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Nur wirklich Eingeweihte werden den Namen Tigran Tschukadian (je nach Umschrift auch Dikran Chukadijan oder auch Dikran Tschuchadschjan) je gehört haben, und doch spielten er und sein Werk einen entscheidenden Part im Kampf um die Unabhängigkeit Armeniens von den Türken/Osmanen, die wie Griechenland auch Armenien im 19. Jahrhundert knebelten. Zwar wurde Tschukadians Werk im Wesentlichen nicht zu seinen Lebzeiten in Armenien selbst in Gänze aufgeführt, aber Teile daraus, vor allem auch die Ouvertüre und Szene der Olympia im 3. Akt aus der Oper Arshak II. unter dem Namen Olympia, galten längere Zeit als so etwas wie eine Nationalhymne im Bemühen Armeniens von den Osmanen loszukommen, deren Druck auf die von ihnen besetzen Länder ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer restriktiver wurde.
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Tschukadian wurde 1837 im damaligen Konstantinopel geboren und starb 1898 in Smyrna. Er gilt als der erste Opernkomponist Armeniens und hatte vor allem als Dirigent einen renommierten Namen. Er studierte für drei Jahre (1861- 64) am Konservatorium in Mailand, wo er mit den westlichen Kollegen seiner Zeit zusammenkam und deren Musiksprache deutlich verinnerlichte, namentlich Verdis. Nach seiner Rückkehr in die Heimat nahm er aktiven Anteil an der Armenischen Musikalischen Gesellschaft und wurde Mitherausgeber der Zeitschrift „Die armenische Leier“. Er arbeitete eng mit den bestehenden Theatern zusammen. 1868 vollendete er seine erste Oper, Arshak II., auf das italienische (!) Libretto von Tommaso Terzian, was als der Beginn der armenischen Oper selbst gilt. Ausschnitte daraus wurden in Konstantinopel, Venedig, Paris und Wien in Konzerten gespielt und erzielten eine gewisse Breitenwirkung. Aber die Kosten einer geplanten szenischen Aufführung überstiegen die finanziellen Möglichkeiten des Komponisten, zumal das einzig geeignete Theater in Erivan passender Weise abbrannte. Erst 1945 wurde unter dem stalinistischen Regime eine neue, völlig verzerrte und mit einem Happy-End gesegnete Version erstellt und in Erivan aufgeführt.
1870 schrieb Tschukadian seine komische Oper Arifi khadakhutyune nach Gogols Revisor, dann Kyose K’ehya (Der kahle Älteste) und Leblebidji khor (Der Erbsenverkäufer, später dann unter dem Titel Garineh). 1880 folgte die semiseria Zemire, 1892 Anoush, 1897 schließlich Indiana.
Als Begründer der armenischen Nationaloper war Tschukadian eine wichtige Figur in der Kulturgeschichte des Nahen Ostens. Er war – so der unschätzbare Opera Groves in seinem überraschend ausführlichen Beitrag – der Erste, der europäische Kompositionstechniken mit den osteuropäischen und denen des Nahen Ostens, besonders Armeniens, verknüpfte, der so etwas wie eine orientalisch-orthodoxe Opernsprache auf der Grundlage von Volksmusik und arabischen Einflüssen erfand. Seine musikalischen Leitbilder wurden von patriotischen Vorstellungen und von dem Gedanken an die Befreiung vom osmanischen Joch getragen; und er war namentlich an der Befreiungsbewegung gegen die Türken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligt.
Ganz eindeutig wurde sein Stil von den Einflüssen aus seinem Aufenthalt in Italien getragen, wo er der „Armenische Verdi“ genannt wurde (später jedoch auch in Paris der „Armenische Offenbach„, als er 1891 eigene Werke dort dirigierte). Eher als Verdi – scheint mir – finden sich jedoch Mercadante und Pacini in seiner musikalischen Sprache wieder. Und auch der französischen Operette ist Tschukadian in seinen leichteren Werken verpflichtet. Vor allem aber ist seine Musik nach dem Arshak von armenischer Folklore durchzogen, wie man das auch bei den Kollegen aus Griechenland feststellen kann. Diese starke Neigung zur leichteren Muse rückt ihn in die Nähe von Ivan Zajc.
