Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Backstage

 

 Welturaufführung der Rosa Dolorosa, figlia di Pompei von Vittorio Bazzetti! Wegen dieser Sensation wird die Musikwelt den Atem anhalten und einen Abend lang auf die amerikanische Stadt im Mittleren Westen blicken, in deren Opernhaus die verspätete Rettung des 1835 komponierten Werkes erfolgt. Um Rosa Dolorosa dreht sich alles in Jake Heggies neuester Oper. Great Scott ist ein Ausruf der Verwunderung, etwa „mein Gott“, meint aber ebenso die große Diva Arden Scott des Librettos, die von der noch größeren Joyce DiDonato kreiert wird.

Ob in Terrence McNallys Text alles so vieldeutig lustig wie der Titel ist, lässt sich schwer nachprüfen: der Mitschnitt dieser Uraufführung (Erato 2 CD 0190295940782) verweist im Beiheft mit der ausführlichen Inhaltsgabe zwar auf das Libretto unter www.erato.com, dort konnte ich es allerdings nicht aufspüren. Sicher mein Fehler. Was wird hier eigentlich uraufgeführt, Rosa oder Great Scott? Der Reihe nach. Great Scott erzählt die Heimkehr der Diva Arden Scott, die sich in ihrer Heimatstadt endlich mit einem  Star-Vehikel vorstellen will. Dafür ausgewählt wurde die besagte Rosa Dolorosa, die in den Mariinsky-Archiven aufgespürt wurde. Ein hübscher Seitenhieb auf die immer neue, unbekannte Werke zu Tage fördernde Belcanto-Manie sowie Bartoli und deren „St. Petersburg“-Ausgrabungen.

Vor allem ist Great Scott, „eine originale amerikanische Oper“, denn, so  McNally, „Sie geht auf nichts zurück“, meint, kein vorhandenes Libretto. Weg von den amerikanischen Themen, wie sie Heggie in Dead Man Walking (San Francisco 2000), wofür ihm McNally das Libretto geschrieben hatte, und Moby Dick (Dallas 2019) kultiviert hatte. Endlich konnte McNally  (u.a. Masterclass, The Lisbon Traviata) frei seiner Leidenschaft für die Oper frönen und eine typische Hinterbühnen-Konstellation erschaffen, wie man sie von Donizettis Le convenienze ed inconvenienze teatrali oder den Backstage-Musicals kennt. Wie dort spielt der  Großteil während der Proben zu Rosa Dolorosa, was zu so hübschen Szenen wie „Vesuvio, il mio unico amico“ und „La mia schiava prigioniera!“ führt, aber im Duell Super Bowl gegen Oper den Fokus auch auf die amerikanische Kultur im Allgemeinen  richtet. Winnie Flato, Leiterin des Unternehmens, kämpft ums Überleben ihrer Kompagnie, das wesentlich vom Erfolg der Premiere abhängt. Ebenso wie die Zukunft der Fußballmannschaft ihres Ehemanns vom Ausgang des Super Bowl am gleichen Abend. Die Nerven sind folglich angespannt. Arden befindet sich am Scheidepunkt ihrer Laufbahn, was ihr durch die Gegenwart Tatyana Baksts bewusst wird, der aufstrebenden Sopranistin aus Osteuropa. Alles und noch viel mehr gibt es In Great Scott. Bühnenunfall, Probleme mit dem „Brunnentanz“, Geplänkel zwischen dem Dirigenten und dem Bühnenmeister, den Barihunk, der gerne sein T-Shirt auszieht, im Personenverzeichnis beschrieben als „a handsome man who wears his matinee idol title proudly and earns his Don Joan reputation daily“ (Michael Mayes), Diskussionen über den Wert solcher Ausgrabungen und die Absurditäten des Genres an sich, die üblichen Bühnen-Witzeleien und Insider-Jokes, Erinnerungen von Arden und Winnie an zurückliegende Erfolge, Ardens Wiederbegegnung mit ihrem einstigen Freund Sid Taylor, dessen kleiner Sohn Tommy eine Sprechrolle in der Oper hat, bis hin zum Geist des Komponisten, also Bazzettis nicht Heggies, der Arden auffordert, sich auch für moderne Werke einzusetzen (“When did you start living in the past and stop living now?”). Arden triumphiert – „Si, son io“ ist eine großartige Persiflage und Anverwandlung der Belcanto-Floskeln – erfährt aber, dass Bakst in der neuen Rosa-Produktion in Venedig sowie in der modernen Oper singen werde. Großmütig gibt sie der jungen Rivalin ein paar Ratschläge mit auf den Weg. Das rosenkavaliert stark. Statt des Terzetts gibt es übrigens ein Quartett. Nun fehlt nur noch das auf der Bühne zurückgelassene Taschentuch. Aber, wie heißt es in der  Inhaltsangabe:  Arden bleibt allein auf der Bühne  zurück und, „Tommy eilt herbei. Er hatte sein Skateboard vergessen. Arden geht hinter ihm her“.

Jake Heggies Oper „Great Scott“ an der Dallas Opera 2015/ Szene mit Nathan Gunn, Joyce DiDonato und Frederica von Stade/ Foto Dallas Opera/ Karen Almond

Das ist mir alles etwas zu findig und gewollt, zu beziehungsreich kompiliert und wirkt als modernes Pasticcio und adrette Backstage-Opera auf der Bühne gewiss überzeugender als auf der CD, wobei auch hier in allen Szenen sofort die umwerfende Präsenz von Joyce Didonato zu spüren ist, die mit breitem und starkem Ton die an ihre eigene Biografie angelehnte Arden Scott singt. Um sie herum ein prominentes Ensemble mit der gepflegt und elegant singenden Frederica von Stade als Opernmanagerin Winnie, Ailyn Pérez als Ardens Konkurrentin Tatyana Bakst, welche die Fußballmannschaft mit ihrer reich verzierten Version von „The Star Spangled Banner“ beglückt, Nathan Gunn als solider Sid, der brillante Countertenor Anthony Roth Costanzo als intensiv-geschäftiger Bühnenmanager, Kevin Burdette als Dirigent Eric Gold. Heggies Oper über die Oper ist eine lustvolle Komödie. Wie  gute Musicals bietet Great Scott eine gekonnt berechnete Mischung aus Ernst und Komik und Melancholie. Eine Mischung aus rezitativlastigen Ensembleszenen, die Heggie mit dem viel überzeugender gelungenen Pathos der auf der Bühne geprobten Belcanto-Oper verblendet bzw. kontrastiert, und solistischen Bravournummern wie die finale Pseudo-Donizetti- Cabaletta „Io sola posso salvare Pompei“. Heggie, dem heute meist aufgeführten zeitgenössischen Opernkomponisten Amerikas, fließt das alles so zwanglos aus der Feder wie das zusammengeklaubte Sextett „I couldn’t possibly“, doch wirklich originell ist der Stilmischmasch nur gelegentlich. Patrick Summers, Orchestra and Chorus der Dallas Opera und das vorzügliche Ensemble kämpfen gegen die Längen der beiden Akte mit 78 bzw. 77 Minuten Spielzeit an. (Aber immerhin gibt es in den USA – anders als bei uns – diese vielen publikumsfreundlichen, „hörbaren“ zeitgenössischen Opern neukomponiert die, wie in Dallas, für ausverkaufte Häuser sorgen… G. H.)  Rolf Fath            

Hanna Ludwig

 

Mit Hanna Ludwig, eminente Gesangspädagogin, ehemalige Professorin am Salzburger Mozarteum, berühmte Mezzospranistin und Liedersängerin von Gnaden, habe ich eine geliebte Freundin verloren. Am 10. 1. 1918 wurde sie geboren – und zum Hundertjährigen möchte ich sie noch einmal ehren. Sie starb bereits 2014 (am 10. 3. laut Grabstein auf dem Waldfriedhof im bayerischen Traunstein) , aber wir hatten ihren Tod in operalounge.de damals nicht gewürdigt. Was mich grämt. Denn diese große, ebenso charmante wie ernsthafte Frau verdient auch bei uns einen Nachruf, eine Würdigung für die lange und tiefe Freundschaft, die wir miteinander hatten, und für die Spuren lassende Tätigkeit am Mozarteum und später als private Lehrerin im reizenden, geheimnisvollen und hochindividuell mit Curiosa gefüllten Haus in der Hegigasse Nr. 7, wo ein klarer Bach durch den Garten murmelte und ein Garten-Pavillon zum Schreiben und Verweilen einlud. Festspielgäste machten gerne den Weg über den Mönchsberg zu ihr oder zurück. Gäste schliefen wie im Paradies ebenerdig neben dem geschmackvoll-persönlich eingerichteten Salon. Stets abends mit einem Zettel auf dem Kopfkissen, der eine Lebensweisheit aus Indien oder Asien enthielt. Und nachts gaben der Kühlschrank und die gut bestückte kleine Kammer unter der Treppe Alkoholisches vom Besten preis.

Hanna Ludwig: Bewegungsunterricht in der Hegigasse 7/ Ludwig

Hanna Ludwig: Bewegungsunterricht in der Hegigasse 7/ Ludwig

Ach Hanna! Wenn sie anfing: „Bub´, schau mal…“ begannen Unterhaltungen ohne Ende, gab es bilderreiche Erzählungen von Auftritten in Bayreuth, in Asien und Arabien (wohin sie ihr Herz  verloren hatte und von ihren Schülern als „meine Kinder“ sprach), in beiden Amerikas und der Welt. Diese Liederabende! Um den ganzen Globus. Die schreckliche Geschichte, als sie nach einem Sturz stundenlang bewegungslos gelähmt in einem Moskauer Badezimmer lag und keine Hilfe kam. Da aktivierte sie ihre machtvollen spirituellen Kräfte, ihr Über-Ich, denn sie glaubte fest an diese esotherische Alternative des materiellen Seins.

Hannas Gesangskarriere wurde, nach Glanz in Düsseldorf, Bayreuth und den Häusern der Welt, jäh durch einen Überfall beendet, bei dem sie gewürgt wurde und die Gesangsstimme verlor. Aber als Pädagogin erklomm sie ganz andere Gipfel, hatte einen weitreichenden Namen für ihr Reparieren von angegriffenen Stimmen, auch solche mitten in einer Karriere. Marilyn Horne war bei ihr zu Gast, die Namensschwester Christa Ludwig suchte ihren Rat ebenso wie viele, viele andere renommierte Sänger. Ähnlich wie ihre – von mir ebenfalls langjährig geliebte – Berliner Kollegin Ira Hartmann-Dressler kannte sie das Geheimnis, wie man Stimmen wieder aufbaut, festigt, repariert. Und ihre Schüler – Diana Damrau ist eine davon – profitierten von ihrem reichen Wissen.

Hanna Ludwig in ihrem Salzburger Garten, rechts Geerd Heinsen/Foto GH

Wer Hanna Ludwig kannte, weiß, dass man sie nicht mit wenigen Worten beschreiben kann – Hanna war ein Gesamterlebnis. Ihre ungebrochene Art, ihre unverblümte  Redeweise,  ihre mannigfaltigen Interessen, ihre unüberwindlich positive Einstellung zum Leben machten sie zu einem der ungewöhnlichsten Menschen,  denen  ich begegnet bin. Sie war gütig, stets freundlich, liebevoll, mitteilsam und immer an dem interessiert, was einen bedrückte oder durch den Kopf ging,  am  Lustig-Guten ebenso wie am weniger Lustigen, eben eine mütterliche Freundin, ein mentaler Sparring-Partner, eine Therapeutin  (Dieses  Porträt  wird   offensichtlich  eine  Liebeserklärung!).

Ich habe viel mit ihr gesprochen und in der Salzburger Hegigasse 7 oft bei ihr gewohnt – das Alter schien ihr lange nichts anzuhaben, denn kaum jemand war wie sie so  tatkräftig-jung geblieben.  Wer sie mit  energischem  Schritt  und ebenso energischen Bewegungen sah, konnte sich kaum vorstellen, dass es 70 oder 80 oder mehr Jahre waren, die die im oberpfälzischen Lauterbach geborene Sängerin  für  sich  in  Anspruch  nehmen   konnte. So wie sie aus der Bewegung (und aus der meditativen Selbstversenkung) lebte, so wichtig  fand sie die Hilfestellung für Sänger, musikdramatischen Unterricht anzubieten; und die Zahl derjenigen, denen sie damit geholfen und deren Stimmen sie „repariert“ hat, ist Legion (und es  sind  berühmte Namen darunter).

Hanna Ludwig:Eboli/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig:Eboli/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig konnte auf eine interessante und bewegte eigene Karriere als   Altistin/Mezzosopranistin zurück blicken. Angefangen hat  sie  als Studentin bei der ebenfalls berühmten Mezzosopranistin Luise Willer und bei der Pädagogin  Franziska  Martienssen-Lohmann in Hamburg, bei Herbert Erlenwein und vor allem auch bei Rudolf  Hartmann.  Ihr erstes Engagement führte sie als 1. dramatische Altistin nach Koblenz, dann nach Freiburg; sieben Jahre  war sie Solistin bei den Bayreuther Festspielen unter so eminenten Dirigenten wie Knappertsbusch, Keilberth, von Karajan, Sawallisch u. a. und im Kreise illustrer  Kollegen. In diese Zeit fällt auch ihr  Festengagement an der Deutschen  Oper am Rhein, Düsseldorf, und an den Städtischen Bühnen Köln. Zudem führten sie schon früh in ihrer Karriere begonnene Liederabende – denn sie galt als eine der klassischen Vertreterinnen des vor allem deutschen Liedes – nach  Persien und Indien, nach Hong-Kong, Sri Lanka, Thailand, Malaysia, Burma, auf die Philippinen, nach Japan und Amerika (beide). Ihre Opernengagements folgten als Einzelverpflichtungen oder als Gesamtgastspiele dieser Route, namentlich ihre Auftritte mit der Wiener Staatsoper, den Salzburger Festspielen, der Mailänder Scala, dem Fenice in Venedig, dem Liceo in Barcelona, in Amsterdam, Dublin, Zürich, Genf unter Dirigenten von Solti bis Sawallisch, von Kempe bis Klemperer.

