit einem sinnlichen Werk ankommen, das auch nur im entferntesten lebensrelevante Themen anschlug, und menschliche Leidenschaften über Gebühr strapazierte.  Und so flüchtet sich das Libretto auch in die Traumwelt der Allegorie, es passiert buchstäblich nichts, das ist fast ein Oratorium, und auch formal ist das alles sehr steif und erschreckend anständig.

Der 16jährige Mozart konnte es eigentlich besser. Er hatte grade Triumphe im Mailand gefeiert mit Mitridate, und dort hatte er einen ganz anderen Ton angeschlagen. Hier ist er sehr formell, lässt sich auf keine Experimente ein und versucht den Auftrag würdig umzusetzen, dabei kommt eben eine sehr elegante, gravitätische Musik heraus, aber die großen Emotionen fehlen fast ganz.

Nur selten blitzt etwas vom späteren Meister auf,  etwa im pompösen Chor Nr. 4, in dem Idomeneo nicht weit weg zu sein scheint. Und definitiv in der zweiten Fassung der abschließenden Huldigungsarie, superb gesungen von der jungen Chiara Skerath und von der Fachliteratur zu Recht als ein Höhepunkt in Mozarts Frühwerk gewürdigt.

Unbekanntes von berühmten Meistern neu zu präsentieren ist ein artistischer Sport geworden, eine Art künstlerische Herausforderung, die sehr viele Musiker reizt – der Versuch, diese Musik so interessant aufzunehmen, dass man ihre Stärken und ihren Charme wahrnimmt .

Die Ensemblemitglieder der Classical Opera, die sich seit Jahren erfolgreich mit unbekanntem Mozart auseinandersetzen,  sind nicht die Ersten, die den Scipione aufgenommen haben. Aber sie sind vielleicht die ersten, die sogar mich davon überzeugt haben, hier wieder genauer hinzuhören.  Hier ist ein alter Fehler der Mozart-Rezeption vermieden worden:  Es genügt ja nicht, einfach einen Haufen Weltstars zusammenzukratzen und dann draufloszumusizieren, wie es Leopold Hager in den 70ern bei verschiedenen Firmen versucht hat. Seine Gesamtaufnahme des Scipione ist ein Musterbeispiel gloriosen Scheiterns – Peter Schreier, Lucia Popp, Edita Gruberova stehen in vorderster Front, und trotzdem ist das Ganze so langweilig, dass man sich fragt, ob man seine Lebenszeit nicht amüsanter vergeuden kann. Diese Truppe hier zeigt, dass mehr dran ist an dem Stück, als Hagers stocksteifer Versuch auch nur annähernd vermuten lässt. Und das alles mit kleinem Etat! Alles was Ian Page hat, sind engagierte Sänger mit guter Stimmausbildung und ein hochambitioniertes Orchester, das Spaß an Mozart hat. Und das reicht nicht nur, es ist die Zauberformel für diese Musik. Page ist ein Dirigent, der hier Tempo reinbringt, der die diese steifen A-B-A Vorzeigestücke so richtig grooven lässt, ohne sich auch nur einen Millimeter vom Seriösen, Erlaubten zu entfernen – so soll es sein. Wenn man sowas überhaupt macht – dann bitte genauso (Wolfgang Amadeus Mozart: Il sogno di Scipione KV 126; mit Stuart Jackson, Klara Ek, Robert Murray, Soraya Mafi; The Choir and Orchestra of Classical Opera; Dirigent Jan Page; 2 CD Signum Classics  499). Matthias Käther

Aus den Anfängen…

 

Kein Wunder, dass die amerikanische Altistin Irene Dalis den Opernfreunden zwar bekannt , aber trotz ihrer unzweifelhaften Qualitäten im Personenregister von Jürgen Kestings  „Die großen Sänger“ nicht zu finden ist. Es gibt nur eine einzige Studioaufnahme aus den Fünfzigern bei Telefunken von ihr, und die ist von Wert eher für die Sammler und fast durchweg in deutscher Sprache. Denn ihre Karriere begann sie in Oldenburg, wechselte bald an die damalige Städtische Oper Berlin (heute Deutsche Oper), sang dreimal hintereinander in Bayreuth (Kundry und Ortrud) und ab 1957 für neunzehn Spielzeiten an der Met.

Von der Städtischen Oper mit deren Orchester stammen die Ausschnitte auf der nun von Hännsler veröffentlichten CD (aus den Beständen der inzwischen verblichenen Teldec-LPs, die nicht als CDs in andere Firmen übernommen wurden – eine Wiederauflage also – sind die Rechte schon abgelaufen?), ein breites Spektrum von Händel über Gluck, Rossini, Verdi, Bizet, Saint-Saëns bis Wagner abdeckend und so die Vielseitigkeit der Sängerin dokumentierend. Der Chor ist für den ersten Teil unbekannt, der des zweiten Teils ist der Günther-Arndt-Chor. Als Bonus nämlich ist ein Querschnitt durch Carmen angehängt, ebenfalls in deutscher Sprache und mit bemerkenswerten Partnern wie Heiz Hoppe und Karl Schmitt-Walter. Der Dirigent des ersten Teils ist Artur Rother, von dem das Booklet zu berichten weiß, dass er die Nazizeit als „Mitläufer“ durchlebte. Der Carmen-Mitschnitt wurde von Wolfgang Martin dirigiert.

Es beginnt mit dem lange Zeit fälschlicherweise Händel zugeschriebenen  Dank sei dir, Herr, das wahrscheinlich von Siegfried Ochs stammt und in dem die Lehrerin Margarete Klose in der Stimme der Dalis ihre Spuren hinterlassen zu haben scheint. Sie klingt wie eine echte Altstimme, auch wenn sie häufig als Mezzosopran bezeichnet wurde. Würde Adele Sandrock gesungen haben, hätte ihr Organ so klingen können, keine alte Stimme, aber eine Stimme, die einen alten Menschen darstellen soll. Die Vokabeln pathetisch oder auch pastos fallen einem dazu ein. Zum Glück beschränkt sich dieser Eindruck auf den ersten Track. Bei den beiden populären Händelarien Ombra mai fu und V’adoro, pupille klingt die Dalis samtweich und profund zugleich, singt schöne Schwelltöne und ist in allen Registern von schöner Einheitlichkeit und das, obwohl die Arien eigentlich für die Sopranlage geschrieben wurden.  Hier wird die Stimme auch instrumentaler geführt, und wenn die Aufnahme heute nicht mehr so recht zufrieden stellen kann, das liegt es an dem sehr „romantisch“ spielenden Orchester, von historischer Aufführungspraxis keine Spur. Für Giordanis Caro mio ben  nimmt die Stimme wieder einen etwas matronenhaften Ton an, dominiert zudem allzu sehr gegenüber dem Orchester. Aus Glucks Alceste stammt Divinités du Styx, in deutscher Sprache zwar mit leichtem Akzent, aber sehr textverständlich gesungen, was besonders später bei Carmen nicht unbedingt ein Vorteil sein muss. Der Orkus wird ebenso bedrohlich ausgemalt wie der Tod mit endlos langem Vokal, die Extremhöhe ist sehr präsent, die Stimme hat nichts Gefälliges, aber sehr viel ehrliche Empfindung im Klang. Viel jünger klingt der Mezzo in der ihm gemäßen Lage in Bel raggio, jünger, metallischer, individuell und zu schöner Geläufigkeit befähigt. So richtig in ihrem Element ist die Dalis mit der Eboli und deren Don fatal. Man kann sich nicht vorstellen, dass diese Eboli ins Kloster geht, machtvoll, tief erotisch und hochpräsent zeigt sich die überaus farbige Stimme – ein Kontrast zu heutigen Ebolis, wie unlängst aus Paris zu vernehmen.

Ein eher unmodernes Carmenbild  – und das nicht nur wegen der deutschen Sprache – wird in der Seguidilla gezeichnet, allerdings stellt man auch mit Freude fest, dass die Mezzofarbe durchgehend gewahrt bleibt, und in der Habanera werden auch die kleinen Notenwerte beachtet. Der Chor schmettert marschmäßig, wie französische Musik kling das  nicht.

Das erotische Timbre der Dalis passt gut zur schwülen Atmosphäre der Dalila, deren Stimme hier klingt, wie Shalimar duftet. Man könnte sich diese Dalila gut in der Monumentalinszenierung der Oper mit Domingo vorstellen. „Ich liebe dich“ klingt wunderbar strahlend. Als Brangäne scheint die herrlich fließende Stimme das führende Instrument im Orchester zu sein. Man hört, warum Bayreuth sie wollte.

Im Carmen-Querschnitt gibt sich die Altstimme einen etwas leichteren Anstrich, kämpft tapfer den aussichtslosen Kampf  zwischen spritziger Musik und anders gearteter deutscher Sprache, und ihr Anteil am Kartenterzett geht durch Mark und Bein, könnte auch einer Ulrica zugeordnet werden. Heinz Hoppe ist ein wunderbarer deutscher Tenor mit strahlender Höhe, zwar kein José, aber ein Sänger, der Bizets Intentionen am Schluss der Blumenarie besser umsetzt als mancher Landsmann des Komponisten.  Die Micaëla von Cloë Owen klingt im Duett des ersten Akts mütterlich, in ihrer Arie hübsch mädchenhaft. Karl Schmitt-Walter  fühlt sich in der Höhe des „Auf in den Kampf“ wohler als in der Tiefe, das Schlussduett ist noch schlimmer verstümmelt als alle anderen Tracks. Rückseitig sieht man die originalen LP-Covers der Teldec (Hänssler Proifil PH17044). Ingrid Wanja

Mosaiksteine

Bereits einige, zum Teil sehr umfangreiche Biographien von Leonard Bernstein gibt es, so dass es nur konsequent von Michael Horowitz (nicht verwandt mit dem gleichnamigen Pianisten) ist, sich in seinem Buch mit dem Untertitel Magier der Musik auf das zu beschränken, was er Mosaiksteine nennt. Gleichzeitig aber soll es über eine reine Biographie hinausreichen, ein „Kaleidoskop des 20.Jahrhunderts“ sein. Es handelt sich um über fünfzig kurze Kapitel, die teilweise recht reißerische Überschriften haben wie „Vulkan und Jesusgestalt“ oder „Gauner, Mädchenhändler, Menschenfresser“, gern auch Gegensätze miteinander vereinen wie „Austern und 75 Cent Gage“ oder „Beethoven und Jimi Hendrix“ oder auch ganz sachlich sind wie „Klassik für Kinder“. Jedem Kapitel ist zudem ein Zitat Bernsteins vorangestellt, das sich mehr oder weniger mit dem Inhalt desselben in Verbindung bringen lässt.

Angeregt zu seinem Buch im Wiener Amalthea Verlag wurde Horowitz wohl auch, weil die beiden Familien Bernstein und Horowitz aus Galizien stammen, die Eltern aus dem „Armenhaus Europas“, das zudem häufig durch Pogrome erschüttert wurde, flohen; die Bernsteins in die USA.

Der Autor schildert eindringlich, wie der junge, stets kränkliche Bernstein die Musik entdeckt, die ihm zum Heilmittel wird, wie ihm andererseits ihre Ausübung kaum möglich ist ohne den Dauerkonsum von Zigaretten und Whisky, dazu noch, und da wird das Buch oft indiskret, weil noch Lebende betreffend, ein überaus abwechslungsreiches und vielseitiges Sexualleben.

Die Gründung des Festivals in Tanglewood, Vorbild für das Schleswig-Holstein-Festival, die Bekanntschaft mit Mitropoulos, die Freundschaft mit Copland, die Assistenz bei Artur Rodzinski finden Berücksichtigung, und eindrucksvoll wird beschrieben, wie sich das Einspringen für Letzteren bei einem Konzert der New Yorker Philharmoniker zum Triumph für den jungen Musiker gestaltet.

Mehrfach berührt Horowitz den Konflikt zwischen dem Komponisten, dem nie eine große Oper gelang, und dem Dirigenten, dessen charismatisches Wirken sämtliche Orchester in Verehrung und Liebe dahinschmelzen ließ, abgesehen von den Berlinern, die er als schöne, aber kalte Frau bezeichnet. Natürlich findet auch die Rivalität, keineswegs mit Feindschaft zu verwechseln, zwischen ihm und Karajan Berücksichtigung, Interessant sind die Erinnerungen berühmter Sänger wie Christa Ludwig und Kurt Rydl an ihn, besonders die von Gundula Janowitz lassen aufmerken, denn sie strafte er mit Missachtung, weil er eigentlich lieber mit Gwyneth Jones statt mit ihr gearbeitet hätte.  Überraschenderweise konfliktlos verläuft die Zusammenarbeit mit Maria Callas (Medea, Sonnambula). Das hier auch über die Skandal-Norma in Rom berichtet wird, ist eigentlich überflüssig wie manches andere, das wohl zur Aufstockung auf knapp 250 Seiten benötigt wurde.

Aufschlussreich sind die Berichte über Gastspiele in Palästina, England (erster Wagner nach dem Krieg), Wien (wo er die Philharmoniker zu Mahler bekehrt) und Deutschland; ein Verdienst des Buches ist es, dass nur locker chronologisch vorgegangen, ein bestimmter Themenkreis, darüber hinausgreifend, im Zusammenhang behandelt wird.

Bereits 1948 reist er nach Deutschland, gibt ein Konzert in Dachau mit Überlebenden und bekommt hier eine KZ-Uniform geschenkt. Der Autor irrt allerdings, wenn er verallgemeinernd schreibt, man habe zu dieser Zeit generell die Löhne in München in Zigaretten ausgezahlt und um Brot gebettelt.

Der hundertprozentige Musiker ist kein unpolitischer Mensch, deshalb kann der Verfasser von seiner Reise für den Frieden, von seiner Vorladung vor eine Untersuchungskommission McCarthys berichten. Natürlich finden auch die vielen Bemühungen um die Gewinnung der Jugend für die klassische Musik berücksichtigt, die Bernstein nicht scharf abgegrenzt von der populären sah.

Nicht generell bekannt war bisher, dass aus der East Side Story (1948) um religiöse Konflikte die West-Side Story um solche zwischen Jets und Sharks wurde (1957).

Gegen Ende des Buchs nehmen die Zeugnisse von Weggefährten zu, so das der oben erwähnten Sänger in Wien, aber auch Otto Schenks oder Marcel Prawys, der den Freund mit Michelangelo vergleicht und der West Side Story den Weg nach Wien ebnet. Auch die Neueinrichtung des Weißen Hauses durch Jacky Kennedy gehört nicht unbedingt zum Thema, selbst wenn sich Bernstein bei seinem Besuch dort des Präsidenten-Schaukelstuhls bemächtigte.