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Ein armenisches Nationaldrama: Arshak II. (um beim westlichen Titel zu bleiben) hat ein bewegtes Schicksal von der Komposition 1868 bis zu seiner eigentlichen Uraufführung seiner originalen Fassung 2001 in San Francisco hinter sich. Das Libretto von Tovmas/Tommaso Terzian (ein Italiener mit armenischen Wurzeln) wurde – um eine breitere und vor allem überregionale Wirkung im Westen/Italien (!) zu erzielen – in Italienisch geschrieben. Terzian fügte dem Klavierauszug jedoch eine westarmenische, nicht singbare Übersetzung hinzu. In dieser Form wurde die Oper nie gehört. Für die moderne Uraufführung erstellte der armenisch-amerikanische Musikologe und Dramaturg Gerald Papasian, Begründer des Dikran Tschouhadjian Research Center in Paris, eine neue westarmenische Übersetzung, die dann in San Francisco gespielt wurde (Hasmik Papian und Nora Gubisch sangen die weiblichen Hauptpartien, Christopher Robertson/alternierend mit Anooshah Golesorkhi war Arshak , Gordon Gietz und David Okerlund sangen die beiden Vertrauten, Tigran Martirossian gab den Patriarchen Nerses, die musikalische Leitung hatte Loris Tjeknavorian, und Francesca Zambello inszenierte; die bemerkenswerte Bühne stammte von John Coyne). Die armenische Gemeinde von San Francisco hatte mit rund einer Million Dollar diese Produktion ermöglicht und damit den Traum des inzwischen verstorbenen, damaligen (armenischen) Intendanten Lotfi Mansouri erfüllt, mit dem Arshak das Verdi-Jahr 2001 zu ehren. Gerald Papasian hatte im Vorfeld zusammen mit dem Musikwissenschaftler Haig Avakian so etwas wie eine performing edition erstellt, nachdem bereits 1981 an der Detroit Opera eine weitere armenische Oper Tigranians, Anoush, Zeugnis abgelegt hatte von der Kraft armenischer Opern (und auch von der bemerkenswerten armenischen Community in den USA!). Vergessen sein soll aber auch nicht die sehr prunkvolle Aufführung in Erivan 1994, aus der wir nachstehend einige Bilder bringen (¨Arshak II¨ complete opera Composer: Tigran Chukhadjian; Live at the ¨Armenian National Academic Theatre of Opera and Ballet¨ Erevan – Armenia. 1994. Conducted by Yuri Davitian. Cast: Arshak II: Barseg Tumanyan Olimpia: Hasmik Hatsagortsyan Tirit: Gegam Grigorian Parandzem: Olga Gabayan Vasak Sparapet: Ruben Telunts Nersess).
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Die Textlage ist kompliziert. Zwar gab es nach Kriegsende, 1945, in Erivan bereits eine Poduktion des Arshak, die aber (so Papasian) auf der drastisch-verfälschenden Revision der Musikwissenschaftler Shahvardian und Khodija-Eynatov beruhte, die ganze Teile umstellten, unterdrückten und zusammen mit dem opportunistischen neuen Libretto von Gulakyan (mit Happy End) eine politgerechte, sozialistische Oper fabrizierten. In dieser Fassung ist die Oper auch bei Melodya 1982 eingespielt worden. Eine armenische TV-Verfilmung der Oper von 1994 folgt natürlich dieser Fassung. Auf youtube gibt es reichliche Dokumente davon.
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Das Originalmaterial (zumindest ein Klavierauszug und orchestrale Skizzen) war hingegen nach Tschukadians Tod nach Paris verschickt und dann in den Dreißigern wieder nach Armenien zurückgegeben worden, wo es im Charents Museum für Literatur und Kunst lagerte. Die Ouvertüre und Teile der Oper wurden – wie bereits berichtet – zwischen 1869 und 1917 als Sinfonische Dichtung Olympia gespielt. Auf der Basis neuerer Forschungen und Funde durch Avakian wurde nun eine letzte Version nach der Originalfassung für die San Francisco Opera in westarmenischer Sprache erstellt, während die von 1945 in der weniger verbreiteten ostarmenische gehalten war. Es mag jedoch bezweifelt werden, ob Mansouri mit seiner Entscheidung gegen das italienische Originallibretto dem Überleben der Oper einen Gefallen getan hat, denn man hatte bereits in San Francisco Mühe, gegeignete armenisch sprechende Sänger zu finden. Und eigentlich wollte Chukhadjian ja eine italienische Oper mit westlichem Appeal komponieren!
