Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ivar Hallströms Oper „Den Bertagna“

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Was fällt uns theaterübersättigten Mitteleuropäern zur nordischen, bzw. schwedischen Oper ein? Abgesehen von Josef Martin Kraus und seinem Umkreis während der Periode um Gustav III? Nicht übermäßig viel, ohne nun schwedische Komponisten der näheren Gegenwart diskriminieren zu wollen. Natürlich gibt es Hugo Alfvén, Allan Pattersson, Gunnar de Frumerie, Kurt Atterberg, Wilhelm Stenhammar (über die wir in operalounge.de berichteten), Ture Rangström und viele, viele mehr, wie uns Wikipedia belehrt. Aber wie präsent sind sie uns? Und wer kennt nun Ivar Hallström (1826 – 1901)? Dabei wurde seine Wikingeroper Vikingarna 2016 in Göteborg zusammen mit zwei weiteren schwedischen Spätromantikern konzertant aufgeführt und kürzlich im Radio gesendet – Anlass also, sich mit Hallström zu beschäftigen.

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Hallströms Oper „Den Bergtagna“ bei Sterling mit einem Bühnenbild auf dem Cover zum 1. Akt der Oper von Fritz Ahlgremsson/ Foto Sterling/ Mats Becker/ Kungliga Operan Stockholm)

Er ist mit mindestens zwei Gesamtaufnahmen doch sehr präsent vertreten, namentlich seine Märchenoper Den Bergtagna (Die Braut des Bergkönigs, Stockholm 1874), die mit einer schönen Aufnahme bei Sterling (CDO-1001/2) in einer Aufnahme von 1997/1987 vorliegt (Naxos hat eine weitere Hallström-Oper: Duke Magnus and the Mermaid  nach Andersen unter Niklas Willén), Sterling nahm zudem Ballettmusiken von Hallström auf/ CDS-1033-2) ). Alan Hacker (der auch die Wiederaufführung an der Stockholmer Folkoperan 2005  leitete) dirigiert eine illustre Crew, die von Hillevi Martinpelto als Ingeborg angeführt wird. Monika Sjöholm singt ihre Mutter Ragnhild, dazu kommen Lars Billengren, Helge Lammerbäck, Karl-Robert Lindgren und weitere; es spielt und singt das Umea Symphony Orchestra und der Chor der Norrland Opera. Es ist dies der Soundtrack einer Fernsehverfilmung der Oper anlässlich ihrer modernen Erstaufführung 1986 an der Norrlandopera (dazu nachstehend mehr).

Die musikalische Kraft, die schönen Melodien und auch die stimmungsvolle Atmosphäre des Märchenhaften kommen in Hallströms späromantischer, an der französischen Oper  orientierten Musiksprache fabelhaft zur Geltung – eine Empfehlung!

Zu „Den bergtagna“: der Autor Anders Wiklund, Professor an der Göteborg Unversität und Herausgeber vieler Operneditionen sowie selber auch Komponist und Autor zahlreicher Werke namentlich zum Belcanto/ Universität Göteborg

Im Folgenden gab uns Anders Wiklund, der schwedische Musikwissenschaftler und Komponist von internationalem Renommée und Herausgeber zahlloser Operneditionen (zuletzt in Wexford 2017 Foronis frisch ausgegrabene Oper Matilda), die Erlaubnis, seinen Text aus der Beilage zur Bergtagna bei Sterling hier wiederzugeben – wir danken sehr! Er führt uns in die Welt der schwedischen Oper und portraitiert einen fast vergessenen Komponisten und seine Zeit, dessen Bekanntschaft sich wirklich lohnt. G. H.

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„Erhebe dich, König des Berges, öffne dein Tordie Wiederentdeckung der schwedischen National-­Oper: Im 19. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der schwe­dischen Oper relativ wenige einheimische Werke. Die Musikgeschichte ist reich an Komponisten, die die Be­rufung empfanden, für die Bühne zu schreiben, und wie wir wissen, waren die Auserwählten gering an der Zahl. Dies betrifft auch Schweden. Die schwedischen Opern konnten einem Wagner oder Verdi wenig entgegen­setzen – ihre Werke wurden an der Stockholmer Oper während des zweiten Teiles des 19. Jahrhunderts immer häufiger aufgeführt. Auch die beliebten französischen Opern, allen voran Gounod, boten den Schweden über­mächtige Konkurrenz.

Zu „Den Bergtagna“:der Komponist Ivar Hallström/ OBA

Trotzdem: Wenn man die schwedischen Opern des 19. Jahrhunderts studiert, wird man finden, dass sie oft­mals ungeahnte Schönheitserlebnisse, verdichtete At­mosphäre und erstklassige musikalische Dramatik bringen. Der wichtigste schwedische Opernkomponist war Ivar Hallström. Er ist der Großmeister der schwe­dischen Opernkunst. Ein schwedischer Gounod, ja, sogar ein schwedischer Verdi. Und er sollte im natio­nalen Stil seinen größten Triumph feiern: die Oper Den Bergtagna (Die von den Berggeistern Verzauberte) aus dem Jahre 1874.

„Ich lebte ein sehr glückliches Leben, ohne größere Schicksalsschläge. Mit viel Applaus und großen Er­folgen und gewiss einigen kleinen Verdrießlichkeiten“. So fasst Ivar Hallström in den 1890er Jahren sein Leben zusammen, das 1826 in Stockholm begonnen hatte. Nach sehr frühen Klavierstudien widmete er sich der Rechtswissenschaft. 1849 legte er an der Uppsalaer Universität eine höhere juristische Prüfung ab und wurde im selben Jahr ein hoher staatlicher Beamter.

1852 unterbrach er seine Beamtenkarriere, um sie ganz dem Komponieren und dem Unterrichten zu widmen. Er hatte bei Adolf Fredrik Lindblad Unterricht genommen. Einige Zeit in den 1880er Jahren war Hall­ström auch am Kgl. Theater (der Stockholmer Oper) als Korrepetitor tätig.

Von Ingvar Hallström hat Sterling auch eine interessante Ballett-CD herausgegeben (s. Text)

Hallströms erste Kompositionen waren Sololieder, und da er ein hervorragender Pianist und Begleiter war, wurde sein Name bald sehr bekannt. Vokale Musik ist in seinem Schaffen vorherrschend. Nur seine drei Ballette En dröm (Ein Traum, 1871), Skottland (In Schottland, 1875) und Melusina (1882) sind instrumental. An­sonsten besteht sein Gesamtwerk aus Liedern, Kan­taten, Chorkompositionen und Opern. In den 1840er Jahren war Hallströms Stil von den damaligen, klassi­zistischen Strömungen unabhängig, während die 1850er Jahre von einem starken Einfluss der französischen Musik geprägt sind. Dass Hallström vor allem hinsicht­lich Harmonik, Instrumentation und Gestaltung der vokalen Linien ziemlich viel von etwa Gounod und Meyerbeer gelernt hatte, wird von den zahlreichen Ab­schriften französischer Opern in seiner Notensammlung bestätigt, Abschriften, die er selbst machte. Eine erprobte Art für einen Komponisten, das musikalische Hand­werk zu erlernen, wenn kein regelrechter Musikunter­richt zu haben war. Überhaupt verschmilzt Hallström einen großen Teil des europäischen Musikerbes, um daraus eine eigene, einzigartige Tonsprache zu machen, mit einem zum musikalischen Credo erhöhten Eklekti­zismus! Dazu kommt seine meisterhafte Fähigkeit, schwedische Folklore zu imitieren, um sie einmal seine Musik beherrschen, ein anderes Mal als Kontrast dienen zu lassen. Es ist auch ein schwedisches Volkslied, das als Inspiration zu seinem wohl größten Publikumserfolg diente, Den Bergtagna. Es handelt von der Jungfrau, die auf dem Wege zur Christfrühmette vom König des Berges geraubt wird, um seine Braut zu werden.

Den Bergtagna war Hallströms fünftes Bühnen­werk. Die Oper besteht aus 25 Musiknummern, die aber ganz offen stehen und durch begleitete Rezitative inein­ander übergehen. Die Melodik hat eine farbenprächtige Schönheit, in welcher nicht nur die Folklore erkennbar ist, sondern auch seine eigene, unorthodoxe Melodik, mitunter mit einem französischen Duft gewürzt. Durch seine Orchesterbehandlung verstärkt er den melo­dischen Verlauf und die Dramatik. Bei Den Bergtagna beginnend klingt sein Orchester raffiniert und klanglich gesättigt, stets in Übereinstimmung mit dem szenischen Drama. Man hat zwar Den Bergtagna als schwedische Nationaloper bezeichnet, aber dies ist nicht ganz zu­treffend. Es stimmt, dass Hallström und sein Librettist Frans Hedberg den Text des schwedischen Volksliedes als Grundlage für ihre Erzählung verwenden, aber die Geschichte ist auch in anderen abendländischen Kul­turen zu finden, und obwohl das Volkslied an verschie­denen Stellen zitiert wird, ist es das einzige an schwe­discher Folklore, das in der Oper vorkommt. Der mittel­europäische Einfluss auf Hallströms Musik ist übrigens so groß, dass das echt Schwedische etwas abseits ge­raten ist. Es ist besser, die Oper so einzustufen, wie sie ist: eine grandiose Opernkunst der internationalen Klasse, von Schweden geschaffen, die die Behauptung überzeugend widerlegen, die schwedische Opernkunst des 19. Jahrhunderts sei uninteressant!

Zu „Den Bergtagna“: Auch Zulamith Wellander sang die Bergadrottningen/ OBA

In den drei Jahren nach 1874 wurde Den Bergtagna insgesamt 44mal gespielt. Im April 1876 wurde das Werk in München inszeniert, und im Mai desselben Jahres in Kopenhagen, wo die Kritiker erstaunlich ne­gativ waren. Die Oper wurde auch in Hamburg gegeben. Für die deutschen Bühnen hatte Hallström eine kürzere Fassung gemacht, mit drei Akten und nur 18 Musik­nummern. Bis 1910 war Den Bergtagna insgesamt 84mal an der Stockholmer Oper gespielt worden. Seither fehlt sie ganz im Repertoire, mit Ausnahme einiger Auf­führungen einzelner Akte. Erst im Dezember 1986 er­lebte die Oper eine Wiedergeburt an der Norrlandoper, deren Interpretation wir jetzt hören können.

Die Einstellung seiner Zeitgenossen zu Hallström war ambivalent. Im breiten Musikpublikum war er zweifelsohne ein beliebter Komponist, und mit neun Uraufführungen an der Stockholmer Oper war er wirk­lich der schwedische Opernkomponist. Sämtliche Opern erlebten auch eine ansehnliche Anzahl Vorstellungen. Als Musikdramatiker hatte Hallström im Schweden des 19. Jahrhunderts kein Gegenstück. Seine Texte waren eindeutig die besten, vor allem durch die Zusammen­arbeit mit Frans Hedberg, und Hallströms Musik ist den dramatischen Forderungen gut angepasst. Hedbergs Fähigkeit, eine direkte und stringente Sprache zu schreiben, mit einem fließenden, dramatischen Dialog und einem untrüglichen Gefühl für Dramatik und Form, war, wie man an Den Bergtagna sieht, eine ideale Vor­aussetzung für Hallström.

