Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Überraschungen kurz vor Schluss…

 

Dass einem ausgebufften und zu oft gelangweiltem Operngänger wie mir das passieren musste: Le Prophète in der vorletzten Vorstellung an der Deutschen Oper am 4. Januar 2018  ließ mich über weite Strecken des gar nicht mehr langen Abends vergessen, dass da gesungen wurde. Ich war so in das Drama und seinen Konflikten versunken, dass ich erst beim jubelndem Schlussapplaus wieder zu mir kam, so sehr hatten die beiden letzten Akte mich abtauchen lassen. Ich muss gestehen, dass ich mich mit allen Vorbehalten und nur aus Neugier über die Neubesetzung der Fidès in die Oper gegangen war, hatte ich mich doch ziemlich über die Produktion von Oliver Py  geärgert, was ja mein gutes Recht ist. (nachstehend die umfassende Premierenkritik meines Kollegen Bernd Hoppe, der mir verzeihen möge, dass ich meinen zeitlich späteren Bericht voranstelle).

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin: am 4. 1. 2018/ Szene mit Andrew Finden/Oberthal und Nicole Haslet/ Berthe/ Foto Bettina Stöss/ DOB

Aber – so gemein es klingen mag – Wasserschaden haben auch ihre Vorteile (pace an die vielen tollen Mitarbeiter der DOB, die überhaupt eine Vorstellung erst möglich gemacht hatten). Wie bekannt, gab es ausgerechnet am 24. Dezember einen Totalschaden durch die defekte Sprinkleranlage, der die gesamte Unterbühne und auch die „Flug“-Etage traf. Also kein Engel mehr am Seil (der kam zu Fuß) und vor allem keine Drehbühne mehr, deren Dauer-Rotation einem in der Normalvorstellung den Nerv geraubt hatte. Ob nun Oliver Py selber die abgespeckte Bühne betreut hatte oder doch ein genialer Geist des Hauses die Ballette neu choreographierte, die Handlung zentrierte und die grauen Bühnenbauten durch Manneskraft bewegt auf ein Minimum reduzierte, ist aus dem Programmzettel nicht ersichtlich – das Resultat war eine ganz fabelhafte Konzentration auf die Handlung, die Sänger und den dto. hervorragenden Chor (Jeremy Bines).

Und es waren die Sänger, der Chor, das Orchester sowie Enrique Mazzola am Pult desselben, die einen Abend der Sonderklasse zauberten. Man bemerkte den langen run der Oper: Das Orchester war bestens eingespielt und schwelgte in Dynamiken und Farben der exquisiten Sorte – sinnlich, packend, heroisch und von großer klanglicher Vielfalt. Ein Teppich für die Sänger.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin am 4. 1. 2018: Ronnita Miller als Fidès/ Foto Bettina Stöss

Bei denen muss an erster Stelle Ronnita Miller (nur für eine Vorstellung) als   Fidès genannt werden. Sie war der Felsen des Abends, die Große Mutter im Stil eines Barlach – allumfassend, unverrückbar, heroisch und anrührend. Ich schreibe diese Attribute zuerst, weil ich fast vergesse, wie toll sie stimmlich wirkte. Ihr Timbre erinnert mich an Marilyn Horne, ihre Furchtlosigkeit beim Durchmessen von drei Oktaven an die junge Podles – Pauline Viardot hätte sich gefreut. Die Nahtlosigkeit des Mediums in den leichtgesungenen Höhen ebenso wie die sonore Basstiefe machten schwindlig. Und dennoch – es war, wie gesagt, nicht die hohe Virtuosität der Sängerin (die hatte ihre Rollenkollegin Clémentine Margaine in den anderen Vorstellungen auch). Nein, mich berührte ihre unverrückbare Menschlichkeit in der Darstellung, das In-der-Rolle-Sein zu einem hundertprozentigen Zustand, wie ich es selten in meiner langen Laufbahn als Operngänger erlebt habe. Sängerin und Rolle waren eins. Ich begriff plötzlich fast physisch das Konzept Meyerbeers, der sicherlich notwendigen, aber sich in Pervertierung auflösenden Revolution diesen Felsen an Güte, an Erbarmen, eben an Menschlichkeit entgegen zu stellen. Bravo Ronnita Miller! Sie hat mich zu Tränen gerührt und für lange Momente stumm gemacht.

Auch die anderen beiden Hauptrollen waren neu und herausragend besetzt. Nicole Haslet bot eine leuchtende, vor allem junge und den vielen hohen Noten ihrer Partie der Berthe furchtlos gewachsene Stimme – eine Violetta mit bestem oberem Register, optisch bezaubernd und hochengagiert im Spiel, was für eine Überraschung. Und Bruce Sledge (optisch absolut identisch mit seinem Kollegen Gregory Kunde) war als Jean stimmlich eine „Wucht“. So eine topsichere Höhenlage, so eine wirklich mühelos scheinende Rollenbeherrschung und beste Bühnenpräsenz erlebt man nicht alle Tage – zudem war sein Französisch wie das seiner Kollegen von erster Klasse. Man brauchte die Übertitel selten. Das amerikanische Timbre von Bruce Sledge ist nicht sehr farbenreich, aber das macht er mit guter Stimmführung (und gelegentlich überraschenden Kopfnoten, die man von Vanzo und anderen der Vergangenheit kennt) wett. Auch er ein absoluter Gewinn des Abends. Die übrigen Herren (neu Andrew Finden als Oberthal und Thomas Lehmann als Mathiesen) erfreuten in ihren verschiedenen Partien und rundeten den Abend zu einem glanzvollen Überraschungsereignis ab. Quelle soirée étonnante! Geerd Heinsen

 

Und nun der Premierenbericht: Mit der Grand opéra Le Prophète vollendete die Deutsche Oper Berlin ihren Meyerbeer-Zyklus, der sich über drei Spielzeiten erstreckte. Wenn die Inszenierung von Oliver Py auch die vorangegangenen von Vasco da Gama und Les Huguenots zu übertreffen scheint, so leidet sie doch unter den gängigen und austauschbaren Zutaten des Regietheaters. Die Bühne von Ausstatter Pierre-André Weitz wird bestimmt von trostlosen grauen Hochhausfassaden mit gespenstischen leeren Fensterhöhlen und Reklame-Postern für Unterwäsche. Überall sieht man Zeichen von radikaler Gewalt – Männer in Armee-Tarnanzügen mit Maschinengewehren und Revolvern, ein umgestürztes brennendes Auto, Schießübungen, Vergewaltigungen. Nach einer solchen flieht die Putzfrau Berthe nackt aus einem schwarzen Straßenkreuzer (auf und in dem sie gerade vom Grafen Oberthal missbraucht wurde). Sie will den Gastwirt Jean de Leyde heiraten, was Graf Oberthal missbilligt, da er die junge Frau selbst begehrt. Er lässt die Widerstrebende und Jeans Mutter Fidès in seine Burg verschleppen (hier ein graues Papphaus). Jean wiederum lässt sich von drei Wiedertäufern manipulieren, zum Anführer und Propheten, schließlich König ihrer Bewegung zu werden. Sie erobern die Stadt Münster, müssen aber am Ende der Übermacht der heranrückenden Truppen des Kaisers weichen. Das große Fest, das sie vorher feiern, inszeniert Py als Sex-Orgie im Rotlicht mit vielen nackten Männern und zwei Frauen – durch eine fast choreografische Anlage dieser Szene in slow motion verliert sie allerdings jede naturalistische Peinlichkeit.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Seth Carico als Oberthal/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Da wirkt die ausgedehnte Ballettmusik (die berühmten Patineurs, derentwegen Meyerbeer sein Theater als Rollschuharena umbauen ließ) im 3. Akt mit brutalen Quälereien, Kämpfen und Vergewaltigungen auf der Bühne im ermüdenden Dauerdreh weit radikaler. Der Regisseur  hatte die Choreografie selbst übernommen. Sie  leidet vor allem unter den gymnastischen Verrenkungen der 15 Tänzer. Durch das gesamte Stück lässt Py einen halbnackten männlichen Engel geistern, der Pappschailder mit der Aufschrift clémence und malheur trägt, verzichtet auch nicht auf Behinderte an Krücken und Gelähmte in Rollstühlen, die von Jean wundersam geheilt werden. Den großen Effekt im Finale, wenn laut Libretto das Münsteraner Schloss des Propheten durch eine Sprengstoffexplosion in die Luft fliegt, bleibt die Regie freilich schuldig. Hier erschießt sich Jean mit dem Revolver, während Graf Oberthal, von einem Regenschirm geschützt, sich eine Tasse Kaffee gönnt.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Elena Tsallagova als Berthe und Clémentine Margaineals Fidés/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Die immensen musikalischen Anforderungen, die Meyerbeers Werk an die Interpreten stellt, realisiert das Haus staunenswert. Enrique Mazzola am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin sorgt für rhythmische Stringenz, federnden Schwung (in der Ballettmusik) und den gebührenden Pomp in der Marche du couronement. Glänzend ist der Chor (Einstudierung: Jeremy Bines), der seine vielfältigen Aufgaben sicher und klangvoll wahrnimmt, dabei mitunter eine gar martialische Knalligkeit erreicht. Die Besetzung wird angeführt von  Clémentine Margaine als Fidès, deren reich timbrierter Mezzo mit satter Tiefe und leuchtender Höhe die Partie souverän durchmisst. Man kann sie vielleicht schwärzer singen, aber sicher nicht strömender und schöner. Die große Szene im letzten Akt („O pretres de Baal“) mit ihren Skalen über mehrere Oktaven markiert den vokalen Höhepunkt der fast fünfstündigen Aufführung. Beachtlich auch Elena Tsallagova als Berthe in proletarischer Kleidung, die ihrem leistungsfähigen und auch in der exponierten Höhe potenten Sopran brillante staccati und feine Triller abgewinnt. Fast unsingbar scheint die Titelrolle, doch Gregory Kunde gelingt es, nach seinem Auftritt, wo mancher Aufstieg in die Extremlage noch deutlich bemüht klingt, seinen mittlerweile auch farbiger gewordenen Tenor ab dem 3. Akt zu hymnisch flammendem Gesang zu führen. Mit seinem finsteren, robusten Bassbariton vermittelt Seth Carico eindringlich das abgründige Wesen des schurkischen Oberthal. Prägnant im düster-prophetischen Zusammenklang geben Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley die drei Wiedertäufer.Das Premierenpublikum am 26.  11. 2017 feierte die Sänger, den Chor und Dirigenten sowie das Orchester lautstark, während das Regieteam auch ablehnende Stimmen hinnehmen musste (Foto oben: „Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Ausschnitt/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin). Bernd Hoppe

 

Dazu ein PS.: Dass ein Regisseur – ob nun selber schwul oder nicht – Homosexualität (hier auf der Bühne als Nackt-Popo-Gruppensex mit eindeutigen Absichten, dazu jede Menge halb- und ganznackte leckere Soldateska in Feinripp, Tarnhose oder in Wassereimern sich räkelnd) als Mittel zur Illustrierung von Pervertierung einer Gruppierung (i. e. Revolutionäre) verwendet ist beklagenswert. Dies sagt viel aus über das Verhältnis des Regisseurs zu seiner eigenen Sexualität. Als alter 68er verwahre ich mich gegen diese Übernahme überkommener Vorurteile und alter Feindbilder, zumal so spießig realisiert. Geerd Heinsen

Gounod zum 200. Geburtstag

 

2018 jährt sich der Geburtstag von Charles Gounod zum 200. Mal – Grund für den Palazetto, im kommenden Jahr drei  seiner Opern aufführen und für eine die CD mitschneiden zu lassen: Le tribut de Zamora, Faust in der Erstversion als Opéra-comique/ mit Dialogen und La Nonne Sanglante (die es ja bereits in Osnabrück gegeben hat). Daneben viele Abende mit Symphonischem, Opernarien und anderem von Gounod.