Das Libretto von Terzian geht auf Ereignisse in der armenischen Geschichte zurück und zeigt einen ebenso brutalen wie reuigen Herrscher, der durch einen Volksaufstand gestürzt wird – die Parallelen zur Osmanen- und Stalin-Zeit liegen auf der Hand und machen verständlich, warum die originale Version unterdrückt und nur in „gereinigter“ Fassung während der sowjetischen Besetzung aufgeführt wurde. Ein hemmungsloser, machtbesessener Potentat wird demaskiert, wobei – laut Papasian – wohl eher der psychologische als der historische Zusammenhang den Komponisten reizte.
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Stilistik: Arshak II. ist in vieler Hinsicht eine bedeutende Oper und ein Meilenstein in der Anbindung des Nahen Ostens an die westeuropäische Kultur . Das Werk beeindruckt vor allem durch seine kolossalen Dimensionen der großen Chöre, der eindrucksvollen Aufmärsche, des üppigen Ballette und der Hofszenen, die orientalischen Prunk mit armenischer Folklore und italienischer Melodik verbinden. Die Traviata ist nicht weit, überhaupt lugt der frühe Verdi um die Ecke, aber mehr noch sind Verbindungen zu Mercadantes Bravo oder zu Pacini hörbar, mit einem kräftigen Schuss jenes “Ponchielli-Klanges“, der sich bei vielen “Beute-Italienern“ findet, etwa bei Zajc oder Gomes. Die schmissigen Auftritte, die energischen Ensembles mit ihrem fußwippenden Duktus könnten der Gioconda entnommen sein. Die Personenzeichnung bleibt im Arshak statisch-Aida-haft, eine Entwicklung findet kaum statt. Einzig der Charakter der Paransema, deren Mann von Arshak getötet und die durch ihn auf den Thron erhoben wird, um ihm danach an Grausamkeit mehr als gleich zu werden, unterläuft einer Veränderung zum Negativen. Arshak selbst wandelt sich völlig unerklärt zum reuigen Sünder, wird aber dennoch abgesetzt, jedoch nicht getötet.
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Inhalt: Akt 1, Szene 1 – eine Ebene nahe dem Berg Ararat: Die Menge bejubelt den König Arshak (Arsace) und seine heimkehrenden Armeen, die gerade die Perser unterjocht haben. Arshak preist Gott für seinen Sieg (Arie). Szene 2 – eine Halle im Königlichen Palast: Arshak und sein Gefolgsmann Vartan treffen auf Paransema (Arioso), die Gattin des von Arshak verbannten Bruders Knel. Arshak verweigert Paransemas Bitten nach Gnade für ihren Mann, er will sie für sich, obwohl ihn Paransema an seine eigene Frau Olympia erinnert. Er zwingt sie, bei ihm im Palast zu bleiben (Ensemble und Duett). Szene 3 – außerhalb des Palastes, nachts: Bruder Knel ist heimlich zurückgekehrt und trifft sich mit seinem Getreuen Valinace (der selber Olympia liebt), dem Kommandanten der armenischen Armee. Er berichtet von Arshaks letztem Verbrechen, nämlich dem Mord am eigenen Vater Diran. Beide schwören Rache und die Befreiung Armeniens vom Joch der Tyrannei (Duett und Chor).