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Zu „Den Bergtagna“: Zeitschriften-Illustration zur Oper, 1875/ OBA

Hallströms nächste Oper nach Den Bergtagna war Vikingarna (1877). Stellenweise steht sie in musika­lischer Hinsicht auf einer höheren Ebene als die Vor­gänger. Der Einfluss Wagners ist hier eindeutiger, selbst wenn Hallström sich vom Zauberer in Bayreuth nie ganz verführen ließ. In Vikingarna werden zwei Milieus einander gegenübergestellt: das schwere altnordische und das leicht tänzerische provenzalische. Die Musik entspricht elegant dieser farbenprächtigen Dramatik, und die Oper wurde beinahe ebenso oft gespielt wie Den Bergtagna. Hallströms bedeutendste Oper nach diesen beiden Werken mit nordischen Themen war Neaga (1885) mit einem Libretto von Carmen Sylva, Pseudo­nym der Königin Elisabeth von Rumänien. Dieses rumänische Freiheitsdrama hat sämtliche Merkmale der europäischen Operntradition, und Hallström zeigt, dass er auch dieses Stils mächtig ist. Durch seine umfassenden Reisen in Europa wusste er sehr wohl, was auf den Opernbühnen der Gegenwart vor sich ging. In Neaga finden wir kraftvolle Farben, plötzliche Stimmungs­wechsel, einen manchmal rauh geschilderten, jähen Tod, was man von einem Nordländer kaum erwartet. Hallström überzeugt aber wieder einmal, selbst wenn er zwecks größerer dramatischer Konzentration viele Be­arbeitungen vornahm.

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Als Ivar Hallström im April 1901 das Zeitliche seg­nete, war das musikdramatische Klima ein anderes. Die Musik der neuen Zeit war im Anzug, die Ansätze waren schon gemacht worden. In diesem Licht erscheint natür­lich der schwedische Orpheus als hoffnungslos ver­altet. Im musikdramatischen Licht leuchtet er aber mit starker, unbesiegbarer Flamme. Er fing sein Zeitalter ein; aus dessen Bildern, Düften, Musik, Stimmen schuf er eine lebendige schwedische Opernkunst, deren Be­deutung wir nur ahnen können.

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Zu „Den Bergtagna“: Szene aus der Norrland-Opera-Produktion/ Sterling

Über die Sterling-Aufnahme: Diese Aufnahme von Den Bergtagna wurde von der Fassung gemacht, die im Dezember 1986 von der Norr­landoper gebracht wurde. Das Tonband wurde vom Schwedischen Fernsehen für eine Sendung des Werkes gemacht, und es handelt sich somit um eine szenische Fassung der Oper. Gegenüber dem Klavierauszug wurden deswegen mehrere Sprünge gemacht. Die Tra­dition von Hallström und Hedberg wird dadurch weiter­geführt, denn bereits sie selbst hatten umfassende Änderungen vorgenommen, um den Verlauf der Hand­lung effektvoller und konzentrierter zu gestalten. Bei der Aufführung in Umeä wurden das Ballett und der Einzug der Berggeister am Schluß des dritten Aktes ge­strichen. Sie wurden jetzt durch eine Neuaufnahme dieser Musik wieder hergestellt. Per-Erik Öhrns Insze­nierung beginnt damit, dass sich die Bauern zu einem Weihnachtsfest versammeln. Einer der Knechte singt das schwedische Volkslied von der Jungfrau, die vom König des Berges verzaubert wird (CD 1, Track 1). Mit diesem Lied wird das Märchen heraufbeschworen, die Bauern gehen in die verschiedenen Rollengestalten des Märchens auf, und die Oper beginnt mit der Orchestereinleitung (Track 2). Das Gegenteil geschieht am Schluss der Oper, wo Ingeborg beim Glockengeläute der Früh­mette und beim Chorchoral, mit dem Hallström die Oper beendet, erwacht. Wir gehen aus dem Märchen in die Wirklichkeit zurück; das kurze Orchesternachspiel ist gestrichen. © Anders Wiklund 1998;  Übersetzung: Julius Wender (mit Dank an Sterling/ Foto oben Caspar David Friedrich: Das Eismeer/ Hamburger Kunsthalle/ Wiklpedia)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

 

Betagte Schwestern

 

Kein Kloster, keine Guillotine, keine Französische Revolution. Dmitrij Tscherniakov hatte Poulencs Dialogues des Carmélites im Frühjahr 2010 (!!!) an der Bayerischen Staatsoper ohne diese unabdingbar scheinenden historischen Eckdaten angerichtet. Die ins Heute transportierten Dialoge einer in einer kleinen Holzhütte zusammengepferchten Frauengruppe sind seit Jahren auch auf DVD zu bestaunen (BelAir Classics BAC 061) und geben in ihrer Konzentration auf das strenge und harte Zusammenspiel auf engstem Raum einen womöglich viel besseren Eindruck als im Theater. Tcherniakov verzichtet in dieser Schilderung eines geschlossenen Systems auf religiöse Bezüge, auf eine konkrete Orts- und Zeitangabe. Das Stück spielt hier und jetzt. Lauter Straßenlärm, eilende Menschen. Mit dem Rücken zu uns – ein einsames Mädchen: Blanche, die in Tcherniakovs beengtem, gut einsehbarem Holzhaus bei einer Gruppe von Elena Zaytseva in uniform einfache Arbeitskittel- und Hosen gesteckten Frauen Zuflucht findet. Die Einsamkeit in der Gruppe, subtile und offene Machtspiele, Abhängigkeit, Angst und die Überwindung der Angst sind die Themen dieser hart aneinander gereihten Bilder, denen Tcherniakov durch seine spannende, ungemein feinfühlige und genau der Wirklichkeit angeschauten Personenregie frappierende Strenge und Brisanz verleiht. In kleinsten Gesten zeichnen vor allem Susanne Resmark mit der korrekten Kälte einer Altenpflegerin als Mère Marie und Soile Isokoski mit dem gefährlichen Liebreiz einer Unentschlossenen als Madame Lidoine auch gesanglich ausgezeichnete Porträts, denen sich mit kleinem Abstand auch Sylvie Brunet etwas rau gesungene, bis zur Selbstentblößung zerfallende Madame de Croissy und Susan Gritton als Blanche annähern. Auffallend der mit dramatischem Mozart-Feuer singende Bernhard Richter als Blanches Bruder, auch Christian Rieger als markanter Offizier. Vom ersten Ton an inszeniert Kent Nagano das Stück mit knallharter Schärfe, rhythmischer Alertheit und punktgenauer Konzentration. Konsequenterweise gibt es kein Schafott. Dafür allerdings einen gravierenden Eingriff des Regisseurs am Ende: Statt des gemeinsamen Gangs zur Hinrichtung zerrt die plötzlich erstarkte Blanche eine nach der anderen ihrer Schwestern aus der Hütte, um die herum bereits die Vorbereitungen zu Sprengung laufen, um als einzige darin zu verharren und sich töten zu lassen. Rolf Fath

Neuer Stern am Mezzohimmel

 

Beispiele dafür, dass eine Oper durch die Regie verhunzt wird, gibt es viele, solche für die Aufwertung eines Stücks nur wenige, und Mozarts Frühwerk Lucio Silla geschieht genau das durch die Inszenierung von Marshall Pynkoski für Salzburg, die zwei Jahre später, 2015, auch an der Scala aufgeführt wurde. Die herbe Geschichte vom Tyrannen Silla, der in der Oper mit Lieto Fine (komponiert für den Milaneser Karneval) entgegen der historischen Wahrheit in sich geht und rebellierende Adlige begnadigt, gemäß der Realität abdankt und – darüber berichtet die Geschichtsschreibung nichts – jedem Begehren entsagt, wird in die Entstehungszeit verlegt, mit Balletteinlagen aufgemöbelt und mit leichter Ironie und feiner Zweideutigkeit, so inzestnahem Verhalten zwischen dem Diktator und seiner Schwester, gewürzt. In das graziöse Rokokotreiben der bezopften Kavaliere und Reifröcke tragenden Damen reihen sich auch die Solisten ein, denen manch mehr oder weniger gelungener Tanzschritt vor malerischen Kulissen im Pinien- und Zypressenhain oder vor römischen Bauten (Szene und Kostüme Antoine Fontain) abverlangt wird. Bewusst wird auf jeden Versuch verzichtet, den Eindruck von Realismus aufkommen zu lassen, maßvoll pathetische Gesten betonen vielmehr, dass es sich um Theater und zwar um hochprofessionelles handelt, dass man das Kunstvolle, nicht aber das Gekünstelte anstrebt und auch erreicht.

Anders als in Salzburg, wo Marc Minkowski mit seinem Pariser Orchester musizierte, wirkt hier das hauseigene Orchester der Scala, und die Musiker beweisen, wie vertraut sie mit allen in der Welt der Oper möglichen Stilen sind. Der Chor unter Bruno Casoni steht ihm darin nicht nach. Vorgesehen für die Titelpartie war Rolando Villazón, der in Salzburg bei den Mozartwochen und den Festspielen offensichtlich enttäuscht hatte und durch die bei ihm übliche, in dieser Inszenierung aber unangebrachte Überaktivität eher unangenehm aufgefallen war. Er sagte ab und wurde durch Kresimir Spicer ersetzt, der durch szenische wie vokale Grobschlächtigkeit etwas aus dem geschmackvollen Rokokorahmen fiel. Sein Tenor ist schwer einzuordnen, dürfte am ehesten noch im Charakterfach reüssieren. Alle weiteren Partien sind mit Sängerinnen besetzt, von denen dem Mezzosopran Marianne Crebassa die Krone wirklichen Starglanzes gebührt. Die junge Französin, die allüberall als Cherubino entzückt, ist als Celio ein elegant-verführerischer Rokokokavalier mit römischem Adelsstolz und dazu mit dem dazu passenden leuchtenden, ebenmäßigen und apart timbrierten Mezzosopran, ihr gelingen wunderbar weiche Intervallsprünge, und ihr „Pupille adorate non lagrimate“ ist von allerfeinstem lyrischem Fluss. Von schöner Geläufigkeit  und Rundung und wie selbstverständlich die Schwierigkeiten des Hochvirtuosen meisternd ist auch die Stimme von Inga Kalna für den Lucio Cinna, nur in der Höhe etwas spitz und optisch in der Hosenrolle wenig attraktiv. Anstelle von Olga Peretyatko in Salzburg singt Lenneke Ruiten die umschwärmte Giunia mit, wo angebracht, tragischem Klang im Sopran, nicht immer sauberen Intervallen, aber sehr sicher in den anspruchsvollen Koloraturen. Viel Charme und einen leichten Soubrettensopran steuert Giulia Semenzato als Celia zum Gelingen der Aufführung bei (Cmajor 743308 DVD). Ingrid Wanja

Brenda Lewis

 

American soprano Brenda Lewis died on September 16 2017 in Westport, Connecticut,  aged 96. Born Birdie Solomon in Harrisburg, Pennsylvania, on 2 March 1921, Lewis studied at the Curtis Institute and began her career with the Philadelphia Opera Company as a Peasant Girl in Le nozze di Figaro (1939) and Esmeralda in The Bartered Bride, before tackling the Marschallin, Giulietta in Les Contes d’Hoffmann and Dorabella. On Broadway she alternated Female Chorus in The Rape of Lucretia with Patricia Neway (1948) and created the role of Birdie in Marc Blitzstein’s Regina (1949). She performed in Kiss Me, Kate and Annie Get Your Gun at the Vienna Volksoper and in Zurich. Lewis joined New York City Opera to sing Santuzza in 1945, remaining a potent force with the company until 1967. Other roles included Marguerite, Marenka, Salome, Elvira, Marie and the title role in Regina (which she recorded splendidly in 1958). Premieres at NYCO included Jack Beeson’s Lizzie Borden (1965, recorded).