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ Bühnenbild der Originalproduktion von Eugène Lacôste/ BNO

Also wieder eine Ko-Operation zwischen dem Palazetto Bru Zane und dem Münchner Rundfunkorchester: Gounods Oper Le tribut de Zamora (am 28. Januar 2018 in München und am Radio). Nach Cinq-Mars (1877) und Polyeucte (1878) versucht sich Gounod 1881 ein letztes Mal an der Oper, mit seinem zweifellos ambitioniertesten Werk: Le Tribut de Zamora. Trotz seines unbestreitbaren Erfolges zu seiner Entstehungszeit war die Oper lange Zeit dem Vergessen anheimgefallen und hat es ohne Frage verdient, wiedererweckt zu werden (Münchner Rundfunkorchester Aufnahme für die Kollektion «Opéra francais» – Herve Niquet Leitung; Xalima: Judith Van Wanroij, Hermosa: Jennifer Holloway, Manoel: Edgaras Montvidas, Ben-Said: Tassis Christoyannis, Handgiar: Boris Pinkhasovich, Iglesia / Eine Sklavin: Caroline Meng, der Alcade Mayor / der Kadi: Artavazd Sargsyan, der König / Ein arabischer Soldat: Jeröme Boutillier; Prinzregententheater und BR Klassik am 28. Januar 2018).

Im Folgenden einen zusammenfassenden Artikel von Gérald Condé für den Palazetto Bru Zane zum Favoriten 2018, Charles Gounod. Einen Opernführer zu Le Tribut de Zamora gibt´s näher am Münchner Konzert, das natürlich auch wieder als CD-Buch bei Ediciones Singulares erscheinen wird.

 

Gounod an der Orgel/ Wiki

Gounod  in wenigen Worten: Als Waisenkind mit fünf Jahren von einem Vater, der Maler war, wurde Charles Gounod von seiner Mutter aufgezogen, die ihn in die Musik einführte, bevor sie ihn dem berühmten Antoine Reicha anvertraute. Nachdem er klassische Studien absolviert hatte und mit einem Philosophieabitur angeschlossen hatte, trat er 1836 ins Konservatorium ein, wo er bei Halévy Kontrapunkt und bei Le Sueur und Paer Komposition studierte, bis er 1839 den 1. Preis von Rom erlangte. Obwohl er einige Zeit in Betracht zog, Geistlicher zu werden, was von echter Frömmigkeit zeugt, woraus ein eindrucksvolles religiöses Werk entstand, siegte schließlich seine Leidenschaft für das Theater. Sein erster Versuch Sapho (1851) war zwar nur ein halber Erfolg, verschaffte ihm aber für das nächste Jahr den Auftrag einer Szenenmusik für die Comédie-Française : Ulysse. Darauf folgen bald La Nonne sanglante (Die blutige Nonne,1855), Le Médecin malgré lui (Der Arzt wider Willen1858) und vor allem Faust (1859), das unbestrittene Meisterwerk der französischen Musik jener Zeit. Keines seiner Werke, vielleicht abgesehen von Roméo et Juliette (1867), kam dem Erfolg dieser von Goethes Drama inspirierten Oper. Es folgten dennoch mit wechselndem Erfolg La Colombe, Philémon et Baucis (1860), La Reine de Saba (1862), Mireille (1864), Cinq-Mars (1877), Polyeucte (1878) und Le Tribut de Zamora (1881). Berühmt als ein Nationalheld, 1866 an das Institut gewählt, beeinflusste Gounod seine Epoche mit seiner besonderen Senslibilität und seiner eindrucksvollen Werkanzahl an Opern, trotz einiger wichtiger Abstecher in die Orchestermusik und in die Kammermusik.

 

Paris/ Rom/ Wien/ London: Im Gegensatz zu Künstlern wie Liszt oder Saint-Saëns war Gounod nicht sehr reisefreudig und seine eher sesshafte Natur ließ ihn längerfristige Aufgaben in einigen europäischen Hauptstädten bevorzugen. Die Reisen, die sein Leben markierten, geschahen nie aus eigenem Antrieb. Sein Italienaufenthalt war das Ergebnis seines Erfolgs beim Wettbewerb des Preises von Rom (1839): Er wohnte viele Monate in der Villa Medici, und er hatte die Gelegenheit, den Maler Ingres zu treffen, der damals Direktor des Instituts war und ihm seine klassischen Theorien nahe brachte. „Ich sah nie jemand, der die Dinge mehr bewunderte als er, weil er besser sah als alle wodurch und warum etwas bewundernswert ist. Allerdings war er vorsichtig; er wusste, bis zu welchem Punkt die Übung die Menschen der Gefahr aussetzen, sich zu verlieben, zu schwärmen ohne Unterscheidung und ohne Methode“, notiert Gounod in seinen „Mémoires d’un artiste“.

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ die Primadonna Gabrielle Karus (hier als Sélika) sang die Hauptpartie in der Originalproduktion/ Foto von Nadar/ Taschen

Von Rom resite der junge Komponist nach Wien, wo er nur kurz blieb. Aber dort schreibt er die Werke, die den Stil seiner reifen Jahre begründeren, vor allem zwei wesentliche Stücke: sein „Requiem in d-Moll“ und seine „Messe vocale“ für Chor a cappella, die von einem ersten Kontakt mit Palestrina zeugen. Dass sich Gounod in den 1870er Jahren lang in London niederließ, geschah wieder aufgrund besonderer Umstände: Der französisch-preußische Krieg brachte ihm keine Ruhe in seiner Heimat. Während dieses Londoner Aufenthalts entstehen Meisterwerke wie Mors et Vita, eines der bedeutendsten Oratorien des romantischen französischen Repertoires, aber auch die Oper Polyeucte und die Kantate Gallia. Dennoch nahm  Gounod seinen wichtigsten Wohnsitz in Paris. Und seine Werke wurden in ganz Europa als der Höhepunkt des Romantizismus gefeiert.

 

Mystisk: Gounod hatte nicht nur Sinn für Musik. Sein idealer Traum hätte ihn fast den geistlichen Weg einschlagen lassen. Es fehlte wenig dazu – wahrscheinlich wegen der Beeinflussung durch seine Mutter, der er  seine diese Orientierung verdankte. Gounod belegte auch theologische Kurse, aber er schrieb schließlich: „Ich habe mich seltsam geirrt über meine eigentliche Natur und meine Berufung.“ Vor dieser Nähe zur Religion profitiert eine Reihe von geistlichen Stücken, wichtig sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Qualität. Die „Messe de sainte Cécile“ – das berühmteste Werk – überstrahlt ehrgeizigere Werke, die ungerechter Weise im Schatten bleiben: einige Requien, Oratorien wie „Rédemption“ („Erlösung“) und Mors et Vita, zahlreiche Motetten in unterschiedlichen Stilen, vom neo-palestrinischen Stil bis zum modernsten Romantizismus.  Unter den letzten Stücken wurde glücklicherweise das kleine Oratorium „Saint François d’Assise“  vor kurzem entdeckt. Saint-Saëns meinte, dass geistliche Teile der Werke von Gounod es mehr verdienten, die Zeiten zu überleben, auch wenn die Nachwelt Faust  und Roméo et Juliette vorzöge. Man hat dieser religiösen Musik vorgeworfen, mehr weltliche Akzente der Liebe als der religiösen Anbetung zu enthalten.

 

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ zeitgenössische Illustration zur Oper von Marie Adrien/ BON

Das ewig Weibliche: Wie nach ihm Massenet war Gounod der Kenner der Frauen und ihrer Leidenschaften. Er selbst wurde erschüttert durch Begegnungen mit solchen, die ihn in seiner Existenz für fast fünfzig Jahre prägten: Maria Malibran, Pauline Viardot, Fanny Mendelssohn, Georgina Weldon, Adèle d’Affry, Anna Zimmerman… Alle waren für ihn Vertraute und inspirierende Musen. Das heißblütige Temperament Gounods erklärt die leidenschaftlichen Briefe, die heute an seine Beziehungen mit gelegentlich zweideutigen Grenzen erinnern. Aber die erste Frau in dieser Liste ist keine andere als seine Mutter Victoire Gounod, die mit unermüdlichem, manchmal fast zwanghaftem  Eifer auf seine musikalische Ausbildung achtete. Gounod, dem nachgesagt wird, dass er durch ihre Allgegenwart oft genervt war, ehrte dennoch die Frau, die so viel für ihn tat. Er schrieb an seine Verlobte: „Sie hat so viel für mich getan, dass wir zu zweit nicht zu viele sind, es ihr zu danken.“ Seine inspirierenden Musen spiegeln sich wider in Gounods Opern, die alle auf das Weibliche Bezug nehmen. Abgesehen von den drei aufmüpfigen Matronen im Médecin malgré lui, ist das „ewig Weibliche“ vor allem durch Sapho, die Dichterin, repräsentiert, durch Marguérite, das junge unschuldige Mädchen, durch Juliette und die Zerbrechlichkeit der weltlichen Liebe, durch Pauline und die Größe der geistlichen Liebe, durch Balkis – die Königin von Saba – und die Schwäche der Sinne und schließlich durch Mireille, die Unschuldigste von allen. Im Jahr 2018 werden nun die letzten Frauen in  Gounods Werken wieder zum Leben erweckt:: Xaïma und Hermosa, die Heldinnen seiner abschließenden Oper Le Tribut de Zamora.

 

Ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin aus dem Französischen Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Le Tribut de Zamora: Nach Cinq-Mars (1877) und Polyeucte (1878), beschäftigt sich Gounod ein letztes Mal 1881 mit der Oper in seinem wahrscheinlich ehrgeizigsten Werk.  Zum ersten Mal arbeitet er an einem exotischen  und in gewissen Aspekten „vor-naturalistischen“ Thema. Die Handlung spielt im 10. Jahrhundert erst in Spanien und  ab dem 2. Akt an einem „pittoresken Ort an den Ufern des Oued El Kédir vor Cordoba“. Das gibt Gounod die Gelegenheit, sein Talent der Orchestrierung und des Kolorits zu zeigen. Er verarbeitet eine Geschichte (wie in einem Sandalenfilm) in der Tradition der großen französischen Oper, nicht ohne den originellen Touch, eine wahnsinnige Person (die Spanierin Hermosa) einzubauen, die nach einigen Abenteuern ihren Verstand wiederfindet. Meyerbeeers Dinorah grüßt.Trotz des ungeheuren Erfolgs bei der Uraufführung geriet Le Tribut de Zamora in Vergessenheit, verdient es aber absolut, wieder erweckt zu werden, und sei es nur wegen der Nationalhymne „Debout ! Enfants de l’Ibérie“. Man wird in dieser Oper gerade das schätzen, was ihr manche Kritiker vorwarfen: nämlich, dass man hier den unwiderstehlichen Lyrismus von Faust und Roméo et Juliette wiederfindet. Gérald Condé (aus dem Französischen von Ingrid Englitsch/ mit Dank an ophelias München und den Palazetto Bru Zane)

 

Weitere Veranstaltungen im Gounod-Jahr 2918 des Palazetto finden sich auf deren website, darunter ein Faust mit den orginalen ersten Dialogen der Comique-Fassung (Véronique Gens und Francois Borras am TCE Paris/ 14. Juni 2018), vorher La Nonne sanglante (Michael Spyres, Opéra-comique im Juni 2018), diverse Instrumental- und Chormusik, sowie als etwas bizarrer Bonus Les P´tits Michu von Messager und Hervés Mam´zelle Nitouche dto. im Rahmen des Palazetto Festivals Paris 2018.