Die letzten Jahre stellen sich als andauernder Kampf zwischen dem hinfälligen Körper und dem unbändigen Willen, Musik zu machen, dar, eine letzte Krönung ist nach dem Mauerfall die Neunte mit der Ode an die Freiheit, danach heißt es bald so wie im Buch Good bye, Lenny. Das Buch über ihn ist eine so liebevolle wie ehrliche Huldigung an einen, der die Musik und die Menschen über alles geliebt zu haben scheint. Allerdings ist es wohl eher „eine“ als „die“ Biographie, wie das Cover behaupten will (Amalthea Verlig, ISBN 978 3  99050 099 6).  Ingrid Wanja

Flammen der Liebe

 

Quella fiamma heißt das neue Album von Nathalie Stutzmann mit Arie Antiche bei Erato/Warner (0190295 76529). Wieder wirkt die Französin in Doppelfunktion als Sängerin und Dirigentin des 2009 von ihr gegründeten Ensembles Orfeo 55. Die von dem Musikwissenschaftler und Komponisten Alessandro Parisotti (1853 – 1913) zusammengestellte Sammlung ist die klassische Gesangsschule schlechthin (ähnlich Czernys Übungen für Pianisten), auch die französische Kontraltistin hat diese Stücke während ihrer Studienzeit gelernt. Für die CD wollte sie jedoch nicht auf Parisottis Bearbeitungen der Kompositionen von Scarlatti, Caldara, Carissimi, Caccini, Bononcini u.a. zurückgreifen, sondern hat die in diversen Bibliotheken liegenden Originale herangezogen. Die Arien, welche von Sängern in ihren Konzerten gern an den Anfang gestellt werden, weil sie ideale Stücke zum Einsingen darstellen, eignen sich darüber hinaus zum Erlernen der Atemtechnik, des Legatos, der Oktavsprünge, Appoggiaturen und Melismen.

Das Programm beginnt mit Alessandro Scarlattis Hit „Già il sole dal Gange“, der eine besondere Beherrschung des Atems verlangt. Stutzmanns reife, strenge Stimme mit ihrer schwarzen Färbung ist in diesem Repertoire gewöhnungsbedürftig, doch bemüht sie sich um einen charmanten Vortrag und lockeren Fluss. Mit Francesco Durantes „Danza, danza“ in seinem ausgelassenen Rhythmus folgt ein wirkungsvolles Stück, von diesem 1684 geborenen Komponisten gibt es später als Kontrast noch das sakrale „Vergin, tutto amor“, in welchem ein perfektes Legato gefordert ist. Auch Caccinis „Amarilli“ ist eine bekannte Nummer, in der es auf eine  absolut ruhige Stimmführung ankommt, was der Altistin überzeugend gelingt. Von heroischem Anflug ist Carissimis „Vittoria, mio core“, wo ein schöner Lauf der Koloraturen zu hören ist (bei einigen knappen hohen Noten). Parisotti als Komponist selbst ist mit dem zärtlichen„Se tu m’ami“ vertreten, wofür Stutzmann die Stimme verschlankt und zu einem angenehm ruhigen Vortrag findet. Besonders gelungen ist Martinis „Plaisir d’amour“ (welches vielfach immer noch für ein französisches Chanson von Aznavour gehalten wird) in seiner kosenden Stimmgebung.

Mehrere Titel stammen aus bekannten Opern – so „Ah! mio cor“ aus Händels Alcina oder „Piangerò“ aus seinem Giulio Cesare, „Per la gloria“ aus Bononcinis Griselda oder „Nel cor più non mi sento“ aus Paisiellos La Molinara. Alcina von einer solch dunklen Stimme zu hören ist ungewohnt, auch mischen sich in den durchaus pathosreichen Vortrag einige heulende Töne. Griseldas „Per la gloria“ ist eine Huldigung an geliebte Augen, was Stutzmann mit angemessener Koketterie wiedergibt. Im Cesare wäre sie eher eine Cornelia, dennoch formt sie Cleopatras großes Lamento beeindruckend, zwingt die Stimme in ein schlankes Maß und im schnellen Mittelteil zu dramatischem Furor.

Aus Francesco Contis Kantate „Dopo tante e tante pene“, genauer deren 3. Satz,  stammt die Aria, welche der CD den Titel gegeben hat: „Quella fiamma“. Sie ist von getragenem Charakter, weist aber reiches Zierwerk auf und bereitet der Interpretin Mühe in der exponierten Lage.

Einige Instrumentalbeiträge von Andrea Falconieri (eine rhythmisch betonte Passacalle von rasanter Steigerung), Nicola Porpora (ein munteres Allegro aus der Sonata a 3, op. 2 und ein kantables Largo aus dem Cellokonzert Nr. 2), Alessandro Marcello (Adagio aus dem Oboenkonzert d-Moll) und Francesco Durante (eine grüblerische Introduction aus dem Concerto Nr. 1) runden das Programm ab und demonstrieren das hohe Niveau des Klangkörpers sowie Stutzmanns inspirierende Leitung.

 

Auch Dorothee Mields singt auf ihrem neuen Album mit Händel-Kantaten bei dhm (89854 05322) von den Flammen der Liebe und der Gefahr, mit dem Feuer zu spielen. „Tra le fiamme“ heißt diese Komposition in sieben Sätzen, deren erster und letzter diesen Titel trägt. Der zarte, liebliche Sopran weiß hier gebührend zu jubilieren. Im 5. Satz, der Aria „Voli per l’aria“, kann er seine Virtuosität mit bravourösen Koloraturläufen noch eindrucksvoller demonstrieren. Die Cantata spagnuola ist dreisätzig und stammt aus Händels italienischer Periode. Es ist eine sehr stille, intime Komposition, und Mields kann hier mit delikaten Nuancen aufwarten. „La bianca rosa“ hat ebenfalls drei Sätze und verlangt eine sehr sublime, zarte Stimmgebung, was die Interpretin ideal erfüllt.

Es ist eine bezaubernde CD – wegen der reizvollen Musik und der anmutigen Interpretation durch die britische Sopranistin. Zudem wirken die renommierte Gambistin Hille Perl und der Lautenist Lee Santana neben dem La Folia  Barockorchester mit, was reizvolle Klangmischungen ergibt. Bernd Hoppe

Kein Wagner ohne Hitler

 

Wer sich seinen nächsten Besuch einer Wagner-Oper, speziell den der Meistersinger gründlich verderben will, der lese zuvor Hans Rudolf Vagets neues Buch Wehvolles Erbe im Fischer Verlag, womit das des Komponisten aus Bayreuth gemeint ist. Während man beim Lesen der ersten 150 Seiten dem Autor noch in vielem folgen konnte, wohl manchmal die Augenbrauen hochzog, aber doch nachvollziehbar war, was er über den Wagner Hitlers schrieb, ist einem das verwehrt, wenn man glauben soll, dass man auf der Bühne die „protofaschistische Volksgemeinschaft von Wagners Nürnberg“, die „Verherrlichung der charismatischen Autorität“ und den Sieg „des gesunden Volksempfindens“ sowie die „Ausgrenzung“ Beckmessers als Analogie zu der der Juden in Nazideutschland verfolgen kann. Es gibt also nach Vaget „viele naziaffine Aspekte“ in den Meistersingern. Kann man angesichts des Inhalts solcher Abschnitte nur den Kopf schütteln, so wundert man sich nicht minder über das große Missverständnis, von dem der Titel zeugt, denn mit dem „wehvollen Erbe“ kann nur das des Komponisten gemeint sein, die drei Hauptkapitel, das vom Autoren sogenannte Triptychon von Hitler, Knappertsbusch und Thomas Mann, aber sind eine Art Rezeptionsgeschichte, werfen ein Licht eher auf diese drei und darauf, wie sie Wagner und sein Werk, das gar nicht wehvoll ist, sahen und wie sie es eventuell entstellten. Dabei scheint der Verfasser einem Zwang zu unterliegen, in allem und jedem Beziehungen zwischen Wagner und seinem Werk und zum Beispiel Hitler zu sehen. Wobei nicht geleugnet werden soll, dass dieser ein glühender Verehrer Wagners war. Aber sowohl im wahrscheinlich von den Wagnerenkeln erfundenen „Onkel Wolf“ wie in der „Wolfsschanze“ (gleich Walhall!) eine Beziehung zum „Wolfe“ der Walküre als sicher anzusehen, ist reichlich verwegen. Nur als Frage, aber immerhin als Möglichkeit taucht der Gedanke auf, der Tod im Führerbunker sei eine Nachahmung des Endes des Volkstribunen Rienzi. Die arme, unschuldige Oper trägt auch den Makel in sich, dass Mussolini sie mochte, und „so hat Hitler diesem Werk seine Identifikation mit Wagners römischem Tribunen einen nachhaltig faschistischen Stempel aufgedrückt.“ 

Dem Buch vorangestellt sind sechs Zitate bekannter Persönlichkeiten über Wagner und Hitler, was von vornherein die Nähe zwischen beiden suggerieren soll. Eine mehr als sechzig Seiten umfassende Einleitung befasst sich unter anderem mit der Frage, ob Wagner „ein Teil unseres Selbsts“ sei, wobei man sich fragt, wie vielen Prozenten der Bevölkerung Wagner überhaupt ein Begriff ist, ob die angenommene „kollektiv geistig-seelische Prägung“ bei vermutlich doch geringem Kenntnisstand überhaupt stattfinden kann.  Versöhnlich stimmt dabei den Leser, dass es der Verfasser ablehnt, aus heutiger Sicht   über die Vergangenheit zu urteilen.

Hat sich der Leser damit abgefunden, dass nicht über Wagners Opern, sondern über Hitlers, Knappertsbuschs und Manns Wagner gehandelt wird, und im Fall Hitler der Einfluss des Hitlerschen Wagner auf die deutsche Politik, dann kann man mit Interesse lesen, dass es nicht die Judenfeindschaft, sondern der Genieglauben war, der den späteren Diktator prägte, dass der „Wagner-Kult die ästhetische Einleitung einer verbrecherischen und barbarischen Politik“ war. Dabei erkennt der Autor, dass Hitler mit dieser Verehrung in der Partei, die eher kleinbürgerlich orientiert war, ziemlich allein stand, er andererseits das Bildungsbürgertum, das dem „Führer“ eher fern stand, durch die Gemeinsamkeit der Wagner-Verehrung für seine Ziele gewinnen konnte, was so pauschal wohl auch nicht zutrifft, so wie auch der Vergleich mit einem Wagner damals und einem Rockkonzert heute hinkt, allein schon wegen nicht vergleichbarer Teilnahmerzahlen. Wenn Vaget nahelegt, dass der Wagner-Freund zwangsläufig auch der Annahme ist, die deutsche Kultur sei anderen Kulturen überlegen, ist das wohl zu pauschal gesehen. Oder ist es schon verwerflich, Goethe auf eine Stufe mit Dante und Shakespeare zu stellen? Ist es nicht anders denkbar, als dass aus der Wagner-Stadt München die „Hauptstadt der Bewegung“ wurde? Und wurde Wagner durch die Verehrung Hitlers für uns interessanter? Da dürfte selbst nach peinlichster Befragung seines Gewissens so mancher ein entschiedenes Nein sagen. Nicht immer kann man den Verfasser von dem Vorwurf freisprechen, er begründe Behauptungen mit anderen Behauptungen, die nicht bewiesen sind (S. 42/43) und verallgemeinere allzu unbekümmert, so mit „Die  Wagnergemeinde feierte Hochzeit mit Hitler“. Wenn bereits in der Einleitung behauptet wird, nicht Wieland Wagner, sondern Thomas Mann sei das Verdienst zuzuschreiben, dass Wagner wieder akzeptiert werde, erwartet man mit Spannung die kaum mögliche Beweisführung.

Insgesamt kann man feststellen, dass Vaget der allzu bekannten Faschismustheorie zuneigt, nach der der Faschismus in die deutsche Geistes- und Mentalitätsgeschichte eingebettet sei und verweist dabei auch auf Schriften aus der Zeit des Imperialismus, ohne zu berücksichtigen, dass u.a. von französischer und britischer Seite eher noch krassere Zeugnisse eines Überlegenheitsgefühls zugänglich sind.

Ob ein Witz von Woody Allen, nachdem er „bei Wagner-Musik am liebsten in Polen einfallen“ würde, bei dieser Diskussion hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Wenn Hitler als Produkt des Ästhetizismus in der besonderen Form des Wagnerkults gesehen wird, der in Verbindung mit seinem künstlerischen Dilettantismus und seiner besonderen Begabung zur Selbstdarstellung, seines self-fashioning, geradezu charismatisch zu wirken vermag, wird, dann ist das eine extrem idealistische Auffassung, die alle anderen Faktoren wie Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Mittelschicht, verlorener Krieg, Reparationen usw. draußen vorlässt und eigentlich nur den Schluss zulässt, dass Wagner Schuld an der Nazidiktatur ist, denn nach Vaget wäre Hitler ohne Wagner nicht Hitler geworden. Allerdings bemerkt er an anderer Stelle, dass die in Israel herrschende Auffassung, Hitler sei der Vollstrecker Wagners gewesen, nicht zutrifft.

Sprechen Tatsachen wie das Fehlen Wagners in Hitlers Mein Kampf, gegen die These vom übergroßen Einfluss des Komponisten auf Hitler, dann wird geschickt argumentiert, Hitler habe seinen Lesern suggerieren wollen, er sei aus sich selbst zur erreichten Größe gewachsen.

Immer dann liest man das Buch mit weniger Vorbehalten, wenn es um Tatsachen geht, so die Spielplangestaltung  mit Rücksicht auf den Krieg und als Wehrertüchtigung, über die 1939 eingerichtete Wagner-Forschungs-Stätte, die Ausführungen darüber, wie Hitler Wagner und Bayreuth sah. Immer wieder aber wird man verstört durch Behauptungen wie die, Hitler habe sich selbst am Blutbad in der „Nacht der langen Messer“ beteiligt (S. 234 „zum Teil auch selbst ausgeführten Blutbad“), oder durch die Verwendung von Opernzitaten wie „Um neu zu schaffen seine Wunderkraft“: die des germanischen Volkskörpers durch das Rassereinheitsgebot.