Hanna Ludwig und Indira Ghandi 1957/ Foto Roland Ropern Archiv/ Sammlung Hanna

Hanna Ludwig und Indira Ghandi 1957/ Foto Roland Ropers Archiv/ Sammlung Ludwig

Rundfunk- und Fernsehaufnahmen,  (weitgehend Live-) Schallplatten  zeugen von einer ebenso reichen wie bewegten Tätigkeit in buchstäblich jedem wichtigen Musikzentrum der Welt. Wobei sie nicht wirklich reichlich auf Dokumenten vertreten ist – Melodram hatte mal ein Klappalbum von ihr herausgebracht mit Auszügen aus ihren Bayreuth- und Rundfunkauftritten (Rheingold, Walküre, Parsifal); Gala hatte ihre Schanktochter in den Königskindern neben Peter Anders veröffentlicht, Walhall ihre 3. Dame in der Zauberflöte unter Keilberth,  Adelaide neben Anny Schlemms Arabella und ein Meermädchen im Oberon erneut unter Keilberth; bei EMI gibt es Eine Nacht in Venedig unter Ackermann, bei DG die Stimme der Mutter in Hoffmanns Erzählungen sowie darin auch, nun bei BNF, Giulietta neben William McAlpine. Ein Blick zu Amazon zeigt sie in den vielen kleinen Partien, in denen sie überliefert ist, ihre wichtigen Rollen fehlen.

Hanna Ludwig: Orpheus/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig: Orpheus/ Sammlung Ludwig

Ab 1968 zog sie sich von der Bühne zurück und konzentrierte sich auf ihre immer stärker  werdende Lehrtätigkeit, für die sie sich einen immer bekannter werdenden Namen gemacht hatte. Sie wurde Professorin am Hindemith-Konservatorium in Ankara für Gesang und musikdramatische Darstellung, Professorin und Leiterin künstlerischer Ausbildungsklassen am prestigereichen  Mozarteum in Salzburg, dort zur Hochschulprofessorin ernannt und später emeritiert. Sie weitete dann ihre Tätigkeit wiederholt auf die Philippinen aus, wo sie in Manila über Jahre Meisterklassen  abhielt (und dort ebenfalls hochgelobt wurde – überhaupt konnte sie mit ihren Ehrenauszeichnungen einen ganzen Schrank füllen, nicht zu vergessen den beeindruckenden  Orden eines indischen Maharadschas in Form eines kostbaren Ringes, den wir unter Gelächter hinter dem Kühlschrank in der Küche hervorfischten – was für ein Brummer). Sie arbeitete als Pädagogin in Hong-Kong, an der Vadstena Akademie in Schweden, in Oslo und Esverum in Norwegen, erneut wiederum in Salzburg am Mozarteum, bei der Jury der Herbert-von­-Karajan-Stiftung in Salzburg und mit großem Erfolg mit Meisterklassen, so bei der Richard­-Strauss-Stiftung und des Münchner Tonkünstler­Verbandes.

Hanna Ludwig: am Klavier in der Hegigasse 7/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig: am Klavier in der Hegigasse 7/ Foto Lindner/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig war ein Gesamterlebnis. Wer noch das Glück gehabt hatte, ihre nachdrücklichen   Bühnenfiguren zu erleben – vom elegant-frechen Octavian über eine ungewöhnliche Carmen,   Clairon, Fricka oder Brangäne bis hin zur gespenstischen Gräfin in Pique Dame und vielen anderen Rollen (nicht zu vergessen ihre Kundry) -, dem  kam der Übergang zur intensiven, Gesamtkunst-Werkliches anstrebenden Pädagogin gar nicht so verschieden vor. Hanna Ludwig legte immer schon, namentlich als Sängerin selbst,  größten Wert auf die Umsetzung des Wortes in die musikalischen Valeurs, auf die exemplarische  Diktion, auf einen wirklich erfüllten und erfühlten Gesang  (der auf einer perfekten Technik basieren muss). Der  beste Weg, eine Stimme zu entfalten, ging für sie über die Psyche. Wie sie in einem  früheren  Interview sagte: „Der stimmliche   Entwicklungsprozess  ist ein organischer Wachstumsvorgang und greift tief in den menschlichen Bereich. Singen ist mehr als nur  Stimmproduktion.  Aus Stimmbesitzern müssen Sänger und aus Sängern dann Sängerdarsteller werden, d.h. Künstler. Die Kunst, vor allem der Dienst an der Kunst, muss im Mittelpunkt stehen. Nur durch unbedingte Hingabe an die Musik, durch hohe Disziplin und ständig neue geduldige Lernbereitschaft können die jungen Sänger  vorwärts kommen. Lust und Liebe zum Theater müssen die Grundlage zu großen künstlerischen Taten sein. Schwung, Begeisterung  und  Mut sollen mittrainiert  werden! “  Wer konnte das besser als Hanna Ludwig!

Ach Hanna! Wie Du mir fehlst! Ich blicke auf das schöne Rötelportrait von Dir an meiner Wand der Diven und höre dein fränkisches Lachen, sehe Dich in Deiner großen Beweglichkeit durch den Garten rennen, sehe Dich in Ausgehuniform mit Turban auf dem grauen Kopf und der eleganten Seidenstola um die Schultern. Du fehlst mir, und nicht nur mir. Ruhe in Frieden. Du wirst geliebt. Geerd Heinsen

 

Hanna Ludwig: Probenarbeit rnit dem Tenor Timothy Jenkins für dessen ersten Parsifal an der Met 1983/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig: Probenarbeit rnit dem Tenor Timothy Jenkins
für dessen ersten Parsifal an der Met 1983/ Sammlung Ludwig

Und dazu ein historisches Gespräch mit der Gesangspädagogin Hanna Ludwig anlässlich ihres 80. Geburtstags – natürlich geht’s um´s Singen. Ein bisschen sehr ernst oder „humorlos“  vielleicht, ein bisschen sehr apodiktisch, aber sie war eben unbedingt in ihren Forderungen an sich selbst und ihre Schüler. Da gab es nichts Leichtfertiges. Und es hätte sie gefreut, ihre Ausführungen dazu noch einmal öffentlich selber vorzutragen.  

Nun also: Auf der Bühne warst Du wohl das, was man eine Vollblutkünstlerin nennt. Deine  Interpretationen des Octavian, des Orpheus, des Komponisten bleiben ebenso wie Deine  Carmen, Eboli , Brangäne, Ortrud oder Kundry unvergessen für alle, die Dich gesehen haben – wie ältere Operngänger immer wieder betonen. Konntest Du aus der großen Fülle Deiner  Erfahrungen als Bühnen- und Konzertsängerin eine bestimmte Lehrmethode entwickeln, oder gibt es bei Dir  keine sogenannte Methode? Ich möchte jedem Schüler den individuellen Weg zu seiner sängerischen und künstlerischen Selbstverwirklichung zeigen und habe für meine Lehrweise herausgefunden, dass der Weg zum Sänger und Sängerdarsteller am effektivsten über die Dreiheit sängerische Bildung (Stimmtechnik), Künstlerbildung und Persönlichkeitsbildung als Einheit führt. Zunächst möchte ich sagen, was ich unter sängerischer Bildung verstehe. Ich finde, die Überbewertung des Begriffes Technik sollte mehr zurückgenommen  werden, denn der Begriff Technik an sich ist leblos. Da der Stimmentfaltungs-Prozess  jedoch organischer Natur ist, müssen wir die sogenannte  Stimm-Technik musizierend  zum Leben erwecken . Die eigene innere Musizierfreude und Musizierleidenschaft muss spürbar und hörbar werden und auf den Zuhörer überspringen . Der ganze Mensch muss sich in der Präsenz, d. h. bewusst sängerisch-musikalisch und sprachlich zum Ausdruck  bringen.  Ich nenne es musizierende Technik .

Hanna Ludwig: Carmen mit Jess Thomas/ Sammlung Ludwig

Hanna Ludwig: Carmen mit Jess Thomas/ Sammlung Ludwig

Verbunden mit der musizierenden Technik ist die Sprache. Es liegt mir sehr daran, dass die Schüler Sinn und Eigenart der jeweiligen Sprache erkennen und erfassen. Am besten jedoch ist es, wenn sie sich in sie verlieben, dann verlieben sie sich auch in die Vokale und Konsonanten und gleichzeitig in die dazugehörige Musik. Das gilt natürlich nicht nur für die Oper, sondern vor allem auch für das Lied und das Oratorium. So wird die Begeisterung für die Sprache, verbunden mit der Musik, zur Kraftquelle und zum Animator der sängerischen und darstellerischen Aufgaben. Dies konnte ich besonders bei meinen Spezialkursen für das deutsche Fach erfahren, als ich die Solisten der National Opera Oslo für Meistersinger, Salome und Entführung sowie die schwedischen Sänger in Stockholm für Tannhäuser vorbereitete. Auch an der MET in New York, wo ich mit dem amerikanischen Heldentenor Timothy Jenkins stimmlich und darstellerisch die Partie des Parsifal erarbeitete, machte ich dieselbe Erfahrung: Je mehr ich den Sänger von seinen Sprachschwierigkeiten ablenkte und ihn in die Musizier- und Sprachfreude hineinlockte, desto besser gelang es mir, ihn für Wagner-Partien in Wort und Musik zu begeistern und ihm dadurch zum Erfolg zu verhelfen .

Eine große, wenn nicht die wichtigste Rolle spielt dabei die Kunst der Phrasierung. Jede  Phrase  muss voraushörend  erlebt und mit musikalischem Leben erfüllt werden. Phrasierung heißt also immer, in der Empfindung des permanenten Fortsetzens bleiben. Dadurch erneuert sich die Phrase in sich selbst, da sie jedem Ton immer wieder dieselbe Kraft innerhalb des musikalischen Ablaufes sichert. Dieser Vorstellung gleicht sich der Atemvorgang an, das heißt, er erneuert sich in der gleichen Weise. Souveräne Atembeherrschung heißt von der Überzeugung auszugehen, dass der Atem stetig und in unendlicher  Fülle  vorhanden ist, permanent zur Verfügung steht und jederzeit von der musikalischen Phrasengestaltung abgerufen werden kann. Um den großen Anforderungen unseres heutigen Musiktheaters gewachsen zu sein, muss also zur schönen Stimme und musikalischen Intelligenz vor allem auch der geistige Gestaltungswille hinzukommen. Nur aus diesem Zusammenspiel kann schöpferische Interpretation erwachsen, und damit haben wir  das Thema  Künstlerbildung  erreicht.

hanna Ludwig: "Rheingold" mit Elisabeth Schwarzkopf und Hertha Töpper

Hanna Ludwig: „Rheingold“ mit Elisabeth Schwarzkopf und Hertha Töpper/ Sammlung Ludwig

Wir wissen alle, was ein Künstler leisten soll, was von ihm erwartet wird, und dennoch – auch das wissen wir – ist es unendlich schwierig, einen Künstler heranzubilden. Man redet sich dann oft auf die mangelnde Persönlichkeit heraus  und  erklärt, die stimmlich-musikalische Begabung allein sei noch nicht genug . Aber wie kann man eine Persönlichkeit fordern, wenn man sie nicht vorher bildet? Singen muss mehr sein als nur Stimmproduktion. Die Kunst, vor allem aber der Dienst an der Kunst muss dem Lernenden eindringlich nahegelegt werden.  Nur durch  unbedingte  Hingabe an die Musik, durch Selbstdisziplin  und  ständig neue geduldige Lernbereitschaft kann der junge Sänger das nötige Rüstzeug erhalten, um sicher zu werden und erfolgreich zu sein. Wie leicht wird er sonst Opfer des zermürbenden  Konzert- und Theateralltags, wenn er ihm nicht das entgegenhalten kann, was den Künstler ausmacht – die Verantwortung: der Kunst, sich selbst und dem Publikum gegenüber.

Im Mittelpunkt muss also die Persönlichkeitsbildung stehen . Wenn  ich erwarte, dass  der  Künstler zwischen Kunstwerk und Publikum vermitteln soll, und wenn ich verlange, dass  durch den Sänger das Kunstwerk aus seiner allgemeingültigen, damit aber abstrakten Bedeutung immer wieder neu zum ergreifenden , überzeugenden und besonderen Erlebnis wird, muss hinter dem Künstler unbedingt die menschliche und geistige Persönlichkeit stehen .

Hanna Ludwigs Grabstätte im bayerischen Traunstein (Waldfriedhof 83278 Traunstein, Wasserburger Straße 94)/ mit Dank an Karl Georg Hart

Wie gehen Deine Schüler auf all diese Forderungen ein? Anfangs sind sie natürlich ein wenig überrascht, da sie es gewohnt  sind, mehr von der Vorstellung einer mechanisch und automatisch funktionierenden Gesangstechnik auszugehen . Wenn sie es aber nach einiger Zeit erfasst haben, die technischen Funktionen des Gesangsinstrumentes mit all sei­nen physischen und psychischen Aspekten spielerisch zu handhaben, macht es ihnen große  Freude,  den  eigentlich müheloseren Weg zu ihrer sängerischen Selbstverwirklichung zu erlernen und zu gehen. Rückblickend darf ich feststellen, dass vielen meiner deutschen wie auch ausländischen Schüler der Sprung auf die Konzert- oder Opernbühne gelungen ist. Sechs russische Sänger zum Beispiel, die ich vor einigen Jahren direkt vom Tschaikowsky-Konservatorium Moskau nach Salzburg holte und die ich lehrte, forderte und förderte, fanden bereits nach einem Jahr Engagements an hervorragenden deutschen und Schweizer Bühnen.

Ein Wort zum Schluss: Ob rasche Karriere oder langsamer Aufstieg – gleichviel. Von unseren jungen Nachwuchssängern, ihrem Können, ihrer Persönlichkeit, ihrer Phantasie und künstlerischen Gestaltungskraft wird es abhängen, ob die Kunstgattung Oper auch in künftigen Generationen ihre lebendige musikalisch-dramatische Faszination ausstrahlen kann. (Das Gespräch führte Geerd Heinsen, 1998)

 

(Foto oben Hanna Ludwig als Octavian/ Sammlung Ludwig; alle weiteren hier verwendeten Fotos stammen aus der Sammlung von Hanna Ludwig und können – soweit nicht genannt – den Fotografen nicht mehr zugeordnet werden; wir bitten um Entschuldigung, dass wir wegen der langen vergangenen Zeit im Einzelfall nicht um Genehmigung anfragen konnten.)

