Unter Opernfreunden ist das Festival della Valle d’Itria im apulischen Martina Franca bekannt für seine innovativen und ausgefallenen Programme. Immer wieder zeigt es Werke, die lange auf ihre Wiederentdeckung warten mussten und dann im Palazzo Ducale als Erstaufführungen in moderner Zeit gezeigt werden. So auch 2017 bei der 43. Ausgabe des Festivals, als dort Meyerbeers Margherita d’Anjou, die vierte von seinen italienischen Opern auf ein Libretto von Felice Romani, zur Aufführung kam. Nach der Uraufführung 1820 in der Mailänder Scala wurde sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts gespielt, aber danach vergessen. 2002 gab es in London konzertante Aufführungen in Verbindung mit einer CD-Veröffentlichung bei Opera Rara. An der Oper Leipzig sollte es im Jahre 2005 zu einer Inszenierung kommen, die aber nicht realisiert und nur in konzertanter Form gezeigt wurde. Dem italienischen Festival fällt also das Verdienst einer szenischen Wiederentdeckung zu und Dynamic das der Dokumentation auf DVD (37802, 2 DVD, und als 2 CD-Ableger 37802-2).
Das Melodramma semiserio handelt in der Zeit der englischen Rosenkriege Mitte des 15. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte der Witwe Heinrich VI., Margherita, die nach Frankreich geflohen war und nun an der Spitze eines französischen Heeres nach Schottland zieht, um gegen ihren ärgsten Feind, den Herzog von Gloucester, zu kämpfen. Davon ist in der Inszenierung von Alessandro Talevi und der Ausstattung von Madeleine Boyd nichts zu sehen. Auf der Bühne sieht man vor einer Baumgruppe einen erhöhten Catwalk für eine Modenschau, davor Kleiderständer mit den Kostümen und die Models, die sich umziehen und an die Maskenbildner letzte Hand anlegen. Sie zeigen Kreationen, die man nur als wüste Fetzen bezeichnen kann, und bewegen sich in der Choreografie von Riccardo Olivier in exaltierten Posen oder den Haltungen von Degen-Fechtern in Turnieren.
Vor der Bühne sitzt das Orchestra Internazionale d’Italia, das unter Leitung von Fabio Luisi in der einleitenden Sinfonia Militare für martialischen Schmiss sorgt und bis zum Schluss die Farben und Affekte der Komposition effektvoll aufzeigt. In der Titelrolle lässt Giulia De Blasis einen angenehmen Sopran von schöner Rundung und gebührender Flexibilität für die Verzierungen hören. In ihrer Auftrittsarie („Miei fedeli queste prove“) bedankt sich Margherita bei ihren Getreuen für die Unterstützung. Ihr ehemaliger General Carlo Belmonte, der ins feindliche Lager übergewechselt ist, gesellt sich unerkannt zu den Männern. In fuchsroter Irokesenfrisur und großkarierter Hose muss Laurence Meikle einen poppigen Comic-Typ abgeben. Und er singt zunächst mit etwas dumpfem, später aber jugendlich-beweglichem Bariton. Noch verzeichneter wirkt der französische Arzt Michele Gamautte, den Marco Filippo Romano als effeminierten Vertreter einer Vorstadt-Buffa mit grüner Haartolle und großem Fächer tuntet. Sein vokaler Duktus steht ganz in der Tradition Rossinis, und der Sänger setzt das mit Eloquenz, munterer Emission und witzigem Ausdruck um. Margherita geht ihrem französischen Heerführer, Duca di Lavarenne, entgegen, während dessen Frau Isaura verkleidet unter dem Namen Eugenio ihren Gatten, der sie wegen der Königin verlassen hatte, zurückgewinnen will. Gaia Petrone ist allzu neckisches Gehabe verordnet, aber die Altistin weiß mit dunklem Ton und reicher Stimmfülle zu gefallen. Margherita ernennt Eugenio zu ihrem Pagen und vertraut ihm ihren Sohn Eduardo an.
Die Modenschau wird offenbar auch von musikalischer Unterhaltung begleitet, denn Anton Rositskiy singt Lavarennes Auftrittsarie ins Mikrofon wie einen Rocksong. Der Tenor lässt nicht nur ein angenehmes Timbre hören, sondern verfügt auch souverän über die Noten in der Extremlage. In einem Duett mit Eugenio bittet er ihn, der Königin ein Schreiben zu überbringen, in welchem er ihr gesteht, dass er verheiratet ist, während er ihn bittet, an seiner Seite in der Schlacht kämpfen zu dürfen. Währenddessen ist Margherita mit ihrem Sohn auf der Flucht und wird von schottischen Bergbewohnern bedroht, was Carlo in widerstreitende Gefühle bringt – soll er Rache nehmen oder ihr helfen… Aus der Ferne kündigt kriegerische Musik die Ankunft des Herzogs von Gloucester an. Das führt in ein chaotisches Finale mit rockenden Irokesen.
Zu Beginn des 2. Aktes sieht man Margherita als Bäuerin verkleidet, die sich in den Frieden des schlichten Landlebens hineinträumt. In dieser Inszenierung sitzt sie allerdings mit Sonnenbrille im weißen Bademantel am Pool und gibt sich eher mondän denn ländlich-schlicht. Ihre Arie „Che mai giova il serto“ singt De Blasis mit lyrischer Delikatesse, die Cabaletta „Incerto palpito“ mit erregter Stimmgebung und bravouröser Attacke. Isaura erscheint und gibt sich als Lavarennes Frau zu erkennen. Margherita verzichtet auf ihre Liebe zu ihm und schickt Isaura zu ihrem Mann, während Lavarenne, im Zwiespalt zwischen den beiden Frauen, sich für Isaura entscheidet. Das Andantino seiner Arie „Tu, che le vie segrete“ singt Rositskiy schmachtend, das Allegretto „D’un tal piacer“ mit emphatischer Verve. Das Finale der Oper fällt nicht der Titelheldin zu, sondern Isaura, die mit Lavrenne wieder vereint ist, mit einer ausgedehnten Scena, aria e rondo con variazioni („O ciel“/„Mio pianto“/„Ah! sposo adorabaile“), was Petrone noch einmal Gelegenheit gibt, in der Arie mit starker Empfindung zu berühren und im Rondo, für das sie wenigstens den Bademantel ablegen und ein hübsches weißes Kleid tragen darf, mit munteren Koloraturläufen zu brillieren.
Musikalisch ist die Aufführung durchaus zu genießen, optisch ist sie allerdings einer jener modischen up date-Versuche, was auch hier zu profanen und billigen Lösungen führt. Schade um die verpasste Gelegenheit für eine angemessene szenische Präsentierung (dazu aiuch der Bericht vom Festival 2017). Bernd Hoppe