Pioniere, Stars und Experimente

 

Musique d’abord heißt seit vielen Jahren eine Reihe, in der harmonia mundi zu günstigen Preisen und mit einem auf das Minimum reduzierten Beiheft ältere Aufnahmen wieder veröffentlicht. Nun sind drei frühere Einspielungen mit Countertenören wieder neu aufgelegt worden, die mit ganz unterschiedlichen Programmen und Ansätzen einen Blick zurück ermöglichen. Alfred Deller (1912-1979) war als früher Countertenor auch ein Entdecker und Pionier, der ein Repertoire zurückeroberte. Er widmete sich in den 1950ern und 60ern englischer Renaissance-Musik und forschte an Aufführungspraxis und Stilistik. Benjamin Britten schrieb für ihn die Rolle des Oberon in „A Midsummer Night’s Dream“. 1954 empfahl ihn Gustav Leonhardt an das Label Vanguard, wo er über 50 LPs einspielte, die auch heute noch auf mehreren CD-Boxen erhältlich sind (Note 1 Musikvertrieb). 1967 kam harmonia mundi auf ihn zu. Die hier vorliegende Aufnahme kam zuerst 1969 auf den Markt, also relativ spät in der Karriere des Sängers, und zeigt Deller als Könner des reifen Ausdrucks zwischen Poesie und Melancholie. „O Ravishing Delight“ beinhaltet englische Lieder aus dem 17. Jahrhundert, u.a. von John Dowland, Thomas Campion, John Bartlett, Philip Rosseter, John Blow, Jeremiah Clarke, John Eccles, William Croft, Pelham Humfrey und Daniel Purcell, dessen „O ravishing delight!“ auch titelgebend war. Vier Musiker begleiten den Sänger mit Flöte, Laute, Viola da gamba und Cembalo. Aufnahmetechnisch ist der Einspielung ihr Alter anzuhören, es fehlt ihr eine gewisse Frische. Wen dieses Repertoire interessiert, der kann als Ergänzung und zum Vergleich bspw. Andreas Scholls Englische Folksongs und Lautenlieder (1996, ebenfalls Harmonia Mundi) oder die Aufnahme mit Lieder von Purcell, Matteis und Dowland von Valer Sabadus (To touch, to kiss, to die, 2013 bei Oehms Classics) heranziehen. (HMA 190215)

Ganz andere Wege beschritten drei Countertenöre 1995, die sich vom barocken Repertoire emanzipieren und ihre stimmlichen Fähigkeiten an untypischen Werken beweisen wollten. Auf der CD Les contre-ténors / The countertenors präsentieren Pascal Bertin, Andreas Scholl und Dominique Visse ein Mini-Programm von knapp 35 Minuten. Sie singen zusammen „O sole mio“, „Maria“ aus der West Side Story und Donizettis „Una furtiva lagrima“ sowie einzeln Carmens Habanera“ und Dowlands „White as lilies“ (Scholl), Massenets „Pleurez, mes yeux“ aus Le Cid und „Je suis gris“ aus Offenbachs La Périchole (Visse) sowie Dalilas „Réponds à ma tendresse“ und „My way“ (Bertin). Man spürt die Freude der Sänger, deren Hingabe und auch die Ironie der Interpretation, alle drei Sänger lachen herzlich auf dem Cover, das Augenzwinkern ist bei manchen Stücken hörbar. „O sole mio“ zu Beginn ist kein einfacher Einstieg in die CD, manches mag ein wenig abgedroschen wirken, anderes ist verblüffend und überraschend, das Engagement stimmt stets. Das Ergebnis ist eher für die Fans und Kenner, weniger für die Verächter oder Gelegenheitshörer prädestiniert. (HMA 1901552)

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Barockrepertoire und Countertenöre im Mainstream der Klassik-Fans angekommen, zahlreiche CDs mit Ariensammlungen liegen bspw. von aktuellen Stars wie Philippe Jaroussky, Max E. Cencic, Valer Sabadus oder Franco Fagioli vor. Ombra Cara war 2010 eine Aufnahme (damals mit Bonus-DVD) mit Händel-Arien von Behun Mehta, die auch heute noch auf dem unübersichtlichen Markt bestehen kann. Mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester hat Mehta hochkarätige Begleitung, das Medley umfasst eher weniger bekannte Arien aus neun Opern aus allen Phasen von Händels Leben (Rodrigo, Agrippina, Amadigi, Radamisto, Rodelinda, Riccardo I., Tolomeo, Sosarme und Orlando). Auch heute noch eine interessante Zusammenstellung, die sehr gut musiziert und von Mehta ausdrucksstark modelliert wird. (HMA 1902077) Marcus Budwitius

Flotte Sache

 

Die Operette ist wieder präsent – seit einigen Jahren feiert sie deutschlandweit ein großes Comeback – im Mittelpunkt fast immer die Werke der 20er und 30er Jahre. Auch Nico Dostals Prinzessin Nofretete gehört zu diesen Augrabungen. Anfang des Jahres war das Werk in Leipzig an der Musikalischen Komödie zu sehen, jetzt gibt’s die Produktion auf CD beim Label Rondeau.  Die Premiere des Werks war 1936 in Köln, obwohl Musik und Stoff  (schließlich war der Kopf der Nofretete eine Berliner Museumattraktion) eigentlich gut nach Berlin passen würde.

Das hatte mit der Naziherrschaft zu tun. Die Nazis waren verzweifelt auf der Suche nach vorzeigbaren nichtjüdischen Operettenkomponisten, und Dostal wäre eigentlich der ideale Kandidat gewesen, doch er erwies sich als ungewöhnlich renitent. Er ist nicht sonderlich abgewichen vom satirischen Operettentypus der Weimarer Republik, zum Ärger der Nazis hat er auch weiter recht jazzige Rhythmen geschrieben – und so wurden die Städte, in denen seine Operetten uraufgeführt wurden, immer kleiner, nach Köln waren es Bremen, Stuttgard, Chemnitz.

Aber hier, in der Nofretete, geht noch richtig die Post ab.Ein letztes freches Werk in der Tradition der 20er Jahre. Verglichen mit Manina oder der Ungarischen Hochzeit ist das Libretto zu Nofretete sehr anständig – albern, aber, wie auch Dostals erster und größter Erfolg Clivia mit Biss und Schmackes, und  strukturell durchaus anspruchsvoll.

Die Handlung wird auf zwei parallelen Ebenen erzählt, zum einen gibt’s verwickelte Liebesgeschichten bei Ausgrabungen in Ägypten der damaligen Gegenwart. Und im alten Ägypten 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Beide Figurenensemble ähneln sich von den Namen her und werden von denselben Sängern gesungen, mit schönen Seitenhieben auf den Massentourismus und Sensationsjournalismus – die Gegenwartsebene spielt in der Sphäre einer Pauschaltouristengruppe.

Unterbesetzte Tenorrolle: Bei den Sängern der neuen Aufnahme bei Rondeau aus der Musikalischen Komödie Leipzig gibt es, wie so oft, die spürbare Fallhöhe zwischen Frauen und Männern in der Operette . Es scheint ein ehernes Gesetz im 21. Jahrhundert  zu sein, dass wir sehr gute Sängerinnen für dieses Genre zur Verfügung haben, aber kaum adäquate Sänger, insbesondere Tenöre (oder es liegt an den Besetzungsbüros?). Fast jede Neuaufnahme der letzten Jahre scheitert am Operettentenor.  Und das zeigt sich hier in diesem Werk besonders schmerzlich: Das war eine tolle Produktion in Leipzig, inszeniert mit viel Aufwand, gegeben mit viel Liebe, engagierten Hauptdarstellerinnen (Lili Wünscher und Nora Lentner), kessem Ballett und einem extrem schwachen Tenor (Rodoslaw Rydlewski) in der männlichen seriösen Hauptrolle.

Es fällt mir schwer, das zu schreiben. Denn ich weiß – die Musikalische Komödie Leipzig ist nicht die Scala (und auch die besetzt zweifelhaft, wie man dem Andrea Chénier neulich im Fernsehen entnehmen musste…). Gern ist der Rezensent bereit, ein Auge zuzudrücken bei schönen Entdeckungen und mutigen Ausgrabungen. Hier wären es beide Augen und beide Ohren. Und das wäre zu viel der Toleranz. Man kann es sich diesmal nicht schön hören. Fakt ist, dass der Tenor der elegischen, lehárschen Musik in keiner Weise gerecht wird und damit einen beträchtlichen Teil der Aufnahme verdirbt.   Was umso tragischer ist, da die Einspielung stilistisch exzellent ist. Das Orchester klingt nicht seifig, es ist hier wirklich ein schöner 30er-Jahre-Sound gelungen, den Stefan Klingele am Pult fesch zelebriert (2 CD Rondeau ROP 614748). Matthias Käther

Solide

 

Das Festival Rossini in Wildbad nimmt sich verdienstvollerweise auch der Nebenwerke des Komponisten an, die dank der Initiative von Naxos zumeist den Weg auf Tonträger finden. So wurde im Juli 2015 eine Aufführungsserie von Bianca e Falliero mitgeschnitten und nun auf drei CDs herausgebracht (8.660407-09). Das zweiaktige Melodramma komponierte Rossini nach seiner Donna del lago in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts; 1819 wurde es in Mailand uraufgeführt. Schauplatz der Handlung ist Venedig, wo Bianca nach dem Willen ihres Vaters Contareno, der dem Rat der Drei angehört, mit ihrem Verehrer Capellio vermählt werden soll, jedoch den venezianischen Feldherren Falliero liebt. Dieser Konflikt führt zu den üblichen dramatischen Situationen, endet jedoch glücklich mit der Heirat des jungen Paares.

Bis auf die Wiederverwendung von Elenas Schlussrondo aus der Donna nutzte Rossini kaum Themen aus früheren Werken, auffällig sind der Einsatz von Quartetten, großen Ensembles und Chören sowie zwei ausgedehnten Finali. Ein weiterer ungewöhnlicher Fakt ist, dass keiner der Nebenrollen eine eigene Arie zugeordnet ist. Mit energischen Akkorden beginnt die Sinfonia, gefolgt von einem munteren Vivace-Thema mit stürmischem accelerando, wo sich die Virtuosi Brunensis unter Antonio Fogliano als pulsierendes Ensemble von großer Spielfreude erweisen. Die Finali weiß der Dirigent mit Atem beraubendem Tempo rasant zu steigern, der Camerata Bach Choir Poznan (Einstudierung: Ania Michalek) in den Eingangschören zum 1. und 3. Akt mit kraftvollem Gesang zu überzeugen.