At San Francisco Opera (1950-2) she sang Cherubino (to Tebaldi’s Countess). Met roles (1952-65) included Musetta, Rosalinde, Venus, Carmen, Marina and Vanessa. She sang Salome (1955) in the inaugural performance at Houston Grand Opera, and Chicago cast her for its first Wozzeck (1965). She appeared in Dallas, Seattle, Montreal and Rio de Janeiro.

From 1963, Lewis directed and taught in New Haven and Hartford. David Shengold (mit freundlicher Genehmigung und Dank von Opera, der internationalen englischen Opernzeitschrift/ „the worlds leading opera magazine“/ Foto oben: Brenda Lewis/ Foto Met Opera Archive)

 

Charles Osborne

 

Australian-born writer Charles Osborne , died in London, on September 23, 2017, aged 89, after a long illness. Born in Brisbane on 24 November 1927, he taught himself to play the piano and found his first singing teacher when he was 18. He wrote poetry from his early years, and was published in prominent magazines. He devoured recordings of opera and Lieder, but soon realized that a singing career was not in his future. His speaking voice was well-suited to radio and the stage in Australia, where he had some success as an actor. In July 1953 he sailed to Europe and found his intellectual home. He acted in theatres across the UK, appeared in several films including The Dam Busters, became a radio broadcaster and wrote sleeve notes for record companies in the days when LPs contained lengthy, informative booklets. He developed a large circle of friends in literature, music and theatre. He worked for The London Magazine for eight years from 1958, five of them as Assistant Editor, before joining the Arts Council of Great Britain’s Literature Department in 1966. He was Literature Director from 1971 to 1986. When he left the Arts Council, Nicolai Gedda sang a recital in his honour.

Osborne was associated with opera for most of his writing career, and served on the editorial board from 1970 to 1999. From 1986 to 1991 he was chief theatre critic for the Daily Telegraph, and he was President of the British Critics‘ Circle from 2002 to 2004. He was a prolific writer whose series of books titled The Complete Operas of… included Verdi – all of whose operas he made sure he heard in performance before writing the book – Puccini, Mozart, Wagner and Strauss as well as many of the bel canto composers. Other works ranged from biographies of Verdi, Wagner, Schubert, W.H. Auden and the Australian bushranger Ned Kelly to texts accompanying major paintings by Sidney Nolan, Russell Drysdale and William Dobell. He ’novelized‘ several plays by Agatha Christie, as well as Coward’s Blithe Spirit. His memoir, Giving it Away, was published in 1986. Griffith University in Australia awarded him an honorary doctorate in 1995, he was made a Fellow of the Royal Society of Literature in 1996, and in 2009 Italy awarded him the Order of the Star of Italian Solidarity for his contribution to the understanding of Verdi. He is survived by his partner of 55 years, Ken Thomson. Ian Campbell (mit besonderem Dank an den Editor der englischen Opernzeitschrift Opera/ Foto Charles Osborne/ goodreads.com)

 

Herzensangelegenheiten

 

Ohne Herzensangelegenheit kommt kein Recital aus. Eine solche ist Barbara Emilia Schedel die Figur der Ophelia. Vor allem als weibliche Imaginationsfläche von der ‚reinen Unschuld‘ bis hin zur ‚femme fatale‘ fand Ophelia vor allem in Literatur und Malerei ihren Stellenwert und inspirierte Maler wie Delcroix, Millais, Klimt ebenso wie die Dichter Rimbaud, Bourget, Heym, Nietzsche, Trakl, Benn, Brecht und Huchel“. Nicht nur umfangreicher, sondern auch umfassender fällt Joachim Draheims Einleitung von Schedels Ophelia Songs aus (Telos Music/ TLS 186) aus, die ohne weiteres die Basis zu einem grundsätzlichen Essay über Shakespeare und die Musik bilden könnte. Anschaulich verklammert Draheim Shakespeares Tragödie mit den entsprechenden Kompositionen dieser CD: „Ihren Tod im Wasser…erlebt der Zuschauer nicht auf der Bühne, sondern im Bericht der Königin Gertrude, worauf die Lieder von Robert Schumann, Hector Berlioz, Charles-Camille Saint-Saens und Delphine Ugalde Bezug nehmen. Im Zentrum aber steht die berühmte Wahnsinnszene“. Schedels Auswahl, die von den schlichten Liedern des William Linley über Schumann, Brahms, Strauss, Chausson bis Schostakowitsch und Rihm reicht, beinhaltet manch Rares wie Aribert Reimanns Bearbeitung der Brahms-Lieder für Singstimme und Streichquartett oder die vom Cello begleitete Romanze Schostakowitschs. Mit einer Salonpièce der Delphine Ugalde, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris u. a. Partien von Auber und Thomas kreierte, ist die Verbindung zur berühmteste Opernszene gegeben, war sie doch für Christine Nilsson bestimmt, die die Ophélie in Thomas‘ Hamlet kreierte. Gehört „Pâle et blonde“ zu den Stücken die außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt, so singt Barbara Emilia Schedel Ugaldes Romanze trotz flacher Stimme  mit schönem Gespür, vor allem befindet sie sich in der umfangreichen Szene, zu der Mario Castelnuovo-Tedesco mehrere Ophelia-Lieder zusammengefasst hat, auf Augenhöhe mit dem Werk. In Schostakowitschs Romanze von 1967 und in der Szene von Wolfgang Rihm zeigt sich Schedels Wandlungsfähigkeit im Umgang mit der Klassischen Moderne bzw. neuester Musik. Schedel wird begleitet von Christoph Schickedanz, Zoya Nevgodovska (Violine), Maya Hunziker (Viola), Emanuel Wehse (Cello) und Günther Albers (Klavier).

 

Der Bassist Thomas Stimmel/ Weiler Artists

Auch der Bassist Thomas Stimmel stellt seiner RootsAufnahme (ars vobiscum) eine persönliche Aussage voran: „Auf dieser CD sind Werke von ‚klassischen Komponisten‘ mit afrikanischen Wurzeln zu hören, die im deutschsprachigen Raum kaum bzw. gar nicht bekannt sind! …..  Gerade in der heutigen Zeit finde ich es sehr wichtig, diesen wunderbaren Komponisten wieder „Gehör zu verschaffen’“. Gemeint sind Henry Thacker Burleigh, Samuel Coleridge-Taylor, Julia Perry, Harrison Leslie Adams und Will Marion Cook, die Stimmel sorgfältig ausgewählt und gemeinsam mit seinem Pianisten Philipp Vogler und dem Streichquartett von Eroica Berlin ebenso sorgfältig einstudiert hat. Am bekanntesten ist Coleridge-Taylor, dessen große dreiteilige Kantate für Chor, Orchester und Solostimmen Scenes from The Song of Hiawatha sich in England um 1900 ungemeiner Popularität erfreute und die u.a. mit Bryn Terfel aufgenommen wurde. Stimmel verfügt über einen gestandenen Bass (im Frühjahr 2017 hat er in Maribor den Rheingold-Fafner gesungen) mit geschmeidiger Ausdrucksskala und wohlig ansprechendem Timbre, die sich in den Liedern von Coleridge-Taylor und den drei Blumenliedern von Henry Thacker Burleigh vermitteln; Burleigh hatte die Spirituals salonfähig gemacht bzw. den Weg für Marian Anderson und Paul Robeson bereitet, die sie auf den Konzertpodien heimisch machten. Diesen spezifischen, angeraut melancholischen Spiritual-Klang greift der mit selbstbewusstem Ton singende Bassist auch in den sechs Nights Songs von Harrison Leslie Adams auf. Das umfangreichste Stück auf Roots, mit dem Stimmel, Sohn einer deutschen Mutter und eines afrikanischen Vaters, sich auf die Suche nach Musik schwarzer Komponisten gemacht hat, ist das knapp 20minütige Stabat Mater, das Julia Perry (1924-1979) 1951 ursprünglich für Mezzosopran und Streichorchester geschrieben hatte, eine strenge neoklassizistische Komposition, die Stimmel mit ruhig und breit fließender und in allen Lagen, auch in der hier sehr geforderten Höhe, ausgeglichener Stimme singt.

 

Selbstverständlich hat auch die französische Sopranistin Sabine Devieilhe ein Anliegen. Den Visions ihrer Kollegin Véronique Gens lässt sie Mirages folgen: Spiegelungen. Ausgehend von ihrer Begeisterung für Delibes Lakmé stieß Devieilhe auf eine Galerie exotischer Frauen, „westliche Ohren dieser Zeit sind begierig auf klangvolle und poetische Reisen, mit Düften, die von weither kommen“. Da Messagers Madame Chrysanthème, deren Zirkadenwalzer Devieilhe mit Eleganz und Delikatesse singt, und Massenets Thais mit dem in diesem Recital etwas merkwürdigen von den Dienerinnen angekündigten Auftritt der Thais nicht ausreichen, ist Mirages letztlich ein Programm für Koloratursopran geworden, auf dem wir Ophelia (Berlioz und Thomas) ebenso begegnen wie Debussys Mélisande mit ihrem Lied zu Beginn des dritten Aktes. Im Mittelpunkt stehen die drei Nummern aus Lakmé, die Glöckchenarie, die Barkarole und die Sterbeszene der Lakmé, die zusammen mit den „Quatre Poèmes Hindous“ von Maurice Delage aus dem Kriegsjahr 1914 ein stimmungsvollen indischen Schwerpunkt abgeben. Devieilhe ist keine brillante bravouröse Kolorateuse, wie man sie für die Lakmé erwarten könnte, eher eine Lyrische mit Höhe, sicherlich eine bezaubernde Mélisande, eine edle Blanche, doch möglicherweise noch keine Lakmé für ein großes Haus. Sie singt feinsinnig, mit erlesenem Geschmack, mit leichtem Ansatz, quecksilbrigem Timbre. Die Lakmé-Ausschnitte sind tatsächlich am individuellsten geraten (sie hat die Partie mehrfach auf der Bühne gesungen), ansonsten klingen die bleichen Damen doch alle wie gerade aus der Klosterschule entlassen. Francois-Xavier Roth und Les Siècles sind galante Begleiter (Erato 0190295767723).  Rolf Fath

Gefeierter Ludovic Tézier

 

Kürzlich war er – Bariton Ludovic Tézier – in Paris der aufopferungsvolle Freund des Enkels Carlos, auf der Arthaus-DVD von 2014 aus Monte-Carlo ist er der Großvater selbst: Karl V. in dessen Reich die Sonne nicht unterging, in Verdis Frühwerk Ernani und unbestrittener Publikumsliebling im kleinen Saal, obwohl Szenenbeifall offensichtlich der Aufnahme wegen untersagt war, und Zustimmung sich erst am Schluss der Vorstellung äußern durfte.

