Überraschungen kurz vor Schluss…

 

Dass einem ausgebufften und zu oft gelangweiltem Operngänger wie mir das passieren musste: Le Prophète in der vorletzten Vorstellung an der Deutschen Oper am 4. Januar 2018  ließ mich über weite Strecken des gar nicht mehr langen Abends vergessen, dass da gesungen wurde. Ich war so in das Drama und seinen Konflikten versunken, dass ich erst beim jubelndem Schlussapplaus wieder zu mir kam, so sehr hatten die beiden letzten Akte mich abtauchen lassen. Ich muss gestehen, dass ich mich mit allen Vorbehalten und nur aus Neugier über die Neubesetzung der Fidès in die Oper gegangen war, hatte ich mich doch ziemlich über die Produktion von Oliver Py  geärgert, was ja mein gutes Recht ist. (nachstehend die umfassende Premierenkritik meines Kollegen Bernd Hoppe, der mir verzeihen möge, dass ich meinen zeitlich späteren Bericht voranstelle).

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin: am 4. 1. 2018/ Szene mit Andrew Finden/Oberthal und Nicole Haslet/ Berthe/ Foto Bettina Stöss/ DOB

Aber – so gemein es klingen mag – Wasserschaden haben auch ihre Vorteile (pace an die vielen tollen Mitarbeiter der DOB, die überhaupt eine Vorstellung erst möglich gemacht hatten). Wie bekannt, gab es ausgerechnet am 24. Dezember einen Totalschaden durch die defekte Sprinkleranlage, der die gesamte Unterbühne und auch die „Flug“-Etage traf. Also kein Engel mehr am Seil (der kam zu Fuß) und vor allem keine Drehbühne mehr, deren Dauer-Rotation einem in der Normalvorstellung den Nerv geraubt hatte. Ob nun Oliver Py selber die abgespeckte Bühne betreut hatte oder doch ein genialer Geist des Hauses die Ballette neu choreographierte, die Handlung zentrierte und die grauen Bühnenbauten durch Manneskraft bewegt auf ein Minimum reduzierte, ist aus dem Programmzettel nicht ersichtlich – das Resultat war eine ganz fabelhafte Konzentration auf die Handlung, die Sänger und den dto. hervorragenden Chor (Jeremy Bines).

Und es waren die Sänger, der Chor, das Orchester sowie Enrique Mazzola am Pult desselben, die einen Abend der Sonderklasse zauberten. Man bemerkte den langen run der Oper: Das Orchester war bestens eingespielt und schwelgte in Dynamiken und Farben der exquisiten Sorte – sinnlich, packend, heroisch und von großer klanglicher Vielfalt. Ein Teppich für die Sänger.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin am 4. 1. 2018: Ronnita Miller als Fidès/ Foto Bettina Stöss

Bei denen muss an erster Stelle Ronnita Miller (nur für eine Vorstellung) als   Fidès genannt werden. Sie war der Felsen des Abends, die Große Mutter im Stil eines Barlach – allumfassend, unverrückbar, heroisch und anrührend. Ich schreibe diese Attribute zuerst, weil ich fast vergesse, wie toll sie stimmlich wirkte. Ihr Timbre erinnert mich an Marilyn Horne, ihre Furchtlosigkeit beim Durchmessen von drei Oktaven an die junge Podles – Pauline Viardot hätte sich gefreut. Die Nahtlosigkeit des Mediums in den leichtgesungenen Höhen ebenso wie die sonore Basstiefe machten schwindlig. Und dennoch – es war, wie gesagt, nicht die hohe Virtuosität der Sängerin (die hatte ihre Rollenkollegin Clémentine Margaine in den anderen Vorstellungen auch). Nein, mich berührte ihre unverrückbare Menschlichkeit in der Darstellung, das In-der-Rolle-Sein zu einem hundertprozentigen Zustand, wie ich es selten in meiner langen Laufbahn als Operngänger erlebt habe. Sängerin und Rolle waren eins. Ich begriff plötzlich fast physisch das Konzept Meyerbeers, der sicherlich notwendigen, aber sich in Pervertierung auflösenden Revolution diesen Felsen an Güte, an Erbarmen, eben an Menschlichkeit entgegen zu stellen. Bravo Ronnita Miller! Sie hat mich zu Tränen gerührt und für lange Momente stumm gemacht.