Ein Triptychon stellt ein dreiteiliges Gemälde dar, dessen Mittelteil meistens doppelt so groß ist wie die beiden Flügelteile. Hans Rudolf Vaget will sein Buch als ein Triptychon gesehen haben, stellt in die Mitte desselben aber die im Vergleich zu den Brocken Hitler und Thomas Mann und ihrem Wagnerbild den von Hans Knappertsbusch 1933 initiierten Protestbrief Münchens gegen eine auf Wagner gehaltene Rede des deutschen Dichters und geht dabei nicht über das bereits Bekannte hinaus. Vielleicht um dem auch rein quantitativ schmalen Mittelteil mehr Gewicht zu verleihen, weitet er das Thema am Anfang und am Schluss des Kapitels auf eine allgemeine Verdammung der mangelhaften Entnazifizierungsarbeit der Bundesrepublik und die Verdammung der „Künstler, die dem Naziregime gedient hatten“ aus und zählt zu diesen pauschal alle, die Deutschland nach der Machtergreifung nicht verließen. Knappertsbusch hat es ihm dabei besonders angetan, weil „der Dirigent sich das Ansehen… eines Unbelasteten zu geben wusste“. Obwohl bei der Beweisführung für oder gegen einen Künstler Angaben von Nazis zu Recht streng hinterfragt, ja in Frage gestellt werden, übernimmt Vaget in diesem Fall kritiklos die Aussagen des 1936 amtierenden Münchner Generalintendanten und SS-Manns, der den Dirigenten wegen angeblicher fachlicher Mängel seines Postens enthob, und schenkt dem Geschassten, der mehrfach mit abfälligen Äußerungen über Hitler viel riskiert hatte, in seiner Beteuerung, es habe sich um eine politische Reglementierung gehalten, keinen Glauben. Unkritisch in seiner Interpretation eines Telegramms, das vielleicht nie abgeschickt wurde und in dem Knappertsbusch um eine Audienz bei Hitler nachsucht, ist er ebenfalls, denn er spekuliert lediglich darüber, warum Knappertsbusch den „Führer“ habe sprechen wollen. Belegt allerdings und damit zu Recht erwähnungswürdig ist die Vokabel „Judengesindel“ in einem Brief des Dirigenten.

Anlass für den Protestbrief ist ein Vortrag Thomas Manns in der Münchner Universität, in dem er Wagner unter anderem „Dilettantismus“ vorwirft, allerdings in einem Zusammenhang und in einer Bedeutung, dass darin keine Verunglimpfung zu sehen ist. Knappertsbusch und mit ihm viele andere Musiker wie Pfitzner und andere Intellektuelle sahen das anders und schrieben besagten Protestbrief, nicht ohne auf ein den Nazis verwandtes Vokabular zu verzichten. Vaget steht nun einer Zustimmung des Lesers zu seiner Verdammung des Vorhabens selbst im Wege, indem er maßlos übertreibt, wenn er vor einer „Denunziation“ spricht ( der Text der Rede war allgemein bekannt), indem er behauptet, damit habe Knappertsbusch den Dichter aus Deutschland vertrieben (dieser selbst sah sich dadurch in seinem Plan einer Emigration nur „befestigt“, erst später änderte er seine Meinung), und indem er schreibt: „Unbeabsichtigt, aber nicht ganz ungewollt“ (Unterschied?) „machte sich Knappertsbusch somit zum Handlanger des Vernichtungswillens der Nazis“ (S.300). Thomas Mann bezeichnete den Dirigenten mehrfach als „Esel“, so macht er sich selbst zum Zeugen dafür, dass dieser so naiv sein konnte, in der Rede über Wagner tatsächlich eine Verunglimpfung des von ihm hoch verehrten Genies zu sehen , dass er sie sogar als solche ansehen musste. Das Kapitel wird mit vielen mehr oder weniger aufschlussreichen Stellungnahmen aus der damaligen Zeit aufgefüllt, bleibt aber doch eher ein Beitrag zu einem Spezialthema für eine Fachzeitschrift als ein gleichwertiger Teil des Buches, gar der Mittelteil eines literarischen Triptychons. Dazu wird es auch nicht durch den Untertitel „Eine deutsche Karriere“, der nahelegt, „deutsche Karrieren“ ließen sich nur durch Denunziation bewerkstelligen, was selbst durch ein schwülstig klingendes „signalhaftes Ereignis von mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung“ wie den Protestbrief nicht bewiesen wird. Übrigens hat München, wie der Verfasser meint, nichts aus der Vergangenheit gelernt, sonst hätten nicht 2 (in Worten zwei) ablehnende Leserbriefe zu einem ähnlich gearteten Artikel in der SZ noch in jüngerer Zeit von der verdächtigen Unbelehrbarkeit der Bewohner dieser Stadt gezeugt.

Der dritte Teil des Triptychons ist Thomas Mann und seinem Verhältnis zu Wagner gewidmet, wobei zunächst auf die fiktionale Literatur, danach auf theoretische Schriften des deutschen Dichters eingegangen wird. Natürlich bleibt auch hier Hitler nicht unberücksichtigt, so wenn der Verfasser feststellt, dass dieser Wagner verfallen war, während  Mann, da im Unterschied zum Diktator aus gefestigten großbürgerlichen Kreisen stammend, seinem Zauber widerstehen konnte, Hitler der „gewissenlose Ästhet“ blieb, während Mann zum Kritiker wurde.

Es bedarf fundierter Kenntnisse, um nachprüfen zu können, ob die Behauptungen über Der kleine Herr Friedemann, Tristan, Wälsungenblut und Dr. Faustus zutreffend sind, aber zumindest in Bezug auf die Buddenbrooks irrt der Autor, wenn er meint, der Letzte der Familie , Hanno, wäre durch Wagners Musik zum lebensuntüchtigen Schwächling geworden. Er wird bereits als solcher geboren und flüchtet sich deswegen in die Welt von Wagners Musik. Das wird im Roman sehr klar herausgearbeitet, wenn bereits das Neugeborene als kaum lebensfähig erscheint und bei der Taufe über das schlechte Aussehen des Täuflings spekuliert wird. Abgesehen von diesem Irrtum oder dem, König Heinrich I. den Kaisertitel zu verleihen, erfreut dieser Teil des Buches durch eine ausgewogenere Darstellung, wird auch besonders interessant durch den Konflikt mit dem Schwiegervater Pringsheim wegen der Novelle Wälsungenblut und darüber ob diese antisemitisch sei oder nicht. Stellenweise gibt es aber auch hier Zeichen der Verbitterung des Autors über eine mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit durch die Bundesrepublik, wenn dieser in der Umwandlung der typisch jüdischen Namen in „arische“ bei der Verfilmung von Wälsungenblut 1965 durch Rolf Thiele einen Beweis dafür sehen will, während eher die Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus bei Beibehaltung der Namen zu erwarten gewesen wäre. Vaget hingegen sieht darin einen Akt der „Arisierung“ und den „Geist einer kompromisslerischen und vertuschenden Vergangenheitspolitik…in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Ganzen“.

Bitterböse war Thomas Mann wohl über seinen Bruder Heinrich wegen dessen Beschreibung eines Lohengrin-Besuchs von Diederich Heßling im Untertan. Vaget zieht daraus den Schluss: „Damit wird dem Leser suggeriert, dass in dem Deutschland Wilhelms II. dieselbe politische Misere und Zurückgebliebenheit herrscht wie in Wagners Oper über den tragisch-glücklosen Gralsritter“. Naheliegender dürfte sein, dass Heinrich Mann damit den wilhelminischen Untertanen bloßstellen wollte, der auf Lohengrin nur seine eigenen primitiven Machtphantasien projiziert und damit das Werk gründlich missversteht.

Nach den Romanen und Novellen, die sich mehr oder weniger mit Wagner befassen, betrachtet Vaget die theoretischen Schriften Thomas Manns über Richard Wagner, angefangen vom Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ vom Februar 1933, über die Rede zur Aufführung des Ring in Zürich, den Artikel „Bruder Hitler“ von 1938, in dem Hitler als letzte Figur der Ur-Renitenz, die die Geschichte der Deutschen, Luther wie die Befreiungskriege gegen Napoleon umfassend, beschrieben und ganz nebenbei den Deutschen auch die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zugeordnet wird.

Unversöhnlich geht Vaget auch mit den Wagnerenkeln („die auf Hitlers Schoß gesessen haben“) um, und unterstellt Wieland, er habe Bloch und Adorno nur als Aushängeschild eines angeblich neuen Bayreuth benutzt. Den Abschluss des Buches bilden Kapitel über das Wagnerbild von Peter Viereck und das Wirken des Bühnenbildners Preetorius in Bayreuth. Als Voraussetzung für ein Leben mit Wagner stellt der Verfasser schließlich die Bedingung, dass Hitler nicht aus der Wirkungsgeschichte Wagners in Deutschland ausgeklammert wird.

Das Buch ist eine bewundernswerte Fleißarbeit, der man gewünscht hätte, dass sie zu einem ausgewogeneren Ergebnis geführt hätte. So aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass am Anfang die vorgefasste Meinung stand und danach mit Akribie nach allem gesucht wurde, was  einmal aufgestellte Thesen unterstützt.   

Übrigens: Gibt es auch einen positiven Rassismus? Und könnte ein Ausspruch wie der von den Juden als der „vermutlich genieträchtigsten Rasse“ (S. 241) einen solchen offenbaren (Fischer Verlag 2017/ 560 S./ ISBN 278 3 10 397244 3)? Ingrid Wanja         

Philip Gossett

 

Bereits am 13. Juni 2017 starb in Chicago mit Philip Gossett einer der herausragenden Musikwissenschaftler der Belcantoszene im Alter von 75 Jahren. Geboren 1941 in New York widmete sich Gossett in erster Linie den Opern von Rossini, auch seine Doktorarbeit war 1970 diesem Komponisten gewidmet. Neben kritischen Ausgaben der Opern Rossinis, aber auch der von Verdi, hat sich Gossett auch mit den beiden anderen berühmten Belcantovertretern Donizetti und Bellini beschäftigt – 1985 ist sein Buch „Anna Bolena und die künstlerische Reife von Gaetano Donizetti“ erschienen. Gossett war emeritierter Professor an der Universität von Chicago. Durch seine Kenntnis und seine Begeisterung für das Opernschaffen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Gossett durch seine zahlreichen Vorträge und Publikationen für Jahrzehnte wesentlich dazu beigetragen, der davor vernachlässigten Musik der Belcantozeit mehr Aufmerksamkeit und Verständnis entgegenzubringen. (Quelle Donizetti Gesellschaft Wien/ Foto oben: Philip Gosset/ operawire)

 

Und Ricordi, die auch der Verlag für Rossinis Opern sind, schreibt: The death in Chicago earlier this month of the musicologist Philip Gossett at age 76 marked the loss of one of the most influential scholars of Italian opera of the last half century. His untiring, groundbreaking work on the rediscovery and restoration of the operas of Rossini and Verdi left an indelible mark on modern performances and on the understanding of this repertory, while his high standards of scholarship and passionate involvement in opera production inspired a generation of younger scholars to embrace the critical study of Italian opera. Although in failing health in recent years, he remained actively engaged with the work of his colleagues on Verdi and Rossini operas.

As a doctoral student at Princeton university in the 1960s, Gossett surprised his professors (as he enjoyed relating) by choosing to specialize in 19th-century Italian opera. In those years, such repertory was not considered a suitable field for serious scholarly inquiry; better to concentrate on Beethoven or Brahms.  But Gossett’s intense research into the original musical sources of the operas of Rossini in archives throughout Italy and beyond led to his landmark dissertation “The Operas of Rossini: Problems of Textual Criticism in Nineteenth Century Opera” (Princeton 1970), a fundamental work that still serves as the benchmark for research on the music of that composer.

Even among Italian scholars, there was little interest in the study of 19th-century Italian opera when Gossett had undertaken his research: the distinguished tradition of Italian musicology had focused largely on the music of the Renaissance and the Baroque, and while some Italian publishers (notably Ricordi) had issued “revised and corrected” editions of a handful of operas during the 1960s, culminating at the end of the decade with the first score that (in the words of Friedrich Lippmann) could be considered to have “the artistic and scholarly requisites of a ‘critical’ edition” — Alberto Zedda’s Il barbiere di Siviglia of 1969 — there was nothing on the editorial horizon of Italian opera that approached the rigor and breadth of research that had characterized the great monumental editions dedicated to the work of German and Austrian composers.

Gossett’s arrival on the scene changed all that, and the intense investigative methodology and demanding standards he brought to the editions of the operas of Rossini (as General Editor of the critical editions published by the Fondazione Rossini of Pesaro) and later those of Verdi (as General Editor of the Works of Giuseppe Verdi, co-published by the University of Chicago Press and Casa Ricordi) “set the gold standard” (in the words of one of his colleagues) for such work. To discover that there was something amiss with the opera scores that had come down to modern performers was not, of itself, particularly novel. What was revolutionary, and what generated enormous interest, was the scholarly rigor, the passion and excitement, the engagement with performers, that a scholar like Gossett brought to the field. Today it is barely imaginable that major interpreters or opera companies would want to perform this repertory from the older, adulterated materials. Such was not the case fifty years ago.
In another time and place, scholarly editions of this repertory might have remained academic experiments, with little relevance to modern performances. But Gossett’s intense dedication to the scholarly reexamination of 19th-century Italian opera coincided with the interest that Casa Ricordi, the main publisher of this repertoire, had in relaunching these works in reliable texts. As Gossett recalled in the preface to his 1985 book ‘Anna Bolena’ and the Artistic Maturity of Gaetano Donizetti: “It was at Casa Ricordi that I first studied intensively autograph manuscripts of 19th-century Italian operas. The firm remains a commercial publisher, to be sure, and its employees are primarily concerned with supplying materials to performers, conductors, and opera houses. Yet their love of these documents, their fascination with the problems they pose, and their own skill at deciphering their meaning were crucial to the development of my awareness of what could be learned there.” The fortunate confluence of these complementary ideals — a music publisher wishing to provide scholarly editions of a historically important part of its repertory, and a scholar eager to reassess the works of two of the fundamental composers of that repertory — produced one of the most significant editorial collaborations in memory. The ideals and standards adopted for the Rossini and Verdi editions would later inspire Ricordi’s critical-edition series of the operas of Donizetti and Bellini as well (Gossett served on the editorial boards of both). Gossett was an advisor to Casa Ricordi on many editorial projects over the course of four decades; in its scholarly relaunch of 19th-century opera repertory, Ricordi benefitted immeasurably from the authoritative oversight and boundless promotional energy of professor Gossett.