Das erste Solo fällt Falliero, eine der typischen Hosenrollen des Komponisten,  mit der Kavatine „Se per l’Adria il ferro strinsi“ zu. Die Mezzosopranistin Victoria Yarovaya, seit 2009 mit Pesaro-Erfahrungen, singt sie mit Nachdruck und einer bis in die Höhe gerundeten und flexiblen Stimme. Bei ihrer Kavatine im 3. Akt („Alma, ben mio“) gefällt sie mit weicher, inniger Tongebung, bei der nachfolgenden erregten Arie „Tu non sai“ mit dramatischem Impetus. Die weibliche Titelheldin beginnt mit ihrer Kavatine „Della rosa il bel vermiglio“, welche die Italienerin Cinzia Forte mit lyrischem Sopran von etwas larmoyantem Tonfall wiedergibt. Mit Falliero hat sie gegen Ende des 1. Aktes das erste Duett („Sappi che un dio crudele“), in dem sich beide Stimmen harmonisch mischen und das reiche Zierwerk überlegen bewältigen. Im 1. Finale weiß die Interpretin mit substanzreicher Lyrik zu überzeugen. Auch im 2. Akt hat das Titelpaar ein Duett („Va crudel“), das zunächst die Sopranistin dominiert und das dann in einen innigen Zwiegesang mündet. Schließlich bestimmt Bianca das Finale II mit ihrer Arie „Teci io resto“, die dem Rondo der Elena aus der Donna folgt und der Sopranistin gebührend Gelegenheit gibt für einen bravourösen Auftritt. Als ihr Vater Contareno ist mit Kenneth Tarver ein Rossini-Veteran im Einsatz. In seiner Arie „Pensa che omai resistere“ beweist er noch immer intaktes Material und souveräne Technik sowie eine sichere Bewältigung der Tessitura. Die tiefen Töne steuert der Bassist Baurzhan Anderzhanov als Senator Capellio bei, der im Duett mit Bianca im 2. und im Quartett des 3. Aktes für das grundierende Fundament sorgt. Bernd Hoppe

Im Doppel und im Kontrast

 

Zwei Produktionen von Opern Claudio Monteverdis aus dem Jahre 2009, die in ihrer Ästhetik nicht unterschiedlicher sein könnten, hat OPUS ARTE in einem Schuber zusammengefasst (OA 1256 BD). Aus dem Teatro alla Scala kommt Robert Wilsons Inszenierung des Orfeo, bei der Rinaldo Alessandrini der kompetente Sachwalter für einen authentischen Barockstil ist und das Orchestra of Teatro alla Scala zu einem lebendigen Musizierstil beflügelt. In der Besetzung finden sich einige prominente Vertreter dieses Genres, allen voran Roberta Invernizzi, die nach La Musica im Prolog noch die Euridice gibt, Sara Mingardo, die als Messagera und Speranza ihren betörenden Alt hören lässt, und Raffaela Milanesi, die als Proserpina ihren Gatten Plutone (Giovanni Battista Parodi) becirct, Orfeo die Geliebte zurückzugeben. Eher ein Interpret für das interessante Charakterfach ist Georg Nigl, der nicht umsonst als Wozzeck und Jakob Lenz auf vielen Bühnen Triumphe feiert. Hier singt er die Titelrolle mit farbigem, flexiblem und ungewohnt weichem Bariton, der aber dennoch den Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen mit expressiver stimmlicher Gebärde formulieren kann.

Wilson zeichnet auch für die Bühne verantwortlich, die in ihrer strengen Ordnung besticht, zunächst eine Zypressenallee mit allerlei Getier zeigt, das auch tanzt und oft als Silhouetten zu sehen ist. Die Unterwelt im 3. Akt sieht man als dunkles, düsteres Mauerwerk. Später wird die schwarze Wand durch helle Flächen mit kubistischer Wirkung unterbrochen, bis im 5. Akt die gesamte Bühne leer ist und einen Lichtstreif, später eine glutrote Abendsonne am Horizont zeigt.  A J Weissbard als Lighting Designer taucht die Szene in wechselnde, oft zauberische Stimmungen. Die Personen mit weiß geschminkten Gesichtern, kostbar gewandet von Jacques Reynaud, verharren – auch dies ein Stilmerkmal Wilsons – in statuarischen Posen oder schreiten gemessen. Bei Liebhabern einer artifiziellen Ästhetik dürfte die Aufführung auf besondere Zustimmung stoßen.

 

Aus dem Gran Teatre del Liceu  stammt David Aldens Comic-hafte Inszenierung von L’incoronazione di Poppea, bei der mit Harry Bicket gleichermaßen ein ausgewiesener Barock-Spezialist am Pult steht. Er dirigiert das Baroque Orchestra of the Gran Teatre del Liceu und eine erlesene Besetzung, die Sarah Connolly als cholerischer Nerone anführt. Von androgyner Erscheinung, Aura und Stimme darf sie als Idealbesetzung für diese Rolle gelten. Und mit ihrem Mezzo hat sie – im Gegensatz zu manchen Countertenören – keinerlei Schwierigkeiten mit deren Tessitura.

Auch die Titelpartie ist mit Miah Persson hochrangig besetzt. Von körperlicher Attraktivität und verführerischer Ausstrahlung ist sie optisch die Inkarnation einer Frau, die alle ihre Trümpfe einsetzt, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Und der farbige, auftrumpfende Sopran korrespondiert dazu prächtig.  Wie  so oft ist das finale Duett zwischen Poppea und Nerone, „Pur ti miro“, auch in dieser Aufführung der gesangliche Höhepunkt dank der hochkarätigen Stimmen und der subtilen Interpretation. Jordi Domènech ist der Ottone mit klangvollem, weichem Counter. Geradezu abonniert auf die Rolle des Seneca ist Franz-Josef Selig. Eben hat er sie in der wiedereröffneten Berliner Staatsoper gesungen und auch hier besticht er mit seinem sonoren Bass, der in der Sterbeszene wiederum ergreifende Wirkung  erzielt. Maite Beaumont mag optisch die imperiale grandeur für die Ottavia fehlen, Stimme und Vortrag aber sind von singulärer Dimension. Das expressive Pathos bei „Disprezzata regina“geht ans Äußerste und streift die Hysterie, „Addio, o Roma!“ ist von existentiellem Umriss.

Kaum eine Aufführung der Poppea ohne Dominique Visse mit seinem unverwechselbar krähenden Timbre als Amme Arnalta, wie stets in bizarrem Outfit und mit skurrilem Gehabe. Hier gibt er sogar eine Doppelrolle  als Ottavias Nutrice in der Kostümierung einer Krankenschwester.

Alden lässt den Prolog und viele weitere Szenen an oder auf einem roten Ledersofa vor einer gläsernen Drehtür spielen (Bühne: Paul Steinberg), wo die Göttinnen in plissierten Renaissance-Kostümen (Buki Shiff) sich mit keifenden Stimmen streiten, Nerone und Poppea ihre Liebe besingen, Ottavia das Los der verstoßenen Kaiserin beklagt und Poppea sich lasziv räkelt. Pat Collins taucht die Szenerie in schrille Bonbonfarben und wechselt gemeinsam mit Steinberg erst im 2. Akt zu einem dunklen Interieur, um im 3. wieder zu greller Buntheit zurückzugehen und am Ende ein flimmerndes Schwarz-Weiß-Raster  zu zeigen. Für Freunde von Slapstick,  Popkunst und Clownerien ist diese Inszenierung,  die an der Bayerischen Staatsoper München während der Intendanz von Peter Jonas ihre Premiere hatte, sicherlich ein großes Vergnügen. Bernd Hoppe

Ein zu toller Tag

 

In der alten Giorgio-Strehler-Inszenierung an der Scala hatte Diana Damrau noch die Susanna gesungen, nun war sie 2016 am gleichen Haus die Contessa in der Produktion von Le Nozze di Figaro, die Frederic Wake-Walker zu verantworten hat. Auch die italienischen Opernbühnen haben sich inzwischen modernen Regietrends geöffnet, gehen aber meistens nicht so weit, gesellschaftskritische Botschaften zu verkünden oder (und) Piefke-Milieus zu bevorzugen. Stattdessen versucht man ästhetisch noch einen draufzusetzen, welche Aufgabe hier einige modelmäßige Damen in engen schwarzen Kostümen, mit hochgetürmten Frisuren und affektiert stöckelndem Gang erfüllen. Sie „helfen“ auch bei der Einrichtung des Zimmers für Figaro und Susanna, und die beiden Bauernmädchen im Hochzeitsbild sind hier zwei zu drag queens aufgetakelte Riesendamen in knappen Spitzenhöschen. Bühnen- und Kostümbildner Anthony McDonald sorgt dann andererseits im letzten Bild für Ernüchterung, wenn es den Park nur als Hintergrundprospekt gibt und sich die Paare nicht in Pavillons, sondern hinter Bürostühlen verstecken. Insgesamt meint man eher einer harmlosen italienischen Farsa beizuwohnen als einem doch für seine Zeit sehr brisanten Stück. Zu diesem Eindruck trägt auch der häufige und unbegründete Farbwechsel in der Lichtregie von Fabiana Piccioli bei.

Diana Damrau kann sich auch in dieser Produktion die Rolle des Publikumslieblings ersingen und erspielen, wie Szenen- und Schlussapplaus beweisen. Sie sieht auch in den irrwitzigsten Kostümen phantastisch aus und singt ihre beiden Arien mit feiner Empfindung, vielleicht nicht mit ganz so viel Wärme in der Sopranstimme wie berühmte Vorgängerinnen. Sowohl optisch wie stimmlich dem Conte bereits entwachsen ist Carlos Alvarez, der wenig Aristokrat und zu deftig und grobkörnig, auch was den Gesang betrifft, ist. Dass er im „Park“ gleich in Unterhose erscheint, macht ihn nicht liebenswürdiger. Ein munterer, wendiger Bursche ist der Figaro von Markus Werba, der zudem stilistisch keine Wünsche übrig lässt und dessen Diktion einfach vorbildlich ist. Ihre „Rosenarie“ im (herabgelassenen) Kronleuchter singen muss die Susanna von Golda Schultz, sie tut es mit feiner, zarter Sopranstimme und zeigt im Spiel viel quirligen Charme. Prägnanter wünscht man sich den Basilio von Kresimir Spicer, der seine Arie singen darf, was leider der Marcellina von Anna Maria Chiuri nicht vergönnt ist, die eine köstliche Studie im Wandel von giftender alter Jungfer zur liebenden Mutter abliefert. Andrea Concetti singt die Vendetta-Arie des Bartolo mit schöner Sonorität, Theresa Zisser bleibt etwas fad als Barbarina. Die Straße zu einer großen Karriere hat inzwischen Marianne Crebassa eingeschlagen, die auch hier als Cherubino, leider zur Karikatur geschminkt, ihre beiden Arien wunderbar facettenreich singt und sich mit der Damrau die Krone der Beliebtheit teilen darf. Franz Welser-Möst versteht sich mit den Professori im Orchestergraben bestens, und aus ihrem Einvernehmen entsteht ein wunderschöner Klangteppich, auf dem sich die Sängerstimmen wohlfühlen können (DVD C-major 743108). Ingrid Wanja   

Strenges Gericht

 