Auch die anderen beiden Hauptrollen waren neu und herausragend besetzt. Nicole Haslet bot eine leuchtende, vor allem junge und den vielen hohen Noten ihrer Partie der Berthe furchtlos gewachsene Stimme – eine Violetta mit bestem oberem Register, optisch bezaubernd und hochengagiert im Spiel, was für eine Überraschung. Und Bruce Sledge (optisch absolut identisch mit seinem Kollegen Gregory Kunde) war als Jean stimmlich eine „Wucht“. So eine topsichere Höhenlage, so eine wirklich mühelos scheinende Rollenbeherrschung und beste Bühnenpräsenz erlebt man nicht alle Tage – zudem war sein Französisch wie das seiner Kollegen von erster Klasse. Man brauchte die Übertitel selten. Das amerikanische Timbre von Bruce Sledge ist nicht sehr farbenreich, aber das macht er mit guter Stimmführung (und gelegentlich überraschenden Kopfnoten, die man von Vanzo und anderen der Vergangenheit kennt) wett. Auch er ein absoluter Gewinn des Abends. Die übrigen Herren (neu Andrew Finden als Oberthal und Thomas Lehmann als Mathiesen) erfreuten in ihren verschiedenen Partien und rundeten den Abend zu einem glanzvollen Überraschungsereignis ab. Quelle soirée étonnante! Geerd Heinsen

 

Und nun der Premierenbericht: Mit der Grand opéra Le Prophète vollendete die Deutsche Oper Berlin ihren Meyerbeer-Zyklus, der sich über drei Spielzeiten erstreckte. Wenn die Inszenierung von Oliver Py auch die vorangegangenen von Vasco da Gama und Les Huguenots zu übertreffen scheint, so leidet sie doch unter den gängigen und austauschbaren Zutaten des Regietheaters. Die Bühne von Ausstatter Pierre-André Weitz wird bestimmt von trostlosen grauen Hochhausfassaden mit gespenstischen leeren Fensterhöhlen und Reklame-Postern für Unterwäsche. Überall sieht man Zeichen von radikaler Gewalt – Männer in Armee-Tarnanzügen mit Maschinengewehren und Revolvern, ein umgestürztes brennendes Auto, Schießübungen, Vergewaltigungen. Nach einer solchen flieht die Putzfrau Berthe nackt aus einem schwarzen Straßenkreuzer (auf und in dem sie gerade vom Grafen Oberthal missbraucht wurde). Sie will den Gastwirt Jean de Leyde heiraten, was Graf Oberthal missbilligt, da er die junge Frau selbst begehrt. Er lässt die Widerstrebende und Jeans Mutter Fidès in seine Burg verschleppen (hier ein graues Papphaus). Jean wiederum lässt sich von drei Wiedertäufern manipulieren, zum Anführer und Propheten, schließlich König ihrer Bewegung zu werden. Sie erobern die Stadt Münster, müssen aber am Ende der Übermacht der heranrückenden Truppen des Kaisers weichen. Das große Fest, das sie vorher feiern, inszeniert Py als Sex-Orgie im Rotlicht mit vielen nackten Männern und zwei Frauen – durch eine fast choreografische Anlage dieser Szene in slow motion verliert sie allerdings jede naturalistische Peinlichkeit.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Seth Carico als Oberthal/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Da wirkt die ausgedehnte Ballettmusik (die berühmten Patineurs, derentwegen Meyerbeer sein Theater als Rollschuharena umbauen ließ) im 3. Akt mit brutalen Quälereien, Kämpfen und Vergewaltigungen auf der Bühne im ermüdenden Dauerdreh weit radikaler. Der Regisseur  hatte die Choreografie selbst übernommen. Sie  leidet vor allem unter den gymnastischen Verrenkungen der 15 Tänzer. Durch das gesamte Stück lässt Py einen halbnackten männlichen Engel geistern, der Pappschailder mit der Aufschrift clémence und malheur trägt, verzichtet auch nicht auf Behinderte an Krücken und Gelähmte in Rollstühlen, die von Jean wundersam geheilt werden. Den großen Effekt im Finale, wenn laut Libretto das Münsteraner Schloss des Propheten durch eine Sprengstoffexplosion in die Luft fliegt, bleibt die Regie freilich schuldig. Hier erschießt sich Jean mit dem Revolver, während Graf Oberthal, von einem Regenschirm geschützt, sich eine Tasse Kaffee gönnt.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Elena Tsallagova als Berthe und Clémentine Margaineals Fidés/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Die immensen musikalischen Anforderungen, die Meyerbeers Werk an die Interpreten stellt, realisiert das Haus staunenswert. Enrique Mazzola am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin sorgt für rhythmische Stringenz, federnden Schwung (in der Ballettmusik) und den gebührenden Pomp in der Marche du couronement. Glänzend ist der Chor (Einstudierung: Jeremy Bines), der seine vielfältigen Aufgaben sicher und klangvoll wahrnimmt, dabei mitunter eine gar martialische Knalligkeit erreicht. Die Besetzung wird angeführt von  Clémentine Margaine als Fidès, deren reich timbrierter Mezzo mit satter Tiefe und leuchtender Höhe die Partie souverän durchmisst. Man kann sie vielleicht schwärzer singen, aber sicher nicht strömender und schöner. Die große Szene im letzten Akt („O pretres de Baal“) mit ihren Skalen über mehrere Oktaven markiert den vokalen Höhepunkt der fast fünfstündigen Aufführung. Beachtlich auch Elena Tsallagova als Berthe in proletarischer Kleidung, die ihrem leistungsfähigen und auch in der exponierten Höhe potenten Sopran brillante staccati und feine Triller abgewinnt. Fast unsingbar scheint die Titelrolle, doch Gregory Kunde gelingt es, nach seinem Auftritt, wo mancher Aufstieg in die Extremlage noch deutlich bemüht klingt, seinen mittlerweile auch farbiger gewordenen Tenor ab dem 3. Akt zu hymnisch flammendem Gesang zu führen. Mit seinem finsteren, robusten Bassbariton vermittelt Seth Carico eindringlich das abgründige Wesen des schurkischen Oberthal. Prägnant im düster-prophetischen Zusammenklang geben Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley die drei Wiedertäufer.Das Premierenpublikum am 26.  11. 2017 feierte die Sänger, den Chor und Dirigenten sowie das Orchester lautstark, während das Regieteam auch ablehnende Stimmen hinnehmen musste (Foto oben: „Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Ausschnitt/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin). Bernd Hoppe