Over a forty-year career at the University of Chicago, the range of Gossett’s publications or editorial collaborations went well beyond Rossini and Verdi. His capacity for work was legendary — dawn-to-dust workdays were the norm. The bookshelves in his study were filled with recent publications on Italian opera, and as musicologist Hilary Poriss once remarked, upon viewing the collection, Gossett had played some role in nearly every volume, as either author, co-author, contributor, or editor. “You really can’t talk about Italian opera” she said, “without coming across something he has laid the groundwork for.”

Gossett’s involvement in the restoration of operas, or of forgotten alternate versions or arias, provided not only fascinating material that allowed other scholars to reassess their understanding of opera history, but also captured the imagination of the broader, opera-loving public. His role in the late 20th-century rediscovery of the “neglected repertory” of Rossini — his serious operas – was fundamental. In recognition of such contributions he was the first music scholar to receive the Mellon Distinguished Achievement award, and the Italian government awarded him the distinguished honorific of Cavaliere di Gran Croce.

Gossett’s efforts toward gaining adherents to the cause of adopting critical editions for performance was in many ways as important as his painstaking scholarly work. Conductors like Riccardo Muti and Claudio Abbado, and singers like Marilyn Horne, Renee Fleming, Cecilia Bartoli and Samuel Ramey, became enthusiastic adherents to the cause. Gossett also served as advisor for numerous opera productions in America and in Europe. “When the public sees an opera,” Gossett once said in an interview, “they just assume that it’s all straightforward, but it’s not. Every singer makes countless decisions: Should I sing just the notes that are written? Should I ornament this? Do I need a cadenza at this point? Critical editions put all options on the table, allowing performers to make more informed choices about their roles.”

As an indefatigable and passionate participant of “discussions with the audience” at opera festivals and theater seasons, often presenting musical discoveries in the context of engaging “lessons” at the piano, Gossett won over myriad opera fans to the importance of research. Alongside his many scholarly publications were countless program notes, essays for LPs albums or DVD booklets. One cannot overstate the influence of Gossett’s work on the study of 19th-century opera today. Gabriele Dotto (Quelle Ricordi USA)

„Es ist viel wunderbare Poesie.“

 

Über die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova muss man nicht mehr viele Worte machen – ihre beeindruckende Karriere im Mezzo-Fach auf den Bühnen der Welt spricht für sich, namentlich für die Zürcher Besucher sind ihre bewegenden Partien wie Carmen oder die Monteverdische Penelope nachhaltig in Erinnerung. Dass sie aber nicht nur eine bedeutende Opernsängerin mit vielen Aufnahmen für die Fans ist, zeigt sie immer wieder in ihren Liederabenden und Einspielungen, nun neu mit Liedern des wenig bekannten deutsch-französischen Geigers und Komponisten Henri Marteau (* 31. März 1874 in Reims; † 4. Oktober 1934 in Lichtenberg/Oberfranken) bei solo musica/ Sony (SM 263). Diese Lieder, gesungen von Vesselina Kasarova, werden ergänzt durch die „Schilflieder“ vorgetragen von Dietrich Fischer Dieskau in einer Radio-Aufnahme von 1956. Aus diesem Anlass bringen wir nachstehend einen Artikel zum Komponisten und ein Gespräch mit der Sängerin und ihrer Klavierbegleiterin Galina Vracheva von  Ulrich Wirz.

 

Vesselina Kasarova und ihre Pianistin Galina Vracheva/ Foto Thomas Becker

Henri Marteau und sein Werk: Beim Label solo musica erschien als Vol. 2 der Diskographie des kompositorischen Schaffens des französischen-deutschen Geigers und Komponisten Henri Marteau (1874–1934) eine CD mit drei Liedzyklen. Die Lieder op. 19c und op. 28 wurden in Co-Produktion mit dem SRF Zürich in dessen Tonstudio mit Vesselina Kasarova (Mezzosopran) und Galina Vracheva (Klavier) erstmals überhaupt eingespielt. Die Fünf Schilflieder op. 31 interpretierte bereits Dietrich Fischer-Dieskau erstmals im Oktober 1956 für einen Mitschnitt im Studio des NDR als Hörfunkproduktion.

„Entdeckung eines Romantikers“ wurde schon die erste CD betitelt. In der Tat handelt es sich um wertvolle „Entdeckungen“, denn Henri Marteau war weit mehr als nur ein komponierender Geiger. Sein kompositorisches Schaffen bleibt längst nicht auf Werke für sein Instrument oder für dessen Instrumentengattung beschränkt. Zwar hat er auch ein Violinkonzert und ein Cellokonzert komponiert sowie ein Streichtrio, mehrere Streichquartette und-quintette und ein wunderschönes Klarinettenquintett. Unter seinen 45 Werken mit Opuszahl finden sich neben Kammermusik aller Art auch Orchesterwerke, Chorwerke, Kirchenmusik und Lieder. Sogar einen komischen Einakter schrieb er, den er dem schwedischen König Gustav V. gewidmet hat. Die von der Internationalen Musikbegegnungsstätte Haus Marteau und solo musica produzierte Diskographie soll Marteau der Musikwelt als durchaus bedeutenden Komponisten der frühen 20. Jahrhunderts präsentieren.

Die Biographie von Blanche Marteau über ihren Mann/ Amazon

Sein nur sechs Jahrzehnte währendes Leben verlief hochdramatisch. Vor dem Ersten Weltkrieg durchschritt er eine märchenhafte Karriere vom Wunderkind zum nicht zuletzt an vielen Fürstenhöfen gefeierten Weltstar als Violinvirtuose. Von 1900–1907 in Genf und von 1908–1914 als Nachfolger von Joseph Joachim in Berlin wirkte er außerdem als höchst angesehener Violinpädagoge. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg ließ er sich im oberfränkischen Städtchen Lichtenberg, unweit von Hof gelegen, eine stattliche Villa im Heimatstil errichten, die er nach einer mehr als zweijährigen Odyssee durch verschiedene Internierungslager und dem Verlust seines Berliner Lehrstuhls mit seiner Familie nach dem Krieg als Hauptwohnsitz nahm. Seine Karriere und sein Künstlerleben erfuhren in den Kriegsjahren eine dramatische Wende, die auch in seinem kompositorischen Schaffen spürbar ist.

 

Die zwei Liederzyklen Opus 19c und Opus 28: „Während der Schutzhaft zwischen 1915 und 1917 komponiert“ erläuterte Henri Marteau mit Bleistift die Umstände der Entstehung auf dem Deckblatt der Skizzen zum von ihm ursprünglich als Opus 19 gezählten Zyklus. Betitelt sind die 8 Lieder „8 mélodies pour chant avec accompagnement de quatuor d’instruments à archet (2 violons, alto et violoncelle), ou de piano“. Zeitnah bat er seinen in Zürich geborenen und in Berlin ausgebildeten Kammermusikpartner Pantscho Wladigueroff (1899–1978), Bruder des Marteau-Schülers Lüben Wladigueroff, um Einrichtung der Klavierfassung des Werks. Die Gedichte, die Marteau äußerst feinfühlig vertont hat, stammen aus der Feder seiner französischen Landsmänner Sully Prudhomme (1839–1907) und François Coppée (1842–1908).

Henri Marteau/ Wiki

Die Lieder beschreiben bildhaft und symbolisch Natur und Regen, die Landschaft der Bretagne, das Meer und die hübschen Grisetten, die sich nach der Arbeit ihren Liebhabern hinwenden. Als durchaus noch impressionistisch angehaucht entfaltet Marteau in op. 19c eine sehr poetische und atmosphärische Musiksprache. Die meisten Lieder sind in langsamem Tempo gehalten, die Stimmungen eher verhangen und in Moll.

In den 8 Gesängen mit Klavierbegleitung Opus 28 hingegen vertont Marteau deutsche Gedichte, von Friedrich Hölderlin (1770–1843), Otto Julius Bierbaum (1865–1910), Emanuel Geibel 1815–1884), Martin Greif (1839–1911) und von der rumänischen Königin Elisabeth (1843–1916), die eine geborene Prinzessin zu Wied, also deutscher Abstammung, war und die unter dem Pseudonym „Carmen Sylva“ geschrieben hat. Die Lieder sind nun kürzer, die Harmonien dazu angemessen kompakter, die Tempi flüssiger und die Grundstimmung aufgehellt und in Dur.

 

Vesselina Kasarova in „Herzog Blaubarts Burg“ am Staatstheater Wiesbaden/ Foto: Karl & Monika Forster

Und nun die beiden Künstlerinnen im Gespräch mit  Ulrich Wirz:  Beide Werke waren Ihnen bis zum ersten Blick in die Noten unbekannt. Wie war der erste Eindruck, wie kann man die Musik stilistisch einordnen? Vesselina Kasarova: Auf den ersten Blick sehen die Lieder nicht so komplex aus, wie sie sich am Ende dann wirklich erweisen. Wenn man intensiv damit arbeitet, tritt eine Art von Musik zu Tage, die wirklich sehr anspruchsvoll ist auf ihre Weise – der Text und die Musik im Zusammenspiel.

Wenn man sich den Klavierpart anschaut, sieht man wahnsinnig viele Noten. Beim Gesang dagegen kann man es nicht auf den ersten Blick erahnen, aber beim Klavierpart denkt man sofort, die Begleitung ist dick instrumentiert. Galina Vracheva: Ich habe zuerst eine emotionelle Verbindung gesucht, weil mir die vielen Noten sofort gesagt haben, das kann nur impressionistisch sein. Das war in Marteaus Zeit durchaus etwas ganz Gängiges. Er war ja Zeitgenosse von ganz vielen impressionistischen Künstlern, allen voran Claude Debussy. Er schrieb aber auch Harmonien, die an Kirchenmusik erinnern.

Können Sie ein Beispiel nennen?  Galina Vracheva: Durchaus, und zwar „Vitrail“ aus op. 19. Es ist wie ein Gebet, aber auch wie eine ehrliche Betrachtung der Welt, ohne Eitelkeit, ohne menschliche Unzulänglichkeit. Die Harmonien sind knapp, die Farben sind diesmal nicht da, die Kirchenfenster (vitrail) werfen den Blick sozusagen zurück, nach innen. Es ist ein stilles Lied, ein leises Lied, trotzdem wirkt es sehr stark. Es lädt ein zum Innehalten, vielleicht weil man vor seinem Gewissen steht, oder vor dem Allerhöchsten?

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit von Ihnen beiden bei der Erarbeitung? Vesselina Kasarova: Wir sind beide sehr erfahrene Künstlerinnen. Trotzdem – es gab Momente, wo wir viel nachdenken mussten, wie wir die Lieder interpretieren sollen. Wir begannen jede für sich zu Hause Lied für Lied durchzuarbeiten. Galina Vracheva: Bei unserer ersten gemeinsamen Probe suchten wir dann gemeinsam nach verschiedenen Klangfarben. Jeder hatte das zunächst daheim für sich getan und dann gemeinsam eben bei der ersten Probe.

Vesselina Kasarova: „Alcina“ mit Anja Harteros an der Wiener Staatsoper/ Szenen-Still/ Medici-TV

Wie war ihr Eindruck, als Sie die Texte lasen? Vesselina Kasarova: Die Texte – das muss ich sagen – beschreiben die Natur, die Liebe. Es ist viel wunderbare Poesie. Die französische Sprache passt bei den Liedern op. 19c perfekt zu dieser Musik. Man braucht viel Fantasie, man braucht einen Künstler mit viel Gefühl. Jetzt spreche ich für uns beide:  Es braucht auch viel menschliche Erfahrung und die Musik hat auch eine Spur Melancholie. Galina Vracheva: Bei unserer gemeinsamen Arbeit passierte auch viel Merkwürdiges. Ein Beispiel: Wir haben ein neues Lied geprobt. Beim ersten Durchspielen wollten wir verstehen, welchen Eindruck es hinterlässt. Es passiert sehr schnell, die Wirkung ist sehr stark. Es ist uns einmal passiert, dass Vesselina Tränen in den Augen hatte. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte mir, dass sie gerne empfindsame Leute hat. Das finden wir in Marteaus Musik. Er war ein ganz besonderer Mann.

Man findet auch ganz verschiedene Stimmungen in seiner Musik – auch verschiedene Charaktere in seinen Liedern. Vesselina Kasarova: Absolut – wir haben uns die Frage gestellt, welche Tempi wollte er haben? Das ist wirklich schwierig. Nur kleine Nuancen – Millimeter in der Geschwindigkeit – verändern den Ausdruck eines Liedes enorm. Sprachlich manchmal nicht mehr machbar.

Die Tempi sind ein gutes Stichwort. Über die Wirkungsmöglichkeiten der Tempi haben sich Komponisten wohl immer ihre Gedanken gemacht. Marteau schreibt teilweise sehr ausführliche Anweisungen dazu. Wie nahmen Sie diese Hinweise auf?  Galina Vracheva: Die langsamen Tempo-Anweisungen haben uns zuerst ziemlich verwirrt, bis wir darauf gekommen sind, dass uns der Komponist vielleicht durch diese Angaben sagen wollte: „bitte den Text verständlich machen und nicht hastig zum Ausdruck bringen.“ Allerdings interpretiere ich in diese Tempoangaben auch Marteaus Wunsch hinein, den Moment zu erhalten, gewissermaßen „verweile doch…“ zu sagen. Wir sind deshalb ganz vom Text und den musikalischen Phrasen ausgegangen, bis wir so zu einem natürlichen Tempo gefunden haben. Dieser Lernprozess war für uns wie eine Reise in (s)eine innere Welt, die mir persönlich viele Emotionen und nicht zuletzt auch den Schlüssel zur Interpretation gebracht hat.

Vesselina Kasarova: „Il Barbiere di Siviglia“ in Zürich/ Foto-Still/ Medici TV

Und in op. 28? Auch da sind die Tempovorgaben eher getragen. Welche Stimmungen vermittelt uns diese Musik?  Galina Vracheva: Ich könnte mir vorstellen, dass Marteau mit Tempoangaben wie „Maestoso“ oder „Sostenuto“ u. ä., seine musikalischen Ideen geordnet hat. Ansonsten ist die Stimmung in diesem Opus sehr viel positiver, die Melodien sind kürzer, klarer definiert. Das Klavier sorgt hier für die Stimmungen, während die Singstimme mehr beschreibt als erzählt.