Von der hohen Warthe der besserwissenden um nicht zu sagen besserwisserischen Nachgeborenen her betrachtet ein vierköpfiges Autorenkollektiv (Jürgen Schläder, Rasmus Cromme, Dominik Frank und Katrin Frühinsfeld) die Geschichte der Bayerischen Staatsoper vor und nach 1945 unter dem Titel „Wie man wird was man ist“. Es geht um die Jahre 1933 bis 1963, und so legt der Titel nahe zu denken, die Bayerische Staatsoper habe ihre Prägung in den Jahren der Naziherrschaft erhalten, und sie habe sich, da es zwischen 1963 und 2017 keinen Einschnitt mehr wie 1933 oder 1945 gegeben hat,  von den Einflüssen, denen sie zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt war, noch immer nicht befreien können. Für die Jahre von 1964 bis heute ist das Spekulation, für die davor liegenden jedoch, ausgenommen die Intendanz von Rudolf Hartmann, erwecken die Autoren den Eindruck, sowohl in der Bühnenästhetik als auch der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Hauses habe sich nach 1945 nichts verändert, wobei auffällt, dass durchgehend Oper angeblich und offensichtlich die Aufgabe hat, aufklärend und erziehend auf ihr Publikum einzuwirken, dass der ästhetische Genuss, das Eintauchen in eine andere Welt, das Entzücken über die Musik und den Gesang uninteressant und zu vernachlässigen sei. Auch von Dirigenten ist nur insofern die Rede, als sie sich gut oder weniger gut mit den Nazis standen, Sänger sind nur interessant, sofern sie unter deren Herrschaft zu leiden hatten, und immer wieder klingt durch, dass derjenige verächtlich sei, der nicht als Widerstandskämpfer sein eigenes und das Leben seiner Familie riskiert habe. Dabei wird zudem noch ein Unterschied gemacht zwischen einem nach Meinung der Verfasser nicht so sehr „Belasteten“ wie Carl Orff, dem die jüdische Großmutter als Entschuldigung für vorsichtiges Verhalten angerechnet wird, während bei Richard Strauss nicht einmal der halbjüdische Enkel und dessen Großmutter sowie Mutter zählen, um deren Schicksal er sich sorgen musste.

Zunächst wird die Geschichte des Bauwerks, seine Zerstörung 1943, der Einsatz der Münchner Bürger für einen Wiederaufbau beschrieben, wobei bereits deutlich wird, dass dieser ganz bestimmt nicht aus den Gründen gewünscht wurde, die die Autoren für  maßgebend für den Wert eines Opernhauses halten, die sie vielmehr als „Historizität und Festlichkeit“ definieren und damit abkanzeln. Bereits in diesem Kapitel nimmt man allerdings erfreut den Reichtum an Abbildungen zur Kenntnis, durch den sich das gesamte Buch auszeichnet.

Tadelnd vermerken die Autoren im Kapitel über die Eröffnungsfestwochen nach dem Wiederaufbau, dass „Mythisierung und Historisierung“ Triumphe feiern, dass die „Nazioper“ Die Meistersinger zu den aufgeführten Werken gehört, dass der „Naziprofiteur“ Egk die einzige Uraufführung bietet. Auch in weiteren Kapiteln werden Strauss und Egk bzw. die Aufführung von deren Opern als Beispiele für „Verdrängungsstrategie“ getadelt, und auch das „Starwesen“ in der Person von Christa Ludwig kommt nicht gut weg, immer wieder aber verstört die Unbarmherzigkeit der Autoren gegenüber den Persönlichkeiten, die sich nicht als mutige Widerstandskämpfer profilierten.

In einem historischen Rückblick bis auf 1810 verwundert, dass das Spielen italienischer Opern als Affront gegenüber Napoleon angesehen wird.

Neu ist für den Leser, dass der Begriff der Werktreue eine Erfindung der Nazis sein soll, skeptisch gesehen auch, denn man „glaubte…aus dem Geist ihrer Schöpfer interpretieren zu können“ ( An anderer Stelle heißt es „im scheinbaren (besser: anscheinenden) Sinne des Autors“.) . Damit wird jeder, der die „Werktreue“ schätzt, zu einem in die Fußstapfen der Nazis Tretenden. Und wie konnte 1917  die Uraufführung von Pfitzners Palestrina „auf die darbenden Menschen“ „wie ein Labsal“ wirken- wer von denen ging wohl in die Oper, die hier wie an vielen Stellen in ihrer Wirkung auf die Massen wohl überschätz wird. In der Kritik steht auch die Spielplanpolitik, wenn kaum ein uraufgeführtes Werk auf eine zweistellige Aufführungszahl kommt, was bei entsprechendem Publikumszuspruch wohl hätte vermieden werden können. Ironisch wirkt vermerkt, dass diese „konservativ zu nennen“ schon „ein Euphemismus“ ist.

Mit dem Bildungsbürger haben die Autoren auch ein Hühnchen zu rupfen. Sie werfen ihm „Germanentreue“ vor, und seine Vorstellung von Kunst mündet angeblich in der Naziideologie. Warum für das Bildungsbürgertum der „Liberalismus den Untergang“ bedeutete entbehrt der Begründung (gerade dieses wählte die beiden liberalen Parteien), ebenso wie es nicht verwunderlich ist, dass 90% des Spielplans nach 45 sich nicht von dem in der Nazizeit unterschieden.

Sehr ausführlich und deshalb hier in dieser Ausdehnung fehl am Platze wird die Geschichte der Reichskulturkammer beschrieben, über die „Säuberung“ an der Semperoper, über Arabella, die nicht in München uraufgeführt wurde und über die berühmte Hoteltreppe in verschiedenen Inszenierungen des Werks informiert.

Immer wieder wird Richard Strauss vorgeworfen, er „schuf also…eine Oper, die genau auf der ästhetischen wie kulturpolitischen Linie der Nationalsozialisten lag“– was dann seltsamerweise nicht nur auf den Friedenstag (die Times nannte das Werk allerdings „pazifistisch“.) wie auch auf Capriccio zutreffen sollte, das sicherlich nicht auf die von Bombenangriffen genervten Massen zugeschnitten war. Da könnte man ebenso von „innerer Emigration“ sprechen wie bei den Personen, denen das von den Autoren nicht verwehrt wird.

Die Verfasser stellen immerhin fest, dass in der Personalpolitik in der Nazizeit in der Oper Qualität vor Parteitreue ging, dass es keine einheitliche Linie gegenüber jüdischen Künstlern gab, behaupten aber auch, Clemens Krauss habe die Judenverfolgung unterstützt, indem er für sich ein ehemals von Juden bewohntes Domizil  forderte.

In den Beiträgen über die Nachkriegszeit taucht natürlich die alte Frage danach auf, ob es sich bei den Nazis um einen Irrweg oder um eine Konsequenz aus der bisherigen deutschen Geschichte handle, was den Rahmen bei dem Thema Bayerische Oper al-zu weit spannt.

Leicht durcheinander kommen kann der unbefangene, d.h. uninformierte Leser, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass es nach 45 zwei Hartmanns als Intendanten gab: zunächst Georg, ab 63 Rudolf, wobei der Erstere eher die Sympathie der Verfasser genießt. Ehe auf deren Wirken eingegangen wird, erfährt man, dass auch bei der Entnazifizierung in Künstlerkreisen ähnliche Probleme auftraten wie auf anderen Gebieten, vor allem, dass die Fachleute häufig belastet waren, aber gebraucht wurden.

Für den „gemeinen“ Leser am interessantesten sind die Portraits, so die von Clemens Krauss, Ludwig Sievert (Bühnenbildner, dem vorgeworfen wird, er habe seine expressionistischen Anfänge verleugnet), Richard Strauss, der die Musik Schönbergs bereits vor 33 nicht mochte und so die „Haltung der NS-Musikpolitik voraus“ nimmt., der als „Propagandakomponist“ bewertet wird und der sich mit Capriccio schlauerweise schon einen Persilschein beschaffte. Das las sich einige Kapitel zuvor etwas anders. Völlig verkannt wird auch seine Beziehung zu Stefan Zweig, den er unbedingt als Librettisten halten wollte.

Mit Anteilnahme liest man, was über das Schicksal jüdischer Sänger berichtet wird oder solcher, wie Hilde Güden, die Beziehungen zu Juden hatten.

Mehrfach setzen sich die Autoren mit Werner Egk auseinander, besonders mit seiner Zaubergeige, die sie als übles Nazistück entlarven, wenn sie die Rückkehr des Helden  nach vielen Abenteuern zu seiner treu auf ihn gewartet habenden Gretel für das Beweisstück halten, obwohl dieses Motiv doch kein ungewöhnliches ist (Peer Gynt!). Und dass der Komponist seinen künstlerischen Überzeugungen „treu blieb“, macht ihn natürlich zusätzlich verdächtig. Ehrlicherweise enthalten sie dem Leser nicht vor, dass das Stück von Nazis, weil zu „unpolitisch“, auch abgelehnt wurde.  Dann wieder sind sie erbarmungslos, wenn sie eigentlich jedem, der nicht aktiv Widerstand leistete, vorwerfen, „durch Aufrechterhaltung der Normalität dem Verbrechen Vorschub geleistet“ zu haben.

Mit Carl Orff wird milder verfahren, auch wenn man ihm vorwirft, durch seine Musik zum Sommernachtstraum quasi Mendelssohn-Bartholdy in den Rücken gefallen zu sein.

Der Sympathie der Amerikaner und auch der Autoren erfreut sich Karl Amadeus Hartmann, der dritte Hartmann also, für seine „kompromisslose innere Emigration“, denn er „schuf rund um die Bayerische Staatsoper eine musikalische Offenheit und Lauterkeit, die man….auf der Bühne des großen Hauses vermissen musste“.

Interessant sind die Ausführungen zum Schicksal von Hans Knappertsbusch, der es trotz Auftrittsverbots auf die Liste der „Gottbegnadeten“ schaffte, einem Irrtum unterliegt man, wenn man Sachsens Ansprache in den Meistersingern so deutet, als wenn das Reich unterginge, wenn dieses der Kunst geschehe, und ob Die Meistersinger ein „nationalsozialistisches Propaganda-Werk“ sind, mag jeder für sich selbst entscheiden, so wie er auch  diesen Satz : „Wer mit dem Standard-Repertoire der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende ästhetische Verharmlosung betrieb, erteilte nicht nur jeder kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit eine harsche Absage, sondern stellte die nationalsozialistische Theaterpolitik auf eine Stufe mit der Kulinarik der beginnenden Adenauer-Ära“ der kritischen Überprüfung unterziehen sollte. Darüber wird vergessen, dass das „Standardrepertoire“ bereits in der Weimarer Republik dasjenige war, dessen man sich auch heute noch erfreut.

 Man wünscht den im Verurteilen eifrigen Autoren, dass sie nie vor Gewissensentscheidungen gestellt werden, vor denen die von ihnen verurteilten Protagonisten einst standen, und man wünscht ihnen ein Opernerlebnis, das über das hinausgeht, was sie in der Oper sehen.