IRMGARD HARTMANN-DRESSLER

 

Mit Ira (eigentlich Irmgard) Hartmann-Dressler verlor ich 2013 eine langjährige Berliner Freundin, Mentorin und Gesprächspartnerin, deren Tod eine tiefe Lücke in meinem Leben hinterlassen hat. Die vielen Nachmittage in ihrer Berliner Wohnung waren voll mit ebenso weisen wie unterhaltsamen Gesprächen, denen Iras rollendes -r- und Russland-deutscher Akzent besondere und unverwechselbare Erinnerung verleiht. Bei Tee und Musik (sie spielte gerne auch mal das eine oder andere vor, um das Gesagte zu illustrieren) redeten wir buchstäblich über Gott und die Welt, viel natürlich über Gesang und dessen Grundlagen (da war sie das lebende Anatomie-Lexikon), aber auch über ihr bemerkenswertes Leben, die Zeit in russischer Gefangenschaft, die Vertreibung, die Hamburger Jahre, bis sie in Berlin an der Hochschule der Künste bis zu ihrer Emeritierung 1994 immer mehr zu einer der wirklich gesuchten Gesangspädagogen und vor allem Stimmbildnerinnen wurde. Buchstäblich alle Sänger von Rang hatten bei ihr Hilfe gesucht, von ganz berühmten bis zu bekannten, wobei sie sich gegen Ende ihres Lebens nur noch auf wenige Große konzentriete. Von Johan Botha bis zu Pilar Lorengar (die sie über ihre ganze Berliner Zeit hinweg betreute), von Robert Gambill bis zu Deborah Polaski – alle hatten bei ihr Hilfe gesucht und gefunden. Ira war die Anlaufstelle für sängerische Probleme der Stars.

Ira Hartmann-Dressler gehörte zu den renommiertesten Gesangspädagogen Deutschlands. Sie war lange Jahre an der West-Berliner Hochschule der Künste Professorin für Gesang, nachdem sie in Wien erst Medizin und dann ebendort und in Hamburg ihre Staatsexamen und Diplomprüfungen in Gesangspädagogik abgelegt hatte. Eine eigene sängerische Laufbahn als Mezzosopran kam zu einem relativ schnellen Ende (nach Hamburg und Berlin ging sie 1961 nach Ulm, bis eine schwere Krankheit auf Grund der Entbehrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit folgte). Sie war mit dem Berliner Philharmoniker und Geiger Rudolf Hartmann verheiratet, der vor ihr starb („Rudele“ sagte sie liebevoll). Ira Hartmann-Dressler begann eine eigene Laufbahn als Gesangspädagogin, nachdem sie ihre Grundlagen bei Maya Stein, Rolf Albers und Herta Klust erfahren und mit diesen auch viel musiziert hatte. Nach Tätigkeiten an der Gesangshochschule Detmold wurde sie Nachfolgerin ihrer einstigen Lehrerin Maya Stein an der Staatlichen Musikhochschule Hamburg. Darauf folgte Berlin und die Hochschule der Künste. Bis 1989 unterrichtete sie dort und wurde 1990 emeritiert. Von da an arbeite sie mit einigen Wenigen an deren Stimmen.

Es ist mir ein Bedürfnis, selbst nach so langer Zeit (ihre Lebensdaten sind 16. 7. 1924 – 4. 12. 2013 Berlin) ihr, wenngleich so lange nach ihrem Ableben, noch einmal die Ehre zu erweisen, denn ihr Tod fand kaum einen Nachhall in der Fach-Presse und in der Berichterstattung. Ähnlich wie meine Salzburger Freundin Hanna Ludwig, Kollegin und ebenfalls eminente Stimmbildnerin von Rang, ist auch Ira einfach so verschwunden, wie verweht. Dass sie in der Erinnerung vieler und vor allem auch in ihren „Klienten“ weiterlebt, steht außer Zweifel – viele von ihnen erwähnen sie in ihren Lebensläufen. Sie hat – wie das mancher anderer – mein Leben entscheidend geprägt, und dafür und für ihre Güte und Freundschaft bin ich ihr unendlich dankbar.

Im Folgenden bringen wir einen Text von Ira Hartmann-Dressler selbst, den sie 1994 vor Studierenden gehalten hatte und der in seiner Klugheit und realistischen Einschätzung des Metiers ein Beispiel ihrer Lebensnähe gibt. Ich fand ihn in meinen Unterlagen, als ich nach Fotos von ihr suchte, von denen kaum welche im Umlauf sind. Geerd Heinsen

 

Gesang in der heutigen Zeit: Gedanken  zum Gesang  und  zur Gesangsausbildung: Angesichts der vielen kriegerischen Situationen in aller Welt, der furchtbaren Not vieler Millionen unschuldiger Menschen, die Terror, Vertreibung, Hunger, schwerste Misshandlungen und Entwürdigungen erleiden müssen, sprechen wir von Kunstausübung, Kunstgeschehen, Kunsterlebnis. Aber ist nicht gerade die Kunst die Trägerin der Hoffnung, den wertvollsten Teil des Menschseins, die Kreativität,  zu wahren, zu vermitteln und uns allen zu helfen? Innerhalb der Kunstäußerung ist Gesang in jeder  Form die unmittelbarste Mitteilung. Der Mensch selbst teilt sich mit, er ist aber auch das Instrument und der Träger und Mittler von Kompositionen verschiedenster Art.

Was geschieht mit uns, wenn wir einem beseelten Gesang zuhören oder wenn wir selbst das Glück haben, uns singend mitzuteilen? Wir erleben den Zustand einer inneren Öffnung und Befreiung, einer lebendigen Kommunikation mit der Umgebung. Wenn der Gesang eine solch aufbauende, harmonisierende Kraft besitzt, müsste er in unserem Leben eine viel größere Rolle spielen,  als es zur Zeit der  Fall  ist.

Die therapeutische Chance, die sich aus der psychischen Wirkung physiologisch richtigen Singens ergibt, könnte sehr wohl zur Lösung wichtiger gesellschaftlicher Probleme der heutigen Zeit hilfreich herangezogen werden. Zum Beispiel meine ich, dass jenseits einer professionellen Gesangsausbildung ein behutsames Heranführen an richtiges Singen die Lebenssituation vieler Kinder und Jugendlicher, die nicht das Glück haben, in einem harmonischen Elternhaus, in dem viel musiziert und gesungen wird, aufzuwachsen,  nachhaltig zu verbessern. Auf ihre Seele, die von Hause aus nicht harmonisiert wird und sehr leicht von zerstörerischen, negativen Einflüssen „verformt“ werden kann, mag vom Gesang manch positiver Impuls ausgehen.

In dem Bewusstsein, dass sowohl die erwähnten soziologischen als auch die folgenden pädagogischen Aspekte in diesem Zusammenhang nur kurz angerissen werden können, nun vom Allgemeinen zum Spezifischen unseres Themas „Gedanken zur Gesangsausbildung“:

 

Schulen  und Methoden: Es wird sehr oft von Gesangsschulen oder Gesangsmethoden gesprochen: Was bedeutet das? Gesangsschulen sind immer an historisch-ethnische Gegebenheiten gebunden und sind die Summe der Überlieferung von Erfahrungen im Umgang mit der Ausbildung der menschlichen Stimme. Sie werden geprägt von der Idiomatik des Landes, aus dem sie stammen, von den Menschen, ihrer Sprache, ihren Bräuchen, ihrer Lebensart, ihrer Geschichte.

Gesangsmethoden dagegen sind Übertragungen  persönlicher  Gesangserfahrung vom Lehrenden auf den Lernenden. Da aber jeder Sänger (jede Sängerin) nur  durch seine sehr spezifische, unverwechselbare Art der Gesangsausübung als Mensch und Künstler das Prädikat des Ausserordentlichen erhält, darf er keine Wiederholung beziehungsweise kein „Abziehbild“ seines Lehrers sein. Er darf nicht in eine methodische Reihenordnung gezwängt, sondern kann nur aus den ihm eigenen Anlagen entwickelt  werden.

 

Voraussetzungen und Kriterien: Natürlich gibt es für die Gesangsausbildung allgemeingültige Kriterien, die in aller Welt angewandt werden. Was wird von einem Berufssänger erwartet:  eine gesunde und in vielen Aufgaben einzusetzende Stimme, deren Geläufigkeit, Atemführung, Stimmsitz, Vokalausgleich, Timbre, mezza voce  und  legato bestens funktionieren. Die Persönlichkeitsstruktur sollte von gutem musikalisch-musikantischem Temperament, großer Sensibilität für seelische und körperliche Vorgänge, gutem Durchstehvermögen, stabilem Nervenkostüm und unendlicher Liebe  zur Musik  geprägt sein.

Da eine genaue Körperbeherrschung und ausgeglichene seelische Verfassung wichtige Ausgangspunkte der Ausbildung sind, gilt es, beide in Form zu bringen. Ein sinnvolles Körpertraining, Atemführungsübungen, leiten in die nächsten Stufen der Ausbildung über: Vokalausgleich, Geläufigkeit, Registerausgleich, staccato, legato und so weiter, alles unter dem Aspekt eines guten Stimmsitzes, klarer Artikulation, einwandfreier Atemführung und Lockerheit des Klangträgers.

Der Vokalausgleich entspringt der Notwendigkeit, beim Singen einer Komposition die Vokale in allen Lagen möglichst differenziert einsetzen zu können. Eine nicht minder sorgfältige Arbeit erfordert die Verbindung von Konsonant und Vokal, die, über Silben zu Worten entwickelt, das eigentliche Legatosingen ermöglicht. Beides hängt von einer wohldosierten Luftgabe,  kontrolliert durch die Atemstütze, sowie von der Lockerheit des Kehlkopfes und unverkrampfter Artikulation ab.

In allen Stimmfächern ist bei dem Registerausgleich, also die bruchlose Verbindung von Kopf-, Mittel- und Bruststimme größte Sorgfalt anzuwenden. Der Vokalausgleich entspringt der Notwendigkeit, beim Singen einer Komposition die Vokale in allen Lagen möglichst differenziert einsetzen zu können. Eine nicht minder sorgfältige Arbeit erfordert die Verbindung von Konsonant und Vokal, die, über Silben zu Worten entwickelt, das eigentliche Legatosingen ermöglicht.

In allen Stimmfächern ist bei dem Registerausgleich, also der bruchlosen  Verbindung   von Kopf -, Mittel- und Bruststimme, größte Sorgfalt anzuwenden. Der Registerausgleich ist stimmfach-spezifisch unterschiedlich. So haben Männerstimmen einen größeren Anteil an Brust­ und Mittelstimmenfunktion als Frauenstimmen.

Die Suche nach dem individuell richtigen Lehrer ist  ein  eigenes Kapitel. Nicht alle Lehrer sind befähigt, bis zur Berufsreife auszubilden. Dazu muss der Studierende viel Initiative und Instinkt entwickeln und die erforderliche Hilfe bei erfahrenen Lehrern und Berufssängern suchen. Da wir in Deutschland  keine  Gesangslehrer-Fortbildung von Staats wegen haben, sollten auch die Lehrer nicht versäumen, durch  ständigen Kontakt mit der Praxis, durch Besuche von weiterbildenden Kongressen, Festspielen und in regem Austausch mit Fachkollegen sich weiterzuentwickeln.

 

Ausgebildet zum Sänger – was nun? Die schwerste Hürde ist noch zu bewältigen: die Entwicklung zum Sängerdarsteller. In szenischer Arbeit werden Fachpartien studiert und bei Hochschulveranstaltungen mit Orchester in Opernaufführungen eingegliedert. Außerhalb der Hochschule beginnt dann der stufenweise Einstieg in die Praxis, zunächst mit kleineren Konzerten, Teilnahme an Wettbewerben und schließlich mit dem entscheidenden Schritt – dem  Vorsingen bei Agenturen und an Theatern. Heutzutage wird in der Praxis Enormes  verlangt.  In  allen  Sparten des Musiktheaters, in Oper, Operette und Musical muss der junge Sänger nicht nur  große Wendigkeit im Spiel  und  Gesang  beweisen, sondern auch stilistisch vom Barock bis zur Moderne mit der Musik umgehen können. Das ist nur mit der Besessenheit eines künstlerisch hochmotivierten Naturells zu schaffen; große Disziplin und nicht nachlassender Fleiß sind die steten Begleiter eines Künstlerdaseins!

Aber auch die Opernhäuser tun wenig für den Nachwuchs, nur wenige Bühnen haben ein Studio. An kleineren Bühnen werden  stattdessen die Anfänger regelrecht verschlissen, singen gleich viel  zu oft zu schwere Partien – nur wer das stimmlich und seelisch überlebt, hat eine Chance, weiterzukommen. Früher hatte man wesentlich mehr Zeit, sich zu entwickeln, heute muss alles schnell gehen. Es fehlen die Ruhe, die sängerische Laufbahn liebevoll aufzubauen, und die Charakterstärke, zu schwere Partien abzulehnen – schnelle Berühmtheit ist meist wichtiger als Qualität. Der Hunger nach Sensation fordert seine Opfer, viele schnelle Karrieren sind auch schnell wieder zu Ende, denn der Beruf braucht gute Nerven und ist unendlich hart. Insgesamt ist der Opernalltag zu nachlässig, durch das viele Gastieren fehlt an den großen Opernhäusern die Zeit zu gründlichen Proben, gerade bei Repertoirevorstellungen. Dieses liegt an der Struktur und Größe der Opernhäuser und des Kulturlebens überhaupt, es hat wenig Sinn, solch grundsätzliche Probleme zu beklagen, nur muss der Sänger auf sie vorbereitet werden. Die harte Auslese findet in Deutschland erst nach dem Studium statt, auf eine freie Stelle kommen mitunter zweihundert Bewerber, die Konkurrenz wird durch viele sehr gute, besser ausgebildete Sänger aus dem Ausland noch erbarmungsloser. Und die Agenten können nicht, wie die Hochschullehrer, die manchen Studenten bis zur Abschlussprüfung durchschleppen, auf menschliche Bindungen Rücksicht nehmen; sie müssen an ihr Geschäft denken und beurteilen, wer sich auf der Bühne halten und entwickeln kann, wobei die starke Kommerzialisierung für eine solide aufgebaute Karriere nicht gerade förderlich ist. Ein junger Mensch, der Sänger werden will, muss kämpfen und überzeugen, sich nicht scheuen, auch berühmte Sänger um Rat und Hilfe zu bitten und sich schon früh allgemein musikalisch ausbilden; zum Beispiel durch Chorsingen, Instrumentalunterricht oder den Besuch von Konzerten und Opernaufführungen. Der Beruf des Sängers ist schwer  und  kostet viel Mut  und Kraft.

