Die italienische Mezzosopranistin Anna Bonitatibus ist hierzulande für Kenner natürlich kein Geheimtipp mehr, für ein breiteres und nicht auf Belcanto spezialisiertes Publikum vielleicht doch noch. Wenngleich sich im internationalen Opernbetrieb der Name dieser aparten Sängerin längt herumgesprochen hat. Auf ihrem neuen Album mit dem Titel „en travesti“ präsentiert sie bei BR-Klassik (900318) die bekanntesten und bedeutendsten Arien, die in den vergangenen dreihundert Jahren für Frauen geschrieben wurden, welche auf der Opernbühne in Männerrollen auftreten: sogenannte Hosenrollen.
Die Einspielung erfolgte mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Corrado Rovaris. Die fünfzehn Arien beginnen bei Händel und Vivaldi, reichen über Gluck und Mozart, die Italiener Rossini, Bellini und Donizetti sowie die französischen Opernkomponisten Meyerbeer, Offenbach und Massenet, die Veristen Mascagni und Puccini bis hin zu Ravel und Richard Strauss; das Programm schließt mit einem Song aus dem Filmmusical „Victor/Victoria“.
Moritz Held skizziert im Folgenden den Aufstieg dieser bemerkenswerten Mezzosopranistin aus Süd-Italien.
Anna Bonitatibus, geboren in der süditalienischen Region Basilicata, studierte am Konservatorium in Genua, wo sie 1993 ihre Musik- und Gesangsausbildung erfolgreich abschließen konnte. 1999 bereits debütierte sie an der Mailänder Scala in Mozarts Don Giovanni unter der musikalischen Leitung von Riccardo Muti. Zu ihrem Repertoire gehören sowohl Werke des Früh- und Hochbarock als auch des italienischen Bel Canto; vor allem waren und sind es Produktionen der wichtigsten Bühnenwerke von Händel, Mozart und Rossini, die sie an den bedeutendsten Opernhäusern und Konzertsälen Europas erfolgreich interpretiert. Insbesondere die szenische und stimmliche Gestaltung von Hosenrollen – etwa ihre Verkörperung des Cherubino in Mozarts Nozze di Figaro – wurden international gefeiert. Anna Bonitatibus ist heute eine der renommiertesten Figuren im italienischsprachigen Opernfach; ihr Repertoire umfasst mehr als fünfzig Hauptpartien in bekannten wie in selten aufgeführten Bühnenwerken.
Dass sich die Sängerin auch mit musikhistorischer Recherche beschäftigt und dass sie bei der Konzeption überzeugender Konzeptalben eine gute Hand hat, belegen ihre CD-Einspielungen. Seit ihrer ersten Aufnahme von Vivaldis La Griselda, die 1992 herausgebracht wurde, bevor sie überhaupt ihr Gesangsdiplom abgelegt hatte, hat Anna Bonitatibus zahlreiche mit renommierten Preisen ausgezeichnete Tonträger produziert – vor allem in den Bereichen der Barockoper, der neapolitanischen opera buffa und im französischen Repertoire. Ihre CD Semiramide – La Signora Regale (Sony/DHM 2014), auf der sie Arien aus unterschiedlichsten Vertonungen des beliebten Opernsujets von Händel bis Rossini vorstellte, insbesondere aber mit etlichen Entdeckungen von vergessenen Meisterwerken aufwarten konnte, wurde bei den International Opera Awards 2015 als beste Aufnahme eines Arienprogramms ausgezeichnet.
Rossini, dem Jubilar des Jahres 2018 (vor 150 Jahren in Paris gestorben), widmete sie 2010 ein Album mit der immer noch zu gering beachteten vokalen Kammermusik: Un Rendez-vous – Ariette e Canzoni (Sony/RCA). Im Herbst 2017 wurde endlich der nicht nur von Rossinianern ersehnte Live-Mitschnitt einer Aufführung von Rossinis Stabat Mater (Dynamic) veröffentlicht, die der 2017 verstorbene Rossini-Dirigent Alberto Zedda vor sieben Jahren in Antwerpen und Gent dirigiert hatte; neben Anna Bonitatibus sind Serena Farnocchia, Ismael Jordi, Alex Esposito mit Chor und Orchester der Flämischen Oper zu erleben.
Für ihr aktuelles Studioalbum bei BR-Klassik hat Anna Bonitatibus ein breites Spektrum an Arien zusammengestellt, die für Frauen in Hosen geschaffen wurden. Die Verkleidung an sich ist eine der wesentlichsten Grundbedingungen des Theaters; die Konvention, dass Frauen in Männerrollen (vornehmlich als Helden und Feldherren) auftreten und damit den Kastraten erst aushalfen und sie dann ersetzten, bestimmte das Opernrepertoire vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und blieb auch im 20. Jahrhundert lebendig (so der musico in Cileas Adriana Lecouvreur). Das soeben bei BR Klassik veröffentlichte Konzeptalbum „en travesti“, auf dem die Mezzosopranistin vom Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Corrado Rovaris begleitet wird, spannt einen Bogen von Händels Radamisto (1720) über Mozarts Cherubino (1786), Rossinis Tancredi (1813) und Offenbachs Nicklausse (1881) bis hin zu Strauss‘ Octavian (1911) – mit insgesamt fünfzehn zumeist weniger bekannten Arien, die für eine Hosenrolle komponiert wurden. Zum Abschluss schlüpft die Sängerin in die Rolle von Victor und Victoria im Filmmusical von Blake Edwards mit der Musik von Henry Mancini.
In seinem lesenswerten Booklettext liefert Guido Johannes Joerg einen historischen Überblick über die Entwicklung der Hosenrolle auf der Sprech- und Musiktheaterbühne und weist den einzelnen Arien und Songs des Albums ihre entsprechende Position und Bedeutung zu. Spannend ist dabei, dass auch Opernpartien, die selbst der Kenner mit berühmten Kastraten in Verbindung bringen mag, ursprünglich nicht für Kastraten, sondern für Frauen in Hosen komponiert wurden.
Anna Bonitatibus hat für ihre CD ausschließlich Nummern ausgewählt, die den Darstellerinnen auf den Leib geschrieben waren: In der ersten Fassung von Händels Radamisto etwa sang eine Altistin die Titelpartie, die später dem berühmten Kastraten Senesino anvertraut wurde. Den Gluckschen Orfeo hören wir nicht aus einer frühen Fassung der Oper (1762 in Wien war die Partie mit einem Kastraten, 1774 in Paris mit einem hohen Tenor besetzt worden), sondern in Berlioz‘ Bearbeitung von 1859 für die berühmte Altistin Pauline Viardot.
Wer Anna Bonitatibus in diesem Jahr (2018) live erleben möchte, der sollte ab dem 31. März eine Vorstellung von Cavallis La Calisto an der Bayerischen Staatsoper besuchen. In der Inszenierung von David Alden und unter der musikalischen Leitung von Christopher Moulds singt sie dort mehrere Rollen – an der Seite des französischen Countertenors Dominique Visse. Wer im Sommer das Rossini Opera Festival im italienischen Pesaro, dem Geburtsort Rossinis, besucht, sollte sich den 18. August vormerken: An diesem Abend tritt Anna Bonitatibus in einem Programm mit dem Titel Rossinimania auf. Moritz Held
Foto oben: http://annabonitatibus.com/ die Agentur der Sängerin versichert zudem, im vollen Besitz der hier abgebildeten Fotos und der entsprechenden Fotorechte zu sein.