Akt 2, Szene 1 – eine· weitere Halle im Palast: Königin Olympia sorgt sich über die Abwesenheit ihres Gatten Arshak (Arioso), Valinace warnt sie vor dessen Plänen bezüglich Paransema, und auch ihr Sohn, der Erbe auf den Thron, sei in Gefahr. Valinace gesteht Olympia seine Liebe und fordert sie vergeblich auf, mit ihm zu fliehen (Duett). In dem Moment eilt Arshak mit Gefolge herbei und erklärt Olympia zur Verräterin. Blutvergießen wird nur durch den Auftritt des Patriarchen Nerses vermieden, der Arshak tadelt und an die Heiligkeit der Monarchie erinnert. Er bemüht Gottes Zorn, was Arshak zu Hohngelächter veranlasst, als er eine Tür aufreißt und die Leiche seines von ihm tödlich verwundeten Bruders zeigt. Paransema stürzt herbei, und der Sterbende schreit seinen Fluch über Arshak heraus. Alle rufen Gott an und flehen für das Heil Armeniens (Chorszene). Arshak ist unerwartet bewegt angesichts des sterbenden Bruders in den Armen Paransemas (Solo mit Chor).
Akt 3, Szene 1 – ein Gemach im Palast: Zwei Jahre sind vergangen. Olympia ist mit ihrem Sohn in einem Turm eingeschlossen, Arshak regiert mit Paransema an seiner Seite. Aber er ist unruhig (Arie) und vertraut Vartan an, dass er sich Olympia zurückwünscht, was eine verbitterte Paransema mithört. Szene 2 – offene Gegend mit Olympias Turm im Hintergrund: Valinace informiert seine Soldaten von der bevorstehenden Revolution gegen Arshak, sie erzählen von Paransemas Mord an dem Thronfolger, nachdem sie Arshak keine Kinder gebären konnte (Solo mit Chor). Von weitem hört man Olympias Klage über ihr totes Kind (Arie/eine Musik, die später in die sinfonische Dichtung einfloss und die bei der Aufführung in San Francisco Beifallallsstürme auslöste: Es ist die einzige wirkliche Arie in dieser Oper, eigentlich ein memorables Lamento im klassischen Stil). Szene 3 – ein verwilderter Friedhof: Arshak hört gedankenverloren Stimmen in der Nacht – die Stimmen der von ihm Erschlagenen. Als auch Paransema auftritt, sehen sie die Schatten seines Vaters, Olympias Kindes und anderer. Entsetzt fallen beide auf die Knie und beten um Vergebung (Arie/Duett – Verdis „Macbeth“ ist nicht weit).
Akt 3, Szene 1 – im Turme Olympias: Olympia erinnert sich – in Begleitung ihrer Vertrauten Polisena – wehmütig an glücklichere Tage (Arioso). Vartan bringt die Botschaft, dass Arshak auf Nerses‘ Rat gehört und Olympia wieder auf seinen Thron erhoben hat, was der hereintretende König bestätigt (Duett). Szene 2 – festlich geschmückte Halle im Palast: Prunkvolle Feierlichkeiten ehren die Wiedereinsetzung der Königin Olympia (Ballett). Rasend vor Wut bereitet Paransema ihren letzten Schachzug vor. Sie vergiftet den Wein, den sie in falscher Freundlichkeit Olympia reicht. Arshak vermutet eine Hinterlist und lässt sie einen Schluck aus dem Kelch zuerst trinken. Der hereintretende Nerses sieht den vergifteten Wein in Olympias Hand und kann diese nicht mehr vom Leeren des Kelches abhalten. Außer sich vor Wut und Delirium brüstet sich Paransema, ihre Rache vollendet zu haben. Olympia fällt zu Boden und bittet Gott um Gnade für ihre Seele. Valinace und seine Soldaten stürmen herein und setzen Arshak fest, der entsetzt Paransemas Rache verfolgt hat und der Reue ob seiner Taten bekennt. In Valinaces Armen stirbt Olympia, während alle Gott um Gnade für das geschundene, aber von Tyrannei befreite Armenien bitten. Geerd Heinsen
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(Dank vor allem an Gerald Papasian; vergl. dazu auch seinen Artikel in Opera, London, September 2001 und www.sfopera.com im Rahmen der Berichte über die Aufführungen an der San Francisco Opera; auch: www.webmajestic.com/userpages/CRD T.hmtl/ Foto oben „Arshak II.“/ Szene/ Erivan 1994 aus der Seite der Armenischen Oper)
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.