Vor allem das Liebeslied, welches diesen Zyklus beschließt, vermittelt den Eindruck, dass sich etwas verändert hat. Man glaubt plötzlich, so etwas wie Leichtigkeit zu spüren? Galina Vracheva: Die Leichtigkeit bei Marteau! Das ist Stoff für einen ganzen Aufsatz. Die Leichtigkeit in diesem Liebeslied ist wie ein Teil der Farben in der enormen Klangfarbenpalette des Komponisten. Schon allein seine Harmonien, und die Wege, die er dafür wählt. Seine Lieder sind für mich wie der Blick in ein Kaleidoskop aus feinem Kristall: drinnen gibt es philosophische Einstellungen, große Poesie, die Liebe zur Sprache, und immer wieder diese Freude, auf harmonische Entdeckungsreise zu gehen, auch wenn das Ziel vielleicht vorher noch gar nicht bekannt ist. Das hat für mich auch eine gewisse Leichtigkeit.

Damit sind wir inmitten der Frage nach der Werktreue bei der Interpretation. Aus dem bisher Gesagten kann ich schließen, dass es Ihnen Marteau in dieser Beziehung nicht leicht gemacht hat? Galina Vracheva: Wir sind beide zu einer Seriosität erzogen worden, wirklich jede Note golden zu nehmen. Das ist wichtig. Nur mit der Zeit mussten wir feststellen, dass seine Tempobezeichnungen mehr den Gesang als das gesamte Duo betreffen. Wir mussten einige Veränderungen vornehmen. Um uns zu versichern, dass wir richtig liegen, haben wir unseren wunderbaren Tonmeister Andreas Werner mit einbezogen. Ich glaube, wir haben es am Ende herausgefunden, aber es waren jedes Mal starke Bilder.

Als Interpret findet man während der Erarbeitung der Werke sicherlich auch seine ganz persönlichen Favoriten? Galina Vracheva: In der Tat: Wir haben schon unsere Favoriten. Ich bin z.B. vom siebten, vom vierten, vom dritten und vom ersten Lied – man könnte weinen und lächeln, wenn man es hört – besonders beeindruckt. Vesselina hat auch Ihre Favoriten. Vesselina Kasarova: Aber für mich wird jetzt wirklich der aller spannendste Moment, wenn wir den ganzen Zyklus erstmals selbst in seiner Gesamtheit zum Anhören bekommen.

Das Grab Henri Marteaus in Lichtenberg/ Wiki

Spannend an der ganzen Geschichte ist auch die Entstehung dieser Lieder. Op. 19 hat Marteau in der Gefangenschaft geschrieben. Das war die schlimmste Zeit seines Lebens, weil er nicht konzertieren durfte. In der Zeit konnte er nur komponieren. Das war eine schwere Zäsur in seinem Leben. Deswegen haben diese Lieder eine sehr wichtige Bedeutung in seinem Leben. Vesselina Kasarova: Umso mehr muss ich bestätigen, was ich gefühlt habe, bei seiner Musik. Diese Lieder haben eine enorme positive Energie. Das war mir vorher nicht bewusst – wenn man das jetzt auch noch dazu weiß.

Marteau schrieb nach Rückkehr aus den Internierungslagern im Frühjahr 1917 Dankesbriefe u.a. auch an den Stadtmagistrat von Lichtenberg, die seine optimistische Grundstimmung zum Ausdruck bringen. Die Briefe zeigen, dass er nicht mehr verbittert war – vielmehr äußert er Dankbarkeit für die gemachten menschlichen Erfahrungen. Er wollte nun das Beste aus seiner Situation machen. Er hat diese Stimmungen in mehrere Kompositionen jener Zeit eingebracht. Galina Vracheva: Ich habe aber auch gemerkt, dass ein Teil der Texte, die er ausgewählt hat, sehr gefühlsfordernd sind – und ein anderer Teil gibt Liebe und Stabilität sowie Reinheit. Das hilft uns sehr bei der Interpretation und überrascht.

Marteau war ein sehr gebildeter Mann mit phänomenaler Literaturkenntnis und er sprach mehrere Sprachen fließend, neben Französisch und Deutsch auch Schwedisch. So konnte er mit Sicherheit alle für die Lieder ausgewählten Texte sehr gut verstehen.  Galina Vracheva: Man hört vor allem, dass Marteau perfekt zweisprachig war, und sich in jeder Sprache genau auskannte mit der Prosodie. Bemerkenswert ist allerdings, dass er die vielen kurzen Silben der deutschen Sprache mit auffallend leichten melodischen Übergängen ausstattet. So klingt es weder abgehackt noch schwer. Für meine Ohren bekommt es dadurch etwas von der Leichtfüßigkeit der französischen Sprache.

Internationale Musikbegegnungsstätte Haus Marteau Lichtenberg/Wiki

Wenn man das in Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte bringt, bekommt das Ganze eine besondere Qualität. Opus 19 schrieb er wie gesagt während der „Schutzhaft“, op. 28 dann daheim in Lichtenberg. Galina Vracheva: In seinen Kompositionen bringt er sehr viele unterschiedliche Stimmungen zum Ausdruck. Aber grundsätzlich spüre ich schon am meisten Freude in Opus 28, und ich glaube, dass er sich in dieser Zeit in seinem Haus in Lichtenberg wieder sehr glücklich gefühlt haben muss. Er war verbunden mit der Natur, er genoss den Blick in diese schöne Landschaft, und er war oft und gerne in Gesellschaft von Gleichgesinnten. Er pflegte Kontakt zu Zar Ferdinand I. von Bulgarien, der im deutschen Exil unweit von Lichtenberg in Coburg lebte und der mit seiner Entourage mehrmals in Haus Marteau Gast war. Der Hausherr empfing die Gäste als Liebhaber der Jagd, und er verabschiedete sie als Liebhaber der Musik.

Sein Haus in Lichtenberg, die ihn dort umgebende Natur haben einen sehr intensiven Einfluss auf seine Klangfarben ausgeübt. Wenn man dort ist, kann man das sehr gut nachspüren. Galina Vracheva: Vesselina sagte einmal bei einer Probe zu mir, was ist das für ein Lied, wie soll ich das interpretieren? Ich habe ihr gesagt, ich muss dich einmal mitnehmen nach Lichtenberg, wenn es dort regnet, dann weißt du, was Henri Marteau gefühlt haben muss, als er das Lied komponiert hat. Ich hoffe, wir werden einmal die Gelegenheit haben, im Haus Marteau diese Lieder darbieten zu können. Das ist eine lebensspendende Oase dort.

Vesselina Kasarova und ihre Pianistin Galina Vracheva/ Foto Adriana Tripa

Im Sommer wurde neben der Villa ein kleiner Konzertsaal gebaut. Der Unterricht soll weiterhin überwiegend in der Villa stattfinden, um dieses besondere Flair zu haben. Wenn wir zum Abschluss zurückkommen auf Henri Marteau und seine Zeit – und noch einmal seine Harmonien betrachten, so war er für mich schon ein Grenzgänger mit Blick auf die „Moderne“ nach dem Ersten Weltkrieg, weil er durchaus ganz gewagte Harmoniewechsel und Harmonien verwendete, die man von einem komponierenden Geiger so überhaupt nicht erwartet. Galina Vracheva: Marteau war ein sehr ernstzunehmender eigenständiger Komponist, und damit eben nicht einfach nur ein komponierender Geiger. Er wagte sich gewiss nicht so weit nach vorne wie Hindemith, mit dessen Liedkompositionen ein zeitgenössischer Kritiker die Fünf Schilflieder mal verglichen hat. Ich weiß, dass für Marteau das Komponieren wie auch das Geige-Spielen in allen seinen Lebensbereichen tägliche Geistesnahrung war. Er hat es vermutlich nie ganz voneinander getrennt, und er hat eben beides täglich getan – bis fast zum letzten Tag (Foto oben: Vesselina Kasarova und Galina Vracheva/ Foto Thomas Becker). Ulrich Wirz

Genie und Eitelkeit

 

Am 6. September 1829 schrieb Konstanze, Mozarts Witwe, an eine Freundin in Paris und äußerte ihre Dankbarkeit für all das, was der Mann seiner Korrespondentin für den Nachruhm Mozarts tue: „Mein Sohn Wolfgang wird außer sich vor Freude sein; denn wie groß war seine Freude und Dankgefühl, mit mir von dem höchst wohltätigen Freund mündlich sprechen zu können. Ja ganze Stunden sprachen wir von nichts als unserem Spontini, wie er das génie seines Vaters anerkennt, und es an seiner Familie beweist, welch ein Verehrer Mozarts er ist“. Adressatin des Briefes war Céleste Erard (1790-1878) aus der Familie der Pariser Klavierbauer, die 1811 den italienischen Komponisten geheiratet hatte. Gaspare Spontini hatte schon in Paris versucht, Mozart populär zu machen, indem er z. B. Aufführungen des Don Giovanni unterstützte. Später dirigierte er in Berlin mehrere seiner Werke (neben den Opern auch das Requiem und Symphonien) und trug finanziell entscheidend dazu bei, dass die Mozart-Biographie von Konstanzes Ehemann Georg Nikolaus Nissen in Leipzig bei Breitkopf und Härtel 1828 gedruckt wurde (er wird in der Danksagung denn auch als erster genannt).

Verehrung und Bewunderung für Musiker sind nicht Qualitäten, die man eigentlich mit der Gestalt des Gaspare Spontini (1774–1851) verbindet. Ganz im Gegenteil: Vielen galt er als hochmütig und selbstsüchtig. Seine Eitelkeit war sprichwörtlich, und er hielt sich oft mit Häme und Verachtung für die Mitmenschen nicht zurück (noch 1844 meinte er, die Italiener seien alle cochons, die Franzosen deren Nachahmer, und die Deutschen kämen nie „aus ihren Kindereien zurück“). Er konnte sich seine unausstehliche Arroganz leisten, denn in seiner Zeit galt er als der erfolgreichste und einflussreichste Opernkomponist überhaupt (noch vor Cherubini). Sein Ruhm verblasste jedoch um die Mitte des 19. Jahrhunderts schnell, und heutzutage werden seine Opern nur selten aufgeführt.

Kleine italienische Bühnen haben zwar dankenswerterweise mehrere seiner frühen, vor dem Umzug nach Paris im Jahre 1803 verfassten, Opern inszeniert (darunter 1995 in seinem Geburtsort Jesi einen bemerkenswerten Teseo von 1798), aber seine späteren Meisterwerke sind aus den Spielplänen wieder verschwunden, nachdem die Aufführung der Vestalin an der Scala mit Maria Callas 1954 für Aufsehen gesorgt hatte. Eine vom Palazzetto Bru Zane lustlos eingerichtete, erbärmlich gesungene Aufführung in Bruxelles 2015 hat dem Stück eher geschadet als genutzt, und die Olympie mit einem überforderten Jérémie Rhorer letztes Jahr war nicht viel besser (sie kommt bei Ediciones Singulares als CD-Buch heraus). Eine konzertante Vestale in Dresden 2013 blieb ebenfalls ohne Folgen. Der großen Anerkennung seiner musikhistorischen Bedeutung in den Fachkreisen (operalounge.de berichtet z. B. über einen interessanten Sammelband und wies  ausführlich á propos der Florentiner Agnese auf die kommende Agnes von Hohenstaufen in Erfurt im Jun i 2018 hin) hat leider keine Nachwirkung in der breiten Öffentlichkeit.

Umso mehr begrüßt man die Initiative des Dozenten und Musikschriftstellers Patrick Barbier, der eine kurze Einführung in Leben und Werk Spontinis vorlegt und damit die erste Monographie zu diesem Komponisten seit dem Buch von Paolo Fragapane vor über 60 Jahren (1954) veröffentlicht. Barbier beschreibt das Leben des Gaspare Spontini und stellt nach und nach seine Hauptwerke in Text und Bild vor (der Band enthält viele Illustrationen). Er fasst die Handlungen der Opern zusammen und urteilt über die Musik, wobei die Kriterien allerdings unklar bleiben. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass sie subjektiv, ja willkürlich sind. Aber das ist nicht das größte Problem mit diesem Buch. Die Collection Horizons des Bleu nuit Editeur ist wegen ihrer Schlampigkeit berüchtigt. Barbier hat sich offensichtlich redlich bemüht, mit Genauigkeit nicht aufzufallen. Es gibt viele Druck- und andere Fehler. Um nur ein Beispiel zu nennen: Barbier tischt das längst widerlegte Märchen auf, nach dem das Horst-Wessel-Lied auf einen Chor des Joseph von Etienne-Nicholas Méhul (1763-1817) zurückgeht, den er übrigens Joseph Méhul nennt (S. 81). Man sollte aber nicht ungerecht sein. Barbier schreibt flott, und man liest seine Ausführungen gerne. Ein Deutscher hätte vermutlich einen 400seitigen Band verfasst (Stoff dafür gäbe es genug) und ab Seite 50 seine Leser einschlafen lassen. Barbier erzählt pointiert und unterhaltsam und kommt mit 150 Seiten Text aus. Am Ende hat er einige Apparate hinzugefügt, die nützlich sind (etwa eine Liste der Werke, eine Diskographie sowie eine Bibliographie, und es gibt sogar ein Namensregister, wo übrigens Méhul seinen echten Namen zurückbekommt). Aus diesem Grund kann die Lektüre all denjenigen empfohlen werden, welche der französischen Sprache mächtig sind.

Dass dieser kompakte Führer ins Deutsche übersetzt wird, was berechtigt wäre (immerhin war Spontini zwanzig Jahre, von 1820 bis 1841, in Berlin tätig), ist aufgrund der Tatsache, dass man ihn heute nicht mehr spielt, kaum anzunehmen. Hausherr Guy Montavon und das Theater Erfurt bilden hier eine lobenswerte Ausnahme: sie werden im Juni 2017 die erste moderne Aufführung der Agnes von Hohenstaufen auf Deutsch auf die Bühne bringen, nachdem sie sich schon 2006 mit beachtlichem Ergebnis für den Fernand Cortez eingesetzt hatten.

