Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Carol Neblett

 

Mit Bedauern hören wir vom Tod der amerikanischen Sopranistin Carol Neblett, die in den Achtzigern und Neunzigern eine bemerkenswerte Karriere an den großen Opernhäusern der Welt gemacht hatte und die als attraktive Brunette in Erinnerung geblieben ist. Ihre zahlreichen Aufnahmen bei RCA, DG und anderen Firmen zeigen eine flexible, lyrisch angelegte Spinto-Stimme. Ihre Minnie oder auch Marie/Marietta (in der Toten Stadt bei RCA) sind würdige mementi ihrer Kunst. Nachstehend ein Auszug aus dem englischen Wikipedia zu dieser bemerkenswerten Sängerin. G. H.

 

The American operatic soprano Carol Neblett (born February 1, 1946 in Modesto, California), died November 25, 2017. Neblett studied at the University of California, Los Angeles, and in 1969, made her operatic debut with the New York City Opera, playing the part of Musetta in Puccini’s La bohème. With that company, she continued to sing many leading roles, in Mefistofele (with Norman Treigle), Prince Igor (conducted by Julius Rudel), Faust, Manon, Louise (opposite John Alexander, later Harry Theyard), La traviata, Le coq d’or, Carmen (as Micaëla, with Joy Davidson, staged by Tito Capobianco), Le nozze di Figaro (as the Contessa Almaviva, with Michael Devlin and Susanne Marsee), Don Giovanni (as Donna Elvira), L’incoronazione di Poppea (with Alan Titus as Nerone), Ariadne auf Naxos (directed by Sarah Caldwell), and Die tote Stadt (in Frank Corsaro’s production).

In 1976, she performed Tosca, with Luciano Pavarotti, at the Lyric Opera of Chicago. In 1977, she sang the part of Minnie in La fanciulla del West (one of her great successes), with Plácido Domingo, for Queen Elizabeth II’s 25th Jubilee Celebration at Covent Garden.

In 1979, she made her Metropolitan Opera debut as Senta in Der fliegende Holländer, in Jean-Pierre Ponnelle’s production, opposite José van Dam. She sang with the Met, until 1993, in Tosca, La bohème, Un ballo in maschera (with Carlo Bergonzi), Don Giovanni, Manon Lescaut, Falstaff (with Giuseppe Taddei), and La fanciulla del West.

During her career, she has sung all over the world, including in San Francisco, Chicago, Los Angeles, New York City, Buenos Aires, Salzburg, Hamburg, Los Angeles, and London. Her recordings include Musetta in La bohème, with Renata Scotto, Alfredo Kraus, Sherrill Milnes and Paul Plishka, for Angel/EMI, James Levine conducting (1979); La fanciulla del West, with Domingo and Milnes, Zubin Mehta conducting (DGG, 1977); Mahler’s Symphony No.2 („Resurrection“) with Claudio Abbado, Marilyn Horne, and the Chicago Symphony Orchestra (DGG, 1977); and Marietta in Korngold’s Die tote Stadt, with René Kollo, Erich Leinsdorf conducting (RCA, 1975).

She has appeared in several performances on television, including a tribute to George London at the Kennedy Center, Washington, D.C. She also appeared as a guest on The Tonight Show Starring Johnny Carson.

Miss Neblett was an artist in residence and voice instructor at Chapman University in Southern California. She was also on the faculty of the International Lyric Academy in Rome.

Her brief nude scene in a 1973 staging of Massenet’s Thaïs, for the New Orleans Opera Association, made international headlines. (Quelle Wikipedia/ Foto Carol Neblett/ Foto Chapman.edu)

Elegant und verführerisch

 

 

In der Eröffnungsproduktion der diesjährigen Salzburger Festspiele sorgte Marianne Crebassa als Sesto in Mozarts Tito für Schlagzeilen in den internationalen Medien. Auf ihrem Debütalbum bei Erato/Warner mit dem Titel „Oh, Boy!“ finden sich dann auch all die bekannten Hosenrollen (Cherubino, Cecilio, Ramiro, Sesto). Nun legt die Firma eine ganz gegensätzliche Platte vor, welche die französische Mezzosopranistin unter dem Titel „Secrets“ mit bekannten mélodies präsentiert (0190296 768973). Sie hat sich in diesem Repertoire gegen eine stattliche Anzahl von Referenzaufnahmen zu behaupten (de los Angeles, Baker, Crespin, Valin etc.), bei denen die Sängerinnen zumeist vom Orchester begleitet werden. Crebassa aber hat in  Fazil Say ihren Partner am Flügel, was natürlich ein ganz anderes Klangbild ergibt – weniger impressionistisch flirrend und schwebend, auch weniger geheimnisvoll. Aber der Dialog zwischen Stimme und Klavier scheint mir  intimer zu sein. Und der zwischen der Sängerin und dem türkischen Pianisten wirkt sehr vertraut und einvernehmlich. Say ist auch Komponist und hat für Crebassa eine Ballade mit dem Titel „Gezi Park 3”  geschrieben, die am Schluss des Programms zu hören ist. Das Stück hat er zum Gedenken an die Protestbewegung gegen die Zerstörung des Gezi Parks 2013 in Istanbul komponiert. Es ist von lamentierendem, psalmodierendem Charakter, steigert sich bis zum Aufschrei und bringt die tiefe Lage der Sängerin zu starker Wirkung.

Mit Debussys „3 chanson de Bilitis“ beginnt die CD, in denen die Solistin mit träumerischem Vortrag atmosphärische Stimmungen schafft. Die Stimme wirkt hier ganz und gar nicht androgyn, sondern ist von femininem Reiz. Auch in Ravels „Shéhérazade“ gelingen ihr feine Valeurs und subtile Nuancen in der oberen Region. In den „3 Mélodies“ von Debussy kann Crebassa die Stimme strömen lassen oder ganz verhaltene und getupfte Akzente setzen. Weniger bekannt ist der Zyklus „Mirages op. 113“ von Fauré, der 1919 entstand und vier Titel enthält. Sie fangen Bilder und Stimmungen aus der Natur ein, ob vom Schwan auf dem Wasser, Reflektionen auf den Wellen oder einem nächtlichen Garten. Vier mélodies von Duparc sind ernste oder elegische Stücke, in denen die Mezzosopranistin noch einmal das ganze Farbspektrum ihrer Stimme ausbreiten kann.Bernd Hoppe

Peter Hall

 

Der britische Theater-, Opern- und Filmregisseur  Peter Reginald Frederick Hall, CBE (* 22. November 1930 in Bury St Edmunds, England) starb am  † 11. September 2017 in London. Peter Hall wurde 1930 im englischen Bury St. Edmunds geboren und ging in Cambridge zur Schule. Hall lernte während seines Armeedienstes Russisch. Während seines Studiums an der University of Cambridge, an der er 1953 sein Examen machte, spielte und führte er Regie in mehreren Stücken. 1953 inszenierte er auch sein erstes Schauspiel an einer professionellen Bühne, dem Theatre Royal in Windsor. Von 1954 bis 1955 war er am Oxford Playhouse und am Arts Theatre Club in London engagiert. Im August 1955 inszenierte er am Arts die englischsprachige Premiere von Warten auf Godot von Samuel Beckett. Von 1956 bis 1959 leitete er das Theater. In den Spielzeiten von 1956 bis 1960 war er auch am Royal Shakespeare Theatre in Stratford-upon-Avon. Seine Produktionen hier waren unter anderem Cymbeline mit Peggy Ashcroft; Coriolanus mit Laurence Olivier und Ein Sommernachtstraum mit Charles Laughton.

Hall wurde vor allem durch seine Arbeit mit der Royal Shakespeare Company bekannt, die er 1960 im Alter von 29 Jahren gründete. Er war ihr künstlerischer Leiter bis 1968. Danach war er von 1973 bis 1988 Intendant des Royal National Theatre und war 1973 in Maximilian Schells preisgekröntem Film Der Fußgänger in einer Nebenrolle zu sehen. 1974 spielte er die männliche Hauptrolle in der Eric-Malpass-Verfilmung Als Mutter streikte. In dieser Zeit zog er mit dem Ensemble in die neu erbauten Theater an der South Bank um. Außerdem war er Mitglied des Arts Council of Great Britain. Von beiden Positionen trat er aus Protest gegen die Kürzung der öffentlichen Förderung zurück. Nachdem er das National Theatre verlassen hatte, gründete er seine eigene Kompagnie, die Peter Hall Company, mit der er eine Serie von Stücken im Old Vic inszenierte.

Hall hat an vielen der führenden Opernhäuser inszeniert, darunter am Royal Opera House London, der Metropolitan Opera in New York City, in Bayreuth (eine Produktion von Wagners Ring des Nibelungen), an der Houston Grand Opera und in Genf.

Sein letztes Projekt war The Rose of Kingston in Kingston upon Thames, welches im Januar 2008 mit Tschechovs Onkel Wanja, einer Produktion, die Hall selbst inszenierte, eröffnet wurde. Hall trat jedoch direkt im Anschluss zugunsten von Stephen Unwin als künstlerischem Leiter zurück. Das Rose Theatre bezieht seine Inspiration von dem gleichnamigen Theater aus Shakespeares Zeiten, das ebenso wie das Globe Theatre zu den wichtigsten seiner Zeit gehörte.

1963 wurde er zum Commander of the British Empire (CBE) ernannt; 1977 wurde er als Sir geadelt für seine Verdienste um das Theater. 1999 erhielt er den Laurence Olivier Theatre Award. Er wurde 2000 zum Kanzler der Kingston University ernannt. 2006 verlieh ihm die University of Bath die Ehrendoktorwürde.

Hall war viermal verheiratet, unter anderem mit der Schauspielerin Leslie Caron und der Opernsängerin Maria Ewing. Mit Ewing bekam er die Tochter Rebecca Hall (* 1982), die als Schauspielerin arbeitet und mehrmals unter seiner Regie auftrat. Aus seiner 2. Ehe stammt der Regisseur Edward Hall (* 1967).

Hall starb im September 2017 im Alter von 86 Jahren im University College Hospital in London. (Quelle brit. Wikipedia/ Foto oben youtube)

Frühgeburt auf dem Billardtisch

 

Zielstrebig und bedacht erarbeitet sich Diana Damrau die zentralen Partien des Belcanto-Repertoires, das mittlerweile zehn Rollen umfasst. Die Titelheldin in Donizettis Dramma tragico Lucia di Lammermoor hat sie auf vielen internationalen Bühnen gesungen – in New York, Japan, Berlin, München und 2016 auch am Royal Opera House in London. Erato/Warner hat diese Produktion vom April im Mitschnitt festgehalten und damit die Sopranistin nach der CD-Live-Aufzeichnung in München nun auch im Bild vorgestellt (0190297920539). Das ist verdienstvoll, denn Diana Damrau ist bei ihren Auftritten stets ein Gesamtereignis – als Sängerin und Darstellerin. Im Falle der Londoner Produktion ist das von eminenter Bedeutung, denn Katie Mitchell hat die Handlung als Psychothriller inszeniert und ihren Solisten ein Höchstmaß an expressiven, körperlich auch riskanten Aktionen und psychopathischem Ausdruck abverlangt. Da mündet das Liebesduett in eine handfeste Sexszene mit dem von Lucia halb entkleideten Edgardo, muss sich die schwangere Lucia unter Qualen erbrechen, bei der Hochzeit mit Arturo von dem rasenden Edgardo brutale Züchtigung hinnehmen und nach dem in seiner Grausamkeit naturalistisch dargestellten Mord auch noch eine Frühgeburt erleiden. Die Sopranistin erfüllt die Vorgaben der Regie mit bewundernswerter Hingabe und Konsequenz, agiert mit unglaublicher Spannung (was die Regisseurin im Bonus-Interview in der Tat breathtaking nennt) und formt so  ein einzigartiges Porträt, dem man als Zuschauer bedingungslos folgt. Ihre Lucia ist weniger Opfer, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die mit ganzer Kraft und Entschlossenheit um ihre Liebe kämpft. Stimmlich zeigt sie sich der Partie souverän gewachsen und beweist ihre Erfahrungen mit der Rolle. In der ersten Szene auf dem Friedhof, wo sie als Mann verkleidet fast wie die Forza-Leonora erscheint, singt sie die Auftrittskavatine „Regnava nel silenzio“ sehr introvertiert und bis in die Extremhöhe mit weichen Tönen. Schon hier erscheint ihr leibhaftig der Geist jenes Mädchens, das einst von einem Vorfahren Edgardos ermordet wurde. Bis zu ihrem Ende wird dieser sie begleiten, ebenso wie der ihrer toten Mutter. Das leidenschaftliche Liebesduett mit Edgardo geht einher mit einer stürmischen körperlichen Vereinigung, die sich später im Brautbett mir Arturo fast wiederholt. Dort wandelt sie sich freilich in einen Horrortrip, wenn Lucia den Angetrauten entkleidet, fesselt, ihm die Augen verbindet und mit mehreren Messerstichen schwer verletzt. Ihre Zofe Alisa hilft ihr bei der Mordtat und erdrosselt den sich im Todeskampf Windenden mit der Krawatte. In der Wahnsinnsszene begleiten die sphärischen Töne der Glasharmonika Lucias verinnerlichten Gesang, den sie an den ihr visionär erscheinenden Edgardo richtet. Die berühmte Nummer ist bei Damrau weniger Bravourstück (bei allen brillanten staccati und acuti) denn das Psychogramm einer gebrochenen Seele. In Charles Castronovo hat sie einen außerordentlich attraktiven Partner als Edgardo, dessen männlich dunkel timbrierter Tenor mit heldischer Emphase großen Effekt macht. Er singt eine hinreißende Schluss-Szene von maskuliner Energie und trunkenem Klang, der seine ganze Verzweiflung ausdrückt. Währenddessen nimmt Lucia, Blut befleckt nach ihrer Frühgeburt, im Nebenzimmer ein Bad und öffnet sich die Pulsadern. Der zu ihr geeilte Edgardo durchschneidet sich mit demselben Messer die Kehle.