 

Dazu ein PS.: Dass ein Regisseur – ob nun selber schwul oder nicht – Homosexualität (hier auf der Bühne als Nackt-Popo-Gruppensex mit eindeutigen Absichten, dazu jede Menge halb- und ganznackte leckere Soldateska in Feinripp, Tarnhose oder in Wassereimern sich räkelnd) als Mittel zur Illustrierung von Pervertierung einer Gruppierung (i. e. Revolutionäre) verwendet ist beklagenswert. Dies sagt viel aus über das Verhältnis des Regisseurs zu seiner eigenen Sexualität. Als alter 68er verwahre ich mich gegen diese Übernahme überkommener Vorurteile und alter Feindbilder, zumal so spießig realisiert. Geerd Heinsen

  1. Boris Kehrmann

    Das freut mich, lieber Geerd! Die beiden letzten Akte sind wirklich etwas, was es vorher und nachher nie wieder gegeben hat. So schön, dass Meyerbeer dann doch zu den Ehren gekommen ist, die ihm gebürhren.

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  2. Thomas Kliche

    Die gesamte Inszenierung krankt an einer Überästhetisierung von Gewalt. Von einer stringenten Personenführung kann leider nicht die Rede sein. Der Regisseur hat m. E. der Musik Meyerbeers nicht vertraut, was sehr schade ist. Meyerbeers Grnd opéra ist ein Theater der redenden Bilder (Grundprinzip der Grand opéra); auf ein Tableau folgt gewissermaßen ein Schock. Keine Spur davon in dieser Inszenierung. Schade. Das Dirigat Mazzolas war sehr gut – Meyerbeer ist ein Meister des Instrumentierens und Mazzalo kostete den Belcanto-Schmelz, französische Eleganz und die immer wieder verblüffenden harmonischen Prozesse der Partitur aus. Man muss die Musik des Propheten mehrmals hören. Als Meyerbeerianer schaue ich mir natürlich alle Aufführungen an, wobei mein Schwerpunkt (gezwungermaßen) die klangfarbenreiche Partitur ist.

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