Dem deutschen Leser steht freilich eine meisterhafte, wenn auch nur wenige Seiten umfassende Spontini-Monographie zur Verfügung. Gemeint ist der Abschnitt, den Richard Wagner in seinen 1880 abgeschlossenen Lebenserinnerungen unter dem Titel Mein Leben Spontini widmet. Wagner hatte in Dresden den Plan gefasst, die Vestalin unter Mitwirkung von Wilhelmine Schröder-Devrient und Josef Tichatschek (excusez du peu) zu inszenieren und lud dazu den Komponisten höchstpersönlich ein. Der Meister, wie Wagner ihn durchgehend nennt, sagte in „einem sehr majestätischen Antwortschreiben“ zu, blieb einige Monate in der sächsischen Hauptstadt und leitete selbst einige Aufführungen. In meisterhafter Prosa erzählt Wagner von den damit verbundenen tragikomischen Ereignissen. Mit ungewöhnlich milder Ironie beschreibt er Macken und Irrmeinungen Spontinis, welcher etwa keine Zukunft für die deutsche Musik mehr sah, nachdem er selbst Berlin verlassen hatte! Ausgerechnet Wagner wirft ihm eine übertriebene Meinung über die eigenen Leistungen vor. Doch das alles verdeckt seine ehrliche Bewunderung für den Musiker Spontini nicht. Schon in den 1840er Jahren begann indes sein Stern unaufhaltsam zu sinken, und aus dem Tief hat sich sein Œuvre nie richtig erholt. Monographien wie Barniers Buch und Aufführungen wie diejenigen, die in Erfurt geplant sind, werden hoffentlich mithelfen, einem Genie des 19. Jahrhunderts den gebührenden Platz im europäischen Kulturleben endlich zurück zu geben (Patrick Barbier, Gaspare Spontini, Bleu nuit Editeur 2017/ Collection Horizons), 176 Seiten, Abb., ISBN 978-2-35884-067-5). Michele C. Ferrari

 

 

Ausdrucksvielfalt

 

Sein  erstes Mozart-Album nahm nun Juan Diego Flórez bei Sony auf und bewegt sich damit in einem neuen Repertoire. Einige Arien aus Opern des Komponisten hat der peruanische Tenor freilich schon mehrfach in seinen Konzerten und Recitals gesungen und diese finden sich auch auf der CD (89854 30862). Da sind vor allem die beiden Ottavio-Arien aus Don Giovanni oder Ferrandos „Un’ aura amorosa“ aus Così fan tutte, bei denen man die Erfahrung des Sängers mit diesen Nummern spürt. „Il mio tesoro“ besticht durch die ganz individuelle Formung der Arie mit vielen Nuancen und Variationen, die man so noch nicht gehört hat, „Dalla sua pace“  besticht durch den schmelzreichen, schwebenden Klang der Stimme.  Und natürlich findet er auch für Ferrandos berühmtes Solo eine ganz individuelle Fassung.

Gleich zu Beginn des Programms bietet der Solist mit Idomeneos großer Arie „Fuor del mar“ ein Virtuosenstück par excellence – noch dazu in der ungekürzten Originalfassung –, womit der Tenor an seine glanzvollen Auftritte im Belcanto-Fach erinnert. Vielleicht fehlen der Stimme für diese Vaterfigur noch die Reife und eine dunklere Färbung, sie klingt auch hier nach der eines Liebhabers. Aber die souveräne Bewältigung der heiklen Koloraturgirlanden samt zusätzlich eingelegten Spitzentönen und Verzierungsvarianten nötigt größte Bewunderung ab.

Auch Titos „Se all’impero, amici Dei“ verlangt vom Interpreten bravouröse Koloraturen. Es handelt sich dabei um eines jener Stücke, die Flórez im Alter von 17 Jahren am Konservatorium von Lima lernen musste. Titos andere Arie, „Del più sublime soglio“ stellt zu dem furiosen Ausbruch einen großen Kontrast dar, ist ein inniges Seelengemälde, das er mit zärtlicher Kantilene ausmalt. Von männlicher Energie erfüllt ist Alessandros Arie „Si spande al sole in faccia“ aus Mozarts Frühwerk Il re pastore, das zu den gelungensten Titeln der Anthologie zählt dank der beherzten Koloraturen und des heroischen Ausdrucks.

Auch zwei deutschsprachige Beiträge finden sich in der Sammlung – Taminos Bildnisarie aus der Zauberflöte und Belmontes vertrackt schwierige Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“ aus der Entführung – und werden in exemplarischem Deutsch wiedergegeben. Taminos schwärmerische Bewunderung von Paminas Bild setzt der Tenor mit gleichermaßen energischem wie schmachtendem Ausdruck um, Belmontes Liebesbeteuerung formuliert er weich und schwärmerisch bei sicherer Bewältigung der schwierigen Koloraturen.  An den Schluss der Anthologie hat Flórez die Konzertarie „Misero! O sogno… Aura che intorno spiri“ gesetzt, in der er schon im Rezitativ mit reicher Ausdrucksvielfalt überrascht, in der Arie mit lyrischer Kantilene und im Schlussteil mit dramatischem Impetus überzeugt.

Ein idealer Partner ist dem Sänger das Orchestra La Scintilla aus Zürich, das unter Leitung von Riccardo Minasi auf historischen Instrumenten ein farbiges Klangbild beisteuert und spannende eigene Akzente setzt.

 

Bernd Hoppe

Nowowiejskis „Quo Vadis“

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Vor 100 Jahren war das Opern-Oratorium Quo Vadis ein viel aufgeführtes Werk. Zwischen 1909 und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs stand es mehr als 200 Mal in Europa und in Amerika auf den Spielplänen. Der Titel ist natürlich weltweit durch den Roman des amerikanisch-polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz bekannt, der als Vorlage für den Mammutfilm mit Robert Taylor und Deborah Kerr von 1951 diente (erste Verfilmungen entstanden bereits in der Stummfilmzeit; am bedeutendsten davon ist die italienische Verfilmung aus dem Jahr 1913 von Enrico Guazzoni, die einer der ersten abendfüllenden Kinofilme war). Zumindest im Westen erinnert sich fast jeder an diesen Schinken, wo Peter Ustinov als fieser Nero die Löwen auf die Christen hetzt (oben eine Szene mit Peter Ustinov in dem MGM-Film von 1951 unter der Regie von Mervyn LeRoy).

„Quo Vadis“: Henry Sienkiewics/ OBA

Die Vorlage Sienkiewiczs wurde mehrfach vertont, so auch von Jean-Charles Nouguès (* 25. April 1875 in Bordeaux, Aquitaine; † 28. August 1932 in Paris, Ile de France) in Paris 1909, gespielt auch zur Eröffnung der Volksoper Budapest und im Teatro Liceu in Barcelona am 27. November 1920. Das französische Libretto stammte von Henri Cain. Und das würde man wahnsinnig gerne hören wollen. Youtube hat ganz wenige Dokumente dazu mit Yvonne Gall u. a.  Erfolgreicher war die katholisch-national orientierte Oratorien-Version von Feliks Nowowiejski, die sich schnell durchsetzte und die Theater/ Konzertsäle eroberte.

Nun sind gleich zwei Aufnahmen des Opern-Oratoriums des polnischen Komponisten Nowowiejski erschienen, die das Werk von 1903 feiern und aus Anlass des 100. Todestages des Schriftstellers wie des 70. Todestages des Komponisten 2016 vorstellen. Eine ist der Konzertmitschnitt unter Lukas Borowicz in Posen 2016 bei cpo in einer nachträglich ins Polnische übertragenen Fassung. Die andere stammt von der Masurischen Philharmonie unter Piotr Sulkowski bei Dux in dem originalen deutschen Libretto von Antonie Jüngst (eine beachtenswerte Leistung der Veranstalter angesichts der fast obsessiven „Verpolnischung“ ehemals deutscher Text-Vorlagen wie die von Rubinsteins Manru und vielen anderen). Im Folgenden bringen wir eine Rezension des luxemburgischen Kollegen Remy Franck, der auf seiner hochinformativen website Pizzicato (deren Chefredakteur er ist) die beiden Aufnahmen besprochen und uns diese Rezension liebenswürdiger Weise überlassen hat. Danach gibt es einen Originaltext des in operalounge.de vielfach gelobten und präsenten polnischen Dirigenten Lukasz Borowicz aus dem cpo-Booklet zu Werk und Verbreitung. Und zum Schluss folgt ein Artikel von Katherina Lindt zu Henry Siekiewicz und seinem Echo in Polen und der Welt von der polnischen website www.polen-pl.eu anlässlich der 100-Jahrfeier für Henryk Sienkiewicz. G. H.

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„Quo Vadis“/ Feliks Nowowiejski/ Wiki

Remy Franck: Der polnische Komponist, Organist und Dirigent Feliks Nowowiejski (1877-1946) komponierte schon mit 10 Jahren sein erstes Klavierstück. Nachdem er eine Kantate an die Königliche Akademie der Künste in Berlin eingesandt hatte, wurde er im Jahre 1900 in die Meisterklasse für klassische Komposition unter Max Bruch aufgenommen. Während einer Studienreise durch Europa traf er Komponisten wie Antonin Dvorák, Gustav Mahler, Camille Saint-Saëns, Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo. Er wurde danach Kompositionslehrer, gleichzeitig Organist und Chorleiter an der St.-Hedwigs-Kathedrale und später an der Dominikanerkirche St. Paulus in Berlin. 1907 komponierte der mittlerweile mit vielen Preisen dekorierte Komponist das große Oratorium ‘Quo Vadis’, das seinen Weltruf begründete.

Ab 1909 wirkte Nowowiejski in Krakau, ging aber nach Kriegsausbruch aufgrund zunehmender Anfeindungen in Polen nach Deutschland zurück. 1918 ließ er sich in Poznan nieder und war dort als Dozent am Musikkonservatorium, sowie als Komponist, Dirigent und Chorleiter tätig. Er wurde ein Exponent des polnischen Patriotismus, was zum Streit mit seinem einflussreichen Lehrer Max Bruch führte, der erreichte, dass Nowowiejskis Musik in Deutschland von den Spielplänen verschwand. 1941 beendete ein Schlaganfall Nowowiejskis Laufbahn. Der Musiker starb 1946 in Poznan.

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Quo Vadis op. 30 basiert auf dem gleichnamigen Roman von Henryk Sienkiewicz. Das deutsche Libretto von Antonie Jüngst wurde später in mehrere Sprachen übertragen. Doch das Oratorium wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr im Ausland aufgeführt, und es war Lukasz Borowicz, der es 2016 nach Berlin brachte. Diese Produktion liegt auch der vorliegenden CD-Aufnahme von cpo zugrunde, die ungefähr zeitgleich mit jener von Dux auf den Markt kam.

Nowowiejskis „Quo vadis“ bei cpo

Der Unterschied zwischen beiden ist, dass Borowicz eine Fassung mit polnischem Text dirigiert,  „so wie es sich der Komponist gewünscht hätte“, sagt der Dirigent, während die von Dux den originalen deutschen Text benutzt. Lukasz Borowicz gelingt es, die oft ins Pompöse tendierende Musik geschmeidig und flexibel klingen zu lassen. Der Klang des Philharmonischen Orchesters aus Poznan und des Podlachischen Chors bleibt transparent und blüht in kräftigen Farben auf. Bei aller Dramatik, die der Dirigent effektvoll schürt, geht es Borowicz vor allem darum, die Musik stimmungsvoll werden zu lassen und ihre Botschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Das wird besonders in der sehr inspiriert gestalteten Dritten Szene sowie in der ergreifenden Vierten Szene deutlich, wenn Petrus und die Christen auf der Via Appia hinter sich das von Nero in Schutt und Asche gelegte Rom sehen und der Apostel sein Glaubensbekenntnis ablegt.

„Quo vadis“: auch Jean Nougués schrieb eine Oper diesen Titels/ BNF

Den Petrus singt der Bariton Robert Gierlach, der mit seinem metallischen Timbre und viel schlanker Kraft den Gesang absolut hinreißend werden lässt. Demgegenüber ist sein Bruder Wojtek Gierlach als Prätorianer etwas überfordert, und seine Stimme irritiert mit einem zu starken Vibrato. Sehr gut hingegen singt die Sopranistin Wioletta Chodowicz mit ihrer warmen Stimme. Orchester und Chor beeindrucken durch eine hohe Qualität

Dieses Niveau erreichen die Kräfte aus Olsztyn nicht ganz, wenn auch der Unterschied nicht sehr groß ist. Vor allem aber gelingt es dem Dirigenten Piotr Sulkowski nicht, der Musik jene vibrierend schlanke Dramatik zu geben, die Borowicz’s Aufnahme auszeichnet. Hinzu kommt, dass Borowicz die etwas patchworkartig wirkende Musik deutlich besser im Griff hat und stilistisch einheitlicher werden lässt als Sulkowski. Bei Borowicz strebt die Musik zielgerichtet einem Höhepunkt entgegen, während sie bei Sulkowski letztlich etwas anekdotischer bleibt.

„Quo Vadis“/ Henryk Siemiradzki Christian: Dirce (1890)/ Wiki

Die Solisten der Dux-Aufnahme sind sehr gut. Aleksandra Kurzak (die spätere Frau Alagna) gefällt mit einer reinen und leuchtkräftigen Sopranstimme. Artur Rucinski hat ein etwas wärmeres Timbre als Gierlach, kann aber den Petrus nicht so zwingend darstellen wie sein Konkurrent in der Borowicz-Einspielung, dessen souveräne Leistung im Vergleich noch viel stärker auffällt. Während Rucinski älter und reifer, manchmal sogar sentimental klingt, zeichnet Gerlach einen forsch entschlossenen Petrus voller Tatendrang. Der Bass Rafal Siwek ist dem Prätorianer von Robert Gierlach deutlich überlegen.

Aufnahmetechnisch klingt die cpo-Einspielung eindeutig ausgeglichener als die von Dux, in der etwas viel mit den Reglern gearbeitet wurde. Die cpo-Einspielung ist zwar genau wie die Dux-Einspielung deutlich in die Tiefe angelegt, erlangt aber im Hintergrund nicht jene prägnante Klarheit, die die Aufnahme aus Poznan auszeichnet. Das größte Handicap der Dux-Aufnahme ist wohl die deutsche Sprache, die von den Sängern nicht wirklich idiomatisch behandelt wird. Da wären dann wohl ein deutscher Chor und deutschsprachige Solisten besser mit dem Text zuwege gekommen.

„Quo Vadis“/ Der Autor: Pizzicato-Chefredakteur Remy Franck mit Mohamed El Wakil, CEO von NGL – Naxos Global Logistics (Foto Naxos/ Pizzicato)

Wer sich nicht beide Einspielungen kaufen will, sollte sich daher wohl eher für die Borowicz-Aufnahme bei cpo entschließen. Sie ist musikalisch besser und wird dem großartigen Werk von Nowowiejski mit viel Spannkraft vollauf gerecht. Remy Franck (mit Dank!)