Vor Beginn der Vorstellung sieht der DVD-Betrachter einige Insignien aus dem Drama von Liebe und unversöhnlicher Rache, so ein Schwert oder eine Krone, die seltsamerweise im Wasser versinkt, was befremdet, denn gerade ihr Träger macht die einzige und dazu positive Entwicklung im Drama nach Victor Hugo durch, indem die neue Verantwortung als Kaiser eines Weltreichs ihn von Liebesverlangen  und Vergeltungsstreben Abstand nehmen lässt. Zur Sinfonia dann sieht man die vier Protagonisten statuenhaft erscheinen, ehe der Chor (Stefano Visconti) mit viel Brio temperamentvoll federnd einsetzt, wirkungsvoll unterstützt vom Orchester unter Daniele Callegari, der sich  im Verlauf der Oper als vorzüglicher Verdi-Dirigent schätzen lässt. Die Optik der Bühne bestimmen ein Mosaikfußboden, ein riesiger Spiegel im Hintergrund und von Zeit zu Seit halb durchsichtige Zwischenvorhänge mit Szenen vorwiegend von Kampf (Bühne Isabelle Partiot-Pieri). Zur Szene passen die prachtvollen Kostüme von Teresa Acone, die auch die letzte Chordame noch attraktiv erscheinen lassen  und die Herren natürlich ebenfalls. Dabei fällt auf, dass der hier bereits greisenhafte Silva von ebenso wie er mit weißen Wallebärten ausgestattetem Gesinde umgeben ist.

Die Regie von Jean-Louis  Grinda beschränkt sich auf das Notwendigste, lediglich einige alberne, weil grund- und sinnlose  Armbewegungen des Chors lassen den Zuschauer  befremdet aufmerken. Raffiniert ist die Lichtregie von Laurent Castaingt mit starken Hell-Dunkel-Effekten. Bis auf den angenehm klingenden Bariton Maurizio Pace in der kleinen Partie des Don Riccardo gibt es keine Italiener  bei den Solisten. Inzwischen fast ausschließlich  ins Lirico-Spinto-Fach nach einer erfolgreichen Belcanto-Karriere hat sich Ramón Vargas begeben, optisch natürlich alles andere als der fesche Bandito-Conte-Duca und noch immer mit einem recht hellen Timbre auf seine künstlerische Vergangenheit verweisend. Seine nicht zu bezweifelnde Musikalität erzeugt den Eindruck, dass das Wie des Singens schätzenswerter ist als das Was des Materials , aber in der Cabaletta des ersten Bildes kann er von der Höhensicherheit und der Flexibilität seines Tenors profitieren.  Seinem Schwur und damit dem „Ernani morirà“ kann er bedeutendes vokales Gewicht verleihen.  Die dreifach umschwärmte Elvira ist Svetla Vassilieva mit in der Mittellage angenehm dunklem Sopran, nicht ohne ein leichtes Klirrgeräusch in der Höhe, dazu optisch ideal: eine  große, schlanke Sängerin mit ausdrucksvollem Gesicht, die die kostbaren Kostüme zu tragen weiß. Ein sehr kluger Sänger ist Ludovic Tézier, dem zwar das Strahlende und die Geschmeidigkeit eines  italienischen Baritons abgeht, der aber durch Optik, Haltung und Gestik (da fällt einem sofort die Floskel vom „edlen Anstand ein) vieles wettmacht und natürlich durch die Art seines Singens, so einer schmeichelnden zweiten Strophe von „Vieni meco“ in schöner mezza voce, einem majestätisch klingenden Rezitativ vor den „Oh sogni miei“ und durch einen „Oh, sommo Carlo“ in schöner Feierlichkeit. Optisch ganz auf ehrwürdiger Greis getrimmt ist der noch junge Alexander Vinogradov, einst im Ensemble der Berliner Staatsoper, der mit schlankem Bass schöner Farbe und sicherer Höhe imponiert und dessen „Ernani morirà“ wie die Trompeten zum Jüngsten Gericht klingt. Der Jubel am Schluss ist riesig und besonders ausgeprägt für den Bariton (Arthaus 109344). Ingrid Wanja    

Martial Singher

 

Eine Lektion in französischer Diktion und Phrasierung bietet angesichts der vielen Aufnahmen französischer Werke im Moment (so die neuen Troyens von Berlioz bei Warner/Erato oder Pelléas et Mélisande bei LSO) der französische Bariton Martial Singher (1904-90), der in den 1940er und 50er Jahren regelmäßig an der Met sang und später ein fast ebenso einflussreicher Pädagoge wie sein Landsmann Pierre Bernac wurde – Singher war mit der Tochter Fritz Buschs verheiratet und das Ehepaar war diesem 1941 in die Emigration gefolgt. Den Dapertutto, mit dem er 1943 an der Metropolitan Opera debütierte, wo er u.a. neben Lawrence Tibbetts Golaud auch den Pelléas sang (später auch den Golaud), erleben wir auch auf der 1945 entstandenen Sammlung französischer Opernarien (wieder herausgegeben von Pristine Audio PACO004), bei der er vom Orchester der Met unter Paul Breisach, der 1941-46 an dem Haus wirkte, begleitet wird.

Allerdings hatte die österreichische Firma Preiser in Sachen Martial Singher auch hier die Nase vorn und veröffentlichte in den Sechzigern die LP mit dem identischen Programm der amerikanischen LP-Erstaufnahme/ Amazon

Hier finden sich aus seinem Met-Repertoire auch der Mercutio (mit der Ballade de la Reine Mab) aus Roméo et Juliette sowie Escamillo. Bei seinem Debüt hatte der Komponist und Kritiker Virgil Thomson geschwärmt, “Mr. Singher gave a stage performance of incomparable elegance and did a piece of singing that for perfection of vocal style had not been equaled since Kirsten Flagstad went away.“ Singher selbst äußerte sich bescheidener, war sich seiner schwachen Höhe und guten Tiefe und der durchschnittlichen Qualität seiner Stimme durchaus bewusst, aber “it was a matter of being able to color the voice appropriately for each challenge“. Die Auswahl bestätigt dies alles. Die Vorzüge von Singhers guter Atemführung zeigen sich bei Lully und Grétry. In den drei Szenen des Méphistophélès aus Damnation de Faust bewundern wir die plastische Gestaltungskraft, wobei die Stimme erstaunlich hell und leicht und tatsächlich nicht sonderlich attraktiv ist, sie klingt spröde und ein wenig rissig, aber der Gesang besitzt Spannkraft und Energie. Singhers Mercutio ist ein eleganter Verführer, sein Hamlet ein Gefährdeter. Für „Vision fugitive“ des Hérode aus Hérodiade, und nicht nur dafür, hat Singhers Schüler Thomas Hampson fraglos die schönere Stimme. Auch seine Dapertutto-Stimme klingt recht reizlos und wackelig, aber welche Magie verströmt Singher hier wie im für machohaftere Stimmen gemachten Torero-Lied des Escamillo. Stets hört man gespannt zu.   Rolf Fath

Nachtstück

 

2008 an der Berliner Staatsoper sowie zwei Jahre später an der Metropolitan Opera hatte sich Simon Rattle für seine Debüts Claude Debussys einzige vollendete Oper Pelléas et Mélisande ausgesucht. So auch im Januar 2016 sozusagen als Einstand beim London Symphony Orchester, dessen Leitung er im September 2017 übernahm; wie in New York mit Magdalena Kožená und Gerald Finley als Mélisande und Golaud. Noch bevor er auf Maeterlincks Drama gestoßen war, hatte Debussy gegenüber Ernest Giraud seine Vorstellung von seiner Oper präzisiert, „Mein Ideal wären zwei mit einander verbundene Träume. Keine Zeit. Kein Ort. Keine große Szene… In der Oper tritt die Musik zu stark in den Vordergrund. Zu viel Gesang, und die Vertonungen sind zu bemüht… Mir schwebt ein kurzes Libretto mit beweglichen Szenen vor“. Ein Ideal auch für die Konzerthalle, wenngleich Rattle seinen regelmäßigen szenischen Begleiter für semi-staged Performances, Peter Sellars, hinzugezogen hatte (beide brachten die Oper bereits 1993 in Amsterdam heraus, Rattle gab sie konzertant auch 2006 in Salzburg).

Offenbar geschah die halbszenische Umsetzung so behutsam, dass dem Mitschnitt aus der Barbican Hall keine Bühnengeräusche anzumerken sind und die Rattles Mentor Boulez gewidmete Aufführung mit den präsent platzierten Stimmen so ausgewogen wie aus dem Aufnahmestudio (LSO 3 SACD & 1 Audio Blueray LSO0790) daherkommt. Pelléas et Mélisande klingt unter Rattle wie der Gegenpart zum expressiven Nachtstück Tristan und Isolde, das er vermutlich ebenso häufig dirigiert hat, und bringt besonders seine Fähigkeiten, Farben und motivische Spannungen zwischen Stimmen und Instrumenten ruhig auszuleuchten und den dramatischen Höhepunkten und Kraft und Volumen zu geben, zur Geltung. Die Zwischenspiele werden vom London Symphony Orchestra mit hinreißender Sensibilität und Fluss gespielt. Magdalena Koženás leichter Mezzosopran klingt für die Mélisande etwas zu reif und aufgerieben, zu mütterlich, nicht geheimnisvoll genug, sie singt aber mit Hingabe und verkörpert eine fast aufbegehrende Mélisande. Während ihr Französisch etwas maunschig anmutet, phrasiert Christian Gerhaher um so musterschülerhaft bemühter, nachdrücklicher, dadurch auch etwas unfrei. Er singt den Pelléas mit großer Subtilität und Genauigkeit, spontan im Wechsel der Farben und Stimmungen, allerdings nicht durchgehend auf gleichem Niveau. Beide sind keine idealen Interpreten, gestalten das Drama aber mit großem Ausdruck. Meisterhaft dagegen die Diktion des Kanadiers Gerald Finley, dem mit energisch geballtem Bariton und vokaler Bandbreite ein beachtliches Porträt des zerrissenen, bedrohlichen und verwundeten Golaud gelingt. Geneviève und Arkel sind mit Bernarda Fink und Franz-Josef Selig ausgezeichnet besetzt. Insgesamt eine spannende Aufführung, die manche Akzente nachdrücklicher und auch grandioser setzt als gekannt.  Rolf Fath

Das Beste herausgeholt

 

Nicht alles, was Mozart komponierte, ist genial. Besonders im Frühwerk finden sich viele routnierte Gelegenheitsarbeiten. Ist da trotzdem noch was zu retten? Ja! Findet eine enthusiastische britische Opern-Truppe – und hat Recht. Schon mal sehr sympathisch: Der Dirigent der neuen Aufnahme des Sogno di Scipione  Ian Page bietet in seinem Booklet-Text  diese weitgehend wenig bekannte Oper nicht wie sauer Bier an. Er hält den Ball flach. Und macht keinen Versuch, aus einer der (für mich) am wenigsten guten Opern aus Mozarts Feder ein sensationelles Meisterwerk herauszudeuten. Die überstrapazierte Floskel „Zu Unrecht vergessen“ wird nicht benutzt. Sachlich denkt  er darüber nach, was hier falsch gelaufen sein könnte und hat eine interessante Idee: Dieses Werk war eine Huldigungsoper für einen Salzburger Fürstbischof, also so ziemlich das Ultrakonservativste, was man sich an Events im 18. Jahrhundert überhaupt vorstellen kann: Da konnte man nicht mit einem sinnlichen Werk ankommen, das auch nur im entferntesten lebensrelevante Themen anschlug, und menschliche Leidenschaften über Gebühr strapazierte.  Und so flüchtet sich das Libretto auch in die Traumwelt der Allegorie, es passiert buchstäblich nichts, das ist fast ein Oratorium, und auch formal ist das alles sehr steif und erschreckend anständig.