Auf höchstem Niveau besetzt Lucias Bruder Enrico mit Ludovic Tézier, der mit virilem Bariton schon seiner Auftrittskavatine grimmigen Ausdruck verleiht und diese mit einem fulminanten Spitzenton krönt. Die Cabaletta besitzt Verve und Entschlossenheit. Zu Beginn des Duettes mit Lucia gibt er sich ganz sanft und fürsorglich, wird aber zunehmend brutaler im Umgang mit seiner Schwester. Die schreckliche Nachricht vom Tode Arturos hatte Kaplan Raimondo den Spielenden überbracht – auch er mit Kwangchul Youn erstklassig besetzt, dessen Bass mittlerweile weniger balsamisch, dafür kerniger und resoluter klingt. Taylor Stayton ergänzt die Besetzung als Arturo mit energischem Tenor von potenter Höhe. Glänzend der Royal Opera Chorus (Renato Balsadonna) und das Orchestra of the Royal Opera House, das unter Leitung von Daniel Oren die dramatischen Effekte wie die morbiden Lyrismen der Komposition wirkungsvoll ausreizt.

Das Besondere an dieser Produktion ist die zweigeteilte Bühne von Vicki Mortimer mit jeweils zwei Schauplätzen nebeneinander, was die Darstellung simultan verlaufender Handlungen ermöglicht. So sieht man zu Beginn rechts Lucia in ihrem Zimmer mit der Urne ihrer verstorbenen Mutter, um die sie noch immer trauert, während links auf einem Friedhof mit einer Engelsskulptur, die als geheimes Versteck für Nachrichten zwischen den Liebenden Lucia und Edgardo dient, Enrico mit Normanno über das Schicksal seiner Schwester verhandelt. Das Simultanspiel gipfelt im letzten Akt, wenn der grausige Mord an Arturo parallel zu den Hochzeitsfeierlichkeiten im Nebenraum abläuft.

 

Drei Monate später sang Diana Damrau die Elvira in Bellinis I Puritani am Teatro Real in  Madrid, was BelAir auf zwei DVDs dokumentiert hat (BAC 142). Hier ist Emilio Sagi der Regisseur dieser Neuproduktion und sorgt mit statischen Tableaus für eine vergleichsweise konventionellere Deutung als in London. Daniel Biancos Bühne ist elegant und atmosphärisch durch Eduardo Bravos raffinierte Lichtstimmungen, aber durchaus allgemein, so wie die zeitlosen Kostüme von Peppispoo.

Auch hier ist Ludovic Tézier auf der Besetzungsliste zu finden. Sein Riccardo klingt gleichfalls bedeutend und in Verdi-Nähe, ist von grüblerisch-schmerzlichem Ausdruck wegen des Verlustes an Elvira, die er auf Geheiß von deren Vater Lord Gualtiero (Miklós Sebestyén) nicht heiraten darf. Sie soll mit Lord Arturo vermählt werden, dem die heikle Partie in diesem Melodramma zufällt. Javier Camarena, darstellerisch wie stets von rührender Naivität, zeigt sich der gefürchteten Tessitura souverän gewachsen, was er sogleich in seinem Auftritt („A te, o cara“) mit schwärmerischem Tönen beweist. Sagi hat das als Überreichung der goldenen Rose unter einer Flut von Kristalllüstern inszeniert. Der Tenor verfügt aber auch das nötige dramatische Potential, wie im erregten Duett mit Riccardo zu vernehmen ist. Von wehmütiger Erinnerung erfüllt sind „A te così cantava“ und „Corre a valle“ im 3. Akt, furchtlos angegangen und sicher gemeistert wird das heikle „Vieni, vieni fra queste braccia“. Schließlich der Prüfstein der Partie, das „Credeasi, misera!“, bei dem die Stimme bis in die Extremhöhe geführt werden muss – auch dies bewältigt Camarena sicher.

Elviras Onkel Sir Giorgio singt Nicolas Testé mit sonor-reifem, zuweilen etwas dumpfem Bassbariton und nachdrücklichem Ausdruck. Kämpferisch gibt er sich im Duett mit Riccardo „Suoni la tromba“ zu Ende des 2. Aktes. Annalisa Stroppa als vermeintliche Spionin Enrichetta di Francia gleicht in Kostüm und Maske der englischen Königin Elisabetta in Donizettis Musikdramen. Mit Arturo hat sie ein dramatisches Duett, das wegen eines Brautschleiers zu Verwicklungen führt und Elvira glauben macht, ihr Geliebter würde sie mit einer anderen Frau betrügen. Das löst auch in diesem Stück eine Wahnsinnsszene der Protagonistin aus. Vor einem Schnürvorhang, der an die Ausstattungen von Christian Lacroix erinnert, halluziniert sie in einem Herz zerreißenden Gesang („Vien al tempio“) von ihrer Trauung mit Arturo vor dem Altar. Diana Damrau kann hier mit melancholisch umflorter Lyrik und sicheren Spitzentönen betören. Ihre Elvira schien schon am Anfang etwas verstört und gehetzt, als ob noch ein Schatten und Nachhall der Londoner Lucia spürbar wären. Dann aber folgte der Jubel über die bevorstehende Hochzeit mit ihrem Geliebten Arturo, der sich in der beschwingten Polacca manifestiert. Damrau singt sie kokett und leicht getupft mit duftigen Trillern. Die Rolle verlangt tatsächlich Wechselbäder der Gefühle, wofür die Sopranistin eine Spezialistin ist. Ihre entrückte Szene „O rendete mi la speme“ im 2. Akt singt sie zunächst aus dem Off, erscheint dann mit einer Mondsichel à la Norma und verströmt in ihrem Gesang schmerzliche Süße. Darstellerisch gibt sie das verstörende Bild einer Umnachteten, die den Mond in einem Vogelbauer einsperrt. Die Cabaletta „Vien diletto“, in der sie den Mond am Himmel besingt, ist zunächst fast geflüstert, steigert sich dann bravourös und wird im Dacapo individuell variiert. Im Duett mit Arturo wechselt ihre Stimmung jäh zwischen Wiedersehensfreude und neuerlicher Trübung ihres Verstandes, bis sich endlich in „Ah! sento, o mio bell’angelo“ das Glück einstellt.

Diana Damrau hat mit der Elvira eine weitere Rolle erfolgreich ihrem Belcanto-Repertoire hinzugefügt und wird am Ende umjubelt – gemeinsam mit ihren Partnern und dem Dirigenten Evelino Pidò, der das Qrquesta del Teatro Real zu dramatischer Verve und lyrischer morbidezza inspirierte. Bernd Hoppe

Victorian Vocalists

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Als Nicht-Brite und Musikliebhaber sitzt man staunend vor dem gewichtigen Kompendium von Kurt Gänzl:Victorian Vocalists (nicht Singers – hat das eine Bedeutung? „Nein“, sagt der Autor, „klingt nur „classier“ und alliteriert sich schön…“), das gerade im Londoner Routledge Verlag in Englisch erschienen ist.746 Seiten und 106 Sänger (wenn ich richtig gezählt habe) der Viktorianischen Epoche des Britischen Musiktheaters im weitesten Sinne werden hier vorgestellt, viele mit Abbildungen, so die bekannte Opernsängerin Louisa Pyne im Federkostüm. Wie kann ein einziger Autor das alles schaffen?

„Victorian Vocalists“: der Autor Kurt Gänzl/ OBA

Nun, Kurt Gänzl (bei beibehaltenem – ä – mit österreichisch-ungarisch-jüdisch-schottischen  Wurzeln in Neuseeland zu Hause) gilt seit Jahren als die unumstrittene Autorität auf dem Gebiet der britischen Musikszene, des  Vaudeville, Burlesque-Theatres und Dance-Hall-Geschäftes der Viktorianischen Epoche. Es gibt wenig, was er über die leichte und schwere Muse des Königreiches (und des Commenwealth einschließlich) im 19. Jahrhundert nicht weiß. Das schlägt sich in diesem unglaublichen Universal-Lexikon der Viktorianischen Klein- und Großkunst nieder. Dabei beschränkt sich die Behandlung nicht auf rein britische Künstler – wer hat je von Mathilde Bauermeister, Giovanni Battista Belletti, Luise Liebhart, Charles Guilmette, Emile Gaveau-Sabatier und anderen gehört? Wohl aber von Julie Dorus-Gras, Enrico Campobello, Louisa Pyne oder Giuseppe Ciampi und manchen Kollegen, die dem Interessierten aus anderen Bereichen und anderen Regionen Europas oder Amerikas auch von den alten Schellacks im Ohr klingen. Einigen Damen fehlt auch der Vorname, wie das bei Sängerinnen der Epoche üblich war. Allen diesen widmet sich Kurt Gänzl akribisch, trägt Details und manchmal auch amüsante Anekdoten über deren Leben zusammen. Man sitzt wirklich staunend über diesem dicken Wälzer, der auf  schönen roten Einband Maria Palmieri  als eine Vertreterin ihrer Zunft zeigt. Dies ist ein  Buch zum Blättern, zum Kichern, zum sich Wundern – auf jeden Fall zur Hand zu haben, wenn man sich mit dieser Epoche beschäftigt – ganz wunderbar. G. H.

 

„Victorian Vocalists“ ist eine meisterhafte und unterhaltsame Sammlung von hundert Biographien von Sängern und Stars des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts. Kurt Gänzl zeichnet ein lebendiges Bild der viktorianischen Opern- und Konzertwelt. Er enthüllt die Hintergründe, Reisen, Erfolge, Misserfolge und sogar auch das Fehlverhalten dieser Sänger. Dieser Band ist nicht nur ein hervorragendes Nachschlagewerk für alle, die sich für Vokalisten dieser Epoche interessieren, sondern auch ein fesselndes, akribisch recherchiertes Lebensbild im riesigen Haifischbecken, welches die Viktorianische Musik war.

„Victorian Vocalists“: Zeiutschriften-Szene aus Gilbert & Sullivans „Trial by Jury“ in Loindon/ Wiki

Kurt Gänzl ist einer der wichtigsten Chronisten der Weltgeschichte der Musik und des Theaters. Seine zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema umfassen The Encyclopedia of the Musical Theatre (1994, 2001), The British Musical Theatre (1986), The Musical: A Concise History (1997), Gänzl’s Book of the Musical Theatre (1988) und Biographien von Künstlern wie Lydia Thompson (2002), Willie Gill (2002) und Emily Soldene (In Search of a Singer, 2007).

Dazu der Autor Kurt Gänzl mit einem Wort an den Leser: Dies ist eine Sammlung von hundert neugierig machenden Artikeln über einige der interessantesten Sänger des viktorianischen Zeitalters, in oder aus Großbritannien, den Kolonien und Europa.