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Felix Nowowiejski: Quo Vadis); Wioletta Chodowicz, Sopran, Wojtek Gierlach, Bariton, Robert Gierlach, Bass, Podlasie Opera and Philharmonic Choir, Poznan Philharmonic Orchestra, Lukasz Borowicz: 2 CDs cpo 555089-2; Aufnahme 05/2016, Veröffentlichung 2017 

Felix Nowowiejski: Quo Vadis; Aleksandra Kurzak, Sopran, Artur Rucinski, Bariton, Rafal Siwek, Bass, Sebastian Szumski, Baritone, Arkadiusz Bialic, Orgel, Gorecki Chamber Choir & Feliks Nowowiejski Warmia and Mazury Philharmonic, Piotr Sulkowski; 2 CDs Dux 1327-28; Aufnahme 2016, Veröffentlichung 2017

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„Quo Vadis“/ Lukasz Borowicz/Koncert Polskiej Orkiestry Radiowej (próba) lutoslawski.org.pl

Und nun Lukasz Borowicz: Vor einhundert Jahren war es in ganz Europa der absolute Renner – das Oratorium Quo Vadis von Feliks Nowowiejski. Jetzt hat es die Philharmonie Poznań unter Leitung von Łukasz Borowicz mit hervorragenden Solisten und dem Chor der Podlachischen Oper und Philharmonie Białystok wieder neu herausgebracht.

Feliks Nowowiejski komponierte sein Oratorium 1903. In den darauf folgenden dreißig Jahren wurde es mehr als 200 Mal in ganz Europa und in beiden Amerikas aufgeführt. Nicht zuletzt weil die literarische Vorlage, Henryk Sienkiewiczs Roman gleichen Titels, sehr bekannt war. Für sein literarisches Schaffen war der polnische Schriftsteller Sienkiewicz 1905 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden – die Popularität seines Romans „Quo Vadis“ dürfte daran einen beträchtlichen Anteil gehabt haben.

Das Oratorium Nowowiejskis geriet in der Folgezeit quasi in Vergessenheit. Schon deshalb, weil die großbesetzte Gattung an sich Schwierigkeiten im Konzertsaal bekam. Anders als die Oratorien Georg Friedrich Händels und Joseph Haydns sind die allermeisten „chorsinfonischen“ Werke des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute nicht wieder in die Veranstaltungskalender zurückgekehrt, ob sie nun religiösen oder profanen Inhalts sind. Quo Vadis ist sicher beides, ein nationalistisch deutbares Epos über die Christenverfolgung zu Zeiten des Römischen Kaisers Nero und dessen Tyrannei, die auf einem pervertierten System wie auf dem krankhaften Charakter eines Despoten beruhte. Zugleich ist sie aber ein Aufruf zu religiöser Umkehr und zur „richtigen“ Lebensführung.

„Quo Vadis“: Poster zum Stummfilm 1913/ poster.com

2016 jährt sich der Todestag des Komponisten Felix Nowowiejski zum 70. Mal. Nowowiejski lebte viele Jahre in Berlin, er war hier als Organist tätig und studierte einige Jahre u.a. bei Max Bruch. In Berlin komponierte er auch viele Teile seines Oratoriums, nachdem er seine ersten Anregungen dazu im Laufe einer Reise nach Rom bekommen hatte. 1907 wurde die erste Fassung seines Oratoriums in Usti nad Labem uraufgeführt. Nowowiejski unterzog es anschließend einer starken Revision und brachte es 1909 im Concertgebouw in Amsterdam erneut auf die Bühne. Nun trat es seinen Siegeszug durch die großen Konzertsäle der Welt an.

2016 ist auch Henryk-Sienkiewicz-Jahr, es ist der 100. Todestag des Dichters – und zugleich sind 170 Jahre seit seiner Geburt vergangen. Aus diesem Anlass spielt die Posener Philharmonie Nowowiejskis Oratorium „Quo Vadis“ nicht nur in Konin und Poznań, sondern auch in Berlin.

Feliks Nowowiejskis Biografie und künstlerisches Schaffen symbolisiert darüberhinaus etwas anderes: Er wurde im Ermland als Sohn einer polnisch-deutschen Familie geboren. Seine national-polnische Identität entstand im wesentlichen in den Jahren seines Studiums in Berlin, nicht zuletzt aufgrund der Germanisierungspolitik des Deutschen Kaiserreiches in den östlichen Provinzen und den besetzten polnischen Gebieten. Doch während des 1. Weltkrieges zog Nowowiejski zurück von Krakau nach Berlin, weil er aufgrund seiner Herkunft angefeindet wurde, und diente als kaiserlich-preußischer Militärkapellmeister, um sich dann in Poznań niederzulassen, als der polnische Staat wiedererstanden war. Viele der Werke Nowowiejskis sind Ausdruck dieser Identitätssuche, vor allem auch das Oratorium Quo Vadis. Doch es verkörpert ebenso allgemein humanistische Werte – wie das literarische Werk Sienkiewiczs – und taugt nicht zur politischen Vereinnahmung, weder damals noch heute.

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„Quo Vadis“/ Henryk Sienkiewicz und Kazimierz Pochwalski auf einem Gemälde von Kazimierz Pochwalski 1940/ polen-pl.eu

Zum Autor des Romans, Henryk Sienkiewicz nun Katharina Lindt: Quo vadis Polen? Eines haben sie gemeinsam, die Kulturpatrone des Jahres 2016: Sie sind patriotische Helden. Ihre Werke und ihre Taten formten Generationen von Polen und Polinnen. Es überrascht also nicht, dass die Entscheidung der Kommission für Kultur im Sejm auf den Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz sowie den Komponisten zahlreicher patriotischer Lieder, Feliks Nowowiejski, fiel. Auch den Fallschirmagenten der polnischen Exilstreitkräfte, den sogenannten Chichociemni, wird dieses Jahr die Ehre zuteil, Kulturpatrone zu sein. Die im Oktober gewählte Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) besinnt sich nicht nur auf den Patriotismus, sondern auch auf die katholischen Wurzeln des Landes. Erinnert wird an das wichtige Ereignis der Nationengründung, als Polen vor 1050 Jahren getauft wurde.

Erster polnischer Nobelpreisträger: Henryk Sienkiewicz war der erste Pole, der einen Nobelpreis für Literatur erhielt. „Seine historischen Romane gaben Generationen von Polen in Zeiten nationalen Unglücks seelischen Halt“, so die Begründung der Kommission. Er war ein Botschafter des Polentums. Einer, der als geistiger Hetman (Heerführer im ehemaligen Königreich Polen) der Polen bezeichnet wird. Sienkiewicz schrieb, als sein Land von drei Großmächten – Preußen, Russland und Habsburg – geteilt war. Die Einigung des Volkes ist die Konstante seiner Prosa. Deshalb wird Sienkiewicz solch eine hohe Würdigung zuteil, denn sein Erbe bildet die Grundlage für die patriotische Erziehung junger Generationen von Polen. „Wir alle tragen Ihn in uns“ (My wszyscy z niego), heißt es im Schreiben der Kommission.

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Am 15. November 2016 jährte sich sein Todestag zum 100. Mal. Dazu gab es im Verlauf des Jahres zahlreiche Veranstaltungen und Lesungen, die an das vielfältige Werk des Autors erinnern sollen. Es stellt sich also die Frage, warum lieben Polen Sienkiewicz?

„Quo vadis“, 1925 mit Emil Jannings/ Poster/ Propic

Historischer Roman: „Mit Geschichte will man etwas“, so Alfred Döblin in seinem Aufsatz Der historische Roman und wir. Das historische Erzählen stellt für Döblin eine Möglichkeit dar, die Gegenwart distanziert zu betrachten. Auch wenn wir heute mit einem historischen Roman zu allererst opulente Kulissen, Kostüme, epische Szenen, Intrigen und Heldentum verbinden, die ins Kitschige abzugleiten scheinen, erlebte der historische Roman im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt.

Er diente der Identitätsstiftung von Nationen. In der Romantik fingen Autoren an, sich für Geschichte zu interessieren. Damit sollte die Vergangenheit nicht verklärt, sondern gedeutet werden.  Man denke nur an Werke wie Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo, Der letzte Mohikaner von James Fenimore Cooper oder Krieg und Frieden von Lev Tolstoj – sie alle setzten sich aus einer komplexen Verflechtung aus Historie und Fiktion zusammen. Sie versuchen zu erklären, wie das Individuum in ein politisches und psychologisches Ereignis verflochten ist. Ein historischer Roman ist eine narrative Erkenntnis über das „wie“ und „wozu“.

Auch Sienkiewicz wollte mit Geschichte etwas – dem gebeutelten polnischen Volk Mut machen. Doch bis der historische Roman Sienkiewicz‘ Signatur wurde, durchlief der Autor einen langen publizistischen Weg.

Nowowiejskis „Quo Vadis“ bei DUX

Geschichte schreiben: In der Woiwodschaft Lublin 1846 geboren, die damals dem Russischen Kaiserreich angehörte, wuchs Sienkiewicz bereits als kleines Kind mit der Bedeutung des Patriotismus auf. Sein Vater Józef Sienkiewicz, ein armer Landadeliger, war nämlich am polnischen Unabhängigkeitskampf beteiligt. Später zog die Familie nach Warschau. Hier studierte Sienkiewicz Geschichte und Literatur. Diese Kombination sollte später ein roter Faden seiner Prosa werden. Doch zuerst beginnt seine Reise im Feuilleton. Als Auslandkorrespondent für die Zeitung Gazeta Polska begeisterte er das polnische Publikum mit Berichten aus Amerika. Nach seiner Rückkehr entstanden die Listy z podróży do Ameryki (Briefe aus Amerika), mit denen er einen großen Erfolg feierte. Danach folgten viele Reisen durch Europa, die ihm eine Möglichkeit boten, die Geschehnisse in seiner Heimat zu reflektieren.

In dieser Zeit schrieb Sienkiewicz kurze Erzählungen und Novellen, die dem polnischen Positivismus zugerechnet werden. Eine literarische Strömung, die in Deutschland unter dem Namen Realismus bekannt ist. In Polen aber wirkte die Strömung über das Literarische hinaus. Die Positivisten wollten nämlich das polnische Nationalbewusstsein stärken. Viele Intellektuelle organisierten „fliegende Universitäten“ und polnische Sprachkurse, denn unter der russischen und deutschen Obrigkeit herrschte eine strenge Sprachenpolitik. Die Positivisten hatten eine klare Vision für Polen: Sie wollten eine neue Gesellschaft auf kapitalistischer säkularer Grundlage bilden, die Emanzipation der Frauen sowie die Assimilierung der Juden voranbringen und der Germanisierung sowie Russifizierung entgegenwirken. Auf der literarischen Ebene äußerte sich das in Kurzgeschichten und Novellen, die zeitgenössische moralische und soziale Missstände beleuchteten. In diesem Milieu agierte Sienkiewicz. Doch das Schildern aus dem Hier und Jetzt reichte ihm nicht aus. Die Geschichte hatte Sienkiewicz schon immer fasziniert, deshalb wandte er sich dem historischen Roman zu.

„Quo Vadis“/ Filmpostkarte zum Stummfilm 1913/ filmpostcards.blogspot

Mit Feuer und Schwert: Als Fortsetzungsroman erschien 1883 in der Warschauer Zeitung Słowo (Das Wort) der Roman Ogniem i mieczem (Mit Feuer und Schwert) – der erste Teil einer Romantrilogie, die die Geschichte der Aufstände und Kriege der Adelsrepublik Polen-Litauen zwischen 1648-1672 erzählt. 1886 folgte der zweite Teil Potop (Sintflut) und 1888 schließlich Pan Wołodyjowski (Herr Wołodyjowski).

Es ist eine turbulente Zeit, die Sienkiewicz in der Trilogie monumental einfängt: Von der Rebellion der Kosaken unter Hetman Bohdan, über die Invasion der Schweden hin zur Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Viel Action, Liebe sowie vaterländischer Stolz. Und doch ist diese Trilogie mehr als nur ein Abenteuerroman. Sienkiewicz reflektiert eine zeitgenössische Debatte, die sich um die Bewertung der Adelsrepublik drehte. War die Teilung selbstverschuldet? Egoismus und Verfall des Adels wurden als Ursache gesehen. Oder konnte man dem Zeitalter der Katastrophen dennoch etwas Positives abgewinnen? Schließlich wurde in der polnischen Aufklärung 1791 die erste Verfassung verabschiedet. Die Aufstände in der Trilogie erscheinen vor dem Hintergrund der Aufstände gegen die Besatzer im 19. Jahrhundert wie ein prophetischer Appell. Denn die Trilogie endet mit dem Sieg von König Jan III. Sobieski gegen die osmanische Armee in der Schlacht am Kahlenberg. Haltet durch, es kommen bessere Zeiten, so die Message. Nicht nur die Elite las seine Romane, sondern das breite Massenpublikum. Eine nationale Ikone war geboren.

„Quo Vadis“/ Poster zum MGM-Film 1951/ Flick.ru

Feindbild Preußen im Roman: Kreuzritter: Auch den Kreuzrittern (Krzyżacy) widmete Sienkiewicz einen Roman, denn die Schlacht bei Grunwald (Tannenberg) 1410 gehört zum polnischen Nationalmythos. Er erschien 1900 und wurde in über 25 Sprachen übersetzt.

Als im 13. Jahrhundert Herzog Konrad von Masowien die Kreuzritter des Deutschen Ordens nach Polen holte, um ihm bei der Christianisierung der Balten zu helfen, wird ein Grundstein für eine fast 200 Jahre währende Macht der Bruderschaft gelegt. Das ist der Hintergrund des Romans, der im 14. Jahrhundert angesiedelt ist. Erzählt wird das Schicksal einiger Protagonisten, die unter der Schreckensherrschaft der Kreuzritter viele Verluste erleiden müssen. Liebesgeschichte inklusive. Am Ende gipfelt der Roman in der finalen Schlacht bei Grunwald. Das Königreich Polen unter König Władysław II. Jagiełło geht als Sieger hervor, der Ritterorden als Verlierer. Kritiker prangerten die schwarz-weiß Schablone „Böses Deutschland – edles Polen“ an. Das Feindbild, das Sienkiewicz thematisiert, kann aber nur vor der historischen Folie gelesen werden. Zu seiner Zeit war der imperialistische Charakter Preußens jedem Polen ein Dorn im Auge. Sienkiewicz‘ Heldenepos ist daher ein Lobgesang auf den polnischen Freiheitskampf. Und zur Stärkung der Herzen, wie er schrieb.