Der 16jährige Mozart konnte es eigentlich besser. Er hatte grade Triumphe im Mailand gefeiert mit Mitridate, und dort hatte er einen ganz anderen Ton angeschlagen. Hier ist er sehr formell, lässt sich auf keine Experimente ein und versucht den Auftrag würdig umzusetzen, dabei kommt eben eine sehr elegante, gravitätische Musik heraus, aber die großen Emotionen fehlen fast ganz.

Nur selten blitzt etwas vom späteren Meister auf,  etwa im pompösen Chor Nr. 4, in dem Idomeneo nicht weit weg zu sein scheint. Und definitiv in der zweiten Fassung der abschließenden Huldigungsarie, superb gesungen von der jungen Chiara Skerath und von der Fachliteratur zu Recht als ein Höhepunkt in Mozarts Frühwerk gewürdigt.

Unbekanntes von berühmten Meistern neu zu präsentieren ist ein artistischer Sport geworden, eine Art künstlerische Herausforderung, die sehr viele Musiker reizt – der Versuch, diese Musik so interessant aufzunehmen, dass man ihre Stärken und ihren Charme wahrnimmt .

Die Ensemblemitglieder der Classical Opera, die sich seit Jahren erfolgreich mit unbekanntem Mozart auseinandersetzen,  sind nicht die Ersten, die den Scipione aufgenommen haben. Aber sie sind vielleicht die ersten, die sogar mich davon überzeugt haben, hier wieder genauer hinzuhören.  Hier ist ein alter Fehler der Mozart-Rezeption vermieden worden:  Es genügt ja nicht, einfach einen Haufen Weltstars zusammenzukratzen und dann draufloszumusizieren, wie es Leopold Hager in den 70ern bei verschiedenen Firmen versucht hat. Seine Gesamtaufnahme des Scipione ist ein Musterbeispiel gloriosen Scheiterns – Peter Schreier, Lucia Popp, Edita Gruberova stehen in vorderster Front, und trotzdem ist das Ganze so langweilig, dass man sich fragt, ob man seine Lebenszeit nicht amüsanter vergeuden kann. Diese Truppe hier zeigt, dass mehr dran ist an dem Stück, als Hagers stocksteifer Versuch auch nur annähernd vermuten lässt. Und das alles mit kleinem Etat! Alles was Ian Page hat, sind engagierte Sänger mit guter Stimmausbildung und ein hochambitioniertes Orchester, das Spaß an Mozart hat. Und das reicht nicht nur, es ist die Zauberformel für diese Musik. Page ist ein Dirigent, der hier Tempo reinbringt, der die diese steifen A-B-A Vorzeigestücke so richtig grooven lässt, ohne sich auch nur einen Millimeter vom Seriösen, Erlaubten zu entfernen – so soll es sein. Wenn man sowas überhaupt macht – dann bitte genauso (Wolfgang Amadeus Mozart: Il sogno di Scipione KV 126; mit Stuart Jackson, Klara Ek, Robert Murray, Soraya Mafi; The Choir and Orchestra of Classical Opera; Dirigent Jan Page; 2 CD Signum Classics  499). Matthias Käther

Aus den Anfängen…

 

Kein Wunder, dass die amerikanische Altistin Irene Dalis den Opernfreunden zwar bekannt , aber trotz ihrer unzweifelhaften Qualitäten im Personenregister von Jürgen Kestings  „Die großen Sänger“ nicht zu finden ist. Es gibt nur eine einzige Studioaufnahme aus den Fünfzigern bei Telefunken von ihr, und die ist von Wert eher für die Sammler und fast durchweg in deutscher Sprache. Denn ihre Karriere begann sie in Oldenburg, wechselte bald an die damalige Städtische Oper Berlin (heute Deutsche Oper), sang dreimal hintereinander in Bayreuth (Kundry und Ortrud) und ab 1957 für neunzehn Spielzeiten an der Met.

Von der Städtischen Oper mit deren Orchester stammen die Ausschnitte auf der nun von Hännsler veröffentlichten CD (aus den Beständen der inzwischen verblichenen Teldec-LPs, die nicht als CDs in andere Firmen übernommen wurden – eine Wiederauflage also – sind die Rechte schon abgelaufen?), ein breites Spektrum von Händel über Gluck, Rossini, Verdi, Bizet, Saint-Saëns bis Wagner abdeckend und so die Vielseitigkeit der Sängerin dokumentierend. Der Chor ist für den ersten Teil unbekannt, der des zweiten Teils ist der Günther-Arndt-Chor. Als Bonus nämlich ist ein Querschnitt durch Carmen angehängt, ebenfalls in deutscher Sprache und mit bemerkenswerten Partnern wie Heiz Hoppe und Karl Schmitt-Walter. Der Dirigent des ersten Teils ist Artur Rother, von dem das Booklet zu berichten weiß, dass er die Nazizeit als „Mitläufer“ durchlebte. Der Carmen-Mitschnitt wurde von Wolfgang Martin dirigiert.

Es beginnt mit dem lange Zeit fälschlicherweise Händel zugeschriebenen  Dank sei dir, Herr, das wahrscheinlich von Siegfried Ochs stammt und in dem die Lehrerin Margarete Klose in der Stimme der Dalis ihre Spuren hinterlassen zu haben scheint. Sie klingt wie eine echte Altstimme, auch wenn sie häufig als Mezzosopran bezeichnet wurde. Würde Adele Sandrock gesungen haben, hätte ihr Organ so klingen können, keine alte Stimme, aber eine Stimme, die einen alten Menschen darstellen soll. Die Vokabeln pathetisch oder auch pastos fallen einem dazu ein. Zum Glück beschränkt sich dieser Eindruck auf den ersten Track. Bei den beiden populären Händelarien Ombra mai fu und V’adoro, pupille klingt die Dalis samtweich und profund zugleich, singt schöne Schwelltöne und ist in allen Registern von schöner Einheitlichkeit und das, obwohl die Arien eigentlich für die Sopranlage geschrieben wurden.  Hier wird die Stimme auch instrumentaler geführt, und wenn die Aufnahme heute nicht mehr so recht zufrieden stellen kann, das liegt es an dem sehr „romantisch“ spielenden Orchester, von historischer Aufführungspraxis keine Spur. Für Giordanis Caro mio ben  nimmt die Stimme wieder einen etwas matronenhaften Ton an, dominiert zudem allzu sehr gegenüber dem Orchester. Aus Glucks Alceste stammt Divinités du Styx, in deutscher Sprache zwar mit leichtem Akzent, aber sehr textverständlich gesungen, was besonders später bei Carmen nicht unbedingt ein Vorteil sein muss. Der Orkus wird ebenso bedrohlich ausgemalt wie der Tod mit endlos langem Vokal, die Extremhöhe ist sehr präsent, die Stimme hat nichts Gefälliges, aber sehr viel ehrliche Empfindung im Klang. Viel jünger klingt der Mezzo in der ihm gemäßen Lage in Bel raggio, jünger, metallischer, individuell und zu schöner Geläufigkeit befähigt. So richtig in ihrem Element ist die Dalis mit der Eboli und deren Don fatal. Man kann sich nicht vorstellen, dass diese Eboli ins Kloster geht, machtvoll, tief erotisch und hochpräsent zeigt sich die überaus farbige Stimme – ein Kontrast zu heutigen Ebolis, wie unlängst aus Paris zu vernehmen.

Ein eher unmodernes Carmenbild  – und das nicht nur wegen der deutschen Sprache – wird in der Seguidilla gezeichnet, allerdings stellt man auch mit Freude fest, dass die Mezzofarbe durchgehend gewahrt bleibt, und in der Habanera werden auch die kleinen Notenwerte beachtet. Der Chor schmettert marschmäßig, wie französische Musik kling das  nicht.

Das erotische Timbre der Dalis passt gut zur schwülen Atmosphäre der Dalila, deren Stimme hier klingt, wie Shalimar duftet. Man könnte sich diese Dalila gut in der Monumentalinszenierung der Oper mit Domingo vorstellen. „Ich liebe dich“ klingt wunderbar strahlend. Als Brangäne scheint die herrlich fließende Stimme das führende Instrument im Orchester zu sein. Man hört, warum Bayreuth sie wollte.

Im Carmen-Querschnitt gibt sich die Altstimme einen etwas leichteren Anstrich, kämpft tapfer den aussichtslosen Kampf  zwischen spritziger Musik und anders gearteter deutscher Sprache, und ihr Anteil am Kartenterzett geht durch Mark und Bein, könnte auch einer Ulrica zugeordnet werden. Heinz Hoppe ist ein wunderbarer deutscher Tenor mit strahlender Höhe, zwar kein José, aber ein Sänger, der Bizets Intentionen am Schluss der Blumenarie besser umsetzt als mancher Landsmann des Komponisten.  Die Micaëla von Cloë Owen klingt im Duett des ersten Akts mütterlich, in ihrer Arie hübsch mädchenhaft. Karl Schmitt-Walter  fühlt sich in der Höhe des „Auf in den Kampf“ wohler als in der Tiefe, das Schlussduett ist noch schlimmer verstümmelt als alle anderen Tracks. Rückseitig sieht man die originalen LP-Covers der Teldec (Hänssler Proifil PH17044). Ingrid Wanja

Mosaiksteine

Bereits einige, zum Teil sehr umfangreiche Biographien von Leonard Bernstein gibt es, so dass es nur konsequent von Michael Horowitz (nicht verwandt mit dem gleichnamigen Pianisten) ist, sich in seinem Buch mit dem Untertitel Magier der Musik auf das zu beschränken, was er Mosaiksteine nennt. Gleichzeitig aber soll es über eine reine Biographie hinausreichen, ein „Kaleidoskop des 20.Jahrhunderts“ sein. Es handelt sich um über fünfzig kurze Kapitel, die teilweise recht reißerische Überschriften haben wie „Vulkan und Jesusgestalt“ oder „Gauner, Mädchenhändler, Menschenfresser“, gern auch Gegensätze miteinander vereinen wie „Austern und 75 Cent Gage“ oder „Beethoven und Jimi Hendrix“ oder auch ganz sachlich sind wie „Klassik für Kinder“. Jedem Kapitel ist zudem ein Zitat Bernsteins vorangestellt, das sich mehr oder weniger mit dem Inhalt desselben in Verbindung bringen lässt.

Angeregt zu seinem Buch im Wiener Amalthea Verlag wurde Horowitz wohl auch, weil die beiden Familien Bernstein und Horowitz aus Galizien stammen, die Eltern aus dem „Armenhaus Europas“, das zudem häufig durch Pogrome erschüttert wurde, flohen; die Bernsteins in die USA.

Der Autor schildert eindringlich, wie der junge, stets kränkliche Bernstein die Musik entdeckt, die ihm zum Heilmittel wird, wie ihm andererseits ihre Ausübung kaum möglich ist ohne den Dauerkonsum von Zigaretten und Whisky, dazu noch, und da wird das Buch oft indiskret, weil noch Lebende betreffend, ein überaus abwechslungsreiches und vielseitiges Sexualleben.

Die Gründung des Festivals in Tanglewood, Vorbild für das Schleswig-Holstein-Festival, die Bekanntschaft mit Mitropoulos, die Freundschaft mit Copland, die Assistenz bei Artur Rodzinski finden Berücksichtigung, und eindrucksvoll wird beschrieben, wie sich das Einspringen für Letzteren bei einem Konzert der New Yorker Philharmoniker zum Triumph für den jungen Musiker gestaltet.