Übrigens ist der Titel, weil bereits als der für die Memoiren eines Psychotherapeuten benutzt, nicht sehr glücklich gewählt (Henschel Verlag 2017, 456 Seiten; ISBN 978 3 8948 7796 5/ Foto oben: Die Bayerische Staatsoper/ Ausschnitt/ Wikipedia). Ingrid Wanja

Niksa Bareza

 

Vielen Operngängern, von Berlin über Hamburg und Wien bis San Francisco, wird Nikša Bareza noch aus den 80er Jahren bekannt sein, vor allem im italienischen Repertoire. Im selben Jahrzehnt erarbeitete er sich in seiner Chefposition in Graz auch als Wagner-Dirigent einen exzellenten Ruf, der ihn u.a. an die Mailänder Scala führte und auch in seiner Zeit als Generalmusikdirektor in Chemnitz begleitete. Und selbst nach so vielen Karrierestationen und einem runden Geburtstag im vergangenen Jahr hält der in Split geborene Künstler (Jg. 1936) dem Theater die Treue.

Niksa Bareza/ Kuturmanagement GmbH

Für Januar/Februar 2018 ist am Nationaltheater Zagreb Der fliegende Holländer geplant; im  Herbst 2017 dirigierte Bareza dort eine Wiederaufnahme von Prokofjews Liebe zu den drei Orangen, die, kurz nach der Premiere im Frühjahr, ein Gegenstand unseres Gesprächs waren: „Ich habe dieses Werk bereits als junger Mann dirigiert und bin sehr glücklich, jetzt noch einmal dabei am Pult zu stehen. Es ist bis heute ungeheuer modern, wie Prokofjew so distanziert, herausgelöst aus der Aktualität, seine Komposition entwickelt hat und zugleich so originell mit der Vorlage von Gozzi umgegangen ist.” Die Entwicklungslinien im Schaffen großer Komponisten, besonders vor politischen Hintergründen, haben Bareza schon immer fasziniert. Durch die Erhebung einzelner Stücke zum Kanon droht die Vernachlässigung der experimentellen Seite von Werken, die fälschlicherweise oft als unausgereift abgetan worden sind (wie z.B. in Prokofjews Fall Der Spieler). Im Gegensatz dazu, findet Bareza, ist es geradezu als Ironie des Schicksals zu sehen, dass an Prokofjews Krieg und Frieden oder Romeo und Julia, nach der Rückkehr des Komponisten in seine russische Heimat, häufig gerühmt wurde, der Komponist habe endlich seinen persönlichen Stil gefunden.

Eben die ästhetischen und stilistischen Wandlungen desselben Komponisten von einem Werk zum anderen haben ihren Reiz auf Bareza ausgeübt. Wohl kaum ein Dirigent hat das Opernschaffen von Verdi, Wagner und Puccini, gleichmäßig verteilt auf jeden der drei, so komplett erkundet wie Bareza. Bei Wagner betont er, dass bereits im Liebesverbot motivische Anklänge an Tannhäuser und sogar Parsifal feststellbar sind. „Von Verdi habe ich, ausgehend vom Nabucco bis zum Falstaff, 15 Werke dirigiert – außerdem noch das Requiem und Te Deum.” An Verdi hebt Bareza den wiederum geradezu experimentellen Umgang mit den Form-Schemata hervor, vor allem von Cantabile und Cabaletta, bis dieser in der Zusammenarbeit mit Boito vollends aufgebrochen und aufgehoben wird. „Neben der oft zitierten ,verità’, gehörte zu den Prioritäten der Librettisten die ,unità’ – also das Verfassen des Libretto, um eine strukturelle, ja architektonische Einheit mit der Musik zu gewährleisten. Das ist eine Werkdimension, die manche Dirigenten ignorieren oder übersehen, obwohl wir einen Lehrer haben und seine Aufnahmen noch studieren können, der mit Verdi gearbeitet hat:Arturo Toscanini.”

Niksa Bareza mit dem Tenor Sebastian Ferrada anlässlich der „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb/ Nationaltheater Zagreb

Nicht umsonst war es ebenfalls Toscanini, der noch für die Komponisten der Generation nach Verdi eine Schlüsselfunktion innehatte: Puccini, aber u.a. auch Arrigo Boito: „Es ist auch bemerkenswert, dass Boito Literat aus dem Kreis der Scapigliatura war, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Dada-Bewegung des 20. Jahrhunderts aufweist. Boitos starke Affinität zu Wort und Text hat natürlich auch seine Beschäftigung mit Goethe und damit den Mefistofele geprägt; später war Boito dann durch die enge Zusammenarbeit mit Verdi bei der Arbeit an Nerone gehemmt.” Nerone ist eine der vielen Raritäten des italienischen Repertoires, die Bareza dirigiert hat – zuletzt Sakuntala von Alfano, 2016 in Catania. „Alfano ist tatsächlich ein weiterer zu Unrecht vergessener Meister. Ich habe mich schon vor einigen Jahrzehnten mit Rissurezione in Palermo für seine Wiederentdeckung eingesetzt. Bei Sakuntala ist allein schon die Instrumentierung großartig, aber man muss erneut besonders auf die Sprachbehandlung achten.”

Nicht zuletzt an diesem Punkt legt Bareza großen Wert auf eine intensive Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Sängerensemble. Nicht nur bei Ausgrabungen, gerade auch bei Puccini, betont Bareza, gelte es jegliche Schlamperei zu vermeiden, um der kompositorischen Meisterschaft gerecht zu werden, die er durchaus auf eine Stufe mit jener Gustav Mahlers rückt. Freilich hat sich der Opernbetrieb seit den Zeiten Puccinis, Mahlers und Toscaninis gewaltig verändert. „In Catania war bei Sakuntala eine kurzfristige Umbesetzung vonnöten, die im Stagione-Betrieb bei einem so selten gespielten Stück kaum zu bewerkstelligen ist. Das traditionelle deutsche Ensembletheater war und ist insofern ein Privileg, da bestimmte Stücke nur unter diesen Bedigungen realisierbar sind. Aber auch in Zagreb sind wir immerhin imstande, Die Liebe zu den drei Orangen aus dem Ensemble heraus zu besetzen, abgesehen von Michael Hendrick als Prinz.” Mit diesem Gast-Tenor als Waldemar brachte Nikša Bareza 2016 auch überaus erfolgreich Schönbergs Gurrelieder, als kroatische Erstaufführung, zur Aufführung.

Niksa Bareza/ Nationaltheater Zagreb

„Für den Sommer 2017 hatte sich im Ensemble sogar die Möglichkeit ergeben, die Modena-Fassung von Verdis Don Carlo, mit so vielen Proben einstudieren, wie das im heutigen internationalen Jet-Set-Betrieb gar nicht möglich ist. Das ist, so gravierend die wirtschaftlichen und damit verbunden kulturellen Probleme in Kroatien sind, eine positive Kehrseite: die große künstlerische Freiheit, mit einem im internationalen Vergleich kleineren Budget konzentriert arbeiten zu können.“ Die Frage, ob für ihn in dieser Hinsicht musikalisch noch andere Parameter gelten als an den größten Opernhäusern und Festspielen gefeierte Brillanz und Glamour, beantwortet Nikša Bareza: „In dieser Hinsicht halte ich es wie mein verehrter Kollege Nikolaus Harnoncourt: lieber eine falsche Note als eine falsche Phrase.“  (Foto oben: Niksa Bareza bei Proben zur „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb) Sebastian Stauss

Preußische Zauberflöte

 

Johann Friedrich Reichardt ist heute vor allem noch bekannt als Lied-Komponist, von ihm stammen zum Beispiel die Melodien zu Volksliedern wie „Bunt sind schon die Wälder“ oder „Wenn ich ein Vöglein wär“. Aber Reichardt hat auch Opern geschrieben, eine davon ist jetzt bei cpo erschienen, Die Geisterinsel.  Eine Schaueroper ist das leider nicht. Und die war von Reichardt auch nicht zu erwarten. Obwohl dieser Komponist einer der großen Förderer der Romantik war, er war eng verbunden mit Arnim und Brentano, blieb er doch selbst der Aufklärung immer verhaftet. Dieses Opernhauptwerk von ihm, ein Singspiel von 1798, beschäftigt zwar viele Geister, Sylphen und Dämonen, aber das alles bleibt ein klassizistisches Gaukelspiel, und die wenigen düsteren, verhangenen Töne hat sich Reichard bei Mozart ausgeborgt. Und auch noch manch andere heitere Wendung…

Der Zauberflötenton herrscht vor. Die Geisterinsel ist Maschinen-Spektakelstück und frühe Shakespeare-Adaption zugleich; der „Sturm“ war hier die Vorlage. Es geht um italienische Adlige, die an einem verwunschenen Eiland landen und sich hier mit diversen Elementargeistern herumplagen müssen. Die großen Gefühle wie Freundschaft und Liebe stehen natürlich, typisch Aufklärung, im Mittelpunkt, interessanterweise geht’s aber auch dauernd um Müdigkeit – vielleicht ein zentrales Thema am langweiligen preußischen Hof, für den das Stück konzipiert wurde?

Schön, dass hier, in dieser sehr langen Rundfunkproduktion des WDR von 2002 (153 Minuten!) mal nicht versucht wurde, den Text der Dialoge zu modernisieren. Man sagt hier also wirklich „kömmt“ statt kommt, die für unsere Ohren oft lächerliche Gestelztheit sticht grell hervor, oft ist der Text Gotters und Einsiedels  in seiner Schlichtheit aber auch herzlich rührend. Unterm Strich merkt man doch, wie provinziell die deutsche Oper damals war gegenüber der französischen und italienischen Oper.

Auch musikalisch bleibt das Werk weit hinter dem internationalen Niceau zurück. Hört man sich etwa Peter von Winters Wiener Singspielmusik aus dieser Zeit an (ganz zu schweigen von den ambitionierten italienischen Buffe um 1800 von Mayr oder Spontini), wirkt diese preußische Zauberflöte doch etwas steifleinern. Dennoch könnte man hier von einem wichtigen historischen Dokument sprechen – denn genau das zu belegen erfordert einen gewissen Mut bei den Produzenten –, wäre die Einspielung rundum gut gesungen.

 Tolle Herren, bemühte Damen: Was nicht der Fall ist. Ich glaube, dass man die Gattung hier gewaltig unterschätzt hat.  Deutsches Singspiel um 1800, das klingt nach simplen Anforderungen. Aber weit gefehlt, der naive Ton ist nämlich so naiv gar nicht, er tut nur so – im Detail sind das dann schon vertrackte Noten, und wenn man das nicht wie aus dem Handgelenk zelebriert, wirkt es wie ein mißlingenes Souffle, dann wird das matschig und zäh, was eigentlich fluffig sein soll. Alle Männer sind zufriedenstellend, besonders Markus Schäfer als Fernando ist zu loben, ein schöner lyrischer Tenor, der die (angestrebte) Mozart-Nähe der Partitur wirklich würdevoll unterstreicht. Die drei Damen bleiben allesamt  frustrierend, (kein Zauberflöten-Kalauer, ehrlich!)  Diese Unagilität und Mühsamkeit der weiblichen Stimmen liegt Mehltau auf die Aufnahme (Ulrike Staude, Barbara Hannigan, Romelia Lichtenstein), im Gegensatz zu den Herren Ekkehard Abele, Tom, Sol und Jörg Hempel.  Was wirklich schade ist. Denn Herman Max und sein exzellentes Ensemble Das Kleine Konzert geben ihr Bestes. An ihnen liegt`s nicht, dass kein so rechter Schwung in die amüsanten Ensembles kommt, die doch das Beste an diesem bizarren Stück sind (cpo 2 CDs cpo 777548-2). Matthias Käther

Arme Elvira!