Die hundert sind Teil einer Sammlung von (bis heute) etwa 900, die ich in den letzten Jahren zusammengetragen habe, einfach für die Erkenntnis und das Amüsement meiner selbst und meines Zirkels von sehr wissbegierigen, musikgeschichtlich interessierten Freunden. Im Verlauf unserer verschiedenen Schriften und Nachforschungen sind wir – ja, ich insbesondere – auf so viele Leute gestoßen, deren Namen uns wenig sagte, und auf so viele Leute, deren Namen wir zwar kannten, aber deren Geschichten (wie im Showbusiness typisch) in Zeitungen, Büchern und natürlich dieser Tage im Internet verfälscht wurden. Also beschloss ich, dass ich in meinen zurückgezogenen und etwas kränklichen Jahren etwas gegen diese Situation unternehmen wollte. Ich bin jetzt seit zehn oder zwölf Jahren voller wackliger, Ein-Finger-Schreibmaschinenarbeit dabei …

„Victorian Vocalists“: Mathilde Bauermeister/ OBA

Aber natürlich, wie Andrew Lamb, mein ältester und klügster Freund unter den Musikwissenschaftlern, sagte: „All diese Arbeit – und wenn du tot umfällst, ist alles verloren.“ So entschied ich mich, nach einigem Schrecken, meine Gesundheit betreffend, dies zu veröffentlichen – zumindest mit einigen „meiner Leute“. Alle davon würden eine Menge an Bänden füllen.

Man könnte einige dieser Materialien unerträglich detailliert finden. Nun, manche Leute sammeln Briefmarken, Pokemons oder CDs. Ich sammle Fakten. Und in der modernen Art der Biographie schreibe ich die meisten, wenn nicht alle auch nieder. Man kann die Teile überspringen, die einen nicht interessieren, aber sie könnten genau diejenigen Teile sein, die einen anderen interessieren. Das ist zumindest meine Ausrede. Es ist für jeden etwas dabei.

Ich weise hier oftmals auf die Fehler in der Arbeit anderer Autoren hin. Das ist keine Sturheit. Ich möchte, dass man weiß, dass ich deren Versionen von „Fakten“ gesehen habe und sie mit den Originalquellen abgeglichen habe (oftmals zu beträchtlichen Kosten) – und dass sie falsch sind. Die halbe Arbeit daran sicherzustellen, dass man die korrekten Informationen liefert, ist es zu vermeiden, dass man die falschen erhält. Ach, viele Übersetzer der Referenzwerke, Ersteller von Aufnahmedetails und Programmzetteln, Autoren von Biographien und dergleichen kopieren nur allzu gerne „Fakten“ aus Werken wie Fétis, Grove, dem Dictionary of National Biography, dem erschreckenden Brown and Stratton, dem furchtbaren Baker, deren europäischen Entsprechungen oder einigen Zeitungs- und Werbeartikeln, die über das Internet immer und immer wieder reproduziert wurden. Somit sind die Lügen und Fehler aufrechterhalten worden. Daher fliege ich wie der heilige Georg auf seinem Drachen zur Rettung der schönen Jungfrau, der Wahrheit. Das ist erstaunlicherweise oftmals spaßiger als diese Lügen!

„Victorian Vocalists“: Rosina Penco/ OBA

Ich behaupte nicht, perfekt zu sein – gut, nicht ganz. Es gibt Lücken. Ich kann nicht mehr auf der Suche nach Informationen durch die Welt reisen, wie ich es getan habe. Meine Schweden, Portugiesen und Ungarn sind grimmig. Und ja, ich nicke manchmal ein. Man neigt dazu, wenn man die siebzig überschritten hat. Ich sage nur (lacht), dass ich genauer bin als jeder andere bisher. In fünfzig Jahren, wenn die Recherche von zu Hause noch einfacher geworden ist und Google Books diese sinnlosen „Schnipsel“ eliminiert hat, wird sich wahrscheinlich jemand meine Arbeit ansehen und sagen: „Oh, Gänzl … soooo unvollständig!“ Nun ja, ärgerlich (für mich), ich bin eben manchmal unvollständig. Wenn ich ein paar tausend Pfund hätte, um damit herumzuwerfen, könnten zum Beispiel viele der Geburts- und Sterbedaten durch Bezahlung für Zertifikate verifiziert werden. Vielleicht werden in der nächsten Generation alle öffentlichen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit frei und kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber bis dahin müssen Sie sich mit meinen kleinen Ungenauigkeiten, wenn nicht Unkorrektheiten, begnügen! Und ich hoffe, dass die Wissenschaftler der Zukunft meine Artikel als Grundlage für ihre weitere Forschung nutzen werden. Dieses Buch ist mir einfach eine Herzensangelegenheit, um die maximale Menge an Informationen, die ich mit meinen Mitteln während eines Jahrzehnts des Ausgrabens zusammentragen konnte, verfügbar zu machen.

Jede Sammlung oder „Enzyklopädie“ (was, denke ich, die kompletten 900 [Biographien] wären) muss sich entscheiden, wer hineinkommt und wer weggelassen wird. Abgesehen davon, wenn es einen guten Grund gab, habe ich (außer durch Missgeschick oder dergleichen) diejenigen Künstler ausgelassen, zu denen es bereits eine komplette Biographie gibt. Ja, ich weiß, einige dieser Biographien sind ein wenig – oder sogar sehr – „haarig“, und die Autobiographien sind üblicherweise „selektiv“ in dem, was sie uns erzählen. Und beide sind häufig (mein Kriegsschrei!) inkorrekt. Aber wenn sich jemand die Mühe gemacht hat, ein ganzes Buch zu schreiben … Tut mir leid, aber da kann ich mit einem einfachen Artikel nicht mitbehalten. Außer zu sagen „dies ist falsch, das ist falsch“, was ein langweiliges Spiel ist.

Am wichtigsten jedoch ist, dass es definitiv keine „Hitparade“ ist – weder die 900 noch die Auswahl, die ich für dieses Buch getroffen habe. Es behauptet nicht, „dies sind die besten“ oder sogar „die erfolgreichsten“ Sänger der viktorianischen Ära. Es sind schlicht und ergreifend hundert Leute, denen ich bei meinen langen, langen Spaziergängen durch die Welt der Musik und des Theaters des 19. Jahrhunderts begegnet bin, die meine Phantasie angeregt und mich zu weiteren Ausgrabungen inspiriert haben. Weil sie nun eine großartige Karriere hatten, bisher unbeachtet waren oder ein buntes Leben führten, innerhalb oder außerhalb der Musik … es ist einfach: Wenn mich jemand fasziniert, ist er dabei! Wenn nicht, dann eben nicht! Zumindest nicht, bis wir bei Band 10 angelangt sind. Es ist ein eher schnelles Bild eines Querschnitts der viktorianischen Sängerszene und ihrer Künstler. Erfolgreich, weniger erfolgreich und manchmal lächerlich erfolglos.

„Victorian Vocalists“: Enrico Campobello/ OBA

Also versuchen Sie es – sie sind nur in alphabetischer Reihenfolge, weil … na ja, was sonst? –, und bitte: Sollten Sie ein verlorenes Grab oder eine fehlende Taufe finden, lassen Sie es mich wissen. Alle Kopien von Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden würde ich sehr dankend erhalten. Und falls Sie innerhalb dieser kleinen Ansammlung nicht denjenigen viktorianischen Vokalisten gefunden haben, der Sie besonders interessiert, haben Sie keine Scheu, mit mir in Kontakt zu treten. Es gibt Aberhunderte mehr davon.

Aber genießen Sie es vor allen Dingen, durch diese faszinierende Ära der Musik, des Theaters und seiner Menschen zu wandeln. Viktorianische Sänger – aller Art. (Übersetzung des Vorwortes aus dem Englischen von Daniel Hauser)

Kurt Gänzl: Victorian Vocalists; Routledge Verlag London 2018, 741 Seiten, viele Abbildungen, Glossar, Namensverzeichnis, ISBN 978-138-10317-7

Redundante Eleganz

 


Der Cembalist, Organist und Dirigent Sébastien Daucé  hat sich auf die französische Barockmusik des 17. Jahrhunderts spezialisiert. 2008 gründete er das Ensemble Correspondances, seit 2010 gibt es CD-Einspielungen mit Werken von Antoine Boësset, Henry Du Mont, Michel-Richard de Lalande, Etienne Moulinié und mehrfach mit Werken von Marc-Antoine Charpentier, mit dessen Werk sich Daucé seit einigen Jahren vorrangig beschäftigt. Zusammen mit William Christie hat Daucé bei den Éditions des Abbesses drei Opern von Charpentier aufgearbeitet und herausgegeben, seine neuste Veröffentlichung bei harmonia mundi widmet sich La descente d´Orphée aux enfers. Diese Kurzoper hatte bereits William Christie 1995 auf CD eingespielt, eine aktuelle Aufnahme des Vokal- und Kammerensembles des Boston Early Music Festivals unter Paul O’Dette und Stephen Stubbs, die bei cpo erschien, gewann den Grammy als ‚Beste Opernproduktion‘ des Jahres 2014 und bekam den Echo in der Kategorie für frühe Operneinspielung. Die vorliegende dritte Aufnahme schließt also keine offensichtliche Lücke. Die zweiaktige Kurzoper La descente d´Orphée aux enfers entstand 1686 nicht für Versailles, sondern für das Haus der Mademoiselle de Guise, für die der Komponist fast 20 Jahre tätig war. Zehn Sänger standen in ihrem Dienst, alle zehn bekamen von Charpentier eine Rolle. Die elfte Figur, die für einen hohen Tenor (haute-contre) geschriebene Rolle des Ixion, sang Charpentier selber. Der erste Akt beginnt pastoral, dann stirbt plötzlich Eurydike, Orpheus stürzt in tiefe Trauer. Apollo rät seinen Sohn, Pluto aufzusuchen. Der zweite Akt schildert Orpheus in der Unterwelt. Mit seinem Gesang bezaubert er u.a. die schuldigen Seelen des Ixion und Tantalus, dann Proserpina und ihren Gatten Pluto, der ihm erlaubt, mit seiner Geliebten zurückzukehren. Die Oper endet mit einer Sarabande légère. Das Zurückblicken des Orpheus und der endgültige Verlust der geliebten Eurydike fehlen. Ob es einen dritten Akt gab, hätte geben sollen oder die Oper hier mit voller Absicht endet, erscheint spekulativ. Sängerisch ist die neue Aufnahme tadellos und hängt stark an der zentralen Rolle des Orpheus, dem Tenor Robert Getchell mit einer sehr angenehmen, ausdrucksstarken und flexiblen haute-contre-Stimme ein inniges Profil verleiht und der die Klagegesänge des zweiten Akts stimmschön modelliert. Getchell, Paul Agnew (in der Aufnahme von Christie) oder Aaron Sheehan (Boston Early Music Festival) – alle drei erhältlichen Aufnahmen sind bei Haupt- und Nebenrollen sehr gut und ausgeglichen besetzt. Die Neuaufnahme überzeugt weiterhin in den mehrstimmigen Vokalensembles, die den dramatischen Duktus nie ausbremsen und bei aller Klangschönheit die Handlung unterstützen. Neben Getchell sind Sopran Caroline Weynants als Eurydike, Bassist Nicolas Brooymans als Pluto sowie Caroline Arnaud und Lucile Richardot (Aréthuse/Proserpine), Violaine Le Chenadec (Daphné), Caroline Dangin-Bardot (Œnone), Stephen Collardelle (Ixion), Davy Cornillot (Tantale), Étienne Bazola (Apollon, Titye) in den vielen kleineren Rollen zu nennen.  Musikalisch ist das von Daucé gegründete und auf der Höhe der Zeit spielende Ensemble Correspondances den Verhältnissen der Erstaufführung entsprechend karg besetzt, sechs Streicher, zwei Flöten, zwei Theorben, Cembalo und Orgel. Die Aufnahme vom Boston Early Music Festivals verwendet statt der Flöten in manchen Szenen Oboen für einen vielfältigeren Klang, der auch hinsichtlich der Phrasierung etwas stimmungs- und nuancenreicher erscheint. In der Summe eine sehr gut besetzte, homogene und elegante Aufnahme, aber auch ein in gewisser Weise redundantes Vergnügen im Spektrum quasi gleichwertiger Einspielungen. (harmonia mundi france, HMM 902279). Marcus Budwitius

Orchesterlieder

 

Juliane Banse ist Lieder- und Opernfans seit langem ein Begriff. Dass sie sich in Liederabenden vor allem auch dem selteneren Repertoire widmet, vermerkt man mit Hochachtung und Beifall – es ist ja immer wichtig, dass die weniger bekannten Werke von den berühmten Sängern propagiert werden.

Anlässlich ihrer neuen CD „Im Arm der Liebe“ mit Orchesterliedern von Marx, Braunfels, Korngold und Pfitzner mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Sebastian Weigle bei BR Klassik (900322) führte Katharina Oberhofer-Ast mit der Künstlerin ein Gespräch, das wir hier gekürzt wiedergeben. Und zu dem Phänomen der Orchesterlieder folgt ein Artikel von Wolfgang Stähr, den wir dem Booklet der neuen CD von Juliane Banse entnahmen – Dank an den Autor und Doris Sennefelder vom Münchener Rundfunkorchester. G. H.