Überraschungen kurz vor Schluss…

 

Dass einem ausgebufften und zu oft gelangweiltem Operngänger wie mir das passieren musste: Le Prophète in der vorletzten Vorstellung an der Deutschen Oper am 4. Januar 2018  ließ mich über weite Strecken des gar nicht mehr langen Abends vergessen, dass da gesungen wurde. Ich war so in das Drama und seinen Konflikten versunken, dass ich erst beim jubelndem Schlussapplaus wieder zu mir kam, so sehr hatten die beiden letzten Akte mich abtauchen lassen. Ich muss gestehen, dass ich mich mit allen Vorbehalten und nur aus Neugier über die Neubesetzung der Fidès in die Oper gegangen war, hatte ich mich doch ziemlich über die Produktion von Oliver Py  geärgert, was ja mein gutes Recht ist. (nachstehend die umfassende Premierenkritik meines Kollegen Bernd Hoppe, der mir verzeihen möge, dass ich meinen zeitlich späteren Bericht voranstelle).

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin: am 4. 1. 2018/ Szene mit Andrew Finden/Oberthal und Nicole Haslet/ Berthe/ Foto Bettina Stöss/ DOB

Aber – so gemein es klingen mag – Wasserschaden haben auch ihre Vorteile (pace an die vielen tollen Mitarbeiter der DOB, die überhaupt eine Vorstellung erst möglich gemacht hatten). Wie bekannt, gab es ausgerechnet am 24. Dezember einen Totalschaden durch die defekte Sprinkleranlage, der die gesamte Unterbühne und auch die „Flug“-Etage traf. Also kein Engel mehr am Seil (der kam zu Fuß) und vor allem keine Drehbühne mehr, deren Dauer-Rotation einem in der Normalvorstellung den Nerv geraubt hatte. Ob nun Oliver Py selber die abgespeckte Bühne betreut hatte oder doch ein genialer Geist des Hauses die Ballette neu choreographierte, die Handlung zentrierte und die grauen Bühnenbauten durch Manneskraft bewegt auf ein Minimum reduzierte, ist aus dem Programmzettel nicht ersichtlich – das Resultat war eine ganz fabelhafte Konzentration auf die Handlung, die Sänger und den dto. hervorragenden Chor (Jeremy Bines).

Und es waren die Sänger, der Chor, das Orchester sowie Enrique Mazzola am Pult desselben, die einen Abend der Sonderklasse zauberten. Man bemerkte den langen run der Oper: Das Orchester war bestens eingespielt und schwelgte in Dynamiken und Farben der exquisiten Sorte – sinnlich, packend, heroisch und von großer klanglicher Vielfalt. Ein Teppich für die Sänger.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin am 4. 1. 2018: Ronnita Miller als Fidès/ Foto Bettina Stöss

Bei denen muss an erster Stelle Ronnita Miller (nur für eine Vorstellung) als   Fidès genannt werden. Sie war der Felsen des Abends, die Große Mutter im Stil eines Barlach – allumfassend, unverrückbar, heroisch und anrührend. Ich schreibe diese Attribute zuerst, weil ich fast vergesse, wie toll sie stimmlich wirkte. Ihr Timbre erinnert mich an Marilyn Horne, ihre Furchtlosigkeit beim Durchmessen von drei Oktaven an die junge Podles – Pauline Viardot hätte sich gefreut. Die Nahtlosigkeit des Mediums in den leichtgesungenen Höhen ebenso wie die sonore Basstiefe machten schwindlig. Und dennoch – es war, wie gesagt, nicht die hohe Virtuosität der Sängerin (die hatte ihre Rollenkollegin Clémentine Margaine in den anderen Vorstellungen auch). Nein, mich berührte ihre unverrückbare Menschlichkeit in der Darstellung, das In-der-Rolle-Sein zu einem hundertprozentigen Zustand, wie ich es selten in meiner langen Laufbahn als Operngänger erlebt habe. Sängerin und Rolle waren eins. Ich begriff plötzlich fast physisch das Konzept Meyerbeers, der sicherlich notwendigen, aber sich in Pervertierung auflösenden Revolution diesen Felsen an Güte, an Erbarmen, eben an Menschlichkeit entgegen zu stellen. Bravo Ronnita Miller! Sie hat mich zu Tränen gerührt und für lange Momente stumm gemacht.

Auch die anderen beiden Hauptrollen waren neu und herausragend besetzt. Nicole Haslet bot eine leuchtende, vor allem junge und den vielen hohen Noten ihrer Partie der Berthe furchtlos gewachsene Stimme – eine Violetta mit bestem oberem Register, optisch bezaubernd und hochengagiert im Spiel, was für eine Überraschung. Und Bruce Sledge (optisch absolut identisch mit seinem Kollegen Gregory Kunde) war als Jean stimmlich eine „Wucht“. So eine topsichere Höhenlage, so eine wirklich mühelos scheinende Rollenbeherrschung und beste Bühnenpräsenz erlebt man nicht alle Tage – zudem war sein Französisch wie das seiner Kollegen von erster Klasse. Man brauchte die Übertitel selten. Das amerikanische Timbre von Bruce Sledge ist nicht sehr farbenreich, aber das macht er mit guter Stimmführung (und gelegentlich überraschenden Kopfnoten, die man von Vanzo und anderen der Vergangenheit kennt) wett. Auch er ein absoluter Gewinn des Abends. Die übrigen Herren (neu Andrew Finden als Oberthal und Thomas Lehmann als Mathiesen) erfreuten in ihren verschiedenen Partien und rundeten den Abend zu einem glanzvollen Überraschungsereignis ab. Quelle soirée étonnante! Geerd Heinsen

 

Und nun der Premierenbericht: Mit der Grand opéra Le Prophète vollendete die Deutsche Oper Berlin ihren Meyerbeer-Zyklus, der sich über drei Spielzeiten erstreckte. Wenn die Inszenierung von Oliver Py auch die vorangegangenen von Vasco da Gama und Les Huguenots zu übertreffen scheint, so leidet sie doch unter den gängigen und austauschbaren Zutaten des Regietheaters. Die Bühne von Ausstatter Pierre-André Weitz wird bestimmt von trostlosen grauen Hochhausfassaden mit gespenstischen leeren Fensterhöhlen und Reklame-Postern für Unterwäsche. Überall sieht man Zeichen von radikaler Gewalt – Männer in Armee-Tarnanzügen mit Maschinengewehren und Revolvern, ein umgestürztes brennendes Auto, Schießübungen, Vergewaltigungen. Nach einer solchen flieht die Putzfrau Berthe nackt aus einem schwarzen Straßenkreuzer (auf und in dem sie gerade vom Grafen Oberthal missbraucht wurde). Sie will den Gastwirt Jean de Leyde heiraten, was Graf Oberthal missbilligt, da er die junge Frau selbst begehrt. Er lässt die Widerstrebende und Jeans Mutter Fidès in seine Burg verschleppen (hier ein graues Papphaus). Jean wiederum lässt sich von drei Wiedertäufern manipulieren, zum Anführer und Propheten, schließlich König ihrer Bewegung zu werden. Sie erobern die Stadt Münster, müssen aber am Ende der Übermacht der heranrückenden Truppen des Kaisers weichen. Das große Fest, das sie vorher feiern, inszeniert Py als Sex-Orgie im Rotlicht mit vielen nackten Männern und zwei Frauen – durch eine fast choreografische Anlage dieser Szene in slow motion verliert sie allerdings jede naturalistische Peinlichkeit.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Seth Carico als Oberthal/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Da wirkt die ausgedehnte Ballettmusik (die berühmten Patineurs, derentwegen Meyerbeer sein Theater als Rollschuharena umbauen ließ) im 3. Akt mit brutalen Quälereien, Kämpfen und Vergewaltigungen auf der Bühne im ermüdenden Dauerdreh weit radikaler. Der Regisseur  hatte die Choreografie selbst übernommen. Sie  leidet vor allem unter den gymnastischen Verrenkungen der 15 Tänzer. Durch das gesamte Stück lässt Py einen halbnackten männlichen Engel geistern, der Pappschailder mit der Aufschrift clémence und malheur trägt, verzichtet auch nicht auf Behinderte an Krücken und Gelähmte in Rollstühlen, die von Jean wundersam geheilt werden. Den großen Effekt im Finale, wenn laut Libretto das Münsteraner Schloss des Propheten durch eine Sprengstoffexplosion in die Luft fliegt, bleibt die Regie freilich schuldig. Hier erschießt sich Jean mit dem Revolver, während Graf Oberthal, von einem Regenschirm geschützt, sich eine Tasse Kaffee gönnt.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene mit Elena Tsallagova als Berthe und Clémentine Margaineals Fidés/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin

Die immensen musikalischen Anforderungen, die Meyerbeers Werk an die Interpreten stellt, realisiert das Haus staunenswert. Enrique Mazzola am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin sorgt für rhythmische Stringenz, federnden Schwung (in der Ballettmusik) und den gebührenden Pomp in der Marche du couronement. Glänzend ist der Chor (Einstudierung: Jeremy Bines), der seine vielfältigen Aufgaben sicher und klangvoll wahrnimmt, dabei mitunter eine gar martialische Knalligkeit erreicht. Die Besetzung wird angeführt von  Clémentine Margaine als Fidès, deren reich timbrierter Mezzo mit satter Tiefe und leuchtender Höhe die Partie souverän durchmisst. Man kann sie vielleicht schwärzer singen, aber sicher nicht strömender und schöner. Die große Szene im letzten Akt („O pretres de Baal“) mit ihren Skalen über mehrere Oktaven markiert den vokalen Höhepunkt der fast fünfstündigen Aufführung. Beachtlich auch Elena Tsallagova als Berthe in proletarischer Kleidung, die ihrem leistungsfähigen und auch in der exponierten Höhe potenten Sopran brillante staccati und feine Triller abgewinnt. Fast unsingbar scheint die Titelrolle, doch Gregory Kunde gelingt es, nach seinem Auftritt, wo mancher Aufstieg in die Extremlage noch deutlich bemüht klingt, seinen mittlerweile auch farbiger gewordenen Tenor ab dem 3. Akt zu hymnisch flammendem Gesang zu führen. Mit seinem finsteren, robusten Bassbariton vermittelt Seth Carico eindringlich das abgründige Wesen des schurkischen Oberthal. Prägnant im düster-prophetischen Zusammenklang geben Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley die drei Wiedertäufer.Das Premierenpublikum am 26.  11. 2017 feierte die Sänger, den Chor und Dirigenten sowie das Orchester lautstark, während das Regieteam auch ablehnende Stimmen hinnehmen musste (Foto oben: „Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Ausschnitt/ Foto Bettina Stöss/ Deutsche Oper Berlin). Bernd Hoppe

 

Dazu ein PS.: Dass ein Regisseur – ob nun selber schwul oder nicht – Homosexualität (hier auf der Bühne als Nackt-Popo-Gruppensex mit eindeutigen Absichten, dazu jede Menge halb- und ganznackte leckere Soldateska in Feinripp, Tarnhose oder in Wassereimern sich räkelnd) als Mittel zur Illustrierung von Pervertierung einer Gruppierung (i. e. Revolutionäre) verwendet ist beklagenswert. Dies sagt viel aus über das Verhältnis des Regisseurs zu seiner eigenen Sexualität. Als alter 68er verwahre ich mich gegen diese Übernahme überkommener Vorurteile und alter Feindbilder, zumal so spießig realisiert. Geerd Heinsen

Gounod zum 200. Geburtstag

 

2018 jährt sich der Geburtstag von Charles Gounod zum 200. Mal – Grund für den Palazetto, im kommenden Jahr drei  seiner Opern aufführen und für eine die CD mitschneiden zu lassen: Le tribut de Zamora, Faust in der Erstversion als Opéra-comique/ mit Dialogen und La Nonne Sanglante (die es ja bereits in Osnabrück gegeben hat). Daneben viele Abende mit Symphonischem, Opernarien und anderem von Gounod.

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ Bühnenbild der Originalproduktion von Eugène Lacôste/ BNO

Also wieder eine Ko-Operation zwischen dem Palazetto Bru Zane und dem Münchner Rundfunkorchester: Gounods Oper Le tribut de Zamora (am 28. Januar 2018 in München und am Radio). Nach Cinq-Mars (1877) und Polyeucte (1878) versucht sich Gounod 1881 ein letztes Mal an der Oper, mit seinem zweifellos ambitioniertesten Werk: Le Tribut de Zamora. Trotz seines unbestreitbaren Erfolges zu seiner Entstehungszeit war die Oper lange Zeit dem Vergessen anheimgefallen und hat es ohne Frage verdient, wiedererweckt zu werden (Münchner Rundfunkorchester Aufnahme für die Kollektion «Opéra francais» – Herve Niquet Leitung; Xalima: Judith Van Wanroij, Hermosa: Jennifer Holloway, Manoel: Edgaras Montvidas, Ben-Said: Tassis Christoyannis, Handgiar: Boris Pinkhasovich, Iglesia / Eine Sklavin: Caroline Meng, der Alcade Mayor / der Kadi: Artavazd Sargsyan, der König / Ein arabischer Soldat: Jeröme Boutillier; Prinzregententheater und BR Klassik am 28. Januar 2018).

Im Folgenden einen zusammenfassenden Artikel von Gérald Condé für den Palazetto Bru Zane zum Favoriten 2018, Charles Gounod. Einen Opernführer zu Le Tribut de Zamora gibt´s näher am Münchner Konzert, das natürlich auch wieder als CD-Buch bei Ediciones Singulares erscheinen wird.