Mehrfach berührt Horowitz den Konflikt zwischen dem Komponisten, dem nie eine große Oper gelang, und dem Dirigenten, dessen charismatisches Wirken sämtliche Orchester in Verehrung und Liebe dahinschmelzen ließ, abgesehen von den Berlinern, die er als schöne, aber kalte Frau bezeichnet. Natürlich findet auch die Rivalität, keineswegs mit Feindschaft zu verwechseln, zwischen ihm und Karajan Berücksichtigung, Interessant sind die Erinnerungen berühmter Sänger wie Christa Ludwig und Kurt Rydl an ihn, besonders die von Gundula Janowitz lassen aufmerken, denn sie strafte er mit Missachtung, weil er eigentlich lieber mit Gwyneth Jones statt mit ihr gearbeitet hätte.  Überraschenderweise konfliktlos verläuft die Zusammenarbeit mit Maria Callas (Medea, Sonnambula). Das hier auch über die Skandal-Norma in Rom berichtet wird, ist eigentlich überflüssig wie manches andere, das wohl zur Aufstockung auf knapp 250 Seiten benötigt wurde.

Aufschlussreich sind die Berichte über Gastspiele in Palästina, England (erster Wagner nach dem Krieg), Wien (wo er die Philharmoniker zu Mahler bekehrt) und Deutschland; ein Verdienst des Buches ist es, dass nur locker chronologisch vorgegangen, ein bestimmter Themenkreis, darüber hinausgreifend, im Zusammenhang behandelt wird.

Bereits 1948 reist er nach Deutschland, gibt ein Konzert in Dachau mit Überlebenden und bekommt hier eine KZ-Uniform geschenkt. Der Autor irrt allerdings, wenn er verallgemeinernd schreibt, man habe zu dieser Zeit generell die Löhne in München in Zigaretten ausgezahlt und um Brot gebettelt.

Der hundertprozentige Musiker ist kein unpolitischer Mensch, deshalb kann der Verfasser von seiner Reise für den Frieden, von seiner Vorladung vor eine Untersuchungskommission McCarthys berichten. Natürlich finden auch die vielen Bemühungen um die Gewinnung der Jugend für die klassische Musik berücksichtigt, die Bernstein nicht scharf abgegrenzt von der populären sah.

Nicht generell bekannt war bisher, dass aus der East Side Story (1948) um religiöse Konflikte die West-Side Story um solche zwischen Jets und Sharks wurde (1957).

Gegen Ende des Buchs nehmen die Zeugnisse von Weggefährten zu, so das der oben erwähnten Sänger in Wien, aber auch Otto Schenks oder Marcel Prawys, der den Freund mit Michelangelo vergleicht und der West Side Story den Weg nach Wien ebnet. Auch die Neueinrichtung des Weißen Hauses durch Jacky Kennedy gehört nicht unbedingt zum Thema, selbst wenn sich Bernstein bei seinem Besuch dort des Präsidenten-Schaukelstuhls bemächtigte.

Die letzten Jahre stellen sich als andauernder Kampf zwischen dem hinfälligen Körper und dem unbändigen Willen, Musik zu machen, dar, eine letzte Krönung ist nach dem Mauerfall die Neunte mit der Ode an die Freiheit, danach heißt es bald so wie im Buch Good bye, Lenny. Das Buch über ihn ist eine so liebevolle wie ehrliche Huldigung an einen, der die Musik und die Menschen über alles geliebt zu haben scheint. Allerdings ist es wohl eher „eine“ als „die“ Biographie, wie das Cover behaupten will (Amalthea Verlig, ISBN 978 3  99050 099 6).  Ingrid Wanja

Flammen der Liebe

 

Quella fiamma heißt das neue Album von Nathalie Stutzmann mit Arie Antiche bei Erato/Warner (0190295 76529). Wieder wirkt die Französin in Doppelfunktion als Sängerin und Dirigentin des 2009 von ihr gegründeten Ensembles Orfeo 55. Die von dem Musikwissenschaftler und Komponisten Alessandro Parisotti (1853 – 1913) zusammengestellte Sammlung ist die klassische Gesangsschule schlechthin (ähnlich Czernys Übungen für Pianisten), auch die französische Kontraltistin hat diese Stücke während ihrer Studienzeit gelernt. Für die CD wollte sie jedoch nicht auf Parisottis Bearbeitungen der Kompositionen von Scarlatti, Caldara, Carissimi, Caccini, Bononcini u.a. zurückgreifen, sondern hat die in diversen Bibliotheken liegenden Originale herangezogen. Die Arien, welche von Sängern in ihren Konzerten gern an den Anfang gestellt werden, weil sie ideale Stücke zum Einsingen darstellen, eignen sich darüber hinaus zum Erlernen der Atemtechnik, des Legatos, der Oktavsprünge, Appoggiaturen und Melismen.

Das Programm beginnt mit Alessandro Scarlattis Hit „Già il sole dal Gange“, der eine besondere Beherrschung des Atems verlangt. Stutzmanns reife, strenge Stimme mit ihrer schwarzen Färbung ist in diesem Repertoire gewöhnungsbedürftig, doch bemüht sie sich um einen charmanten Vortrag und lockeren Fluss. Mit Francesco Durantes „Danza, danza“ in seinem ausgelassenen Rhythmus folgt ein wirkungsvolles Stück, von diesem 1684 geborenen Komponisten gibt es später als Kontrast noch das sakrale „Vergin, tutto amor“, in welchem ein perfektes Legato gefordert ist. Auch Caccinis „Amarilli“ ist eine bekannte Nummer, in der es auf eine  absolut ruhige Stimmführung ankommt, was der Altistin überzeugend gelingt. Von heroischem Anflug ist Carissimis „Vittoria, mio core“, wo ein schöner Lauf der Koloraturen zu hören ist (bei einigen knappen hohen Noten). Parisotti als Komponist selbst ist mit dem zärtlichen„Se tu m’ami“ vertreten, wofür Stutzmann die Stimme verschlankt und zu einem angenehm ruhigen Vortrag findet. Besonders gelungen ist Martinis „Plaisir d’amour“ (welches vielfach immer noch für ein französisches Chanson von Aznavour gehalten wird) in seiner kosenden Stimmgebung.

Mehrere Titel stammen aus bekannten Opern – so „Ah! mio cor“ aus Händels Alcina oder „Piangerò“ aus seinem Giulio Cesare, „Per la gloria“ aus Bononcinis Griselda oder „Nel cor più non mi sento“ aus Paisiellos La Molinara. Alcina von einer solch dunklen Stimme zu hören ist ungewohnt, auch mischen sich in den durchaus pathosreichen Vortrag einige heulende Töne. Griseldas „Per la gloria“ ist eine Huldigung an geliebte Augen, was Stutzmann mit angemessener Koketterie wiedergibt. Im Cesare wäre sie eher eine Cornelia, dennoch formt sie Cleopatras großes Lamento beeindruckend, zwingt die Stimme in ein schlankes Maß und im schnellen Mittelteil zu dramatischem Furor.

Aus Francesco Contis Kantate „Dopo tante e tante pene“, genauer deren 3. Satz,  stammt die Aria, welche der CD den Titel gegeben hat: „Quella fiamma“. Sie ist von getragenem Charakter, weist aber reiches Zierwerk auf und bereitet der Interpretin Mühe in der exponierten Lage.

Einige Instrumentalbeiträge von Andrea Falconieri (eine rhythmisch betonte Passacalle von rasanter Steigerung), Nicola Porpora (ein munteres Allegro aus der Sonata a 3, op. 2 und ein kantables Largo aus dem Cellokonzert Nr. 2), Alessandro Marcello (Adagio aus dem Oboenkonzert d-Moll) und Francesco Durante (eine grüblerische Introduction aus dem Concerto Nr. 1) runden das Programm ab und demonstrieren das hohe Niveau des Klangkörpers sowie Stutzmanns inspirierende Leitung.

 

Auch Dorothee Mields singt auf ihrem neuen Album mit Händel-Kantaten bei dhm (89854 05322) von den Flammen der Liebe und der Gefahr, mit dem Feuer zu spielen. „Tra le fiamme“ heißt diese Komposition in sieben Sätzen, deren erster und letzter diesen Titel trägt. Der zarte, liebliche Sopran weiß hier gebührend zu jubilieren. Im 5. Satz, der Aria „Voli per l’aria“, kann er seine Virtuosität mit bravourösen Koloraturläufen noch eindrucksvoller demonstrieren. Die Cantata spagnuola ist dreisätzig und stammt aus Händels italienischer Periode. Es ist eine sehr stille, intime Komposition, und Mields kann hier mit delikaten Nuancen aufwarten. „La bianca rosa“ hat ebenfalls drei Sätze und verlangt eine sehr sublime, zarte Stimmgebung, was die Interpretin ideal erfüllt.

Es ist eine bezaubernde CD – wegen der reizvollen Musik und der anmutigen Interpretation durch die britische Sopranistin. Zudem wirken die renommierte Gambistin Hille Perl und der Lautenist Lee Santana neben dem La Folia  Barockorchester mit, was reizvolle Klangmischungen ergibt. Bernd Hoppe

Kein Wagner ohne Hitler

 

Wer sich seinen nächsten Besuch einer Wagner-Oper, speziell den der Meistersinger gründlich verderben will, der lese zuvor Hans Rudolf Vagets neues Buch Wehvolles Erbe im Fischer Verlag, womit das des Komponisten aus Bayreuth gemeint ist. Während man beim Lesen der ersten 150 Seiten dem Autor noch in vielem folgen konnte, wohl manchmal die Augenbrauen hochzog, aber doch nachvollziehbar war, was er über den Wagner Hitlers schrieb, ist einem das verwehrt, wenn man glauben soll, dass man auf der Bühne die „protofaschistische Volksgemeinschaft von Wagners Nürnberg“, die „Verherrlichung der charismatischen Autorität“ und den Sieg „des gesunden Volksempfindens“ sowie die „Ausgrenzung“ Beckmessers als Analogie zu der der Juden in Nazideutschland verfolgen kann. Es gibt also nach Vaget „viele naziaffine Aspekte“ in den Meistersingern. Kann man angesichts des Inhalts solcher Abschnitte nur den Kopf schütteln, so wundert man sich nicht minder über das große Missverständnis, von dem der Titel zeugt, denn mit dem „wehvollen Erbe“ kann nur das des Komponisten gemeint sein, die drei Hauptkapitel, das vom Autoren sogenannte Triptychon von Hitler, Knappertsbusch und Thomas Mann, aber sind eine Art Rezeptionsgeschichte, werfen ein Licht eher auf diese drei und darauf, wie sie Wagner und sein Werk, das gar nicht wehvoll ist, sahen und wie sie es eventuell entstellten. Dabei scheint der Verfasser einem Zwang zu unterliegen, in allem und jedem Beziehungen zwischen Wagner und seinem Werk und zum Beispiel Hitler zu sehen. Wobei nicht geleugnet werden soll, dass dieser ein glühender Verehrer Wagners war. Aber sowohl im wahrscheinlich von den Wagnerenkeln erfundenen „Onkel Wolf“ wie in der „Wolfsschanze“ (gleich Walhall!) eine Beziehung zum „Wolfe“ der Walküre als sicher anzusehen, ist reichlich verwegen. Nur als Frage, aber immerhin als Möglichkeit taucht der Gedanke auf, der Tod im Führerbunker sei eine Nachahmung des Endes des Volkstribunen Rienzi. Die arme, unschuldige Oper trägt auch den Makel in sich, dass Mussolini sie mochte, und „so hat Hitler diesem Werk seine Identifikation mit Wagners römischem Tribunen einen nachhaltig faschistischen Stempel aufgedrückt.“ 

Dem Buch vorangestellt sind sechs Zitate bekannter Persönlichkeiten über Wagner und Hitler, was von vornherein die Nähe zwischen beiden suggerieren soll. Eine mehr als sechzig Seiten umfassende Einleitung befasst sich unter anderem mit der Frage, ob Wagner „ein Teil unseres Selbsts“ sei, wobei man sich fragt, wie vielen Prozenten der Bevölkerung Wagner überhaupt ein Begriff ist, ob die angenommene „kollektiv geistig-seelische Prägung“ bei vermutlich doch geringem Kenntnisstand überhaupt stattfinden kann.  Versöhnlich stimmt dabei den Leser, dass es der Verfasser ablehnt, aus heutiger Sicht   über die Vergangenheit zu urteilen.