 

Juliane Banse: „Im Arm der Liebe“ bei BR Klassik (900322)

Sie haben schon einige Male mit dem Münchner Rundfunkorchester zusammengearbeitet – unter anderem in einer Aufführung von Walter Braunfelsʼ Verkündigung, in der Sie die Hauptrolle der Violaine überragend gestaltet haben und die auch auf CD dokumentiert ist. Fühlen Sie sich ein wenig zu Hause beim Münchner Rundfunkorchester? Ja, absolut !! Besonders in der Zeit von Ulf Schirmer [Künstlerischer Leiter bis August 2017] war ich öfter da, und immer mit ganz besonderen Projekten; dafür bin ich sehr dankbar! Es herrscht eine sehr entspannte, aber zugleich höchst konzentrierte Arbeitsatmosphäre, das finde ich unglaublich angenehm.

Nun haben Sie gemeinsam mit dem Rundfunkorchester eine CD mit Orchesterliedern unter dem Titel „Im Arm der Liebe“ herausgebracht. Wie sind Sie auf die Zusammenstellung der Werke gekommen? Das war ein längerer Prozess, bei dem wir unter anderem auch auf die Besetzungsmöglichkeiten des Rundfunkorchesters Rücksicht nehmen mussten. Ich hatte einige Stücke im Kopf, die ich mir sehr wünschte, und es war dann die Frage, wie man einen sinnvollen „roten Faden“ findet, um ein gesamtes CD-Programm zu erhalten, das Sinn macht. Herausgekommen ist eine Sammlung von Liedern, die alle zwischen 1910 und 1920 geschrieben wurden, und die in faszinierender Weise zeigt, wie unterschiedlich die Strömungen damals waren und wie doch alle aus der gleichen Tradition entstanden!

Wie lange hat es gedauert, die Werke einzustudieren? Einige der Lieder hatte ich schon mit Klavier bei Liederabenden gesungen, die waren schnell im Kopf, andere waren komplett neu und brauchten etwas mehr Beschäftigung. Aber da es alles wunderbare und leicht ins Ohr gehende Melodien sind, war es keine schwere Arbeit!

Juliane Banse (Foto Stefan Nimmesgern/ BR Klassik

Im Kunstlied ist der Text ein wichtiger Bestandteil. Lesen Sie gerne? Wenn ja, was? Vielleicht sogar auch Gedichte? Ich lese natürlich die Gedichte, wenn ich die daraus komponierten Lieder lerne. Ich finde es wichtig, dass man auch das zu Grunde liegende Gedicht OHNE die Musik kennenlernt. In meiner Freizeit bin ich allerdings eher der Typ von historischen Romanen und Krimis. Im Moment fülle ich gerade meine peinliche Bildungslücke und lese alle „Harry Potters“ auf Englisch − macht großen Spaß!!

Gibt es darüber hinaus noch Hobbys, für die Sie sich Zeit nehmen? Wann immer es geht, bin ich im Fitness-Studio oder im Tanzstudio, um einigermaßen fit zu bleiben. Wenn man in der Vergangenheit, so wie ich, intensiv Sport getrieben hat, dann fehlt einem das sonst.

Ihr Mann Christoph Poppen ist als Dirigent und Geiger wie Sie viel unterwegs. Haben Sie Zeit für gemeinsames Essen mit der Familie? Ja, wir legen großen Wert darauf, ab und zu alle zusammen am Tisch zu sitzen, ich stelle immer wieder fest, dass das für die Familie ganz wichtig ist.

Diskutieren Sie zu Hause auch über Musik oder ist das ein Tabu im Musikerhaushalt? Ein Tabu ist es überhaupt nicht, und natürlich sprechen wir über Dinge, die uns beruflich beschäftigen, aber das hält sich die Waage mit allen möglichen anderen Themen.

Geben Sie sich gegenseitig Tipps? Eigentlich eher selten … Manchmal kommt es dazu, wenn wir gemeinsam arbeiten, dass man dem anderen sagt, wenn einem etwas auffällt. Aber wenn zuhause jeder seine eigenen Projekte vorbereitet, dann macht das eher jeder für sich.

Wie führen Sie Ihre Kinder an Musik heran? Die Kinder haben natürlich von Babytagen an automatisch ganz viel mitbekommen und die Musik als etwas kennengelernt, was ganz einfach zum Leben dazu gehört. „Heranführen“ ist also eigentlich nicht nötig. Allerdings ist dann wie in allen anderen Familien das „Dranbleiben“ die Herausforderung. Denn Üben ist bei uns genauso Thema wie überall …

Juliane Banse: „Das Tagebuch der Anne Frank “ im Theater an der Wien © Herwig Prammer

Ist Sängerin nach wie vor Ihr Traumberuf? Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es für mich der richtige Beruf ist; ich habe es keinen Moment bereut. Allerdings hat „Traumberuf“ immer so den Anschein, dass es keine Schattenseiten gibt; das ist natürlich wie in jedem anderen Beruf nicht so. Es ist ein wunderschöner und schwerer Beruf, der das ganze Leben bestimmt und bis zum letzten Ton der Karriere kein Zurücklehnen erlaubt, das nervt manchmal ein bisschen, aber das Sängerinnen-Dasein hat mir auch viele wunderbare Erlebnisse und Begegnungen beschert, die dann auch immer wieder Lust und Energie zurückgeben!

Wo üben Sie am liebsten? Im stillen Kämmerlein im Keller oder im Wohnzimmer mit Blick auf die Berge und mitten im Familientrubel? Am liebsten im Wohnzimmer und ganz eindeutig dann, wenn niemand zuhause ist, andernfalls werde ich ständig unterbrochen und komme zu nichts − oder mir fallen selber ständig Dinge ein, die ich noch besprechen wollte, und der Effekt ist der Gleiche! (Quelle BR Media)

 

Juliane Banse: Wenige Künstler ihrer Generation sind auf so vielen Gebieten mit verschiedenstem Repertoire so erfolgreich wie die Sopranistin Juliane Banse. Ihr Opernrepertoire reicht von der Figaro-Gräfin, von Fiordiligi, Donna Elvira und Vitellia über die Titelpartie in Schumanns Genoveva und weitere große Rollen wie Leonore, Tatjana und Arabella bis hin zu Grete in Schrekers Der ferne Klang. Ihren künstlerischen Durchbruch erlangte sie bereits 20-jährig als Pamina an der Komischen Oper Berlin in einer Produktion von Harry Kupfer. Hervorzuheben ist auch ihr Auftritt als Schneewittchen bei der Uraufführung der gleichnamigen Oper von Heinz Holliger, mit dem sie eine enge Zusammenarbeit verbindet, an der Oper Zürich. Die in Süddeutschland geborene und in Zürich aufgewachsene Sopranistin nahm zunächst Unterricht bei Paul Steiner, später bei Ruth Rohner am Opernhaus Zürich und vervollständigte dann ihre Studien bei Brigitte Fassbaender und Daphne Evangelatos in München. Mit dem Wintersemester 2016/2017 übernahm sie selbst eine Gesangsprofessur an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf.

Juliane Banse: als Elsa mit Michaela Schuster/ Ortrud in Brüssel/ Foto Ruth Walz/ De Nationale Opera/ BR Klassik

Juliane Banse ist gern gesehener Gast an den großen Opernhäusern, so wurde sie etwa für die Uraufführung der Oper Lunea von Heinz Holliger 2018 erneut an die Oper Zürich verpflichtet. Sie war z.B. in der Hauptrolle von Grigory Frids Tagebuch der Anne Frank am Theater an der Wien zu erleben, als Donna Elvira in Mozarts Don Giovanni an der Wiener Staatsoper, in der Hauptrolle von Poulencs Monooper La voix humaine an der Berliner Staatsoper, als Rosalinde (Die Fledermaus) in Chicago oder als Zdenka in Strauss‘ Arabella an der Metropolitan Opera in New York. Die Marschallin im Rosenkavalier singt sie erstmals in der Saison 2017/2018.

Auch im Konzertbereich ist die Künstlerin mit einem weit gefächerten Repertoire gefragt. Mit zahlreichen namhaften Dirigenten hat sie zusammengearbeitet, darunter Lorin Maazel, Riccardo Chailly, Bernard Haitink, Franz Weiser-Möst, Mariss Jansons, Zubin Mehta und Manfred Honeck. Überdies sind Liederabende seit jeher fester Bestandteil ihres Kalenders. So trat Juliane Banse u.a. bei der Schubertiade  Vilabertran, in Oxford, bei der Liedwoche auf Schloss Elmau mit Wagners Wesendonck– Liedern oder auch im Rahmen der ersten Konzerte im neuen Pierre-Boulez-Saal in Berlin auf.

Das Münchner Rundfunkorchester/ Foto BR Klassik

Zahlreiche CDs der Künstlerin sind preisgekrönt, gleich zwei erhielten den ECHO Klassik: Braunfels‘ Jeanne D’Arc (Welt-Ersteinspielung des Jahres) sowie Mahlers 8. Symphonie mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman. Weitere herausragende Projekte waren die Arien-CD Per amore, die Lied-Aufnahme Tief in der Nacht mit Aleksandar Madzar sowie der Film Hunter’s Bride/Der Freischütz mit Juliane Banse als Agathe. Im Februar 2017 erschien die CD Unanswered Love mit teils erstmals eingespielten und ihr gewidmeten Werken von Reimann, Rihm und Henze, die sie mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Christoph Poppen herausgebracht hat. In der Saison 2017/2018 folgt eine Einspielung von Hindemiths Marienleben mit Martin Helmchen am Klavier.

Mit dem Münchner Rundfunkorchester hat die Sopranistin in Konzert und Aufnahmestudio bereits mehrfach zusammengearbeitet. Beispielhaft angeführt sei hier nur der Live- Mitschnitt des Mysteriums Verkündigung von Walter Braunfels unter der Leitung von Ulf Schirmer mit einer beeindruckenden Juliane Banse in der Rolle der Violaine (Quelle BR Media).

 

 

Und nun Wolfgang Stähr zum Phänomen der Orchester-Lieder: Stille Kammer, weite Welt – wie das Lied zum Orchester kam. Der Vortrag von Liedern im öffentlichen Konzert erscheint uns heute als eine Selbstverständlichkeit – ist es aber nicht. Diese Praxis war im 19. Jahrhundert noch vehement umstritten. Das Lied gehöre in die Sphäre der Hausmusik, des Salons, des geselligen oder elitären Kreises, aber keinesfalls in die Öffentlichkeit, so lautete eine weitverbreitete Meinung. Vor 1830 waren denn auch Aufführungen von Liedern im Konzert ein äußerst seltenes und isoliertes Ereignis. Und dass allmählich im Laufe der Jahrzehnte das Lied einen Platz im öffentlichen Konzert erobern konnte, lag zunächst einmal an einer Art der Programmzusammenstellung, die eine unbekümmerte Mischung der verschiedensten Gattungen und Besetzungen ermöglichte. In seinem 1911 erschienenen Buch Berlin als Musikstadt schreibt Adolf Weissmann: „Die Programme der Konzerte von anno dazumal sind in ihrer überwiegenden Mehrzahl eine Verherrlichung der gemischten Kost. Man findet es ganz in der Ordnung, dass eine Sinfonie, von der ein Satz gespielt wird, eine Arie, ein Rezitativ, ein Klarinettenkonzert aus der Werkstatt des Vortragenden, noch eine Arie, noch ein Sinfoniesatz in schier unendlicher Ausdehnung aneinander gereiht werden. Als stilvoll galt es schon, wenn an der Spitze jedes Teils eine Ouvertüre stand.“

Orchesterlieder: Hans Pfitzner/ OBA

Ein Lied inmitten eines Orchesterkonzerts – kam das einer groben Stillosigkeit gleich? Oder war es der einzige Weg, um dieser intimen Kunst zu größerer Aufmerksamkeit zu verhelfen? Diese Frage bot jahrzehntelang Anlass zu Bekenntnis und Meinungsstreit. 1856 äußerte sich dazu Franz Brendel, Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik: „Soll nun das Lied von der Oeffentlichkeit ganz ausgeschlossen sein, und auf diese Weise die Möglichkeit der Einführung und Verbreitung in weiteren Kreisen entbehren? Soll eine Gattung vernachlässigt werden, die den Deutschen eigenthümlich und in der wir bis herab auf die neueste Zeit das Ausgezeichnetste erhalten haben?“ Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die fundamentale Debatte nicht beruhigt. In der Zeitschrift Die Musik war 1903 ein Artikel zu lesen, dessen Autor, stellvertretend für viele Gleichgesinnte, den Ausschluss des klavierbegleiteten Liedes aus dem Orchesterkonzert verlangte: „Ganz unbedingt notwendig ist es aber, die lyrischen Solostücke aus den Symphoniekonzerten durchaus zu verbannen. Es gehört die ganze Unempfindlichkeit unsers ästhetischen Sinnes dazu, nach grossen Orchesterstücken Lieder mit Klavierbegleitung anzuhören. Diese Kompositionen sind auf intime Räume angelegt; ihre musikalische Struktur unterscheidet sie ebensosehr von den symphonischen Werken, wie die Vortragsart, die sie fordern. Wie häufig kann man beobachten, dass Sänger, die im Zimmer durch die Feinheit ihres Vortrages entzückten, im grossen Konzertsaale gerade durch ihre echte, zarte Kunst unterlagen!“