 

Gounod an der Orgel/ Wiki

Gounod  in wenigen Worten: Als Waisenkind mit fünf Jahren von einem Vater, der Maler war, wurde Charles Gounod von seiner Mutter aufgezogen, die ihn in die Musik einführte, bevor sie ihn dem berühmten Antoine Reicha anvertraute. Nachdem er klassische Studien absolviert hatte und mit einem Philosophieabitur angeschlossen hatte, trat er 1836 ins Konservatorium ein, wo er bei Halévy Kontrapunkt und bei Le Sueur und Paer Komposition studierte, bis er 1839 den 1. Preis von Rom erlangte. Obwohl er einige Zeit in Betracht zog, Geistlicher zu werden, was von echter Frömmigkeit zeugt, woraus ein eindrucksvolles religiöses Werk entstand, siegte schließlich seine Leidenschaft für das Theater. Sein erster Versuch Sapho (1851) war zwar nur ein halber Erfolg, verschaffte ihm aber für das nächste Jahr den Auftrag einer Szenenmusik für die Comédie-Française : Ulysse. Darauf folgen bald La Nonne sanglante (Die blutige Nonne,1855), Le Médecin malgré lui (Der Arzt wider Willen1858) und vor allem Faust (1859), das unbestrittene Meisterwerk der französischen Musik jener Zeit. Keines seiner Werke, vielleicht abgesehen von Roméo et Juliette (1867), kam dem Erfolg dieser von Goethes Drama inspirierten Oper. Es folgten dennoch mit wechselndem Erfolg La Colombe, Philémon et Baucis (1860), La Reine de Saba (1862), Mireille (1864), Cinq-Mars (1877), Polyeucte (1878) und Le Tribut de Zamora (1881). Berühmt als ein Nationalheld, 1866 an das Institut gewählt, beeinflusste Gounod seine Epoche mit seiner besonderen Senslibilität und seiner eindrucksvollen Werkanzahl an Opern, trotz einiger wichtiger Abstecher in die Orchestermusik und in die Kammermusik.

 

Paris/ Rom/ Wien/ London: Im Gegensatz zu Künstlern wie Liszt oder Saint-Saëns war Gounod nicht sehr reisefreudig und seine eher sesshafte Natur ließ ihn längerfristige Aufgaben in einigen europäischen Hauptstädten bevorzugen. Die Reisen, die sein Leben markierten, geschahen nie aus eigenem Antrieb. Sein Italienaufenthalt war das Ergebnis seines Erfolgs beim Wettbewerb des Preises von Rom (1839): Er wohnte viele Monate in der Villa Medici, und er hatte die Gelegenheit, den Maler Ingres zu treffen, der damals Direktor des Instituts war und ihm seine klassischen Theorien nahe brachte. „Ich sah nie jemand, der die Dinge mehr bewunderte als er, weil er besser sah als alle wodurch und warum etwas bewundernswert ist. Allerdings war er vorsichtig; er wusste, bis zu welchem Punkt die Übung die Menschen der Gefahr aussetzen, sich zu verlieben, zu schwärmen ohne Unterscheidung und ohne Methode“, notiert Gounod in seinen „Mémoires d’un artiste“.

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ die Primadonna Gabrielle Karus (hier als Sélika) sang die Hauptpartie in der Originalproduktion/ Foto von Nadar/ Taschen

Von Rom resite der junge Komponist nach Wien, wo er nur kurz blieb. Aber dort schreibt er die Werke, die den Stil seiner reifen Jahre begründeren, vor allem zwei wesentliche Stücke: sein „Requiem in d-Moll“ und seine „Messe vocale“ für Chor a cappella, die von einem ersten Kontakt mit Palestrina zeugen. Dass sich Gounod in den 1870er Jahren lang in London niederließ, geschah wieder aufgrund besonderer Umstände: Der französisch-preußische Krieg brachte ihm keine Ruhe in seiner Heimat. Während dieses Londoner Aufenthalts entstehen Meisterwerke wie Mors et Vita, eines der bedeutendsten Oratorien des romantischen französischen Repertoires, aber auch die Oper Polyeucte und die Kantate Gallia. Dennoch nahm  Gounod seinen wichtigsten Wohnsitz in Paris. Und seine Werke wurden in ganz Europa als der Höhepunkt des Romantizismus gefeiert.

 

Mystisk: Gounod hatte nicht nur Sinn für Musik. Sein idealer Traum hätte ihn fast den geistlichen Weg einschlagen lassen. Es fehlte wenig dazu – wahrscheinlich wegen der Beeinflussung durch seine Mutter, der er  seine diese Orientierung verdankte. Gounod belegte auch theologische Kurse, aber er schrieb schließlich: „Ich habe mich seltsam geirrt über meine eigentliche Natur und meine Berufung.“ Vor dieser Nähe zur Religion profitiert eine Reihe von geistlichen Stücken, wichtig sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Qualität. Die „Messe de sainte Cécile“ – das berühmteste Werk – überstrahlt ehrgeizigere Werke, die ungerechter Weise im Schatten bleiben: einige Requien, Oratorien wie „Rédemption“ („Erlösung“) und Mors et Vita, zahlreiche Motetten in unterschiedlichen Stilen, vom neo-palestrinischen Stil bis zum modernsten Romantizismus.  Unter den letzten Stücken wurde glücklicherweise das kleine Oratorium „Saint François d’Assise“  vor kurzem entdeckt. Saint-Saëns meinte, dass geistliche Teile der Werke von Gounod es mehr verdienten, die Zeiten zu überleben, auch wenn die Nachwelt Faust  und Roméo et Juliette vorzöge. Man hat dieser religiösen Musik vorgeworfen, mehr weltliche Akzente der Liebe als der religiösen Anbetung zu enthalten.

 

Gounod: „Le tribut de Zamora“/ zeitgenössische Illustration zur Oper von Marie Adrien/ BON

Das ewig Weibliche: Wie nach ihm Massenet war Gounod der Kenner der Frauen und ihrer Leidenschaften. Er selbst wurde erschüttert durch Begegnungen mit solchen, die ihn in seiner Existenz für fast fünfzig Jahre prägten: Maria Malibran, Pauline Viardot, Fanny Mendelssohn, Georgina Weldon, Adèle d’Affry, Anna Zimmerman… Alle waren für ihn Vertraute und inspirierende Musen. Das heißblütige Temperament Gounods erklärt die leidenschaftlichen Briefe, die heute an seine Beziehungen mit gelegentlich zweideutigen Grenzen erinnern. Aber die erste Frau in dieser Liste ist keine andere als seine Mutter Victoire Gounod, die mit unermüdlichem, manchmal fast zwanghaftem  Eifer auf seine musikalische Ausbildung achtete. Gounod, dem nachgesagt wird, dass er durch ihre Allgegenwart oft genervt war, ehrte dennoch die Frau, die so viel für ihn tat. Er schrieb an seine Verlobte: „Sie hat so viel für mich getan, dass wir zu zweit nicht zu viele sind, es ihr zu danken.“ Seine inspirierenden Musen spiegeln sich wider in Gounods Opern, die alle auf das Weibliche Bezug nehmen. Abgesehen von den drei aufmüpfigen Matronen im Médecin malgré lui, ist das „ewig Weibliche“ vor allem durch Sapho, die Dichterin, repräsentiert, durch Marguérite, das junge unschuldige Mädchen, durch Juliette und die Zerbrechlichkeit der weltlichen Liebe, durch Pauline und die Größe der geistlichen Liebe, durch Balkis – die Königin von Saba – und die Schwäche der Sinne und schließlich durch Mireille, die Unschuldigste von allen. Im Jahr 2018 werden nun die letzten Frauen in  Gounods Werken wieder zum Leben erweckt:: Xaïma und Hermosa, die Heldinnen seiner abschließenden Oper Le Tribut de Zamora.

 

Ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin aus dem Französischen Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Le Tribut de Zamora: Nach Cinq-Mars (1877) und Polyeucte (1878), beschäftigt sich Gounod ein letztes Mal 1881 mit der Oper in seinem wahrscheinlich ehrgeizigsten Werk.  Zum ersten Mal arbeitet er an einem exotischen  und in gewissen Aspekten „vor-naturalistischen“ Thema. Die Handlung spielt im 10. Jahrhundert erst in Spanien und  ab dem 2. Akt an einem „pittoresken Ort an den Ufern des Oued El Kédir vor Cordoba“. Das gibt Gounod die Gelegenheit, sein Talent der Orchestrierung und des Kolorits zu zeigen. Er verarbeitet eine Geschichte (wie in einem Sandalenfilm) in der Tradition der großen französischen Oper, nicht ohne den originellen Touch, eine wahnsinnige Person (die Spanierin Hermosa) einzubauen, die nach einigen Abenteuern ihren Verstand wiederfindet. Meyerbeeers Dinorah grüßt.Trotz des ungeheuren Erfolgs bei der Uraufführung geriet Le Tribut de Zamora in Vergessenheit, verdient es aber absolut, wieder erweckt zu werden, und sei es nur wegen der Nationalhymne „Debout ! Enfants de l’Ibérie“. Man wird in dieser Oper gerade das schätzen, was ihr manche Kritiker vorwarfen: nämlich, dass man hier den unwiderstehlichen Lyrismus von Faust und Roméo et Juliette wiederfindet. Gérald Condé (aus dem Französischen von Ingrid Englitsch/ mit Dank an ophelias München und den Palazetto Bru Zane)

 

Weitere Veranstaltungen im Gounod-Jahr 2918 des Palazetto finden sich auf deren website, darunter ein Faust mit den orginalen ersten Dialogen der Comique-Fassung (Véronique Gens und Francois Borras am TCE Paris/ 14. Juni 2018), vorher La Nonne sanglante (Michael Spyres, Opéra-comique im Juni 2018), diverse Instrumental- und Chormusik, sowie als etwas bizarrer Bonus Les P´tits Michu von Messager und Hervés Mam´zelle Nitouche dto. im Rahmen des Palazetto Festivals Paris 2018.

Pioniere, Stars und Experimente

 

Musique d’abord heißt seit vielen Jahren eine Reihe, in der harmonia mundi zu günstigen Preisen und mit einem auf das Minimum reduzierten Beiheft ältere Aufnahmen wieder veröffentlicht. Nun sind drei frühere Einspielungen mit Countertenören wieder neu aufgelegt worden, die mit ganz unterschiedlichen Programmen und Ansätzen einen Blick zurück ermöglichen. Alfred Deller (1912-1979) war als früher Countertenor auch ein Entdecker und Pionier, der ein Repertoire zurückeroberte. Er widmete sich in den 1950ern und 60ern englischer Renaissance-Musik und forschte an Aufführungspraxis und Stilistik. Benjamin Britten schrieb für ihn die Rolle des Oberon in „A Midsummer Night’s Dream“. 1954 empfahl ihn Gustav Leonhardt an das Label Vanguard, wo er über 50 LPs einspielte, die auch heute noch auf mehreren CD-Boxen erhältlich sind (Note 1 Musikvertrieb). 1967 kam harmonia mundi auf ihn zu. Die hier vorliegende Aufnahme kam zuerst 1969 auf den Markt, also relativ spät in der Karriere des Sängers, und zeigt Deller als Könner des reifen Ausdrucks zwischen Poesie und Melancholie. „O Ravishing Delight“ beinhaltet englische Lieder aus dem 17. Jahrhundert, u.a. von John Dowland, Thomas Campion, John Bartlett, Philip Rosseter, John Blow, Jeremiah Clarke, John Eccles, William Croft, Pelham Humfrey und Daniel Purcell, dessen „O ravishing delight!“ auch titelgebend war. Vier Musiker begleiten den Sänger mit Flöte, Laute, Viola da gamba und Cembalo. Aufnahmetechnisch ist der Einspielung ihr Alter anzuhören, es fehlt ihr eine gewisse Frische. Wen dieses Repertoire interessiert, der kann als Ergänzung und zum Vergleich bspw. Andreas Scholls Englische Folksongs und Lautenlieder (1996, ebenfalls Harmonia Mundi) oder die Aufnahme mit Lieder von Purcell, Matteis und Dowland von Valer Sabadus (To touch, to kiss, to die, 2013 bei Oehms Classics) heranziehen. (HMA 190215)

Ganz andere Wege beschritten drei Countertenöre 1995, die sich vom barocken Repertoire emanzipieren und ihre stimmlichen Fähigkeiten an untypischen Werken beweisen wollten. Auf der CD Les contre-ténors / The countertenors präsentieren Pascal Bertin, Andreas Scholl und Dominique Visse ein Mini-Programm von knapp 35 Minuten. Sie singen zusammen „O sole mio“, „Maria“ aus der West Side Story und Donizettis „Una furtiva lagrima“ sowie einzeln Carmens Habanera“ und Dowlands „White as lilies“ (Scholl), Massenets „Pleurez, mes yeux“ aus Le Cid und „Je suis gris“ aus Offenbachs La Périchole (Visse) sowie Dalilas „Réponds à ma tendresse“ und „My way“ (Bertin). Man spürt die Freude der Sänger, deren Hingabe und auch die Ironie der Interpretation, alle drei Sänger lachen herzlich auf dem Cover, das Augenzwinkern ist bei manchen Stücken hörbar. „O sole mio“ zu Beginn ist kein einfacher Einstieg in die CD, manches mag ein wenig abgedroschen wirken, anderes ist verblüffend und überraschend, das Engagement stimmt stets. Das Ergebnis ist eher für die Fans und Kenner, weniger für die Verächter oder Gelegenheitshörer prädestiniert. (HMA 1901552)

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Barockrepertoire und Countertenöre im Mainstream der Klassik-Fans angekommen, zahlreiche CDs mit Ariensammlungen liegen bspw. von aktuellen Stars wie Philippe Jaroussky, Max E. Cencic, Valer Sabadus oder Franco Fagioli vor. Ombra Cara war 2010 eine Aufnahme (damals mit Bonus-DVD) mit Händel-Arien von Behun Mehta, die auch heute noch auf dem unübersichtlichen Markt bestehen kann. Mit René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester hat Mehta hochkarätige Begleitung, das Medley umfasst eher weniger bekannte Arien aus neun Opern aus allen Phasen von Händels Leben (Rodrigo, Agrippina, Amadigi, Radamisto, Rodelinda, Riccardo I., Tolomeo, Sosarme und Orlando). Auch heute noch eine interessante Zusammenstellung, die sehr gut musiziert und von Mehta ausdrucksstark modelliert wird. (HMA 1902077) Marcus Budwitius

Flotte Sache

 

Die Operette ist wieder präsent – seit einigen Jahren feiert sie deutschlandweit ein großes Comeback – im Mittelpunkt fast immer die Werke der 20er und 30er Jahre. Auch Nico Dostals Prinzessin Nofretete gehört zu diesen Augrabungen. Anfang des Jahres war das Werk in Leipzig an der Musikalischen Komödie zu sehen, jetzt gibt’s die Produktion auf CD beim Label Rondeau.  Die Premiere des Werks war 1936 in Köln, obwohl Musik und Stoff  (schließlich war der Kopf der Nofretete eine Berliner Museumattraktion) eigentlich gut nach Berlin passen würde.