Hat sich der Leser damit abgefunden, dass nicht über Wagners Opern, sondern über Hitlers, Knappertsbuschs und Manns Wagner gehandelt wird, und im Fall Hitler der Einfluss des Hitlerschen Wagner auf die deutsche Politik, dann kann man mit Interesse lesen, dass es nicht die Judenfeindschaft, sondern der Genieglauben war, der den späteren Diktator prägte, dass der „Wagner-Kult die ästhetische Einleitung einer verbrecherischen und barbarischen Politik“ war. Dabei erkennt der Autor, dass Hitler mit dieser Verehrung in der Partei, die eher kleinbürgerlich orientiert war, ziemlich allein stand, er andererseits das Bildungsbürgertum, das dem „Führer“ eher fern stand, durch die Gemeinsamkeit der Wagner-Verehrung für seine Ziele gewinnen konnte, was so pauschal wohl auch nicht zutrifft, so wie auch der Vergleich mit einem Wagner damals und einem Rockkonzert heute hinkt, allein schon wegen nicht vergleichbarer Teilnahmerzahlen. Wenn Vaget nahelegt, dass der Wagner-Freund zwangsläufig auch der Annahme ist, die deutsche Kultur sei anderen Kulturen überlegen, ist das wohl zu pauschal gesehen. Oder ist es schon verwerflich, Goethe auf eine Stufe mit Dante und Shakespeare zu stellen? Ist es nicht anders denkbar, als dass aus der Wagner-Stadt München die „Hauptstadt der Bewegung“ wurde? Und wurde Wagner durch die Verehrung Hitlers für uns interessanter? Da dürfte selbst nach peinlichster Befragung seines Gewissens so mancher ein entschiedenes Nein sagen. Nicht immer kann man den Verfasser von dem Vorwurf freisprechen, er begründe Behauptungen mit anderen Behauptungen, die nicht bewiesen sind (S. 42/43) und verallgemeinere allzu unbekümmert, so mit „Die  Wagnergemeinde feierte Hochzeit mit Hitler“. Wenn bereits in der Einleitung behauptet wird, nicht Wieland Wagner, sondern Thomas Mann sei das Verdienst zuzuschreiben, dass Wagner wieder akzeptiert werde, erwartet man mit Spannung die kaum mögliche Beweisführung.

Insgesamt kann man feststellen, dass Vaget der allzu bekannten Faschismustheorie zuneigt, nach der der Faschismus in die deutsche Geistes- und Mentalitätsgeschichte eingebettet sei und verweist dabei auch auf Schriften aus der Zeit des Imperialismus, ohne zu berücksichtigen, dass u.a. von französischer und britischer Seite eher noch krassere Zeugnisse eines Überlegenheitsgefühls zugänglich sind.

Ob ein Witz von Woody Allen, nachdem er „bei Wagner-Musik am liebsten in Polen einfallen“ würde, bei dieser Diskussion hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Wenn Hitler als Produkt des Ästhetizismus in der besonderen Form des Wagnerkults gesehen wird, der in Verbindung mit seinem künstlerischen Dilettantismus und seiner besonderen Begabung zur Selbstdarstellung, seines self-fashioning, geradezu charismatisch zu wirken vermag, wird, dann ist das eine extrem idealistische Auffassung, die alle anderen Faktoren wie Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Mittelschicht, verlorener Krieg, Reparationen usw. draußen vorlässt und eigentlich nur den Schluss zulässt, dass Wagner Schuld an der Nazidiktatur ist, denn nach Vaget wäre Hitler ohne Wagner nicht Hitler geworden. Allerdings bemerkt er an anderer Stelle, dass die in Israel herrschende Auffassung, Hitler sei der Vollstrecker Wagners gewesen, nicht zutrifft.

Sprechen Tatsachen wie das Fehlen Wagners in Hitlers Mein Kampf, gegen die These vom übergroßen Einfluss des Komponisten auf Hitler, dann wird geschickt argumentiert, Hitler habe seinen Lesern suggerieren wollen, er sei aus sich selbst zur erreichten Größe gewachsen.

Immer dann liest man das Buch mit weniger Vorbehalten, wenn es um Tatsachen geht, so die Spielplangestaltung  mit Rücksicht auf den Krieg und als Wehrertüchtigung, über die 1939 eingerichtete Wagner-Forschungs-Stätte, die Ausführungen darüber, wie Hitler Wagner und Bayreuth sah. Immer wieder aber wird man verstört durch Behauptungen wie die, Hitler habe sich selbst am Blutbad in der „Nacht der langen Messer“ beteiligt (S. 234 „zum Teil auch selbst ausgeführten Blutbad“), oder durch die Verwendung von Opernzitaten wie „Um neu zu schaffen seine Wunderkraft“: die des germanischen Volkskörpers durch das Rassereinheitsgebot.

Ein Triptychon stellt ein dreiteiliges Gemälde dar, dessen Mittelteil meistens doppelt so groß ist wie die beiden Flügelteile. Hans Rudolf Vaget will sein Buch als ein Triptychon gesehen haben, stellt in die Mitte desselben aber die im Vergleich zu den Brocken Hitler und Thomas Mann und ihrem Wagnerbild den von Hans Knappertsbusch 1933 initiierten Protestbrief Münchens gegen eine auf Wagner gehaltene Rede des deutschen Dichters und geht dabei nicht über das bereits Bekannte hinaus. Vielleicht um dem auch rein quantitativ schmalen Mittelteil mehr Gewicht zu verleihen, weitet er das Thema am Anfang und am Schluss des Kapitels auf eine allgemeine Verdammung der mangelhaften Entnazifizierungsarbeit der Bundesrepublik und die Verdammung der „Künstler, die dem Naziregime gedient hatten“ aus und zählt zu diesen pauschal alle, die Deutschland nach der Machtergreifung nicht verließen. Knappertsbusch hat es ihm dabei besonders angetan, weil „der Dirigent sich das Ansehen… eines Unbelasteten zu geben wusste“. Obwohl bei der Beweisführung für oder gegen einen Künstler Angaben von Nazis zu Recht streng hinterfragt, ja in Frage gestellt werden, übernimmt Vaget in diesem Fall kritiklos die Aussagen des 1936 amtierenden Münchner Generalintendanten und SS-Manns, der den Dirigenten wegen angeblicher fachlicher Mängel seines Postens enthob, und schenkt dem Geschassten, der mehrfach mit abfälligen Äußerungen über Hitler viel riskiert hatte, in seiner Beteuerung, es habe sich um eine politische Reglementierung gehalten, keinen Glauben. Unkritisch in seiner Interpretation eines Telegramms, das vielleicht nie abgeschickt wurde und in dem Knappertsbusch um eine Audienz bei Hitler nachsucht, ist er ebenfalls, denn er spekuliert lediglich darüber, warum Knappertsbusch den „Führer“ habe sprechen wollen. Belegt allerdings und damit zu Recht erwähnungswürdig ist die Vokabel „Judengesindel“ in einem Brief des Dirigenten.

Anlass für den Protestbrief ist ein Vortrag Thomas Manns in der Münchner Universität, in dem er Wagner unter anderem „Dilettantismus“ vorwirft, allerdings in einem Zusammenhang und in einer Bedeutung, dass darin keine Verunglimpfung zu sehen ist. Knappertsbusch und mit ihm viele andere Musiker wie Pfitzner und andere Intellektuelle sahen das anders und schrieben besagten Protestbrief, nicht ohne auf ein den Nazis verwandtes Vokabular zu verzichten. Vaget steht nun einer Zustimmung des Lesers zu seiner Verdammung des Vorhabens selbst im Wege, indem er maßlos übertreibt, wenn er vor einer „Denunziation“ spricht ( der Text der Rede war allgemein bekannt), indem er behauptet, damit habe Knappertsbusch den Dichter aus Deutschland vertrieben (dieser selbst sah sich dadurch in seinem Plan einer Emigration nur „befestigt“, erst später änderte er seine Meinung), und indem er schreibt: „Unbeabsichtigt, aber nicht ganz ungewollt“ (Unterschied?) „machte sich Knappertsbusch somit zum Handlanger des Vernichtungswillens der Nazis“ (S.300). Thomas Mann bezeichnete den Dirigenten mehrfach als „Esel“, so macht er sich selbst zum Zeugen dafür, dass dieser so naiv sein konnte, in der Rede über Wagner tatsächlich eine Verunglimpfung des von ihm hoch verehrten Genies zu sehen , dass er sie sogar als solche ansehen musste. Das Kapitel wird mit vielen mehr oder weniger aufschlussreichen Stellungnahmen aus der damaligen Zeit aufgefüllt, bleibt aber doch eher ein Beitrag zu einem Spezialthema für eine Fachzeitschrift als ein gleichwertiger Teil des Buches, gar der Mittelteil eines literarischen Triptychons. Dazu wird es auch nicht durch den Untertitel „Eine deutsche Karriere“, der nahelegt, „deutsche Karrieren“ ließen sich nur durch Denunziation bewerkstelligen, was selbst durch ein schwülstig klingendes „signalhaftes Ereignis von mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung“ wie den Protestbrief nicht bewiesen wird. Übrigens hat München, wie der Verfasser meint, nichts aus der Vergangenheit gelernt, sonst hätten nicht 2 (in Worten zwei) ablehnende Leserbriefe zu einem ähnlich gearteten Artikel in der SZ noch in jüngerer Zeit von der verdächtigen Unbelehrbarkeit der Bewohner dieser Stadt gezeugt.

Der dritte Teil des Triptychons ist Thomas Mann und seinem Verhältnis zu Wagner gewidmet, wobei zunächst auf die fiktionale Literatur, danach auf theoretische Schriften des deutschen Dichters eingegangen wird. Natürlich bleibt auch hier Hitler nicht unberücksichtigt, so wenn der Verfasser feststellt, dass dieser Wagner verfallen war, während  Mann, da im Unterschied zum Diktator aus gefestigten großbürgerlichen Kreisen stammend, seinem Zauber widerstehen konnte, Hitler der „gewissenlose Ästhet“ blieb, während Mann zum Kritiker wurde.