Es erscheint wie eine Ironie oder wie eine klug gesetzte Pointe des Zufalls, dass Hans Pfitzner ausgerechnet im selben Jahr 1903 ein „Deutsches Volkslied“ komponierte, Untreu und Trost, ein künstliches Volkslied, als Beitrag zu einem Wettbewerb des Magazins Die Woche, und dieses zwischen dem längst kodifizierten „Volkston“ und der künstlerischen, namentlich kontrapunktischen Ambition changierende Stück später auch noch vom begleitenden Klavier auf das Orchester übertrug – als hätte er alle Bedenken gegen lyrische, symphonische und ästhetische Empfindlichkeiten ad absurdum führen wollen. Ein sogenanntes Volkslied aus der Feder eines tief vergrübelten Kom­ponisten, und dann auch noch mit Symphonieorchester vom Zimmer ins Konzerthaus gehievt! Übrigens erweisen sich auch die ab 1911 entstandenen Sechs einfachen Lieder op. 9 des Wiener Musikkritikersohnes und ins Erwachsenenalter aufbrechenden Wunderkindes Erich Wolfgang Korngold mitnichten als „einfach“, sondern vielmehr als artifiziell, raffiniert, süffig, melodisch extravagant und harmonisch schillernd – und auch sie hat Korngold (mit einer Ausnahme) alle orchestriert, ohne sich irgendeine „hausmusikalische“ Zurückhaltung bei der Wahl und Zahl der Instrumente aufzuerlegen.

Orchesterlieder: Joseph Marx/ Joseph-Marx-Gesellschaft

Doch diese Plädoyers, geplant oder unbeabsichtigt, kamen längst schon zu spät, denn die Wiedergabe klavierbegleiteter Lieder im Orches­terkonzert war bereits durch zwei historische Entwicklungen im Musikleben grundlegend in Frage gestellt. Als der Bariton Julius Stockhausen 1856 in Wien eine vollständige zyklische Aufführung der Schönen Müllerin ankündigte, sorgte allein schon die Idee, ein Konzert ganz dem Lied zu widmen, für Aufregung. Aber Stockhausen vermochte selbst Skeptiker zu überzeugen: Seine Interpretationen der Müllerin, der Winterreise und der Dichterliebe ließen die Kritiker verstummen, die meinten, vor quälender Monotonie und Überanstrengung der Sänger warnen zu müssen. Der zweite Pionier neben Stockhausen war der Wiener Hofopernsänger Gustav Walter, der 1876 mit einem reinen Schubert- Programm derart erfolgreich war, dass er fortan alljährlich solche Schubertabende veranstaltete, die zu besuchen zur gesellschaftlichen Pflichtübung avancierte.

Der Enthusiasmus für die neue Konzertform des „Liederabends“ fiel in eine Zeit, da der Ruf nach Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Programme immer lauter wurde. Nur ein oder zwei Komponisten sollten aufgeführt werden; zumindest suchte man thematische Schwerpunkte und Eingrenzungen nach Aspekten der Epoche oder der Nationalität. Und mit der Forderung nach Homogenität der Besetzung waren nicht nur die Tage der „gemischten Kost“ gezählt: Auch das klavierbegleitete Lied musste als unerwünschter Fremdkörper den überfälligen Konzert­reformen weichen. In dem Standardprogramm, das sich mit dem Schema Ouvertüre – Solokonzert – Symphonie durchzusetzen begann, war es unbestreitbar fehl am Platz. Mit dem unaufhaltsamen Liederabend- Boom entfiel schließlich auch die Notwendigkeit, der vagabundierenden Gattung ein Gastrecht im Orchesterkonzert einzuräumen. Nun hatte allerdings in den 1830er Jahren der französische Romantiker Hector Berlioz damit angefangen, eigene Lieder zu orchestrieren, aus recht pragmatischen Überlegungen, um eine Neuheit oder beliebte Sänger in seinen Konzerten präsentieren zu können. Und das Ergebnis stellte ihn sehr zufrieden: „Zehnmal wirkungsvoller als auf dem Klavier.“ Mit diesen Orchesterfassungen – am berühmtesten ist der Zyklus Les Nuits dete – hatte Berlioz als Erster, jedenfalls als erster namhafter Komponist dem Lied einen Besetzungstypus erschlossen, der bis dahin nur für Solokantaten und Konzertarien üblich war. Franz Liszt, der gleich Berlioz die Gattungsgrenzen experimentierfreudig ignorierte, hat ebenfalls für eigene Lieder – und für einzelne Schubert-Lieder – orchestrale Versionen geschrieben. Und auch Johannes Brahms kam der Bitte seines Freundes Julius Stockhausen nach und orchestrierte (mit sehr gemischten Gefühlen) Lieder von Franz Schubert.

Orchesterlieder: Erich Wolfgang Korngold (rechts) gibt dem Wagner-Darsteller Alan Badel Dirigierunterricht.für den Film „Magic Fire„, für den er den Soundtrack erstellte/ Foto STV

Doch erst mit einer anderen Komponisten-Generation begann die Goldene Ära des orchestrierten Klavierliedes und des originalen Orchesterliedes: mit Hugo Wolf und vor allem mit Gustav Mahler, beide Jahrgang 1860 („Fort mit dem Klavier!“, lautete Mahlers stürmische Forderung: „Wir Modernen brauchen einen so großen Apparat, um unsere Gedanken, ob groß oder klein, auszudrücken.“), mit dem 1864 geborenen Richard Strauss, der sich wie der jüngere Korngold auf Stimmschmelz, Orchesterglanz und großes Theater gleichermaßen verstand, mit Hans Pfitzner, geboren 1869, und mit Max Reger, der 1873 zur Welt kam. Aber auch mit heute „vergessenen“ und deshalb endlich „wiederentdeckten“ Meistern wie den beiden im Jahr 1882 geborenen Joseph Marx und Walter Braunfels. Der Grazer Joseph „Pepo“ Marx, der in seinen guten, mit Ämtern und Würden reich gesegneten Tagen einmal der meistgespielte lebende österreichische Komponist war, repräsentiert die andere, nicht zwangsläufig anachronistische Seite der Moderne, die gemeinhin mit dem Stempel „spätromantisch“ versehen wird. Seine überaus ästhetisch und empfindlich, niemals maß- oder uferlos instrumentierten Vokalwerke demonstrieren aufs Schönste die glückliche Doppelnatur des Orchesterliedes, das – wie die Epoche, der es angehört – das Ätherische mit dem Exaltierten, die intime Seelenerkundung mit der schwelgerischen Schönheit, den verführerischen „großen Apparat“ mit der fragilen Individualität verbindet, vereint und versöhnt.

Die im Weltkriegsjahr 1914 komponierten, äußerst delikaten, von Wagner und Strauss angehauchten Drei chinesischen Gesänge op. 19 des in Frankfurt am Main geborenen, in Wien und München ausgebildeten, allen schönen Künsten aufgeschlossenen Walter Braunfels waren von Anfang an für Sopran und Orchester bestimmt – aber nicht als Nachtrag zum einstmals modischen Exotismus gedacht. Die Gedichte hatte er einem kunstgewerblichen Band mit Lyrik aus dritter Hand entnommen: der 1907 im Leipziger Insel-Verlag erschienenen Chinesischen Flöte. Darin hatte der deutsche Schriftsteller Hans Bethge chinesische Verse aus dem achten nachchristlichen Jahrhundert geschmackvoll arrangiert, mit Sinn für Schönheit, Fernweh, Naturpoesie, erlesene Details und östliche Meditation, aber da er des Chinesischen nicht mächtig war, formulierte er seine Nachdichtungen mit Hilfe französischer, englischer und deutscher Übersetzungen. Wenige Jahre zuvor schon hatte sich Gustav Mahler von Bethges Chinesischer Flöte zu unvergleichlich anspruchsvollen, existentiellen Orchesterliedern inspirieren lassen, die er schließlich zu einer sechssätzigen Symphonie ausformte: Das Lied von der Erde. Damit war zwar noch nicht das letzte Wort gesprochen, und doch eine Grenze bezeichnet, die das scheue Lied im Scheinwerferlicht der großen Öffentlichkeit erreichen konnte.

Walter Braunfels/ Foto Michael Braunfels/Walter-Braunfels-Website

Gehört es dort tatsächlich hin? Im Jahr 1900 versammelte eine Flugschrift mit dem Titel Das neue Lied einige Vorschläge, wie die Liedkunst im großen Konzertsaal ihren gefährdeten Feinsinn verteidigen könne: indem der Sänger von einem Schleier verhüllt oder in ein stilisiertes Gewand gekleidet werde, indem der Raum in Dunkelheit getaucht, von leisen Düften durchzogen oder mit sacht an- und abschwellenden Lichtakkorden illuminiert werde. Und dergleichen mehr – alles schön und gut. Aber womöglich genügt auch die Musik allein, ohne Licht und Duft, auf Tonträger gebannt und heimgekehrt an den Ursprungsort des Liedes: die stille Kammer. Wolfgang Stähr/ BR Klassik (Quelle Booklet der CD von Juliane Banse „Im Arm der Liebe, BR Klassik/ Foto oben: Juliane Banse © Elsa Okazaki/ BR KLassik)

Ivar Hallströms Oper „Den Bertagna“

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Was fällt uns theaterübersättigten Mitteleuropäern zur nordischen, bzw. schwedischen Oper ein? Abgesehen von Josef Martin Kraus und seinem Umkreis während der Periode um Gustav III? Nicht übermäßig viel, ohne nun schwedische Komponisten der näheren Gegenwart diskriminieren zu wollen. Natürlich gibt es Hugo Alfvén, Allan Pattersson, Gunnar de Frumerie, Kurt Atterberg, Wilhelm Stenhammar (über die wir in operalounge.de berichteten), Ture Rangström und viele, viele mehr, wie uns Wikipedia belehrt. Aber wie präsent sind sie uns? Und wer kennt nun Ivar Hallström (1826 – 1901)? Dabei wurde seine Wikingeroper Vikingarna 2016 in Göteborg zusammen mit zwei weiteren schwedischen Spätromantikern konzertant aufgeführt und kürzlich im Radio gesendet – Anlass also, sich mit Hallström zu beschäftigen.

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Hallströms Oper „Den Bergtagna“ bei Sterling mit einem Bühnenbild auf dem Cover zum 1. Akt der Oper von Fritz Ahlgremsson/ Foto Sterling/ Mats Becker/ Kungliga Operan Stockholm)

Er ist mit mindestens zwei Gesamtaufnahmen doch sehr präsent vertreten, namentlich seine Märchenoper Den Bergtagna (Die Braut des Bergkönigs, Stockholm 1874), die mit einer schönen Aufnahme bei Sterling (CDO-1001/2) in einer Aufnahme von 1997/1987 vorliegt (Naxos hat eine weitere Hallström-Oper: Duke Magnus and the Mermaid  nach Andersen unter Niklas Willén), Sterling nahm zudem Ballettmusiken von Hallström auf/ CDS-1033-2) ). Alan Hacker (der auch die Wiederaufführung an der Stockholmer Folkoperan 2005  leitete) dirigiert eine illustre Crew, die von Hillevi Martinpelto als Ingeborg angeführt wird. Monika Sjöholm singt ihre Mutter Ragnhild, dazu kommen Lars Billengren, Helge Lammerbäck, Karl-Robert Lindgren und weitere; es spielt und singt das Umea Symphony Orchestra und der Chor der Norrland Opera. Es ist dies der Soundtrack einer Fernsehverfilmung der Oper anlässlich ihrer modernen Erstaufführung 1986 an der Norrlandopera (dazu nachstehend mehr).

Die musikalische Kraft, die schönen Melodien und auch die stimmungsvolle Atmosphäre des Märchenhaften kommen in Hallströms späromantischer, an der französischen Oper  orientierten Musiksprache fabelhaft zur Geltung – eine Empfehlung!