Das hatte mit der Naziherrschaft zu tun. Die Nazis waren verzweifelt auf der Suche nach vorzeigbaren nichtjüdischen Operettenkomponisten, und Dostal wäre eigentlich der ideale Kandidat gewesen, doch er erwies sich als ungewöhnlich renitent. Er ist nicht sonderlich abgewichen vom satirischen Operettentypus der Weimarer Republik, zum Ärger der Nazis hat er auch weiter recht jazzige Rhythmen geschrieben – und so wurden die Städte, in denen seine Operetten uraufgeführt wurden, immer kleiner, nach Köln waren es Bremen, Stuttgard, Chemnitz.

Aber hier, in der Nofretete, geht noch richtig die Post ab.Ein letztes freches Werk in der Tradition der 20er Jahre. Verglichen mit Manina oder der Ungarischen Hochzeit ist das Libretto zu Nofretete sehr anständig – albern, aber, wie auch Dostals erster und größter Erfolg Clivia mit Biss und Schmackes, und  strukturell durchaus anspruchsvoll.

Die Handlung wird auf zwei parallelen Ebenen erzählt, zum einen gibt’s verwickelte Liebesgeschichten bei Ausgrabungen in Ägypten der damaligen Gegenwart. Und im alten Ägypten 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Beide Figurenensemble ähneln sich von den Namen her und werden von denselben Sängern gesungen, mit schönen Seitenhieben auf den Massentourismus und Sensationsjournalismus – die Gegenwartsebene spielt in der Sphäre einer Pauschaltouristengruppe.

Unterbesetzte Tenorrolle: Bei den Sängern der neuen Aufnahme bei Rondeau aus der Musikalischen Komödie Leipzig gibt es, wie so oft, die spürbare Fallhöhe zwischen Frauen und Männern in der Operette . Es scheint ein ehernes Gesetz im 21. Jahrhundert  zu sein, dass wir sehr gute Sängerinnen für dieses Genre zur Verfügung haben, aber kaum adäquate Sänger, insbesondere Tenöre (oder es liegt an den Besetzungsbüros?). Fast jede Neuaufnahme der letzten Jahre scheitert am Operettentenor.  Und das zeigt sich hier in diesem Werk besonders schmerzlich: Das war eine tolle Produktion in Leipzig, inszeniert mit viel Aufwand, gegeben mit viel Liebe, engagierten Hauptdarstellerinnen (Lili Wünscher und Nora Lentner), kessem Ballett und einem extrem schwachen Tenor (Rodoslaw Rydlewski) in der männlichen seriösen Hauptrolle.

Es fällt mir schwer, das zu schreiben. Denn ich weiß – die Musikalische Komödie Leipzig ist nicht die Scala (und auch die besetzt zweifelhaft, wie man dem Andrea Chénier neulich im Fernsehen entnehmen musste…). Gern ist der Rezensent bereit, ein Auge zuzudrücken bei schönen Entdeckungen und mutigen Ausgrabungen. Hier wären es beide Augen und beide Ohren. Und das wäre zu viel der Toleranz. Man kann es sich diesmal nicht schön hören. Fakt ist, dass der Tenor der elegischen, lehárschen Musik in keiner Weise gerecht wird und damit einen beträchtlichen Teil der Aufnahme verdirbt.   Was umso tragischer ist, da die Einspielung stilistisch exzellent ist. Das Orchester klingt nicht seifig, es ist hier wirklich ein schöner 30er-Jahre-Sound gelungen, den Stefan Klingele am Pult fesch zelebriert (2 CD Rondeau ROP 614748). Matthias Käther

Solide

 

Das Festival Rossini in Wildbad nimmt sich verdienstvollerweise auch der Nebenwerke des Komponisten an, die dank der Initiative von Naxos zumeist den Weg auf Tonträger finden. So wurde im Juli 2015 eine Aufführungsserie von Bianca e Falliero mitgeschnitten und nun auf drei CDs herausgebracht (8.660407-09). Das zweiaktige Melodramma komponierte Rossini nach seiner Donna del lago in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts; 1819 wurde es in Mailand uraufgeführt. Schauplatz der Handlung ist Venedig, wo Bianca nach dem Willen ihres Vaters Contareno, der dem Rat der Drei angehört, mit ihrem Verehrer Capellio vermählt werden soll, jedoch den venezianischen Feldherren Falliero liebt. Dieser Konflikt führt zu den üblichen dramatischen Situationen, endet jedoch glücklich mit der Heirat des jungen Paares.

Bis auf die Wiederverwendung von Elenas Schlussrondo aus der Donna nutzte Rossini kaum Themen aus früheren Werken, auffällig sind der Einsatz von Quartetten, großen Ensembles und Chören sowie zwei ausgedehnten Finali. Ein weiterer ungewöhnlicher Fakt ist, dass keiner der Nebenrollen eine eigene Arie zugeordnet ist. Mit energischen Akkorden beginnt die Sinfonia, gefolgt von einem munteren Vivace-Thema mit stürmischem accelerando, wo sich die Virtuosi Brunensis unter Antonio Fogliano als pulsierendes Ensemble von großer Spielfreude erweisen. Die Finali weiß der Dirigent mit Atem beraubendem Tempo rasant zu steigern, der Camerata Bach Choir Poznan (Einstudierung: Ania Michalek) in den Eingangschören zum 1. und 3. Akt mit kraftvollem Gesang zu überzeugen.

Das erste Solo fällt Falliero, eine der typischen Hosenrollen des Komponisten,  mit der Kavatine „Se per l’Adria il ferro strinsi“ zu. Die Mezzosopranistin Victoria Yarovaya, seit 2009 mit Pesaro-Erfahrungen, singt sie mit Nachdruck und einer bis in die Höhe gerundeten und flexiblen Stimme. Bei ihrer Kavatine im 3. Akt („Alma, ben mio“) gefällt sie mit weicher, inniger Tongebung, bei der nachfolgenden erregten Arie „Tu non sai“ mit dramatischem Impetus. Die weibliche Titelheldin beginnt mit ihrer Kavatine „Della rosa il bel vermiglio“, welche die Italienerin Cinzia Forte mit lyrischem Sopran von etwas larmoyantem Tonfall wiedergibt. Mit Falliero hat sie gegen Ende des 1. Aktes das erste Duett („Sappi che un dio crudele“), in dem sich beide Stimmen harmonisch mischen und das reiche Zierwerk überlegen bewältigen. Im 1. Finale weiß die Interpretin mit substanzreicher Lyrik zu überzeugen. Auch im 2. Akt hat das Titelpaar ein Duett („Va crudel“), das zunächst die Sopranistin dominiert und das dann in einen innigen Zwiegesang mündet. Schließlich bestimmt Bianca das Finale II mit ihrer Arie „Teci io resto“, die dem Rondo der Elena aus der Donna folgt und der Sopranistin gebührend Gelegenheit gibt für einen bravourösen Auftritt. Als ihr Vater Contareno ist mit Kenneth Tarver ein Rossini-Veteran im Einsatz. In seiner Arie „Pensa che omai resistere“ beweist er noch immer intaktes Material und souveräne Technik sowie eine sichere Bewältigung der Tessitura. Die tiefen Töne steuert der Bassist Baurzhan Anderzhanov als Senator Capellio bei, der im Duett mit Bianca im 2. und im Quartett des 3. Aktes für das grundierende Fundament sorgt. Bernd Hoppe

Im Doppel und im Kontrast

 

Zwei Produktionen von Opern Claudio Monteverdis aus dem Jahre 2009, die in ihrer Ästhetik nicht unterschiedlicher sein könnten, hat OPUS ARTE in einem Schuber zusammengefasst (OA 1256 BD). Aus dem Teatro alla Scala kommt Robert Wilsons Inszenierung des Orfeo, bei der Rinaldo Alessandrini der kompetente Sachwalter für einen authentischen Barockstil ist und das Orchestra of Teatro alla Scala zu einem lebendigen Musizierstil beflügelt. In der Besetzung finden sich einige prominente Vertreter dieses Genres, allen voran Roberta Invernizzi, die nach La Musica im Prolog noch die Euridice gibt, Sara Mingardo, die als Messagera und Speranza ihren betörenden Alt hören lässt, und Raffaela Milanesi, die als Proserpina ihren Gatten Plutone (Giovanni Battista Parodi) becirct, Orfeo die Geliebte zurückzugeben. Eher ein Interpret für das interessante Charakterfach ist Georg Nigl, der nicht umsonst als Wozzeck und Jakob Lenz auf vielen Bühnen Triumphe feiert. Hier singt er die Titelrolle mit farbigem, flexiblem und ungewohnt weichem Bariton, der aber dennoch den Schmerz über den Verlust des geliebten Menschen mit expressiver stimmlicher Gebärde formulieren kann.

Wilson zeichnet auch für die Bühne verantwortlich, die in ihrer strengen Ordnung besticht, zunächst eine Zypressenallee mit allerlei Getier zeigt, das auch tanzt und oft als Silhouetten zu sehen ist. Die Unterwelt im 3. Akt sieht man als dunkles, düsteres Mauerwerk. Später wird die schwarze Wand durch helle Flächen mit kubistischer Wirkung unterbrochen, bis im 5. Akt die gesamte Bühne leer ist und einen Lichtstreif, später eine glutrote Abendsonne am Horizont zeigt.  A J Weissbard als Lighting Designer taucht die Szene in wechselnde, oft zauberische Stimmungen. Die Personen mit weiß geschminkten Gesichtern, kostbar gewandet von Jacques Reynaud, verharren – auch dies ein Stilmerkmal Wilsons – in statuarischen Posen oder schreiten gemessen. Bei Liebhabern einer artifiziellen Ästhetik dürfte die Aufführung auf besondere Zustimmung stoßen.

 

Aus dem Gran Teatre del Liceu  stammt David Aldens Comic-hafte Inszenierung von L’incoronazione di Poppea, bei der mit Harry Bicket gleichermaßen ein ausgewiesener Barock-Spezialist am Pult steht. Er dirigiert das Baroque Orchestra of the Gran Teatre del Liceu und eine erlesene Besetzung, die Sarah Connolly als cholerischer Nerone anführt. Von androgyner Erscheinung, Aura und Stimme darf sie als Idealbesetzung für diese Rolle gelten. Und mit ihrem Mezzo hat sie – im Gegensatz zu manchen Countertenören – keinerlei Schwierigkeiten mit deren Tessitura.

Auch die Titelpartie ist mit Miah Persson hochrangig besetzt. Von körperlicher Attraktivität und verführerischer Ausstrahlung ist sie optisch die Inkarnation einer Frau, die alle ihre Trümpfe einsetzt, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Und der farbige, auftrumpfende Sopran korrespondiert dazu prächtig.  Wie  so oft ist das finale Duett zwischen Poppea und Nerone, „Pur ti miro“, auch in dieser Aufführung der gesangliche Höhepunkt dank der hochkarätigen Stimmen und der subtilen Interpretation. Jordi Domènech ist der Ottone mit klangvollem, weichem Counter. Geradezu abonniert auf die Rolle des Seneca ist Franz-Josef Selig. Eben hat er sie in der wiedereröffneten Berliner Staatsoper gesungen und auch hier besticht er mit seinem sonoren Bass, der in der Sterbeszene wiederum ergreifende Wirkung  erzielt. Maite Beaumont mag optisch die imperiale grandeur für die Ottavia fehlen, Stimme und Vortrag aber sind von singulärer Dimension. Das expressive Pathos bei „Disprezzata regina“geht ans Äußerste und streift die Hysterie, „Addio, o Roma!“ ist von existentiellem Umriss.

Kaum eine Aufführung der Poppea ohne Dominique Visse mit seinem unverwechselbar krähenden Timbre als Amme Arnalta, wie stets in bizarrem Outfit und mit skurrilem Gehabe. Hier gibt er sogar eine Doppelrolle  als Ottavias Nutrice in der Kostümierung einer Krankenschwester.