 

Will man seine Erfahrungen verallgemeinern, so bevorzugt das Publikum in schlechten Zeiten die heitere Kunst, geht es ihm gut, geben sich die Künstler gern miesepetrig und servieren ihm Übles jeder Art, so auch auf der Opernbühne. Als Beispiel, wenn auch der milderen Ausführung, mag die Inszenierung von Bellinis I Puritani an der Nederlandse Opera durch Francisco Negrin von 2012 gelten, wenn dieser am Schluss des eigentlich  happy  zu Ende gehenden Stücks Arturo von seinem Rivalen Riccardo niederknallen lässt und wenn der gute Onkel Giorgio nebst dem Chor zu anteilnehmendem Gesang dräuende Gebärden gegenüber der unglücklichen Elvira zeigen. Ein bisschen crudeltà muss sein, und ansonsten ist die Regie behutsam im Umgang mit dem fragilen Werk und seiner ebenso beschaffenen Heldin. Es Devlin siedelt die Puritaner in blinkendem Metall an, das mit unentzifferbarer Blindenschrift bedeckt ist, nur selten öffnen sich die engen Mauern und geben den Blick auf Himmel und Meer frei. Der Chor singt meistens von Emporen herab, die Kostüme von Louis Désiré können als solche der Handlungszeit durchgehen, charakterisieren die Puritaner als strenges, weltlichem Tand abholdes Volk, dem Gesangsbücher in ungeheurer Anzahl immer und überall zur Verfügung stehen, Elvira aber trägt einen Aktenordner mit sich herum, von dem nie ganz klar wird, was er enthält.  Die Lichtregie sorgt dafür, dass die Alu-Dekoration mal silbern, mal golden blinkt.

Sehr uneinheitlich ist die Besetzung für das seltener zu erlebende Werk. Der einzige Italiener im Ensemble ist Riccardo Zanellato mit ebenmäßig gefärbtem, kraftvollem Bass als Sir Giorgio. Neben ihm ist John Osborn als Arturo ein großes Plus der Aufführung mit bei aller Leichtigkeit der Stimmführung virilem Tenor der ungefährdeten Höhe  auch in den berüchtigten extremen acuti, die nicht Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel zu sein scheinen. Dazu sieht er auch noch gut aus und kann gut als jugendlicher Held durchgehen. Sehr poetisch und agogikreich gestaltet er die Abschiedsszene und am Schluss dominiert er unangefochten  das Ensemble. Der Bariton seines Gegenspielers Riccardo, gesungen von Scott Hendricks, hat eine angenehme Farbe, aber der Sänger klingt in der Höhe leicht gequetscht, drückt zu sehr auf die Stimme und findet oft nicht zu einer ruhigen Gesangslinie.  Daniel Borowski klingt zu dumpf in der kleineren Partie des Gualtiero.

Leider ist die Stimme von Mariola Cantarero, die ehemalls als nun verlöschender shooting-star gefeiert wurde die Elvira singt, nicht mehr so üppig wie ihre Erscheinung, ist ihr Spiel so verhalten, dass daneben die kleine Partie der Enrichetta, von Fredrika Brillemboug mit Feuer und Leidenschaft gesungen und gespielt, mächtig aufgewertet wird. Im zweiten Akt kann der Sopran mit einer schönen Mittellage für „lasciatemi morir“ punkten, aber die Höhe ist grell, und die mezza voce klingt flach.

Martin Wright  hat den Chor bestens vorbereitet, das Orchester unter Giuliano Carella erfüllt seine Begleiterfunktion perfekt (DVD Opus Arte 1091). Ingrid Wanja

Nur akustisch attraktiv

 

Als Glück erweist sich manchmal das eingeschränkte Blickfeld einer Videokamera, die es dem Betrachter einer DVD am häuslichen Fernseher erspart, allzu früh von dem absurden Einfall eines Regisseurs Kenntnis nehmen zu müssen. Im Falle des Fliegenden Holländer aus Lyon, der auch nach Madrid reiste, wo die Aufnahme entstand, ist es die geniale Idee, Daland und Holländer nur ein einziges Schiff zuzugestehen, das sich zudem noch im bedauernswerten Zustand des Abgewracktwerdens befindet, und das alles nicht etwa in Norwegen, sondern an einem wohl indischen Strand, wie es die Metallteile säubernden und nicht etwa das Spinnrad bedienenden exotischen Damen vermuten lassen. Alex Ollé hat sich das alles einfallen lassen und mit Unterstützung von La Fura dels Baus in die Tat umgesetzt. Im ersten Akt kommt also Daland auf einer Riesentreppe von der Reling des rostigen Tankers, während der Holländer samt Mannschaft offensichtlich im Bauch desselben haust. Echter Sand türmt sich zu mannshohen Dünen und erleichtert weder Solisten noch Chor irgendwelche Bewegungen. Handlung und Charaktere bleiben  unangetastet, wenn auch in diesem Ambiente höchst befremdlich, am Schluss schmiert sich Senta mit der weißen Paste ein, die dem Holländer das Aussehen einer sehr lange dem nassen Element ausgesetzten Wasserleiche verlieh, d.h. wohl, sie ist bereit, sein Schicksal zu teilen, ihn so zu erlösen. Auch von Ferne an menschliche Körper erinnernde, sich in den Elementen Luft und Wasser auflösende Schatten legen das nahe.

Einige vorzügliche Sänger trösten über optisches Ungemach hinweg, allen voran die wunderbar intensive Senta von Ingela Brimberg, die auch bei Großaufnahmen mit feiner Mimik und Gestik Angenehmes und Beeindruckendes vermittelt und deren heller, aber durchaus dramatischer Sopran keine Schwächen kennt, bei den Intervallsprüngen geschmeidig bleibt und keine Höhenprobleme hören lässt. Sie spielt sehr nachvollziehbar die von ihrer Mission geradezu Besessene. Eine Ausnahmestimme dunkel-dräuender Farben hat auch der Holländer von Samuel Youn, aber darstellerisch bleibt er zu statuarisch, den Text beherrscht er leider nur unzureichend, und was die Gesangslinie betrifft, bleiben ebenfalls viele Wünsche offen. Ganz anders verhält es sich mit Namens- aber keinesfalls sonstigem Vetter Kwangchul Youn, der für den Daland ein fast schon zu edles Timbre, ein sehr schönes, auch für Wagner durchaus passendes Legato und eine bemerkenswerte Textverständlichkeit hat. Einen kraftvollen Zwischenfachtenor setzt Nikolai Schukoff für den Erik ein, spielt ihn leidenschaftlich und wird nur in der Höhe etwas enger. Benjamin Bruns singt mit hübschem lyrischem Tenor den Steuermann, Kai Rüütel ist eine noch junge Mary mit ebensolcher Mezzostimme. Das Orchester unter Pablo Heras-Casado spielt besser, als die recht unbestimmte Zeichengebung des Dirigenten erwarten lässt. Ebenso ist der von Andrés Máspero einstudierte Chor, der auch ein gutes Deutsch singt, auf der Anspruchshöhe einer Hauptstadtoper.  (harmonia mundi Bluray und DVD HMD 9809060-61). Ingrid Wanja 

 

Aus diesem Wald ist kein Entkommen

 

Die 70er sind die neuen 50er. Nachdem die 1950er Jahre zweitweise die Bühnen beherrschten und alle Handlungen in die Rock and Roll-Ära verlegt wurden, sind nun die 70er Jahre dran. Zumindest in der Pelléas et MélisandeInszenierung des 40jährigen Benjamin Lazar, der Debussys Drame lyrique in Malmö herausbrachte, wozu die deutsche Übersetzung im Beiheft der DVD behauptet (BelAir BAC 144), „Die Malmöer Oper und ihr Direktor Bengt Hall haben uns im Jahr 2016 die Uraufführung von Pelléas und Mélisande in ihrem Haus anvertraut, also in den Räumen des Theaters, das Ingmar Bergmann von 1952 bis 1958 geleitet hatte“. Natürlich handelt es sich „nur“ um die Erstaufführung in dem Haus, in dem tatsächlich in den 1950er Jahren Schauspieler wie Ingrid Thulin und Max von Sydow unter Bergmann auftraten.

Bühnenbildnerin Adeline Caron ließ sich von Golauds Worten „Diesem Wald werde ich nicht mehr entkommen können“ anregen und schuf ein wandelbar helldunkles Waldbild, in das auch die Szenen in den Innenräumen von Schloss Allemonde, dessen Fenster und Einrichtungsgegenstände wie aus dem Nichts auftauchen, eingebettet sind. Lazars Inszenierung trifft auf starke Konkurrenz. Von Guth über Kosky, Sellars, Marelli, Katie Mitchell, Tcherniakov und Warlikowski haben sich Exegeten des geheimnisvollen Stücks angenommen, das an der Berliner Staatsoper auch noch in der inzwischen schon historischen Berghaus-Inszenierung existiert, in der Villazón im kommenden Jahr den Pelléas geben will. Neben den schönen, von Mael Iger höchst stimmungsvoll illuminierten Naturbildern, die geradezu zum Verweilen einladen, bringt Lazars hoch ästhetische Inszenierung keinen neuen Erkenntnisgewinn. Die Beziehung zwischen dem musterschülerhaften Pelléas, den Marc Mauillon, mit leichtem Bariton singt, von dem man sich fragt, was ihm ansonsten für Partien zufallen könnten – vermutlich ist der Pelléas eine Grenzpartie für ihn –  und der süßen Mélisande von Jenny Daviet, der es im kurzen Röckchen und grünem Pollunder etwas an der unwirklichen Aura der Figur fehlt, hat er zärtlich wie eine erste Teenagerliebe ausgemalt. Aber auch zwischen den beiden Jungen und dem deutlich älteren, in seiner resignativen Zurückgezogenheit sympathischen Golaud, für den Laurent Alvaro einen grobkörnigen Bariton bereithält, ergeben sich nachvollziehbare Begegnungen. Das schüchtern scheue Zusammenspiel der drei mir bislang unbekannten Franzosen, die auch den Text mit exquisiter Prononciertheit gestalten, gelingt bemerkenswert subtil. Ein paar Stunden beim Vocalcoach hätten Emma Lyréns Geneviève und vor allem Stephen Bronks Arkel, dessen Bass-Bariton es auch an gravitätischer Würde fehlt, nicht geschadet. Schön, wie zärtlich Yniold (Julie Mathevet) am Ende Mélisandes Tochter aus dem Kinderwagen nimmt.