Zu „Den bergtagna“: der Autor Anders Wiklund, Professor an der Göteborg Unversität und Herausgeber vieler Operneditionen sowie selber auch Komponist und Autor zahlreicher Werke namentlich zum Belcanto/ Universität Göteborg

Im Folgenden gab uns Anders Wiklund, der schwedische Musikwissenschaftler und Komponist von internationalem Renommée und Herausgeber zahlloser Operneditionen (zuletzt in Wexford 2017 Foronis frisch ausgegrabene Oper Matilda), die Erlaubnis, seinen Text aus der Beilage zur Bergtagna bei Sterling hier wiederzugeben – wir danken sehr! Er führt uns in die Welt der schwedischen Oper und portraitiert einen fast vergessenen Komponisten und seine Zeit, dessen Bekanntschaft sich wirklich lohnt. G. H.

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„Erhebe dich, König des Berges, öffne dein Tordie Wiederentdeckung der schwedischen National-­Oper: Im 19. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der schwe­dischen Oper relativ wenige einheimische Werke. Die Musikgeschichte ist reich an Komponisten, die die Be­rufung empfanden, für die Bühne zu schreiben, und wie wir wissen, waren die Auserwählten gering an der Zahl. Dies betrifft auch Schweden. Die schwedischen Opern konnten einem Wagner oder Verdi wenig entgegen­setzen – ihre Werke wurden an der Stockholmer Oper während des zweiten Teiles des 19. Jahrhunderts immer häufiger aufgeführt. Auch die beliebten französischen Opern, allen voran Gounod, boten den Schweden über­mächtige Konkurrenz.

Zu „Den Bergtagna“:der Komponist Ivar Hallström/ OBA

Trotzdem: Wenn man die schwedischen Opern des 19. Jahrhunderts studiert, wird man finden, dass sie oft­mals ungeahnte Schönheitserlebnisse, verdichtete At­mosphäre und erstklassige musikalische Dramatik bringen. Der wichtigste schwedische Opernkomponist war Ivar Hallström. Er ist der Großmeister der schwe­dischen Opernkunst. Ein schwedischer Gounod, ja, sogar ein schwedischer Verdi. Und er sollte im natio­nalen Stil seinen größten Triumph feiern: die Oper Den Bergtagna (Die von den Berggeistern Verzauberte) aus dem Jahre 1874.

„Ich lebte ein sehr glückliches Leben, ohne größere Schicksalsschläge. Mit viel Applaus und großen Er­folgen und gewiss einigen kleinen Verdrießlichkeiten“. So fasst Ivar Hallström in den 1890er Jahren sein Leben zusammen, das 1826 in Stockholm begonnen hatte. Nach sehr frühen Klavierstudien widmete er sich der Rechtswissenschaft. 1849 legte er an der Uppsalaer Universität eine höhere juristische Prüfung ab und wurde im selben Jahr ein hoher staatlicher Beamter.

1852 unterbrach er seine Beamtenkarriere, um sie ganz dem Komponieren und dem Unterrichten zu widmen. Er hatte bei Adolf Fredrik Lindblad Unterricht genommen. Einige Zeit in den 1880er Jahren war Hall­ström auch am Kgl. Theater (der Stockholmer Oper) als Korrepetitor tätig.

Von Ingvar Hallström hat Sterling auch eine interessante Ballett-CD herausgegeben (s. Text)

Hallströms erste Kompositionen waren Sololieder, und da er ein hervorragender Pianist und Begleiter war, wurde sein Name bald sehr bekannt. Vokale Musik ist in seinem Schaffen vorherrschend. Nur seine drei Ballette En dröm (Ein Traum, 1871), Skottland (In Schottland, 1875) und Melusina (1882) sind instrumental. An­sonsten besteht sein Gesamtwerk aus Liedern, Kan­taten, Chorkompositionen und Opern. In den 1840er Jahren war Hallströms Stil von den damaligen, klassi­zistischen Strömungen unabhängig, während die 1850er Jahre von einem starken Einfluss der französischen Musik geprägt sind. Dass Hallström vor allem hinsicht­lich Harmonik, Instrumentation und Gestaltung der vokalen Linien ziemlich viel von etwa Gounod und Meyerbeer gelernt hatte, wird von den zahlreichen Ab­schriften französischer Opern in seiner Notensammlung bestätigt, Abschriften, die er selbst machte. Eine erprobte Art für einen Komponisten, das musikalische Hand­werk zu erlernen, wenn kein regelrechter Musikunter­richt zu haben war. Überhaupt verschmilzt Hallström einen großen Teil des europäischen Musikerbes, um daraus eine eigene, einzigartige Tonsprache zu machen, mit einem zum musikalischen Credo erhöhten Eklekti­zismus! Dazu kommt seine meisterhafte Fähigkeit, schwedische Folklore zu imitieren, um sie einmal seine Musik beherrschen, ein anderes Mal als Kontrast dienen zu lassen. Es ist auch ein schwedisches Volkslied, das als Inspiration zu seinem wohl größten Publikumserfolg diente, Den Bergtagna. Es handelt von der Jungfrau, die auf dem Wege zur Christfrühmette vom König des Berges geraubt wird, um seine Braut zu werden.

Den Bergtagna war Hallströms fünftes Bühnen­werk. Die Oper besteht aus 25 Musiknummern, die aber ganz offen stehen und durch begleitete Rezitative inein­ander übergehen. Die Melodik hat eine farbenprächtige Schönheit, in welcher nicht nur die Folklore erkennbar ist, sondern auch seine eigene, unorthodoxe Melodik, mitunter mit einem französischen Duft gewürzt. Durch seine Orchesterbehandlung verstärkt er den melo­dischen Verlauf und die Dramatik. Bei Den Bergtagna beginnend klingt sein Orchester raffiniert und klanglich gesättigt, stets in Übereinstimmung mit dem szenischen Drama. Man hat zwar Den Bergtagna als schwedische Nationaloper bezeichnet, aber dies ist nicht ganz zu­treffend. Es stimmt, dass Hallström und sein Librettist Frans Hedberg den Text des schwedischen Volksliedes als Grundlage für ihre Erzählung verwenden, aber die Geschichte ist auch in anderen abendländischen Kul­turen zu finden, und obwohl das Volkslied an verschie­denen Stellen zitiert wird, ist es das einzige an schwe­discher Folklore, das in der Oper vorkommt. Der mittel­europäische Einfluss auf Hallströms Musik ist übrigens so groß, dass das echt Schwedische etwas abseits ge­raten ist. Es ist besser, die Oper so einzustufen, wie sie ist: eine grandiose Opernkunst der internationalen Klasse, von Schweden geschaffen, die die Behauptung überzeugend widerlegen, die schwedische Opernkunst des 19. Jahrhunderts sei uninteressant!

Zu „Den Bergtagna“: Auch Zulamith Wellander sang die Bergadrottningen/ OBA

In den drei Jahren nach 1874 wurde Den Bergtagna insgesamt 44mal gespielt. Im April 1876 wurde das Werk in München inszeniert, und im Mai desselben Jahres in Kopenhagen, wo die Kritiker erstaunlich ne­gativ waren. Die Oper wurde auch in Hamburg gegeben. Für die deutschen Bühnen hatte Hallström eine kürzere Fassung gemacht, mit drei Akten und nur 18 Musik­nummern. Bis 1910 war Den Bergtagna insgesamt 84mal an der Stockholmer Oper gespielt worden. Seither fehlt sie ganz im Repertoire, mit Ausnahme einiger Auf­führungen einzelner Akte. Erst im Dezember 1986 er­lebte die Oper eine Wiedergeburt an der Norrlandoper, deren Interpretation wir jetzt hören können.

Die Einstellung seiner Zeitgenossen zu Hallström war ambivalent. Im breiten Musikpublikum war er zweifelsohne ein beliebter Komponist, und mit neun Uraufführungen an der Stockholmer Oper war er wirk­lich der schwedische Opernkomponist. Sämtliche Opern erlebten auch eine ansehnliche Anzahl Vorstellungen. Als Musikdramatiker hatte Hallström im Schweden des 19. Jahrhunderts kein Gegenstück. Seine Texte waren eindeutig die besten, vor allem durch die Zusammen­arbeit mit Frans Hedberg, und Hallströms Musik ist den dramatischen Forderungen gut angepasst. Hedbergs Fähigkeit, eine direkte und stringente Sprache zu schreiben, mit einem fließenden, dramatischen Dialog und einem untrüglichen Gefühl für Dramatik und Form, war, wie man an Den Bergtagna sieht, eine ideale Vor­aussetzung für Hallström.

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Zu „Den Bergtagna“: Zeitschriften-Illustration zur Oper, 1875/ OBA

Hallströms nächste Oper nach Den Bergtagna war Vikingarna (1877). Stellenweise steht sie in musika­lischer Hinsicht auf einer höheren Ebene als die Vor­gänger. Der Einfluss Wagners ist hier eindeutiger, selbst wenn Hallström sich vom Zauberer in Bayreuth nie ganz verführen ließ. In Vikingarna werden zwei Milieus einander gegenübergestellt: das schwere altnordische und das leicht tänzerische provenzalische. Die Musik entspricht elegant dieser farbenprächtigen Dramatik, und die Oper wurde beinahe ebenso oft gespielt wie Den Bergtagna. Hallströms bedeutendste Oper nach diesen beiden Werken mit nordischen Themen war Neaga (1885) mit einem Libretto von Carmen Sylva, Pseudo­nym der Königin Elisabeth von Rumänien. Dieses rumänische Freiheitsdrama hat sämtliche Merkmale der europäischen Operntradition, und Hallström zeigt, dass er auch dieses Stils mächtig ist. Durch seine umfassenden Reisen in Europa wusste er sehr wohl, was auf den Opernbühnen der Gegenwart vor sich ging. In Neaga finden wir kraftvolle Farben, plötzliche Stimmungs­wechsel, einen manchmal rauh geschilderten, jähen Tod, was man von einem Nordländer kaum erwartet. Hallström überzeugt aber wieder einmal, selbst wenn er zwecks größerer dramatischer Konzentration viele Be­arbeitungen vornahm.

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Als Ivar Hallström im April 1901 das Zeitliche seg­nete, war das musikdramatische Klima ein anderes. Die Musik der neuen Zeit war im Anzug, die Ansätze waren schon gemacht worden. In diesem Licht erscheint natür­lich der schwedische Orpheus als hoffnungslos ver­altet. Im musikdramatischen Licht leuchtet er aber mit starker, unbesiegbarer Flamme. Er fing sein Zeitalter ein; aus dessen Bildern, Düften, Musik, Stimmen schuf er eine lebendige schwedische Opernkunst, deren Be­deutung wir nur ahnen können.

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Zu „Den Bergtagna“: Szene aus der Norrland-Opera-Produktion/ Sterling

Über die Sterling-Aufnahme: Diese Aufnahme von Den Bergtagna wurde von der Fassung gemacht, die im Dezember 1986 von der Norr­landoper gebracht wurde. Das Tonband wurde vom Schwedischen Fernsehen für eine Sendung des Werkes gemacht, und es handelt sich somit um eine szenische Fassung der Oper. Gegenüber dem Klavierauszug wurden deswegen mehrere Sprünge gemacht. Die Tra­dition von Hallström und Hedberg wird dadurch weiter­geführt, denn bereits sie selbst hatten umfassende Änderungen vorgenommen, um den Verlauf der Hand­lung effektvoller und konzentrierter zu gestalten. Bei der Aufführung in Umeä wurden das Ballett und der Einzug der Berggeister am Schluß des dritten Aktes ge­strichen. Sie wurden jetzt durch eine Neuaufnahme dieser Musik wieder hergestellt. Per-Erik Öhrns Insze­nierung beginnt damit, dass sich die Bauern zu einem Weihnachtsfest versammeln. Einer der Knechte singt das schwedische Volkslied von der Jungfrau, die vom König des Berges verzaubert wird (CD 1, Track 1). Mit diesem Lied wird das Märchen heraufbeschworen, die Bauern gehen in die verschiedenen Rollengestalten des Märchens auf, und die Oper beginnt mit der Orchestereinleitung (Track 2). Das Gegenteil geschieht am Schluss der Oper, wo Ingeborg beim Glockengeläute der Früh­mette und beim Chorchoral, mit dem Hallström die Oper beendet, erwacht. Wir gehen aus dem Märchen in die Wirklichkeit zurück; das kurze Orchesternachspiel ist gestrichen. © Anders Wiklund 1998;  Übersetzung: Julius Wender (mit Dank an Sterling/ Foto oben Caspar David Friedrich: Das Eismeer/ Hamburger Kunsthalle/ Wiklpedia)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Betagte Schwestern