Alden lässt den Prolog und viele weitere Szenen an oder auf einem roten Ledersofa vor einer gläsernen Drehtür spielen (Bühne: Paul Steinberg), wo die Göttinnen in plissierten Renaissance-Kostümen (Buki Shiff) sich mit keifenden Stimmen streiten, Nerone und Poppea ihre Liebe besingen, Ottavia das Los der verstoßenen Kaiserin beklagt und Poppea sich lasziv räkelt. Pat Collins taucht die Szenerie in schrille Bonbonfarben und wechselt gemeinsam mit Steinberg erst im 2. Akt zu einem dunklen Interieur, um im 3. wieder zu greller Buntheit zurückzugehen und am Ende ein flimmerndes Schwarz-Weiß-Raster  zu zeigen. Für Freunde von Slapstick,  Popkunst und Clownerien ist diese Inszenierung,  die an der Bayerischen Staatsoper München während der Intendanz von Peter Jonas ihre Premiere hatte, sicherlich ein großes Vergnügen. Bernd Hoppe

Ein zu toller Tag

 

In der alten Giorgio-Strehler-Inszenierung an der Scala hatte Diana Damrau noch die Susanna gesungen, nun war sie 2016 am gleichen Haus die Contessa in der Produktion von Le Nozze di Figaro, die Frederic Wake-Walker zu verantworten hat. Auch die italienischen Opernbühnen haben sich inzwischen modernen Regietrends geöffnet, gehen aber meistens nicht so weit, gesellschaftskritische Botschaften zu verkünden oder (und) Piefke-Milieus zu bevorzugen. Stattdessen versucht man ästhetisch noch einen draufzusetzen, welche Aufgabe hier einige modelmäßige Damen in engen schwarzen Kostümen, mit hochgetürmten Frisuren und affektiert stöckelndem Gang erfüllen. Sie „helfen“ auch bei der Einrichtung des Zimmers für Figaro und Susanna, und die beiden Bauernmädchen im Hochzeitsbild sind hier zwei zu drag queens aufgetakelte Riesendamen in knappen Spitzenhöschen. Bühnen- und Kostümbildner Anthony McDonald sorgt dann andererseits im letzten Bild für Ernüchterung, wenn es den Park nur als Hintergrundprospekt gibt und sich die Paare nicht in Pavillons, sondern hinter Bürostühlen verstecken. Insgesamt meint man eher einer harmlosen italienischen Farsa beizuwohnen als einem doch für seine Zeit sehr brisanten Stück. Zu diesem Eindruck trägt auch der häufige und unbegründete Farbwechsel in der Lichtregie von Fabiana Piccioli bei.

Diana Damrau kann sich auch in dieser Produktion die Rolle des Publikumslieblings ersingen und erspielen, wie Szenen- und Schlussapplaus beweisen. Sie sieht auch in den irrwitzigsten Kostümen phantastisch aus und singt ihre beiden Arien mit feiner Empfindung, vielleicht nicht mit ganz so viel Wärme in der Sopranstimme wie berühmte Vorgängerinnen. Sowohl optisch wie stimmlich dem Conte bereits entwachsen ist Carlos Alvarez, der wenig Aristokrat und zu deftig und grobkörnig, auch was den Gesang betrifft, ist. Dass er im „Park“ gleich in Unterhose erscheint, macht ihn nicht liebenswürdiger. Ein munterer, wendiger Bursche ist der Figaro von Markus Werba, der zudem stilistisch keine Wünsche übrig lässt und dessen Diktion einfach vorbildlich ist. Ihre „Rosenarie“ im (herabgelassenen) Kronleuchter singen muss die Susanna von Golda Schultz, sie tut es mit feiner, zarter Sopranstimme und zeigt im Spiel viel quirligen Charme. Prägnanter wünscht man sich den Basilio von Kresimir Spicer, der seine Arie singen darf, was leider der Marcellina von Anna Maria Chiuri nicht vergönnt ist, die eine köstliche Studie im Wandel von giftender alter Jungfer zur liebenden Mutter abliefert. Andrea Concetti singt die Vendetta-Arie des Bartolo mit schöner Sonorität, Theresa Zisser bleibt etwas fad als Barbarina. Die Straße zu einer großen Karriere hat inzwischen Marianne Crebassa eingeschlagen, die auch hier als Cherubino, leider zur Karikatur geschminkt, ihre beiden Arien wunderbar facettenreich singt und sich mit der Damrau die Krone der Beliebtheit teilen darf. Franz Welser-Möst versteht sich mit den Professori im Orchestergraben bestens, und aus ihrem Einvernehmen entsteht ein wunderschöner Klangteppich, auf dem sich die Sängerstimmen wohlfühlen können (DVD C-major 743108). Ingrid Wanja   

Strenges Gericht

 

Von der hohen Warthe der besserwissenden um nicht zu sagen besserwisserischen Nachgeborenen her betrachtet ein vierköpfiges Autorenkollektiv (Jürgen Schläder, Rasmus Cromme, Dominik Frank und Katrin Frühinsfeld) die Geschichte der Bayerischen Staatsoper vor und nach 1945 unter dem Titel „Wie man wird was man ist“. Es geht um die Jahre 1933 bis 1963, und so legt der Titel nahe zu denken, die Bayerische Staatsoper habe ihre Prägung in den Jahren der Naziherrschaft erhalten, und sie habe sich, da es zwischen 1963 und 2017 keinen Einschnitt mehr wie 1933 oder 1945 gegeben hat,  von den Einflüssen, denen sie zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt war, noch immer nicht befreien können. Für die Jahre von 1964 bis heute ist das Spekulation, für die davor liegenden jedoch, ausgenommen die Intendanz von Rudolf Hartmann, erwecken die Autoren den Eindruck, sowohl in der Bühnenästhetik als auch der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Hauses habe sich nach 1945 nichts verändert, wobei auffällt, dass durchgehend Oper angeblich und offensichtlich die Aufgabe hat, aufklärend und erziehend auf ihr Publikum einzuwirken, dass der ästhetische Genuss, das Eintauchen in eine andere Welt, das Entzücken über die Musik und den Gesang uninteressant und zu vernachlässigen sei. Auch von Dirigenten ist nur insofern die Rede, als sie sich gut oder weniger gut mit den Nazis standen, Sänger sind nur interessant, sofern sie unter deren Herrschaft zu leiden hatten, und immer wieder klingt durch, dass derjenige verächtlich sei, der nicht als Widerstandskämpfer sein eigenes und das Leben seiner Familie riskiert habe. Dabei wird zudem noch ein Unterschied gemacht zwischen einem nach Meinung der Verfasser nicht so sehr „Belasteten“ wie Carl Orff, dem die jüdische Großmutter als Entschuldigung für vorsichtiges Verhalten angerechnet wird, während bei Richard Strauss nicht einmal der halbjüdische Enkel und dessen Großmutter sowie Mutter zählen, um deren Schicksal er sich sorgen musste.

Zunächst wird die Geschichte des Bauwerks, seine Zerstörung 1943, der Einsatz der Münchner Bürger für einen Wiederaufbau beschrieben, wobei bereits deutlich wird, dass dieser ganz bestimmt nicht aus den Gründen gewünscht wurde, die die Autoren für  maßgebend für den Wert eines Opernhauses halten, die sie vielmehr als „Historizität und Festlichkeit“ definieren und damit abkanzeln. Bereits in diesem Kapitel nimmt man allerdings erfreut den Reichtum an Abbildungen zur Kenntnis, durch den sich das gesamte Buch auszeichnet.

Tadelnd vermerken die Autoren im Kapitel über die Eröffnungsfestwochen nach dem Wiederaufbau, dass „Mythisierung und Historisierung“ Triumphe feiern, dass die „Nazioper“ Die Meistersinger zu den aufgeführten Werken gehört, dass der „Naziprofiteur“ Egk die einzige Uraufführung bietet. Auch in weiteren Kapiteln werden Strauss und Egk bzw. die Aufführung von deren Opern als Beispiele für „Verdrängungsstrategie“ getadelt, und auch das „Starwesen“ in der Person von Christa Ludwig kommt nicht gut weg, immer wieder aber verstört die Unbarmherzigkeit der Autoren gegenüber den Persönlichkeiten, die sich nicht als mutige Widerstandskämpfer profilierten.

In einem historischen Rückblick bis auf 1810 verwundert, dass das Spielen italienischer Opern als Affront gegenüber Napoleon angesehen wird.

Neu ist für den Leser, dass der Begriff der Werktreue eine Erfindung der Nazis sein soll, skeptisch gesehen auch, denn man „glaubte…aus dem Geist ihrer Schöpfer interpretieren zu können“ ( An anderer Stelle heißt es „im scheinbaren (besser: anscheinenden) Sinne des Autors“.) . Damit wird jeder, der die „Werktreue“ schätzt, zu einem in die Fußstapfen der Nazis Tretenden. Und wie konnte 1917  die Uraufführung von Pfitzners Palestrina „auf die darbenden Menschen“ „wie ein Labsal“ wirken- wer von denen ging wohl in die Oper, die hier wie an vielen Stellen in ihrer Wirkung auf die Massen wohl überschätz wird. In der Kritik steht auch die Spielplanpolitik, wenn kaum ein uraufgeführtes Werk auf eine zweistellige Aufführungszahl kommt, was bei entsprechendem Publikumszuspruch wohl hätte vermieden werden können. Ironisch wirkt vermerkt, dass diese „konservativ zu nennen“ schon „ein Euphemismus“ ist.

Mit dem Bildungsbürger haben die Autoren auch ein Hühnchen zu rupfen. Sie werfen ihm „Germanentreue“ vor, und seine Vorstellung von Kunst mündet angeblich in der Naziideologie. Warum für das Bildungsbürgertum der „Liberalismus den Untergang“ bedeutete entbehrt der Begründung (gerade dieses wählte die beiden liberalen Parteien), ebenso wie es nicht verwunderlich ist, dass 90% des Spielplans nach 45 sich nicht von dem in der Nazizeit unterschieden.

Sehr ausführlich und deshalb hier in dieser Ausdehnung fehl am Platze wird die Geschichte der Reichskulturkammer beschrieben, über die „Säuberung“ an der Semperoper, über Arabella, die nicht in München uraufgeführt wurde und über die berühmte Hoteltreppe in verschiedenen Inszenierungen des Werks informiert.

Immer wieder wird Richard Strauss vorgeworfen, er „schuf also…eine Oper, die genau auf der ästhetischen wie kulturpolitischen Linie der Nationalsozialisten lag“– was dann seltsamerweise nicht nur auf den Friedenstag (die Times nannte das Werk allerdings „pazifistisch“.) wie auch auf Capriccio zutreffen sollte, das sicherlich nicht auf die von Bombenangriffen genervten Massen zugeschnitten war. Da könnte man ebenso von „innerer Emigration“ sprechen wie bei den Personen, denen das von den Autoren nicht verwehrt wird.

Die Verfasser stellen immerhin fest, dass in der Personalpolitik in der Nazizeit in der Oper Qualität vor Parteitreue ging, dass es keine einheitliche Linie gegenüber jüdischen Künstlern gab, behaupten aber auch, Clemens Krauss habe die Judenverfolgung unterstützt, indem er für sich ein ehemals von Juden bewohntes Domizil  forderte.

In den Beiträgen über die Nachkriegszeit taucht natürlich die alte Frage danach auf, ob es sich bei den Nazis um einen Irrweg oder um eine Konsequenz aus der bisherigen deutschen Geschichte handle, was den Rahmen bei dem Thema Bayerische Oper al-zu weit spannt.

Leicht durcheinander kommen kann der unbefangene, d.h. uninformierte Leser, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass es nach 45 zwei Hartmanns als Intendanten gab: zunächst Georg, ab 63 Rudolf, wobei der Erstere eher die Sympathie der Verfasser genießt. Ehe auf deren Wirken eingegangen wird, erfährt man, dass auch bei der Entnazifizierung in Künstlerkreisen ähnliche Probleme auftraten wie auf anderen Gebieten, vor allem, dass die Fachleute häufig belastet waren, aber gebraucht wurden.

Für den „gemeinen“ Leser am interessantesten sind die Portraits, so die von Clemens Krauss, Ludwig Sievert (Bühnenbildner, dem vorgeworfen wird, er habe seine expressionistischen Anfänge verleugnet), Richard Strauss, der die Musik Schönbergs bereits vor 33 nicht mochte und so die „Haltung der NS-Musikpolitik voraus“ nimmt., der als „Propagandakomponist“ bewertet wird und der sich mit Capriccio schlauerweise schon einen Persilschein beschaffte. Das las sich einige Kapitel zuvor etwas anders. Völlig verkannt wird auch seine Beziehung zu Stefan Zweig, den er unbedingt als Librettisten halten wollte.

Mit Anteilnahme liest man, was über das Schicksal jüdischer Sänger berichtet wird oder solcher, wie Hilde Güden, die Beziehungen zu Juden hatten.

Mehrfach setzen sich die Autoren mit Werner Egk auseinander, besonders mit seiner Zaubergeige, die sie als übles Nazistück entlarven, wenn sie die Rückkehr des Helden  nach vielen Abenteuern zu seiner treu auf ihn gewartet habenden Gretel für das Beweisstück halten, obwohl dieses Motiv doch kein ungewöhnliches ist (Peer Gynt!). Und dass der Komponist seinen künstlerischen Überzeugungen „treu blieb“, macht ihn natürlich zusätzlich verdächtig. Ehrlicherweise enthalten sie dem Leser nicht vor, dass das Stück von Nazis, weil zu „unpolitisch“, auch abgelehnt wurde.  Dann wieder sind sie erbarmungslos, wenn sie eigentlich jedem, der nicht aktiv Widerstand leistete, vorwerfen, „durch Aufrechterhaltung der Normalität dem Verbrechen Vorschub geleistet“ zu haben.

Mit Carl Orff wird milder verfahren, auch wenn man ihm vorwirft, durch seine Musik zum Sommernachtstraum quasi Mendelssohn-Bartholdy in den Rücken gefallen zu sein.

Der Sympathie der Amerikaner und auch der Autoren erfreut sich Karl Amadeus Hartmann, der dritte Hartmann also, für seine „kompromisslose innere Emigration“, denn er „schuf rund um die Bayerische Staatsoper eine musikalische Offenheit und Lauterkeit, die man….auf der Bühne des großen Hauses vermissen musste“.

Interessant sind die Ausführungen zum Schicksal von Hans Knappertsbusch, der es trotz Auftrittsverbots auf die Liste der „Gottbegnadeten“ schaffte, einem Irrtum unterliegt man, wenn man Sachsens Ansprache in den Meistersingern so deutet, als wenn das Reich unterginge, wenn dieses der Kunst geschehe, und ob Die Meistersinger ein „nationalsozialistisches Propaganda-Werk“ sind, mag jeder für sich selbst entscheiden, so wie er auch  diesen Satz : „Wer mit dem Standard-Repertoire der NS-Zeit unmittelbar nach Kriegsende ästhetische Verharmlosung betrieb, erteilte nicht nur jeder kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit eine harsche Absage, sondern stellte die nationalsozialistische Theaterpolitik auf eine Stufe mit der Kulinarik der beginnenden Adenauer-Ära“ der kritischen Überprüfung unterziehen sollte. Darüber wird vergessen, dass das „Standardrepertoire“ bereits in der Weimarer Republik dasjenige war, dessen man sich auch heute noch erfreut.