Es bedarf fundierter Kenntnisse, um nachprüfen zu können, ob die Behauptungen über Der kleine Herr Friedemann, Tristan, Wälsungenblut und Dr. Faustus zutreffend sind, aber zumindest in Bezug auf die Buddenbrooks irrt der Autor, wenn er meint, der Letzte der Familie , Hanno, wäre durch Wagners Musik zum lebensuntüchtigen Schwächling geworden. Er wird bereits als solcher geboren und flüchtet sich deswegen in die Welt von Wagners Musik. Das wird im Roman sehr klar herausgearbeitet, wenn bereits das Neugeborene als kaum lebensfähig erscheint und bei der Taufe über das schlechte Aussehen des Täuflings spekuliert wird. Abgesehen von diesem Irrtum oder dem, König Heinrich I. den Kaisertitel zu verleihen, erfreut dieser Teil des Buches durch eine ausgewogenere Darstellung, wird auch besonders interessant durch den Konflikt mit dem Schwiegervater Pringsheim wegen der Novelle Wälsungenblut und darüber ob diese antisemitisch sei oder nicht. Stellenweise gibt es aber auch hier Zeichen der Verbitterung des Autors über eine mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit durch die Bundesrepublik, wenn dieser in der Umwandlung der typisch jüdischen Namen in „arische“ bei der Verfilmung von Wälsungenblut 1965 durch Rolf Thiele einen Beweis dafür sehen will, während eher die Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus bei Beibehaltung der Namen zu erwarten gewesen wäre. Vaget hingegen sieht darin einen Akt der „Arisierung“ und den „Geist einer kompromisslerischen und vertuschenden Vergangenheitspolitik…in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Ganzen“.

Bitterböse war Thomas Mann wohl über seinen Bruder Heinrich wegen dessen Beschreibung eines Lohengrin-Besuchs von Diederich Heßling im Untertan. Vaget zieht daraus den Schluss: „Damit wird dem Leser suggeriert, dass in dem Deutschland Wilhelms II. dieselbe politische Misere und Zurückgebliebenheit herrscht wie in Wagners Oper über den tragisch-glücklosen Gralsritter“. Naheliegender dürfte sein, dass Heinrich Mann damit den wilhelminischen Untertanen bloßstellen wollte, der auf Lohengrin nur seine eigenen primitiven Machtphantasien projiziert und damit das Werk gründlich missversteht.

Nach den Romanen und Novellen, die sich mehr oder weniger mit Wagner befassen, betrachtet Vaget die theoretischen Schriften Thomas Manns über Richard Wagner, angefangen vom Vortrag „Leiden und Größe Richard Wagners“ vom Februar 1933, über die Rede zur Aufführung des Ring in Zürich, den Artikel „Bruder Hitler“ von 1938, in dem Hitler als letzte Figur der Ur-Renitenz, die die Geschichte der Deutschen, Luther wie die Befreiungskriege gegen Napoleon umfassend, beschrieben und ganz nebenbei den Deutschen auch die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zugeordnet wird.

Unversöhnlich geht Vaget auch mit den Wagnerenkeln („die auf Hitlers Schoß gesessen haben“) um, und unterstellt Wieland, er habe Bloch und Adorno nur als Aushängeschild eines angeblich neuen Bayreuth benutzt. Den Abschluss des Buches bilden Kapitel über das Wagnerbild von Peter Viereck und das Wirken des Bühnenbildners Preetorius in Bayreuth. Als Voraussetzung für ein Leben mit Wagner stellt der Verfasser schließlich die Bedingung, dass Hitler nicht aus der Wirkungsgeschichte Wagners in Deutschland ausgeklammert wird.

Das Buch ist eine bewundernswerte Fleißarbeit, der man gewünscht hätte, dass sie zu einem ausgewogeneren Ergebnis geführt hätte. So aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass am Anfang die vorgefasste Meinung stand und danach mit Akribie nach allem gesucht wurde, was  einmal aufgestellte Thesen unterstützt.   

Übrigens: Gibt es auch einen positiven Rassismus? Und könnte ein Ausspruch wie der von den Juden als der „vermutlich genieträchtigsten Rasse“ (S. 241) einen solchen offenbaren (Fischer Verlag 2017/ 560 S./ ISBN 278 3 10 397244 3)? Ingrid Wanja         

Philip Gossett

 

Bereits am 13. Juni 2017 starb in Chicago mit Philip Gossett einer der herausragenden Musikwissenschaftler der Belcantoszene im Alter von 75 Jahren. Geboren 1941 in New York widmete sich Gossett in erster Linie den Opern von Rossini, auch seine Doktorarbeit war 1970 diesem Komponisten gewidmet. Neben kritischen Ausgaben der Opern Rossinis, aber auch der von Verdi, hat sich Gossett auch mit den beiden anderen berühmten Belcantovertretern Donizetti und Bellini beschäftigt – 1985 ist sein Buch „Anna Bolena und die künstlerische Reife von Gaetano Donizetti“ erschienen. Gossett war emeritierter Professor an der Universität von Chicago. Durch seine Kenntnis und seine Begeisterung für das Opernschaffen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Gossett durch seine zahlreichen Vorträge und Publikationen für Jahrzehnte wesentlich dazu beigetragen, der davor vernachlässigten Musik der Belcantozeit mehr Aufmerksamkeit und Verständnis entgegenzubringen. (Quelle Donizetti Gesellschaft Wien/ Foto oben: Philip Gosset/ operawire)

 

Und Ricordi, die auch der Verlag für Rossinis Opern sind, schreibt: The death in Chicago earlier this month of the musicologist Philip Gossett at age 76 marked the loss of one of the most influential scholars of Italian opera of the last half century. His untiring, groundbreaking work on the rediscovery and restoration of the operas of Rossini and Verdi left an indelible mark on modern performances and on the understanding of this repertory, while his high standards of scholarship and passionate involvement in opera production inspired a generation of younger scholars to embrace the critical study of Italian opera. Although in failing health in recent years, he remained actively engaged with the work of his colleagues on Verdi and Rossini operas.

As a doctoral student at Princeton university in the 1960s, Gossett surprised his professors (as he enjoyed relating) by choosing to specialize in 19th-century Italian opera. In those years, such repertory was not considered a suitable field for serious scholarly inquiry; better to concentrate on Beethoven or Brahms.  But Gossett’s intense research into the original musical sources of the operas of Rossini in archives throughout Italy and beyond led to his landmark dissertation “The Operas of Rossini: Problems of Textual Criticism in Nineteenth Century Opera” (Princeton 1970), a fundamental work that still serves as the benchmark for research on the music of that composer.

Even among Italian scholars, there was little interest in the study of 19th-century Italian opera when Gossett had undertaken his research: the distinguished tradition of Italian musicology had focused largely on the music of the Renaissance and the Baroque, and while some Italian publishers (notably Ricordi) had issued “revised and corrected” editions of a handful of operas during the 1960s, culminating at the end of the decade with the first score that (in the words of Friedrich Lippmann) could be considered to have “the artistic and scholarly requisites of a ‘critical’ edition” — Alberto Zedda’s Il barbiere di Siviglia of 1969 — there was nothing on the editorial horizon of Italian opera that approached the rigor and breadth of research that had characterized the great monumental editions dedicated to the work of German and Austrian composers.

Gossett’s arrival on the scene changed all that, and the intense investigative methodology and demanding standards he brought to the editions of the operas of Rossini (as General Editor of the critical editions published by the Fondazione Rossini of Pesaro) and later those of Verdi (as General Editor of the Works of Giuseppe Verdi, co-published by the University of Chicago Press and Casa Ricordi) “set the gold standard” (in the words of one of his colleagues) for such work. To discover that there was something amiss with the opera scores that had come down to modern performers was not, of itself, particularly novel. What was revolutionary, and what generated enormous interest, was the scholarly rigor, the passion and excitement, the engagement with performers, that a scholar like Gossett brought to the field. Today it is barely imaginable that major interpreters or opera companies would want to perform this repertory from the older, adulterated materials. Such was not the case fifty years ago.
In another time and place, scholarly editions of this repertory might have remained academic experiments, with little relevance to modern performances. But Gossett’s intense dedication to the scholarly reexamination of 19th-century Italian opera coincided with the interest that Casa Ricordi, the main publisher of this repertoire, had in relaunching these works in reliable texts. As Gossett recalled in the preface to his 1985 book ‘Anna Bolena’ and the Artistic Maturity of Gaetano Donizetti: “It was at Casa Ricordi that I first studied intensively autograph manuscripts of 19th-century Italian operas. The firm remains a commercial publisher, to be sure, and its employees are primarily concerned with supplying materials to performers, conductors, and opera houses. Yet their love of these documents, their fascination with the problems they pose, and their own skill at deciphering their meaning were crucial to the development of my awareness of what could be learned there.” The fortunate confluence of these complementary ideals — a music publisher wishing to provide scholarly editions of a historically important part of its repertory, and a scholar eager to reassess the works of two of the fundamental composers of that repertory — produced one of the most significant editorial collaborations in memory. The ideals and standards adopted for the Rossini and Verdi editions would later inspire Ricordi’s critical-edition series of the operas of Donizetti and Bellini as well (Gossett served on the editorial boards of both). Gossett was an advisor to Casa Ricordi on many editorial projects over the course of four decades; in its scholarly relaunch of 19th-century opera repertory, Ricordi benefitted immeasurably from the authoritative oversight and boundless promotional energy of professor Gossett.

Over a forty-year career at the University of Chicago, the range of Gossett’s publications or editorial collaborations went well beyond Rossini and Verdi. His capacity for work was legendary — dawn-to-dust workdays were the norm. The bookshelves in his study were filled with recent publications on Italian opera, and as musicologist Hilary Poriss once remarked, upon viewing the collection, Gossett had played some role in nearly every volume, as either author, co-author, contributor, or editor. “You really can’t talk about Italian opera” she said, “without coming across something he has laid the groundwork for.”

Gossett’s involvement in the restoration of operas, or of forgotten alternate versions or arias, provided not only fascinating material that allowed other scholars to reassess their understanding of opera history, but also captured the imagination of the broader, opera-loving public. His role in the late 20th-century rediscovery of the “neglected repertory” of Rossini — his serious operas – was fundamental. In recognition of such contributions he was the first music scholar to receive the Mellon Distinguished Achievement award, and the Italian government awarded him the distinguished honorific of Cavaliere di Gran Croce.

Gossett’s efforts toward gaining adherents to the cause of adopting critical editions for performance was in many ways as important as his painstaking scholarly work. Conductors like Riccardo Muti and Claudio Abbado, and singers like Marilyn Horne, Renee Fleming, Cecilia Bartoli and Samuel Ramey, became enthusiastic adherents to the cause. Gossett also served as advisor for numerous opera productions in America and in Europe. “When the public sees an opera,” Gossett once said in an interview, “they just assume that it’s all straightforward, but it’s not. Every singer makes countless decisions: Should I sing just the notes that are written? Should I ornament this? Do I need a cadenza at this point? Critical editions put all options on the table, allowing performers to make more informed choices about their roles.”

As an indefatigable and passionate participant of “discussions with the audience” at opera festivals and theater seasons, often presenting musical discoveries in the context of engaging “lessons” at the piano, Gossett won over myriad opera fans to the importance of research. Alongside his many scholarly publications were countless program notes, essays for LPs albums or DVD booklets. One cannot overstate the influence of Gossett’s work on the study of 19th-century opera today. Gabriele Dotto (Quelle Ricordi USA)