Weltpremiere

 

Die Präsenz des Countertenors Max Emanuel Cencic hat erneut eine veritable Rarität für Decca ermöglicht, denn Nicola Antonio Porporas Dramma per musica Germanico in Germania, das 1732 in Rom uraufgeführt wurde, galt bis 2015 als vergessen, als Alessandro De Marchi es erstmals in Innsbruck beim Festival der Alten Musik aufführte (dort war die britische Mezzosopranistin Patricia Bardon die Titelheldin und der australische Counter David Hansen der Gegenspieler Arminio). Max Cencic sang den Germanico erstmals im März 2017 im Theater an der Wien neben gleicher Besetzung wie nun bei Decca. Das Stück behandelt die Feindschaft zwischen dem Feldherren der römischen Legionen in Germanien, Germanico, und dem germanischen Stammesfürsten und Feind der Römer Arminio. In den Konflikt verwickelt sind Arminios Gattin Rosmonda, ihre Schwester Erminda und ihr Vater Segeste, der die Stadt Germania an die Römer verraten hat. In einer Schlacht zwischen den Armeen von Rom und Germania wird Arminio geschlagen, gefangen genommen und von Germanico zum Tode verurteilt. Dessen Abschied von Rosmonda und seinem Sohn bewegt Germanico so sehr, dass er den Feind begnadigt. Dieser wiederum entschließt sich, den alten Streit zu begraben, was die Vereinigung von Rhein und Tiber voraus nimmt.

In der Premiere standen – entsprechend des päpstlichen Edikts – nur männliche Sänger auf der Bühne des Teatro Capranica. Und es war in der Tat eine spektakuläre Besetzung, die da versammelt war – der Altkastrat Domenico Annibali in der Titelrolle und der Star Caffarelli als Arminio. Letztere Partie vertraute Cencic, der auch als Produzent der Aufnahme bei seiner Firma Parnassus Arts wirkte und selbst den Titelhelden wählte, leider keinem Kollegen seiner Stimmgattung (beispielsweise Franco Fagioli) an, sondern der griechischen Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi. Auch der römische Hauptmann Cecina ist mit einer Sängerin, Hasnaa Bennani, en travestie besetzt. In der (allzu?) gängigen Aufführungspraxis unserer Zeit sind das eher ungewöhnliche Entscheidungen. Gleichwohl ist an den beiden Sängerinnen technisch und interpretatorisch nichts zu tadeln. Nesis Stimme mit herbem Timbre, entschlossenem Einsatz und flexibler Stimmführung kann sogar durchaus einen männlichen Charakter suggerieren. Die Arie „A lei, che il mondo adora“ von aufgewühltem Duktus singt sie mit strenger Tonfärbung und fast hysterischem Ausdruck. „Empi, se mai disciolgo“ zu Beginn des 2. Aktes ertönt mit heroischer Energie und Spitzentönen von vehementer Durchschlagskraft. Die Androhung, Zerstörung, Terror und Flammen ins Kapitol zu bringen, bringt die Interpretin nahe der Raserei. Arminio fällt auch die längste  Arie der Oper zu – „Parto, ti lasco“ im 2. Akt mit über zehn Minuten Dauer. Es ist ein getragenes, fast stockendes Lamento voller Wehmut und Abschiedsschmerz, das die Sängerin mit starker Intensität und bohrendem Ton vorträgt. Bei Bennani, ein reiner Sopran, ist ein römischer Hauptmann freilich nur schwer vorstellbar. In Timbre, Stimmcharakter und virtuosem Vermögen ähnelt sie Julia Lezhneva, die in der Aufnahme mit der Ersinda besetzt ist. Pompös wird von den Bläsern Cecinas Arie im 2. Akt, „Se dopo ria procella“, eingeleitet, in welcher die Sängerin ihre tiefe Lage vorteilhaft einsetzt und hier weniger feminin klingt als in „Serbami la tua fede“ oder dem in wiegendem siciliano-Rhythmus bezaubernden„Serbare amore“ im 3. Akt.

