Pioniere, Stars und Experimente

 

Musique d’abord heißt seit vielen Jahren eine Reihe, in der harmonia mundi zu günstigen Preisen und mit einem auf das Minimum reduzierten Beiheft ältere Aufnahmen wieder veröffentlicht. Nun sind drei frühere Einspielungen mit Countertenören wieder neu aufgelegt worden, die mit ganz unterschiedlichen Programmen und Ansätzen einen Blick zurück ermöglichen. Alfred Deller (1912-1979) war als früher Countertenor auch ein Entdecker und Pionier, der ein Repertoire zurückeroberte. Er widmete sich in den 1950ern und 60ern englischer Renaissance-Musik und forschte an Aufführungspraxis und Stilistik. Benjamin Britten schrieb für ihn die Rolle des Oberon in „A Midsummer Night’s Dream“. 1954 empfahl ihn Gustav Leonhardt an das Label Vanguard, wo er über 50 LPs einspielte, die auch heute noch auf mehreren CD-Boxen erhältlich sind (Note 1 Musikvertrieb). 1967 kam harmonia mundi auf ihn zu. Die hier vorliegende Aufnahme kam zuerst 1969 auf den Markt, also relativ spät in der Karriere des Sängers, und zeigt Deller als Könner des reifen Ausdrucks zwischen Poesie und Melancholie. „O Ravishing Delight“ beinhaltet englische Lieder aus dem 17. Jahrhundert, u.a. von John Dowland, Thomas Campion, John Bartlett, Philip Rosseter, John Blow, Jeremiah Clarke, John Eccles, William Croft, Pelham Humfrey und Daniel Purcell, dessen „O ravishing delight!“ auch titelgebend war. Vier Musiker begleiten den Sänger mit Flöte, Laute, Viola da gamba und Cembalo. Aufnahmetechnisch ist der Einspielung ihr Alter anzuhören, es fehlt ihr eine gewisse Frische. Wen dieses Repertoire interessiert, der kann als Ergänzung und zum Vergleich bspw. Andreas Scholls Englische Folksongs und Lautenlieder (1996, ebenfalls Harmonia Mundi) oder die Aufnahme mit Lieder von Purcell, Matteis und Dowland von Valer Sabadus (To touch, to kiss, to die, 2013 bei Oehms Classics) heranziehen. (HMA 190215)

Ganz andere Wege beschritten drei Countertenöre 1995, die sich vom barocken Repertoire emanzipieren und ihre stimmlichen Fähigkeiten an untypischen Werken beweisen wollten. Auf der CD Les contre-ténors / The countertenors präsentieren Pascal Bertin, Andreas Scholl und Dominique Visse ein Mini-Programm von knapp 35 Minuten. Sie singen zusammen „O sole mio“, „Maria“ aus der West Side Story und Donizettis „Una furtiva lagrima“ sowie einzeln Carmens Habanera“ und Dowlands „White as lilies“ (Scholl), Massenets „Pleurez, mes yeux“ aus Le Cid und „Je suis gris“ aus Offenbachs La Périchole (Visse) sowie Dalilas „Réponds à ma tendresse“ und „My way“ (Bertin). Man spürt die Freude der Sänger, deren Hingabe und auch die Ironie der Interpretation, alle drei Sänger lachen herzlich auf dem Cover, das Augenzwinkern ist bei manchen Stücken hörbar. „O sole mio“ zu Beginn ist kein einfacher Einstieg in die CD, manches mag ein wenig abgedroschen wirken, anderes ist verblüffend und überraschend, das Engagement stimmt stets. Das Ergebnis ist eher für die Fans und Kenner, weniger für die Verächter oder Gelegenheitshörer prädestiniert. (HMA 1901552)

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Barockrepertoire und Countertenöre im Mainstream der Klassik-Fans angekommen, zahlreiche CDs mit Ariensammlungen liegen bspw. von aktuellen Stars wie Philippe Jaroussky, Max E. Cencic, Valer Sabadus oder Franco Fagioli vor. Ombra Cara war 2010 eine Aufnahme (damals mit Bonus-DVD) mit Händel-Arien von Behun Mehta, die auch heute noch auf dem unübersichtlichen Markt bestehen kann. Mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester hat Mehta hochkarätige Begleitung, das Medley umfasst eher weniger bekannte Arien aus neun Opern aus allen Phasen von Händels Leben (Rodrigo, Agrippina, Amadigi, Radamisto, Rodelinda, Riccardo I., Tolomeo, Sosarme und Orlando). Auch heute noch eine interessante Zusammenstellung, die sehr gut musiziert und von Mehta ausdrucksstark modelliert wird. (HMA 1902077) Marcus Budwitius