 

Kein Kloster, keine Guillotine, keine Französische Revolution. Dmitrij Tscherniakov hatte Poulencs Dialogues des Carmélites im Frühjahr 2010 (!!!) an der Bayerischen Staatsoper ohne diese unabdingbar scheinenden historischen Eckdaten angerichtet. Die ins Heute transportierten Dialoge einer in einer kleinen Holzhütte zusammengepferchten Frauengruppe sind seit Jahren auch auf DVD zu bestaunen (BelAir Classics BAC 061) und geben in ihrer Konzentration auf das strenge und harte Zusammenspiel auf engstem Raum einen womöglich viel besseren Eindruck als im Theater. Tcherniakov verzichtet in dieser Schilderung eines geschlossenen Systems auf religiöse Bezüge, auf eine konkrete Orts- und Zeitangabe. Das Stück spielt hier und jetzt. Lauter Straßenlärm, eilende Menschen. Mit dem Rücken zu uns – ein einsames Mädchen: Blanche, die in Tcherniakovs beengtem, gut einsehbarem Holzhaus bei einer Gruppe von Elena Zaytseva in uniform einfache Arbeitskittel- und Hosen gesteckten Frauen Zuflucht findet. Die Einsamkeit in der Gruppe, subtile und offene Machtspiele, Abhängigkeit, Angst und die Überwindung der Angst sind die Themen dieser hart aneinander gereihten Bilder, denen Tcherniakov durch seine spannende, ungemein feinfühlige und genau der Wirklichkeit angeschauten Personenregie frappierende Strenge und Brisanz verleiht. In kleinsten Gesten zeichnen vor allem Susanne Resmark mit der korrekten Kälte einer Altenpflegerin als Mère Marie und Soile Isokoski mit dem gefährlichen Liebreiz einer Unentschlossenen als Madame Lidoine auch gesanglich ausgezeichnete Porträts, denen sich mit kleinem Abstand auch Sylvie Brunet etwas rau gesungene, bis zur Selbstentblößung zerfallende Madame de Croissy und Susan Gritton als Blanche annähern. Auffallend der mit dramatischem Mozart-Feuer singende Bernhard Richter als Blanches Bruder, auch Christian Rieger als markanter Offizier. Vom ersten Ton an inszeniert Kent Nagano das Stück mit knallharter Schärfe, rhythmischer Alertheit und punktgenauer Konzentration. Konsequenterweise gibt es kein Schafott. Dafür allerdings einen gravierenden Eingriff des Regisseurs am Ende: Statt des gemeinsamen Gangs zur Hinrichtung zerrt die plötzlich erstarkte Blanche eine nach der anderen ihrer Schwestern aus der Hütte, um die herum bereits die Vorbereitungen zu Sprengung laufen, um als einzige darin zu verharren und sich töten zu lassen. Rolf Fath

Neuer Stern am Mezzohimmel

 

Beispiele dafür, dass eine Oper durch die Regie verhunzt wird, gibt es viele, solche für die Aufwertung eines Stücks nur wenige, und Mozarts Frühwerk Lucio Silla geschieht genau das durch die Inszenierung von Marshall Pynkoski für Salzburg, die zwei Jahre später, 2015, auch an der Scala aufgeführt wurde. Die herbe Geschichte vom Tyrannen Silla, der in der Oper mit Lieto Fine (komponiert für den Milaneser Karneval) entgegen der historischen Wahrheit in sich geht und rebellierende Adlige begnadigt, gemäß der Realität abdankt und – darüber berichtet die Geschichtsschreibung nichts – jedem Begehren entsagt, wird in die Entstehungszeit verlegt, mit Balletteinlagen aufgemöbelt und mit leichter Ironie und feiner Zweideutigkeit, so inzestnahem Verhalten zwischen dem Diktator und seiner Schwester, gewürzt. In das graziöse Rokokotreiben der bezopften Kavaliere und Reifröcke tragenden Damen reihen sich auch die Solisten ein, denen manch mehr oder weniger gelungener Tanzschritt vor malerischen Kulissen im Pinien- und Zypressenhain oder vor römischen Bauten (Szene und Kostüme Antoine Fontain) abverlangt wird. Bewusst wird auf jeden Versuch verzichtet, den Eindruck von Realismus aufkommen zu lassen, maßvoll pathetische Gesten betonen vielmehr, dass es sich um Theater und zwar um hochprofessionelles handelt, dass man das Kunstvolle, nicht aber das Gekünstelte anstrebt und auch erreicht.

Anders als in Salzburg, wo Marc Minkowski mit seinem Pariser Orchester musizierte, wirkt hier das hauseigene Orchester der Scala, und die Musiker beweisen, wie vertraut sie mit allen in der Welt der Oper möglichen Stilen sind. Der Chor unter Bruno Casoni steht ihm darin nicht nach. Vorgesehen für die Titelpartie war Rolando Villazón, der in Salzburg bei den Mozartwochen und den Festspielen offensichtlich enttäuscht hatte und durch die bei ihm übliche, in dieser Inszenierung aber unangebrachte Überaktivität eher unangenehm aufgefallen war. Er sagte ab und wurde durch Kresimir Spicer ersetzt, der durch szenische wie vokale Grobschlächtigkeit etwas aus dem geschmackvollen Rokokorahmen fiel. Sein Tenor ist schwer einzuordnen, dürfte am ehesten noch im Charakterfach reüssieren. Alle weiteren Partien sind mit Sängerinnen besetzt, von denen dem Mezzosopran Marianne Crebassa die Krone wirklichen Starglanzes gebührt. Die junge Französin, die allüberall als Cherubino entzückt, ist als Celio ein elegant-verführerischer Rokokokavalier mit römischem Adelsstolz und dazu mit dem dazu passenden leuchtenden, ebenmäßigen und apart timbrierten Mezzosopran, ihr gelingen wunderbar weiche Intervallsprünge, und ihr „Pupille adorate non lagrimate“ ist von allerfeinstem lyrischem Fluss. Von schöner Geläufigkeit  und Rundung und wie selbstverständlich die Schwierigkeiten des Hochvirtuosen meisternd ist auch die Stimme von Inga Kalna für den Lucio Cinna, nur in der Höhe etwas spitz und optisch in der Hosenrolle wenig attraktiv. Anstelle von Olga Peretyatko in Salzburg singt Lenneke Ruiten die umschwärmte Giunia mit, wo angebracht, tragischem Klang im Sopran, nicht immer sauberen Intervallen, aber sehr sicher in den anspruchsvollen Koloraturen. Viel Charme und einen leichten Soubrettensopran steuert Giulia Semenzato als Celia zum Gelingen der Aufführung bei (Cmajor 743308 DVD). Ingrid Wanja

Brenda Lewis

 

American soprano Brenda Lewis died on September 16 2017 in Westport, Connecticut,  aged 96. Born Birdie Solomon in Harrisburg, Pennsylvania, on 2 March 1921, Lewis studied at the Curtis Institute and began her career with the Philadelphia Opera Company as a Peasant Girl in Le nozze di Figaro (1939) and Esmeralda in The Bartered Bride, before tackling the Marschallin, Giulietta in Les Contes d’Hoffmann and Dorabella. On Broadway she alternated Female Chorus in The Rape of Lucretia with Patricia Neway (1948) and created the role of Birdie in Marc Blitzstein’s Regina (1949). She performed in Kiss Me, Kate and Annie Get Your Gun at the Vienna Volksoper and in Zurich. Lewis joined New York City Opera to sing Santuzza in 1945, remaining a potent force with the company until 1967. Other roles included Marguerite, Marenka, Salome, Elvira, Marie and the title role in Regina (which she recorded splendidly in 1958). Premieres at NYCO included Jack Beeson’s Lizzie Borden (1965, recorded).

At San Francisco Opera (1950-2) she sang Cherubino (to Tebaldi’s Countess). Met roles (1952-65) included Musetta, Rosalinde, Venus, Carmen, Marina and Vanessa. She sang Salome (1955) in the inaugural performance at Houston Grand Opera, and Chicago cast her for its first Wozzeck (1965). She appeared in Dallas, Seattle, Montreal and Rio de Janeiro.

From 1963, Lewis directed and taught in New Haven and Hartford. David Shengold (mit freundlicher Genehmigung und Dank von Opera, der internationalen englischen Opernzeitschrift/ „the worlds leading opera magazine“/ Foto oben: Brenda Lewis/ Foto Met Opera Archive)

 

Charles Osborne

 

Australian-born writer Charles Osborne , died in London, on September 23, 2017, aged 89, after a long illness. Born in Brisbane on 24 November 1927, he taught himself to play the piano and found his first singing teacher when he was 18. He wrote poetry from his early years, and was published in prominent magazines. He devoured recordings of opera and Lieder, but soon realized that a singing career was not in his future. His speaking voice was well-suited to radio and the stage in Australia, where he had some success as an actor. In July 1953 he sailed to Europe and found his intellectual home. He acted in theatres across the UK, appeared in several films including The Dam Busters, became a radio broadcaster and wrote sleeve notes for record companies in the days when LPs contained lengthy, informative booklets. He developed a large circle of friends in literature, music and theatre. He worked for The London Magazine for eight years from 1958, five of them as Assistant Editor, before joining the Arts Council of Great Britain’s Literature Department in 1966. He was Literature Director from 1971 to 1986. When he left the Arts Council, Nicolai Gedda sang a recital in his honour.

Osborne was associated with opera for most of his writing career, and served on the editorial board from 1970 to 1999. From 1986 to 1991 he was chief theatre critic for the Daily Telegraph, and he was President of the British Critics‘ Circle from 2002 to 2004. He was a prolific writer whose series of books titled The Complete Operas of… included Verdi – all of whose operas he made sure he heard in performance before writing the book – Puccini, Mozart, Wagner and Strauss as well as many of the bel canto composers. Other works ranged from biographies of Verdi, Wagner, Schubert, W.H. Auden and the Australian bushranger Ned Kelly to texts accompanying major paintings by Sidney Nolan, Russell Drysdale and William Dobell. He ’novelized‘ several plays by Agatha Christie, as well as Coward’s Blithe Spirit. His memoir, Giving it Away, was published in 1986. Griffith University in Australia awarded him an honorary doctorate in 1995, he was made a Fellow of the Royal Society of Literature in 1996, and in 2009 Italy awarded him the Order of the Star of Italian Solidarity for his contribution to the understanding of Verdi. He is survived by his partner of 55 years, Ken Thomson. Ian Campbell (mit besonderem Dank an den Editor der englischen Opernzeitschrift Opera/ Foto Charles Osborne/ goodreads.com)

 

Herzensangelegenheiten

 

Ohne Herzensangelegenheit kommt kein Recital aus. Eine solche ist Barbara Emilia Schedel die Figur der Ophelia. Vor allem als weibliche Imaginationsfläche von der ‚reinen Unschuld‘ bis hin zur ‚femme fatale‘ fand Ophelia vor allem in Literatur und Malerei ihren Stellenwert und inspirierte Maler wie Delcroix, Millais, Klimt ebenso wie die Dichter Rimbaud, Bourget, Heym, Nietzsche, Trakl, Benn, Brecht und Huchel“. Nicht nur umfangreicher, sondern auch umfassender fällt Joachim Draheims Einleitung von Schedels Ophelia Songs aus (Telos Music/ TLS 186) aus, die ohne weiteres die Basis zu einem grundsätzlichen Essay über Shakespeare und die Musik bilden könnte. Anschaulich verklammert Draheim Shakespeares Tragödie mit den entsprechenden Kompositionen dieser CD: „Ihren Tod im Wasser…erlebt der Zuschauer nicht auf der Bühne, sondern im Bericht der Königin Gertrude, worauf die Lieder von Robert Schumann, Hector Berlioz, Charles-Camille Saint-Saens und Delphine Ugalde Bezug nehmen. Im Zentrum aber steht die berühmte Wahnsinnszene“. Schedels Auswahl, die von den schlichten Liedern des William Linley über Schumann, Brahms, Strauss, Chausson bis Schostakowitsch und Rihm reicht, beinhaltet manch Rares wie Aribert Reimanns Bearbeitung der Brahms-Lieder für Singstimme und Streichquartett oder die vom Cello begleitete Romanze Schostakowitschs. Mit einer Salonpièce der Delphine Ugalde, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris u. a. Partien von Auber und Thomas kreierte, ist die Verbindung zur berühmteste Opernszene gegeben, war sie doch für Christine Nilsson bestimmt, die die Ophélie in Thomas‘ Hamlet kreierte. Gehört „Pâle et blonde“ zu den Stücken die außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt, so singt Barbara Emilia Schedel Ugaldes Romanze trotz flacher Stimme  mit schönem Gespür, vor allem befindet sie sich in der umfangreichen Szene, zu der Mario Castelnuovo-Tedesco mehrere Ophelia-Lieder zusammengefasst hat, auf Augenhöhe mit dem Werk. In Schostakowitschs Romanze von 1967 und in der Szene von Wolfgang Rihm zeigt sich Schedels Wandlungsfähigkeit im Umgang mit der Klassischen Moderne bzw. neuester Musik. Schedel wird begleitet von Christoph Schickedanz, Zoya Nevgodovska (Violine), Maya Hunziker (Viola), Emanuel Wehse (Cello) und Günther Albers (Klavier).