Selten war die Wagnernähe so deutlich zu spüren, und vielleicht dachte man deshalb bei diesem Wald mehrfach an Parsifal, wie bei Maxime Pascal, der Chor und Orchester der Malmö Opera mit Energie leitete. Gut denkbar, dass die Zuschauer in Malmö die Balance nicht so vorteilhaft erlebten und der spannungsreiche Orchesterklang die Sänger etwas überdeckte.  Rolf Fath

Bruno Granichstaedten – Stationen eines Lebens

 

Als einziger seiner Kollegen der Komponistengilde wohnte Emmerich Kálmán am 2. Juni 1944 in New York der Trauerzeremonie für Bruno Granichstaedten bei. Auch Kálmán war erst 1940 nach New York gekommen, und wie Granichstaedten konnte er in Amerika nicht mehr richtig Fuß fassen. Mit Beiträgen zur Austrian Sylvester Cavalcade 1942, zu der auch seine einstigen Konkurrenten Paul Abraham, Ralph Benatzky und Robert Stolz Musik beisteuerten, hatte sich Granichstaedten in den USA ein letztes Mal Gehör verschafft. Die Einladung zu der Silvester-Gala der Wiener Operette hatte ihn geradezu in Euphorie versetzt; stolz verschickte er am nächsten Tag an Freunde und Kollegen Autogrammkarten mit der WidmungVom Wiener Herz am Sternenbanner“, die auch den Titel der neuen Granichstaedten-Biografie abgab, die jetzt Ernst Kaufmann, der Neffe von Granichstaedtens zweiter Frau Rosalie, vorlegte, und die, wie wir es von Biografien Benatzkys, Abrahams und Kálmáns kennen, einmal mehr das Schicksal eines in Wien und Europa gefeierten und in der Emigration entwurzelten Komponisten aufrollt.

Bruno Granichsteadten mit Betty Fischer und Dirigent Ernst Marischka/HafG

Bruno Granichsteadten mit Betty Fischer und Dirigent Ernst Marischka/HafG

Dabei durfte sich Granichstaedten berechtigte Hoffnung machen, auch in der Neuen Welt an seine Wiener Erfolge anknüpfen zu können, war er doch bereits 1930, nachdem er durch den Börsenkrach 1929 sein Vermögen verloren hatte, nach Hollywood gereist und hatte gemeinsam mit Nacio Herb Brown die Musik zu zwei Filmen geschrieben. Zehn Jahre später wollte dort keiner mehr etwas von ihm wissen. 1940 waren Rosalie Kaufmann und er nach New York gekommen. Vorausgegangen waren die Inhaftierung durch die Nazis und eine abenteuerliche Flucht über Luxemburg, wo für Granichstaedten die alte Operettenwelt nochmals kurz aufblühte. Als der schwer Herz leidende Granichstaedten die beschwerliche Reise von New York nach Hollywood auf sich nahm, fertigten ihn die Bosse kurz ab. Das traurige Schlusskapitel einer glänzenden Karriere, auf deren Höhepunkt Granichstaedten mit seinem 1925 uraufgeführten und bis zum Zweiten Weltkrieg über 2000 mal gespielten Der Orlow einer der wesentlichen Vertreter der Silbernen Operette war; Granichstaedten meinte später übrigens, dass er mit seinem Orlow und der die Geschichte eines nach Amerika geflüchteten russischen Großfürsten, dem als einziges Erbstück der Orlow-Diamant verblieben ist, Lehár zu seinem Zarewitsch inspiriert habe. Über dem Lied „Für dich mein Schatz, für dich“ stand zum ersten Mal in einer Operettenpartitur „Tempo di Blues“. Der Orlow war auch die einzige von Granichstaedtens Operetten, die später nochmals aufgegriffen wurde, darunter 1959 am Raimundtheater mit Johannes Hesters und 1963 an der Wiener Volksoper mit Eberhard Waechter. Für den Orlow hatte der Kettenraucher Granichstaedten auch das Zigarettenlied mit dem Refrain „Schicksal hau zu, ich halt was aus!“ geschrieben. Unvergänglich dürfte indes einzig das Lied des Zahlkellners Leopold „Zuschau’ n kann i net“ bleiben, Granichstaedtens Beitrag zu Benatzkys Operette Im weißen Rössl.

Bruno Granichsteadten mit seiner Frau Rosalie/HafG

Bruno Granichsteadten mit seiner Frau Rosalie/HafG

Begonnen hatte alles wie in einer Operette: Als der aus einer kunstsinnigen jüdischen Familie stammende Bruno Granichstaedten 1879 getauft wurde, war Alexander Girardi sein Taufpate. Bereits mit fünf Jahren erhielt er Klavierunterricht bei Anton Bruckner und mit 16 Jahre wurde er gelegentlich von Hugo Wolf unterwiesen. Er begann ein Musikstudium in Leipzig und erhielt noch während seiner Ausbildung das Angebot, als Korrepetitor an die Münchner Hofoper zu kommen, eine Stelle, die er bald verlor, weil er sich in der Kabarettszene um Frank Wedekind profilierte. Mit großem Erfolg wird 1908 in Wien seine erste Operette uraufgeführt. Von nun an geht es Schlag auf Schlag: fast jedes Jahr folgt eine neue Operette, manchmal sogar mehrere, wenige sind Flops. Die größten Erfolge – neben Der Orlow – sind 1915 Auf Befehl der Kaiserin, deren 500. Aufführung der kriegsverletzte Komponist mit schweren Schmerzmitteln und Stützkorsett dirigierte, 1921 Indische Nächte. Granichstaedten war ein Vorreiter. Herbert Prikopa schreibt in seinem Vorwort, „man vergisst vor allem, dass Granichstaedten es war, der alle modernen Tänze, alle modernen, meist aus Amerika kommenden Klänge mit der Operette musikalisch verband. Er scheute sich nicht, zusammen mit einem normalen Theaterorchester auch eine Jazzband auftreten zu lassen, Saxophon und Vibraphon gehörten zu seinen Schlagern und diese wurden wegen der neuen Instrumentation und der Verwendung von Blues und Shimmy bejubelt“. In seinem Buch setzt Ernst Kaufmann dieses Leben romanhaft in Szene – mit vielen Dialogen und Erlebnissen als habe er immer hinter dem Sessel gehockt und alles fleißig aufnotiert. Was ein bisschen anmutet, wie die fantasievollen Künstler-Biografien der 1930er und 40er Jahren erhält durch Kaufmanns familiären Hintergrund seine Berechtigung, „Rosalie, die nach dem Krieg in Amerika geblieben war, besuchte Granichstaedtens Grab regelmäßig und verbrachte jeden Sommer einige Wochen in Wien. Ich erinnere mich lebhaft an ihre Erzählungen, durch die sein Leben, sein Zugang zu Musik und die Kreise, in den er sich bewegte, ein Teil meines Denkens wurden“Rolf Fath

 

Der Wiener Regisseur/Autor und Granichstaedten-Neffe Ernst Kaufmann/ORCA

Der Wiener Regisseur/Autor und Granichstaedten-Neffe Ernst Kaufmann/ORCA

Ernst Kaufmann, Wiener Herz am Sternenbanner. Bruno Granichstaedten Stationen eines Lebens.; 314 Seiten, Edition AV, ISBN 978-3-86841-096-9

Beim Hamburger Archiv für Gesangskunst sind zwei Operetten Granichstaedtens in historischen Aufnahmen herausgekommen und in operalounge.de besprochen worden: Auf Befehl der Kaiserin und Der Orlow.

DornröschenHecke aus Kruzifixen

 

Man nehme eine allseits beliebte und bekannte Oper (diesmal Norma), entwerfe ein spektakuläres Bühnenbild, versetze die ohnehin bereits unwahrscheinliche Handlung in eine (modernere) Zeit, in der sie geradezu absurd wirkt, füge mehr Sex und Crime hinzu, als Opern, allerdings als Liebe und Verrat, ohnehin enthalten, stecke die Sänger in möglichst moderne und damit eher unvorteilhafte Kleidung und lasse ihre Figuren möglichst lächerlich erscheinen, da sie sich mit Problemen herumschlagen müssen, die es in der Zeit, in der das Stück nun spielt, gar nicht mehr gibt. Das halbe Feuilleton und ein kleiner Teil der Zuschauer werden jubeln, alle anderen werden schweigen, um nicht als hoffnungslos altmodisch zu gelten, als einfach zu blöd, die geniale Inszenierung zu verstehen.

So hat es Àlex Ollé von La Fura dels Baus mit dem Fliegenden Holländer in Lyon und Madrid gehandhabt, wenn Daland und Holländer sich an indischem Strand aus dem Wrack eines rostigen Tankers schälen, und so tut er es auch in London mit Bellinis Norma, wo ihm Alfons Flores eine Art Dornröschenhecke aus Kruzifixen entworfen hat, die ungemein attraktiv wirkt, besonders wenn ihre Beleuchtung wechselt, und wo Lluc Castells Pollione in einen zu engen Straßenanzug gesteckt und Adalgisa zur dicklichen Matrone im Sackkleid degradiert hat. Eine strenge katholische Riten pflegende Sekte will sich von der Herrschaft des Zivilisten Pollione befreien, alte Männer in Generalsuniform kriechen mit Maschinenpistolen durch die Dornenhecke, Normas Kindlein (das Mädchen mit Brille, die auch zum Schlafen nicht ablegt wird) spielen zu den Koloraturen der beiden Damen Hopseball, im Fernseher läuft ein Kinderprogramm, in dem es grausam wird, wenn Norma das Messer gegen den Nachwuchs zückt, der auch noch in der letzten Szene auf die Bühne geschleppt wird. Oroveso erschießt Norma in väterlicher Sorge wegen der Leiden, die ein Feuertod verursacht, und Pollione muss allein auf den Rogo im Hintergrund schreiten, wo er doch schon von Norma kurz vor „Sublime donna“ einen kräftigen Tritt in den Schritt und Nasenbluten aushalten musste. Der willige Opernbesucher hat sich damit abgefunden, an zwei unbemerkte Schwangerschaften und ebensolche Entbindungen, dazu die unentdeckt bleibende Aufzucht zweier lebhafter Sprösslinge von Pollione und Norma zu glauben, einfach glauben zu wollen, aber mit dieser Inszenierung wird sein guter Wille überfordert.

Die Produktion sollte eigentlich Anna Netrebko zur Protagonistin haben, die jedoch, weil sie sich stimmlich der Partie bereits entwachsen fühlte, durch Sonya Yoncheva ersetzt wurde. Sie ist eine vokal sehr mädchenhafte Norma mit heller, eher in Richtung Sutherland als Callas gehender Sopranstimme, technisch sehr sicher und sich nicht vor die Rolle drängend. Das ist bei dieser jedoch eher ein Nach- als ein Vorteil, da man einer der genannten Superdiven eher verzeiht, was Norma eigentlich zu einer unsympathischen Figur macht, wenn sie ihr der Priesterin blind vertrauendes Volk an der Nase herumführt, ihre Entscheidungen danach ausrichtet, wie gerade ihr privates Empfinden, d.h. ihre Stellung zu Pollione ist. Zur Yoncheva passt der noch lyrische Tenor von Joseph Calleja sehr gut zum Pollione, für den man sich ansonsten eine Corelli-Stimme vorstellen könnte. Seine Stimme hat ein sehr schönes Timbre, kennt keine Registerbrüche oder Höhenprobleme. Etwas müde hört sich der Mezzosopran von Sonia Ganassi als Adalgisa an, aber in den Duetten mit Norma ist sie tadellos. Schütter und hohl klingt der Bass von Brindley Sherrat, angemessen besetzt sind die kleinen Partien mit David Junghoon Kim (Flavio) umd Vlada Borovko (Clotilde). William Spaulding, lange an der DOB, leistet auch mit dem Chor von Covent Garden Großes, Antonio Pappano schwelgt mit dem Orchester in der unendlichen Melodie, ist von überwältigender Schönheit beim Vorspiel zum 2. Akt. Daran ändert auch die Inszenierung und Optik nicht.  (DVD Opus Arte 1247D). Ingrid Wanja