Quo vadis?: Langläufig nehmen viele Menschen an, dass Sienkiewicz 1905 für Quo vadis? den Nobelpreis erhielt. Die Auszeichnung galt aber dem gesamten literarischen Oeuvre. Wie all seine anderen Romane auch, publizierte Sienkiewicz Quo vadis? als Folgeroman in der Zeitung Gazeta Polska zwischen 1895-96. Worin gründet der Erfolg des Romans, der seither in über 40 Sprachen übersetzt wurde? Zum einen liegt es am literarischen Handwerk Sienkiewicz‘, zum anderen an der opulent inszenierten Geschichte.

Er entführt den Leser ins spätantike Rom, in die Zeit der Schreckensherrschaft Neros. Detailverliebt gibt er dokumentarisch die historische Wirklichkeit wider. Er zeigt die dekadente und grausame Seite Roms, die von Gewalt gezeichnet ist. Seien es brutale Gladiatorenkämpfe, Hinrichtungen, der von Nero angeordnete Brand Roms oder schließlich die bestialische Christenverfolgung. Und mittendrin im Strudel des Chaos spielt sich eine Liebesgeschichte ab. Ein junger Offizier und Patrizier des römischen Feldherrn Corbulo, Marcus Vinicius, verliebt sich in die Königstochter Lygia. Sie ist Christin und lebt bei einer reichen römischen Familie, die zum Christentum konvertiert ist, jedoch ist sie aus dem Volk der Lygier (das etwa im Raum des heutigen Schlesiens liegt) und wurde als Sklavin von einem Feldzug mitgebracht und als Tochter angenommen. Eine Tragödie scheint vorprogrammiert zu sein. Doch es wäre nicht Sienkiewicz, wenn diese Love-Story nicht mit einem Happy End enden würde. Schließlich behauptet sich das Christentum in der Geschichte.

„Quo Vadis“/ die Autorin Katharina Lindt/ polen-pl.eu

Mit seinem Roman Quo vadis? ist Sienkiewicz in guter Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert erschienen einige historische Romane, die in der Spätantike spielen. 1834 kam The Last Days of Pompeii von Bulwer-Lytton heraus und 1880 Ben-Hur von Lewis Wallace. Was alle drei Romane gemeinsam haben: ihr cineastisches Appeal, der einen Massengeschmack trifft. 1951 wagte sich Hollywood an die Verfilmung von Quo vadis? mit Peter Ustinov als Nero – bis heute ein Klassiker.

Selbst zu Lebzeiten spalteten sich die Geister über Sienkiewicz. Die einen liebten seine patriotischen Werke von vergangenen heldenhaften Zeiten. Die anderen prangerten die schablonenhafte Welt an, die er in seinen Romanen erschuf. Die Welt sei komplex und kein Abenteuerroman, so die zeitgenössischen Kritiker. Solche Diskussionen sind vorbei, was bleibt ist ein Klassiker der Weltliteratur. Den Artikel der Münchnerin Katharina Lindt entnahmen wir mit großem Dank der website www.polen-pl.eu anlässlich der polnischen 100-Jahr-Feier von Henryk Sienkiewiecz.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Bezauberndes für die Königin

 

Immer wieder überrascht Naxos mit unbekannten Werken, auch Opern aus Südeuropa (so Almeidas Spinalba oder Trionfo d´Amore).  Bereits 2015 veröffentlicht, aber im deutschsprachigen Raum wenig beachtet, ist die L´Angelica,  Serenata per Musica da incantarsi  von Joao de Suza de Carvalho, einem portugiesischen Komponisten von großem Renommée  Ende des 18. Jahrhunderts in Portugal und dem iberischen Raum. Bislang auf modernen Veröffentlichungen eher hervorgetreten mit geistlicher Musik wie seinem Requiem (das in den Sechzigern  auf Deutsche Grammophon Archiv in elegantem Klapp-Grau und den Kräften des Lissaboner Gulbenkian Instituts mit beiliegender musikwissenschaftlicher Information in die Welt Carvalhos einführte), erscheint nun Carvalho auch als eindrucksvoller Verfasser von vokaler Unterhaltungsmusik.

Denn die vorliegende Aufnahme bei Naxos ist bezaubernde leichte Kost für den königlichen Hof. Pedro Castro dirigiert ein gefälliges Ensemble (Joanna Seara, Lidia Vinyes-Curtis, Fernando Guimaraes, Maria-Luisa Lavirgen und Sandra Medeiros zusammen mit dem Concerto Campestre auf originalen Instrumenten, das Ganze 2014 in Lissabon aufgenommen (Naxos 2 CD 8.573554-55, Libretto im Netz zum downloaden). Dies ist nicht die erste Oper Carvalhos auf CD, bereits 1990 dirigierte René Clemencic eine etwas verdächtige Aufnahme von Testoride argonauti bei Nuova Era, die in der Folge sich bis heute bei verschiedenen Labels gehalten hat, die aber doch stilistisch und stimmlich zu wünschen übrig lässt. So ist Angelica doch die Favoritin für Liebhaber der iberischen vokalen Spät-Barockmusik. Trotz des wirklich grässlichen, asiatisch angehauchten Covers! G. H.

 

Zu „Angelica“: Joao de Suza de Carvalho

Wer war nun Sousa de Carvalho, dessen Name den wenigsten geläufig sein wird?  Er wurde 1745 in Estremoz geboren und starb 1798 in Lissabon. Er begann seine musikalischen Studien am 23. Oktober 1753 in Villa Viçosa und setzte seine Ausbildung später am Lissaboner Real Seminário de Música da Patriarcal fort. Im Alter von fünfzehn, am 15. Januar 1761, trat er in das Conservatorio di San Onofrio in Neapel ein, wo ihm (neben den Brüdern Jerónimo Francisco und Brás Francisco de Lima sowie einigen weiteren portugiesischen Musikern) von José I. ein Stipendium gewährt wurde.

1766 wurde seine Oper La Nitteti, ebenfalls basierend auf einem Libretto von Metastasio, in Rom aufgeführt. Im folgenden Jahr kehrte Carvalho nach Portugal zurück und schloss sich der Bruderschaft von St. Cäcilia in Lissabon an. Er lehrte dann Kontrapunkt am Seminário da Patriarcal; zu seinen Schülern zählten António Leal Moreira und Marcos Portugal. 1778 folgte er David Perez als Hofkomponist und Musiklehrer der portugiesischen Königsfamilie nach. Von da an schuf er regelmäßig Serenaden für königlichen Geburtstage und andere höfische Feierlichkeiten.

Verschiedene Musikwissenschaftler (Sampayo Ribeiro 1938, Santos Luís 1999, Stevenson/Brito 2012) stimmen darin überein, dass Carvalho der wichtigste portugiesische Komponist seiner Generation war. Vier der zehn Opern, die von portugiesischen Komponisten während seiner aktiven Zeit geschrieben wurden, stammen von ihm selbst; zehn der 36 Serenaden, die unter Maria I. entstanden, stammen ebenfalls aus seiner Feder.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hieß der Direktor der Königlichen Theater in Portugal Pinto da Silva. In einem auf das Jahr 1783 datierten Brief an den portugiesischen Botschafter in Italien, dessen Pflichten auch die Rekrutierung geeigneter Künstler für Portugal umfasste, beklagte Pinto da Silva die zunehmende Schwierigkeit, italienische Sänger zu finden, die gut genug waren, um den hohen Ansprüchen des Königshauses zu genügen. Auf der anderen Seite betonte er, dass es gegenwärtig keinen anderen Komponisten gäbe, der an João de Sousa Carvalho heranreichte. Er fügte hinzu, dass sowohl dieser als auch sein Schüler António Leal Moreira kürzlich exzellente Serenaden komponiert hätten.

„Kein Königshaus in Europa war damals so musikalisch wie jenes von Portugal“ – so verkündet Nathaniel Wraxall in seinen Historical Memoirs of My Own Time (erschienen 1815, wenngleich er über einen Besuch dieses Landes im Jahre 1772 schreibt). Er fährt fort: „Joseph [José I.] selbst spielte mit beachtlichem Geschick Violine; und die drei Prinzessinnen, seine Töchter, waren alle mehr oder weniger bewandert im Umgang mit verschiedenen Instrumenten.“ Josés älteste Tochter folgte ihm schließlich als Maria I. nach; ihre Regierungszeit sah zwar weniger großangelegte öffentliche Opernproduktionen, jedoch eine größere Zahl an Musikdramen, die im königlichen Palast anlässlich der Geburts- und Namenstage wichtiger Mitglieder des Königshauses aufgeführt wurden. Im Allgemeinen handelten diese Dramen von Heldentaten antiker Herrscher und zeigten einen Protagonisten, der die Tugend und die Vornehmheit eines modernen Mitgliedes des Königshauses widerspiegelte. Auf eine Weise ist die Wahl des hier vorliegenden Librettos erstaunlich, in welchem die hübsche Angelica ihren verführerischen Charme einsetzt, um dem edlen Orlando ihre Liebe vorzugaukeln, nur um anschließend stattdessen vielmehr mit Medoro das Weite zu suchen.

Joao de Suza de Carvalho: Maria I. von Portugal/ Wiki

Wir müssen uns gleichwohl vor Augen halten, dass die Widmungsträgerin dieses Werkes, Prinzessin Maria Francisca Benedita, die Schwester der Königin – und, glaubt man den Zeitgenossen, „schöner und künstlerisch begabter“ als dieselbe –, kürzlich Anwärterin auf den Thron geworden war und insofern von der Monarchin in Sachen Ethik und Moral geschult wurde. In der Geschichte der Angelica entwickelt sich alles nach ihren Vorstellungen und sie bekommt, was sie will, aber freilich sind die Konsequenzen ihres Handelns ernst und ungerecht. Sich der Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Schwester bewusst, wollte die Königin womöglich vermitteln, dass Schönheit und Intelligenz in einer angemessenen und moralisch akzeptablen Weise benutzt werden sollten. Die etwas unvorhersehbare Wendung in der Handlung, als Orlando den Göttern und Sternen aus kranker Eifersucht heraus Vorhaltungen macht, fügt einen Touch von Feinsinnigkeit zur Beziehung zwischen der fiktiven Heldin und der realen Prinzessin hinzu. Just in dem Moment, als alles verloren erscheint, sieht er einen „gütigen“ Stern, der ihm die Geburt einer noblen und tugendhaften Prinzessin voraussagt. Dies bringt ihn dazu, die licenza der Serenade, ein Widmungsstück, zu singen, in welches am Ende alle Solisten schlusschorartig lobpreisend einstimmen.

Joao de Suza de Carvalho: „Angelica e Medoro“/ Stich von Herissant, Paris 1781/ Wiki

Der Komponist von L’Angelica, João de Sousa Carvalho, war kürzlich als Nachfolger von David Perez Musikmeister der königlichen Prinzessinnen geworden; dies war seine erste Gelegenheit, ein höfisches Musikdrama zu schreiben, wobei ihm ein Text des großen italienischen Librettisten und Dichters Metastasio als Grundlage diente. Seine Fähigkeit, die Emotionen der Charaktere in den begleitenden Rezitativen zum Ausdruck zu bringen; seine Fertigkeit, Ornamente und Variationen in den sich wiederholenden Teilen der Arien einzubauen; die dramatische Intensität der Duette am Ende des ersten Teils und die Subtilität des Ausdrucks in Medoros zweiter Arie entzückte die Ohren und Herzen des Hauses Braganza über die Maßen, dessen anspruchsvoller und kultivierter Musikgeschmack weithin bekannt war. Tatsächlich war die Königin derart beeindruckt, dass sie verschiedene Partituren Carvalhos an den spanischen Hof nach Madrid schicken ließ und ihn auch zukünftig mit der Komposition für wichtige Anlässe des Königshauses betraute. Dies mündete in der Schöpfung der wichtigsten Bühnenwerke ihrer Regentschaft, darunter die „favola pastorale“ Nettuno ed Egle (1785).

Metastasios Libretto, zum ersten Mal 1720 von Nicola Porpora verwendet, ist eines seiner vielen kleineren Werke und eines der wenigen, das ursprünglich vom Dichter selbst als „serenata“ tituliert wurde – anstatt des gebräuchlicheren „dramma per musica“. Der Grund für diese Unterscheidung ist offenkundig nicht stilistischer Natur oder in Bezug auf die Charaktere – die Serenaden Alessandro Scarlattis tendierten dazu, von allegorischen Figuren bevölkert zu sein, deren Funktion es war, eine Einzelperson oder ein bedeutendes Ereignis zu feiern. Die augenfälligste Begründung, weshalb L’Angelica so bezeichnet wurde, ist poetischen Ursprungs und kann in der Handlung selbst gefunden werden. Diese entfaltet sich teilweise während der Nacht, in der die Liebenden fliehen. Ein Schimmer des Mondlichts leuchtet ihnen den Weg und Medoro singt aus Dankbarkeit an den Mond gerichtet die Arie Bella Diva all’ombre amica, genauso als sänge ein Liebhaber eine Serenade unter dem Fenster seiner Angebeteten. (Zu den vielen Vertonungen des Topos s. auch Alchetron website)

Joao de Suza de Carvalho: Textdichter Metastasio und Star-Kastrat Farinelli (Mitte) mit der Königlichen Familie aus Neapel auf dem Gemäde von Giacomo Amigioni/ Wiki

Zu Zeiten Marias I. wurden die Solisten bei der höfischen Aufführung von Serenaden von einem Orchester, bestehend aus etwa 35 Musikern, begleitet. Diese waren in unmittelbarer Nähe zur Königsfamilie in einem Raum des Queluz- oder Ajuda-Palastes positioniert. Die festliche Atmosphäre wurde noch erhöht durch die Anwesenheit von Höflingen und bedeutenden Gästen. Die Hofdamen saßen auf dem Fußboden, während alle anderen standen, wo immer sich Platz fand; alles in relativ informellen Rahmen. Da diese Werke nicht für eines der Hoftheater konzipiert waren, gab es keine Inszenierung und auch keine Kostüme. Allerdings kann man sich gut vorstellen, dass die Sängerinnen und Sänger ihre Rollen ausspielten, handelte es sich doch um dramatische Stücke. Die Musik selbst ist dergestalt komponiert, um den Charakteren Zeit zur Bewegung zu geben und verschiedene Gruppierungen von Sängern zu berücksichtigen. Dies alles in einer Partitur, die reich, expressiv und hochdramatisch-effektvoll ausgelegt ist.  Pedro Castro

 

Den Artikel von Pedro Castro entnahmen wir der Beilage zur besprochenen Oper; deutsche Übersetzung Daniel Hauser nach Susannah Howes Übertragung ins Englische im Booklet der Naxos-Ausgabe.