 

Der Bassist Thomas Stimmel/ Weiler Artists

Auch der Bassist Thomas Stimmel stellt seiner RootsAufnahme (ars vobiscum) eine persönliche Aussage voran: „Auf dieser CD sind Werke von ‚klassischen Komponisten‘ mit afrikanischen Wurzeln zu hören, die im deutschsprachigen Raum kaum bzw. gar nicht bekannt sind! …..  Gerade in der heutigen Zeit finde ich es sehr wichtig, diesen wunderbaren Komponisten wieder „Gehör zu verschaffen’“. Gemeint sind Henry Thacker Burleigh, Samuel Coleridge-Taylor, Julia Perry, Harrison Leslie Adams und Will Marion Cook, die Stimmel sorgfältig ausgewählt und gemeinsam mit seinem Pianisten Philipp Vogler und dem Streichquartett von Eroica Berlin ebenso sorgfältig einstudiert hat. Am bekanntesten ist Coleridge-Taylor, dessen große dreiteilige Kantate für Chor, Orchester und Solostimmen Scenes from The Song of Hiawatha sich in England um 1900 ungemeiner Popularität erfreute und die u.a. mit Bryn Terfel aufgenommen wurde. Stimmel verfügt über einen gestandenen Bass (im Frühjahr 2017 hat er in Maribor den Rheingold-Fafner gesungen) mit geschmeidiger Ausdrucksskala und wohlig ansprechendem Timbre, die sich in den Liedern von Coleridge-Taylor und den drei Blumenliedern von Henry Thacker Burleigh vermitteln; Burleigh hatte die Spirituals salonfähig gemacht bzw. den Weg für Marian Anderson und Paul Robeson bereitet, die sie auf den Konzertpodien heimisch machten. Diesen spezifischen, angeraut melancholischen Spiritual-Klang greift der mit selbstbewusstem Ton singende Bassist auch in den sechs Nights Songs von Harrison Leslie Adams auf. Das umfangreichste Stück auf Roots, mit dem Stimmel, Sohn einer deutschen Mutter und eines afrikanischen Vaters, sich auf die Suche nach Musik schwarzer Komponisten gemacht hat, ist das knapp 20minütige Stabat Mater, das Julia Perry (1924-1979) 1951 ursprünglich für Mezzosopran und Streichorchester geschrieben hatte, eine strenge neoklassizistische Komposition, die Stimmel mit ruhig und breit fließender und in allen Lagen, auch in der hier sehr geforderten Höhe, ausgeglichener Stimme singt.

 

Selbstverständlich hat auch die französische Sopranistin Sabine Devieilhe ein Anliegen. Den Visions ihrer Kollegin Véronique Gens lässt sie Mirages folgen: Spiegelungen. Ausgehend von ihrer Begeisterung für Delibes Lakmé stieß Devieilhe auf eine Galerie exotischer Frauen, „westliche Ohren dieser Zeit sind begierig auf klangvolle und poetische Reisen, mit Düften, die von weither kommen“. Da Messagers Madame Chrysanthème, deren Zirkadenwalzer Devieilhe mit Eleganz und Delikatesse singt, und Massenets Thais mit dem in diesem Recital etwas merkwürdigen von den Dienerinnen angekündigten Auftritt der Thais nicht ausreichen, ist Mirages letztlich ein Programm für Koloratursopran geworden, auf dem wir Ophelia (Berlioz und Thomas) ebenso begegnen wie Debussys Mélisande mit ihrem Lied zu Beginn des dritten Aktes. Im Mittelpunkt stehen die drei Nummern aus Lakmé, die Glöckchenarie, die Barkarole und die Sterbeszene der Lakmé, die zusammen mit den „Quatre Poèmes Hindous“ von Maurice Delage aus dem Kriegsjahr 1914 ein stimmungsvollen indischen Schwerpunkt abgeben. Devieilhe ist keine brillante bravouröse Kolorateuse, wie man sie für die Lakmé erwarten könnte, eher eine Lyrische mit Höhe, sicherlich eine bezaubernde Mélisande, eine edle Blanche, doch möglicherweise noch keine Lakmé für ein großes Haus. Sie singt feinsinnig, mit erlesenem Geschmack, mit leichtem Ansatz, quecksilbrigem Timbre. Die Lakmé-Ausschnitte sind tatsächlich am individuellsten geraten (sie hat die Partie mehrfach auf der Bühne gesungen), ansonsten klingen die bleichen Damen doch alle wie gerade aus der Klosterschule entlassen. Francois-Xavier Roth und Les Siècles sind galante Begleiter (Erato 0190295767723).  Rolf Fath

Gefeierter Ludovic Tézier

 

Kürzlich war er – Bariton Ludovic Tézier – in Paris der aufopferungsvolle Freund des Enkels Carlos, auf der Arthaus-DVD von 2014 aus Monte-Carlo ist er der Großvater selbst: Karl V. in dessen Reich die Sonne nicht unterging, in Verdis Frühwerk Ernani und unbestrittener Publikumsliebling im kleinen Saal, obwohl Szenenbeifall offensichtlich der Aufnahme wegen untersagt war, und Zustimmung sich erst am Schluss der Vorstellung äußern durfte.

Vor Beginn der Vorstellung sieht der DVD-Betrachter einige Insignien aus dem Drama von Liebe und unversöhnlicher Rache, so ein Schwert oder eine Krone, die seltsamerweise im Wasser versinkt, was befremdet, denn gerade ihr Träger macht die einzige und dazu positive Entwicklung im Drama nach Victor Hugo durch, indem die neue Verantwortung als Kaiser eines Weltreichs ihn von Liebesverlangen  und Vergeltungsstreben Abstand nehmen lässt. Zur Sinfonia dann sieht man die vier Protagonisten statuenhaft erscheinen, ehe der Chor (Stefano Visconti) mit viel Brio temperamentvoll federnd einsetzt, wirkungsvoll unterstützt vom Orchester unter Daniele Callegari, der sich  im Verlauf der Oper als vorzüglicher Verdi-Dirigent schätzen lässt. Die Optik der Bühne bestimmen ein Mosaikfußboden, ein riesiger Spiegel im Hintergrund und von Zeit zu Seit halb durchsichtige Zwischenvorhänge mit Szenen vorwiegend von Kampf (Bühne Isabelle Partiot-Pieri). Zur Szene passen die prachtvollen Kostüme von Teresa Acone, die auch die letzte Chordame noch attraktiv erscheinen lassen  und die Herren natürlich ebenfalls. Dabei fällt auf, dass der hier bereits greisenhafte Silva von ebenso wie er mit weißen Wallebärten ausgestattetem Gesinde umgeben ist.

Die Regie von Jean-Louis  Grinda beschränkt sich auf das Notwendigste, lediglich einige alberne, weil grund- und sinnlose  Armbewegungen des Chors lassen den Zuschauer  befremdet aufmerken. Raffiniert ist die Lichtregie von Laurent Castaingt mit starken Hell-Dunkel-Effekten. Bis auf den angenehm klingenden Bariton Maurizio Pace in der kleinen Partie des Don Riccardo gibt es keine Italiener  bei den Solisten. Inzwischen fast ausschließlich  ins Lirico-Spinto-Fach nach einer erfolgreichen Belcanto-Karriere hat sich Ramón Vargas begeben, optisch natürlich alles andere als der fesche Bandito-Conte-Duca und noch immer mit einem recht hellen Timbre auf seine künstlerische Vergangenheit verweisend. Seine nicht zu bezweifelnde Musikalität erzeugt den Eindruck, dass das Wie des Singens schätzenswerter ist als das Was des Materials , aber in der Cabaletta des ersten Bildes kann er von der Höhensicherheit und der Flexibilität seines Tenors profitieren.  Seinem Schwur und damit dem „Ernani morirà“ kann er bedeutendes vokales Gewicht verleihen.  Die dreifach umschwärmte Elvira ist Svetla Vassilieva mit in der Mittellage angenehm dunklem Sopran, nicht ohne ein leichtes Klirrgeräusch in der Höhe, dazu optisch ideal: eine  große, schlanke Sängerin mit ausdrucksvollem Gesicht, die die kostbaren Kostüme zu tragen weiß. Ein sehr kluger Sänger ist Ludovic Tézier, dem zwar das Strahlende und die Geschmeidigkeit eines  italienischen Baritons abgeht, der aber durch Optik, Haltung und Gestik (da fällt einem sofort die Floskel vom „edlen Anstand ein) vieles wettmacht und natürlich durch die Art seines Singens, so einer schmeichelnden zweiten Strophe von „Vieni meco“ in schöner mezza voce, einem majestätisch klingenden Rezitativ vor den „Oh sogni miei“ und durch einen „Oh, sommo Carlo“ in schöner Feierlichkeit. Optisch ganz auf ehrwürdiger Greis getrimmt ist der noch junge Alexander Vinogradov, einst im Ensemble der Berliner Staatsoper, der mit schlankem Bass schöner Farbe und sicherer Höhe imponiert und dessen „Ernani morirà“ wie die Trompeten zum Jüngsten Gericht klingt. Der Jubel am Schluss ist riesig und besonders ausgeprägt für den Bariton (Arthaus 109344). Ingrid Wanja    

Martial Singher

 

Eine Lektion in französischer Diktion und Phrasierung bietet angesichts der vielen Aufnahmen französischer Werke im Moment (so die neuen Troyens von Berlioz bei Warner/Erato oder Pelléas et Mélisande bei LSO) der französische Bariton Martial Singher (1904-90), der in den 1940er und 50er Jahren regelmäßig an der Met sang und später ein fast ebenso einflussreicher Pädagoge wie sein Landsmann Pierre Bernac wurde – Singher war mit der Tochter Fritz Buschs verheiratet und das Ehepaar war diesem 1941 in die Emigration gefolgt. Den Dapertutto, mit dem er 1943 an der Metropolitan Opera debütierte, wo er u.a. neben Lawrence Tibbetts Golaud auch den Pelléas sang (später auch den Golaud), erleben wir auch auf der 1945 entstandenen Sammlung französischer Opernarien (wieder herausgegeben von Pristine Audio PACO004), bei der er vom Orchester der Met unter Paul Breisach, der 1941-46 an dem Haus wirkte, begleitet wird.

Allerdings hatte die österreichische Firma Preiser in Sachen Martial Singher auch hier die Nase vorn und veröffentlichte in den Sechzigern die LP mit dem identischen Programm der amerikanischen LP-Erstaufnahme/ Amazon

Hier finden sich aus seinem Met-Repertoire auch der Mercutio (mit der Ballade de la Reine Mab) aus Roméo et Juliette sowie Escamillo. Bei seinem Debüt hatte der Komponist und Kritiker Virgil Thomson geschwärmt, “Mr. Singher gave a stage performance of incomparable elegance and did a piece of singing that for perfection of vocal style had not been equaled since Kirsten Flagstad went away.“ Singher selbst äußerte sich bescheidener, war sich seiner schwachen Höhe und guten Tiefe und der durchschnittlichen Qualität seiner Stimme durchaus bewusst, aber “it was a matter of being able to color the voice appropriately for each challenge“. Die Auswahl bestätigt dies alles. Die Vorzüge von Singhers guter Atemführung zeigen sich bei Lully und Grétry. In den drei Szenen des Méphistophélès aus Damnation de Faust bewundern wir die plastische Gestaltungskraft, wobei die Stimme erstaunlich hell und leicht und tatsächlich nicht sonderlich attraktiv ist, sie klingt spröde und ein wenig rissig, aber der Gesang besitzt Spannkraft und Energie. Singhers Mercutio ist ein eleganter Verführer, sein Hamlet ein Gefährdeter. Für „Vision fugitive“ des Hérode aus Hérodiade, und nicht nur dafür, hat Singhers Schüler Thomas Hampson fraglos die schönere Stimme. Auch seine Dapertutto-Stimme klingt recht reizlos und wackelig, aber welche Magie verströmt Singher hier wie im für machohaftere Stimmen gemachten Torero-Lied des Escamillo. Stets hört man gespannt zu.   Rolf Fath