Nicola Antonio Porpora/ Wikipedia

Die bereits erwähnte ukrainische Sopranistin Julia Lezhneva ist ein Ereignis in der Besetzung und bietet als Ersinda ein Glanzstück vokaler Kunstfertigkeit. Schon in ihrer ersten Arie, „Al sole i lumi“, fällt sie auf mit ihrem individuellen, mädchenhaft-lieblichen Timbre und der betörenden Art ihres Singens. Und sogleich bietet sie eine Demonstration ihrer stupenden Gesangskunst mit bezaubernden Trillern und lieblichen Koloraturketten. Mit gleichfalls höchster Virtuosität singt sie „Se sposa d’un Romano“, übertrifft das noch mit „Veder vicino il suo contento“ im 2. Akt – eine tour de force von mirakulöser Bravour in atemberaubendem Tempo. Die Capella Cracoviensis als begleitendes Orchester, der Dirigent Jan Tomasz Adamus und die Solistin beflügeln sich hier gegenseitig zu einer Sternstunde des Gesangs. Nicht weniger spektakulär ist Ersindas aufgewühlte Gleichnisarie „Sorge dall’onde “, welche die aus den Wellen aufsteigende Aurora schildert. Dass die Sängerin häufig für einen Mezzosopran gehalten wird, ist hier nachhörbar, denn die Stimme klingt reizvoll dunkel und verschattet. Schließlich bietet der 3. Akt mit „Se possono i tuoi rai“ ein weiteres Bravourstück mit Trillern, staccati und Koloraturgirlanden. Wenn man an der Ausnahmeleistung der Sängerin eine kritische Anmerkung machen könnte, wären  es zwei, drei steife Spitzentöne in der exponierten Lage – aber das sind marginale Momente, die den grandiosen Gesamteindruck nicht trüben.

Cencic als Produzent hat hier nicht nur eine Ausnahmebesetzung gefunden, sondern liefert in der Titelpartie auch eine seiner besten Leistungen der letzten Jahre. Mit der Arie „Questo è il valor“, vom Orchester mit düster grollenden Figuren untermalt, führt sich Germanico energisch ein. Die Stimme klingt wie von einem Weichzeichner überzogen, sinnlich, voluminös und gänzlich ohne die bei ihm bekannten hysterisch-schrillen Spitzentöne. Mühelos bewältigt der Counter das virtuose Zierwerk. Mit pulsierender Dramatik führt das Orchester in die Arie „Qual turbine“ ein, Cencic nimmt diese Vorgabe auf, singt mit erregter, aufgewühlter Tongebung. Seine erste Arie im 2. Akt. „Nasce da valle impura“,  wird von einem pompösen Marsch eingeleitet, ist aber von getragenem Charakter und stellt die Schönheit der Stimme ins beste Licht.

Ein noch unbekannter Name ist der von Dilyara Idrisova, die die Rosmonda mit bravourösem Sopran von schöner Substanz singt. Sie beendet den 1. Akt mit einem dramatischen Recitativo accompagnato, das die Figur im Zwiespalt zwischen Vater und Gatten zeigt, und der Arie „Son qual misero naviglio“, welche die gespannte Situation widerspiegelt, aber auch die enorme Virtuosität der Russin zur Schau stellt. Ähnlich aufgewühlt sind ihre Arien im 2. und 3. Akt, was sich in langen Koloraturgirlanden äußert.

Als Segeste lässt Juan Sancho einen Tenor von angenehmem, jungmännlichen Timbre hören. Sein erstes Solo, eine Gleichnisarie von Sturm und Wellen („Nocchier, che mai non vide“), singt er  mit vibrierender Erregung, fein getippten staccati und bravourösen Läufen. Seine herrisch auftrumpfende Arie am Ende des 2. Aktes, „Scoglio alpestre“, begleitet das Orchester mit pochenden und stampfenden Rhythmen. Im 3. Akt fällt ihm mit „Saggio è il cultor“ das letzte Solo zu, denn die Oper endet mit einem Chor („Si verrà l’amico giorno“), der den glücklichen Ausgang des Geschehens preist. Jedem Barockfreund ist diese sorgfältige Einspielung mit ihrer ausgewogenen, hochkarätigen Besetzung zu empfehlen. Auch die Capella Cracoviensis, die schon in der einleitenden Sinfonia fulminant aufspielt, nimmt bis zum Ende des langen Werkes von 220 Minuten Spieldauer mit ihrem Spiel von pulsierender Verve für sich ein (Decca 3 CDs 483 1523). Bernd Hoppe