 Man wünscht den im Verurteilen eifrigen Autoren, dass sie nie vor Gewissensentscheidungen gestellt werden, vor denen die von ihnen verurteilten Protagonisten einst standen, und man wünscht ihnen ein Opernerlebnis, das über das hinausgeht, was sie in der Oper sehen.

Übrigens ist der Titel, weil bereits als der für die Memoiren eines Psychotherapeuten benutzt, nicht sehr glücklich gewählt (Henschel Verlag 2017, 456 Seiten; ISBN 978 3 8948 7796 5/ Foto oben: Die Bayerische Staatsoper/ Ausschnitt/ Wikipedia). Ingrid Wanja

Niksa Bareza

 

Vielen Operngängern, von Berlin über Hamburg und Wien bis San Francisco, wird Nikša Bareza noch aus den 80er Jahren bekannt sein, vor allem im italienischen Repertoire. Im selben Jahrzehnt erarbeitete er sich in seiner Chefposition in Graz auch als Wagner-Dirigent einen exzellenten Ruf, der ihn u.a. an die Mailänder Scala führte und auch in seiner Zeit als Generalmusikdirektor in Chemnitz begleitete. Und selbst nach so vielen Karrierestationen und einem runden Geburtstag im vergangenen Jahr hält der in Split geborene Künstler (Jg. 1936) dem Theater die Treue.

Niksa Bareza/ Kuturmanagement GmbH

Für Januar/Februar 2018 ist am Nationaltheater Zagreb Der fliegende Holländer geplant; im  Herbst 2017 dirigierte Bareza dort eine Wiederaufnahme von Prokofjews Liebe zu den drei Orangen, die, kurz nach der Premiere im Frühjahr, ein Gegenstand unseres Gesprächs waren: „Ich habe dieses Werk bereits als junger Mann dirigiert und bin sehr glücklich, jetzt noch einmal dabei am Pult zu stehen. Es ist bis heute ungeheuer modern, wie Prokofjew so distanziert, herausgelöst aus der Aktualität, seine Komposition entwickelt hat und zugleich so originell mit der Vorlage von Gozzi umgegangen ist.” Die Entwicklungslinien im Schaffen großer Komponisten, besonders vor politischen Hintergründen, haben Bareza schon immer fasziniert. Durch die Erhebung einzelner Stücke zum Kanon droht die Vernachlässigung der experimentellen Seite von Werken, die fälschlicherweise oft als unausgereift abgetan worden sind (wie z.B. in Prokofjews Fall Der Spieler). Im Gegensatz dazu, findet Bareza, ist es geradezu als Ironie des Schicksals zu sehen, dass an Prokofjews Krieg und Frieden oder Romeo und Julia, nach der Rückkehr des Komponisten in seine russische Heimat, häufig gerühmt wurde, der Komponist habe endlich seinen persönlichen Stil gefunden.

Eben die ästhetischen und stilistischen Wandlungen desselben Komponisten von einem Werk zum anderen haben ihren Reiz auf Bareza ausgeübt. Wohl kaum ein Dirigent hat das Opernschaffen von Verdi, Wagner und Puccini, gleichmäßig verteilt auf jeden der drei, so komplett erkundet wie Bareza. Bei Wagner betont er, dass bereits im Liebesverbot motivische Anklänge an Tannhäuser und sogar Parsifal feststellbar sind. „Von Verdi habe ich, ausgehend vom Nabucco bis zum Falstaff, 15 Werke dirigiert – außerdem noch das Requiem und Te Deum.” An Verdi hebt Bareza den wiederum geradezu experimentellen Umgang mit den Form-Schemata hervor, vor allem von Cantabile und Cabaletta, bis dieser in der Zusammenarbeit mit Boito vollends aufgebrochen und aufgehoben wird. „Neben der oft zitierten ,verità’, gehörte zu den Prioritäten der Librettisten die ,unità’ – also das Verfassen des Libretto, um eine strukturelle, ja architektonische Einheit mit der Musik zu gewährleisten. Das ist eine Werkdimension, die manche Dirigenten ignorieren oder übersehen, obwohl wir einen Lehrer haben und seine Aufnahmen noch studieren können, der mit Verdi gearbeitet hat:Arturo Toscanini.”

Niksa Bareza mit dem Tenor Sebastian Ferrada anlässlich der „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb/ Nationaltheater Zagreb

Nicht umsonst war es ebenfalls Toscanini, der noch für die Komponisten der Generation nach Verdi eine Schlüsselfunktion innehatte: Puccini, aber u.a. auch Arrigo Boito: „Es ist auch bemerkenswert, dass Boito Literat aus dem Kreis der Scapigliatura war, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Dada-Bewegung des 20. Jahrhunderts aufweist. Boitos starke Affinität zu Wort und Text hat natürlich auch seine Beschäftigung mit Goethe und damit den Mefistofele geprägt; später war Boito dann durch die enge Zusammenarbeit mit Verdi bei der Arbeit an Nerone gehemmt.” Nerone ist eine der vielen Raritäten des italienischen Repertoires, die Bareza dirigiert hat – zuletzt Sakuntala von Alfano, 2016 in Catania. „Alfano ist tatsächlich ein weiterer zu Unrecht vergessener Meister. Ich habe mich schon vor einigen Jahrzehnten mit Rissurezione in Palermo für seine Wiederentdeckung eingesetzt. Bei Sakuntala ist allein schon die Instrumentierung großartig, aber man muss erneut besonders auf die Sprachbehandlung achten.”

Nicht zuletzt an diesem Punkt legt Bareza großen Wert auf eine intensive Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Sängerensemble. Nicht nur bei Ausgrabungen, gerade auch bei Puccini, betont Bareza, gelte es jegliche Schlamperei zu vermeiden, um der kompositorischen Meisterschaft gerecht zu werden, die er durchaus auf eine Stufe mit jener Gustav Mahlers rückt. Freilich hat sich der Opernbetrieb seit den Zeiten Puccinis, Mahlers und Toscaninis gewaltig verändert. „In Catania war bei Sakuntala eine kurzfristige Umbesetzung vonnöten, die im Stagione-Betrieb bei einem so selten gespielten Stück kaum zu bewerkstelligen ist. Das traditionelle deutsche Ensembletheater war und ist insofern ein Privileg, da bestimmte Stücke nur unter diesen Bedigungen realisierbar sind. Aber auch in Zagreb sind wir immerhin imstande, Die Liebe zu den drei Orangen aus dem Ensemble heraus zu besetzen, abgesehen von Michael Hendrick als Prinz.” Mit diesem Gast-Tenor als Waldemar brachte Nikša Bareza 2016 auch überaus erfolgreich Schönbergs Gurrelieder, als kroatische Erstaufführung, zur Aufführung.

Niksa Bareza/ Nationaltheater Zagreb

„Für den Sommer 2017 hatte sich im Ensemble sogar die Möglichkeit ergeben, die Modena-Fassung von Verdis Don Carlo, mit so vielen Proben einstudieren, wie das im heutigen internationalen Jet-Set-Betrieb gar nicht möglich ist. Das ist, so gravierend die wirtschaftlichen und damit verbunden kulturellen Probleme in Kroatien sind, eine positive Kehrseite: die große künstlerische Freiheit, mit einem im internationalen Vergleich kleineren Budget konzentriert arbeiten zu können.“ Die Frage, ob für ihn in dieser Hinsicht musikalisch noch andere Parameter gelten als an den größten Opernhäusern und Festspielen gefeierte Brillanz und Glamour, beantwortet Nikša Bareza: „In dieser Hinsicht halte ich es wie mein verehrter Kollege Nikolaus Harnoncourt: lieber eine falsche Note als eine falsche Phrase.“  (Foto oben: Niksa Bareza bei Proben zur „Traviata“ am Nationaltheater Zagreb) Sebastian Stauss

Preußische Zauberflöte

 

Johann Friedrich Reichardt ist heute vor allem noch bekannt als Lied-Komponist, von ihm stammen zum Beispiel die Melodien zu Volksliedern wie „Bunt sind schon die Wälder“ oder „Wenn ich ein Vöglein wär“. Aber Reichardt hat auch Opern geschrieben, eine davon ist jetzt bei cpo erschienen, Die Geisterinsel.  Eine Schaueroper ist das leider nicht. Und die war von Reichardt auch nicht zu erwarten. Obwohl dieser Komponist einer der großen Förderer der Romantik war, er war eng verbunden mit Arnim und Brentano, blieb er doch selbst der Aufklärung immer verhaftet. Dieses Opernhauptwerk von ihm, ein Singspiel von 1798, beschäftigt zwar viele Geister, Sylphen und Dämonen, aber das alles bleibt ein klassizistisches Gaukelspiel, und die wenigen düsteren, verhangenen Töne hat sich Reichard bei Mozart ausgeborgt. Und auch noch manch andere heitere Wendung…

Der Zauberflötenton herrscht vor. Die Geisterinsel ist Maschinen-Spektakelstück und frühe Shakespeare-Adaption zugleich; der „Sturm“ war hier die Vorlage. Es geht um italienische Adlige, die an einem verwunschenen Eiland landen und sich hier mit diversen Elementargeistern herumplagen müssen. Die großen Gefühle wie Freundschaft und Liebe stehen natürlich, typisch Aufklärung, im Mittelpunkt, interessanterweise geht’s aber auch dauernd um Müdigkeit – vielleicht ein zentrales Thema am langweiligen preußischen Hof, für den das Stück konzipiert wurde?

Schön, dass hier, in dieser sehr langen Rundfunkproduktion des WDR von 2002 (153 Minuten!) mal nicht versucht wurde, den Text der Dialoge zu modernisieren. Man sagt hier also wirklich „kömmt“ statt kommt, die für unsere Ohren oft lächerliche Gestelztheit sticht grell hervor, oft ist der Text Gotters und Einsiedels  in seiner Schlichtheit aber auch herzlich rührend. Unterm Strich merkt man doch, wie provinziell die deutsche Oper damals war gegenüber der französischen und italienischen Oper.

Auch musikalisch bleibt das Werk weit hinter dem internationalen Niceau zurück. Hört man sich etwa Peter von Winters Wiener Singspielmusik aus dieser Zeit an (ganz zu schweigen von den ambitionierten italienischen Buffe um 1800 von Mayr oder Spontini), wirkt diese preußische Zauberflöte doch etwas steifleinern. Dennoch könnte man hier von einem wichtigen historischen Dokument sprechen – denn genau das zu belegen erfordert einen gewissen Mut bei den Produzenten –, wäre die Einspielung rundum gut gesungen.

 Tolle Herren, bemühte Damen: Was nicht der Fall ist. Ich glaube, dass man die Gattung hier gewaltig unterschätzt hat.  Deutsches Singspiel um 1800, das klingt nach simplen Anforderungen. Aber weit gefehlt, der naive Ton ist nämlich so naiv gar nicht, er tut nur so – im Detail sind das dann schon vertrackte Noten, und wenn man das nicht wie aus dem Handgelenk zelebriert, wirkt es wie ein mißlingenes Souffle, dann wird das matschig und zäh, was eigentlich fluffig sein soll. Alle Männer sind zufriedenstellend, besonders Markus Schäfer als Fernando ist zu loben, ein schöner lyrischer Tenor, der die (angestrebte) Mozart-Nähe der Partitur wirklich würdevoll unterstreicht. Die drei Damen bleiben allesamt  frustrierend, (kein Zauberflöten-Kalauer, ehrlich!)  Diese Unagilität und Mühsamkeit der weiblichen Stimmen liegt Mehltau auf die Aufnahme (Ulrike Staude, Barbara Hannigan, Romelia Lichtenstein), im Gegensatz zu den Herren Ekkehard Abele, Tom, Sol und Jörg Hempel.  Was wirklich schade ist. Denn Herman Max und sein exzellentes Ensemble Das Kleine Konzert geben ihr Bestes. An ihnen liegt`s nicht, dass kein so rechter Schwung in die amüsanten Ensembles kommt, die doch das Beste an diesem bizarren Stück sind (cpo 2 CDs cpo 777548-2). Matthias Käther

Arme Elvira!

 

Will man seine Erfahrungen verallgemeinern, so bevorzugt das Publikum in schlechten Zeiten die heitere Kunst, geht es ihm gut, geben sich die Künstler gern miesepetrig und servieren ihm Übles jeder Art, so auch auf der Opernbühne. Als Beispiel, wenn auch der milderen Ausführung, mag die Inszenierung von Bellinis I Puritani an der Nederlandse Opera durch Francisco Negrin von 2012 gelten, wenn dieser am Schluss des eigentlich  happy  zu Ende gehenden Stücks Arturo von seinem Rivalen Riccardo niederknallen lässt und wenn der gute Onkel Giorgio nebst dem Chor zu anteilnehmendem Gesang dräuende Gebärden gegenüber der unglücklichen Elvira zeigen. Ein bisschen crudeltà muss sein, und ansonsten ist die Regie behutsam im Umgang mit dem fragilen Werk und seiner ebenso beschaffenen Heldin. Es Devlin siedelt die Puritaner in blinkendem Metall an, das mit unentzifferbarer Blindenschrift bedeckt ist, nur selten öffnen sich die engen Mauern und geben den Blick auf Himmel und Meer frei. Der Chor singt meistens von Emporen herab, die Kostüme von Louis Désiré können als solche der Handlungszeit durchgehen, charakterisieren die Puritaner als strenges, weltlichem Tand abholdes Volk, dem Gesangsbücher in ungeheurer Anzahl immer und überall zur Verfügung stehen, Elvira aber trägt einen Aktenordner mit sich herum, von dem nie ganz klar wird, was er enthält.  Die Lichtregie sorgt dafür, dass die Alu-Dekoration mal silbern, mal golden blinkt.

Sehr uneinheitlich ist die Besetzung für das seltener zu erlebende Werk. Der einzige Italiener im Ensemble ist Riccardo Zanellato mit ebenmäßig gefärbtem, kraftvollem Bass als Sir Giorgio. Neben ihm ist John Osborn als Arturo ein großes Plus der Aufführung mit bei aller Leichtigkeit der Stimmführung virilem Tenor der ungefährdeten Höhe  auch in den berüchtigten extremen acuti, die nicht Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel zu sein scheinen. Dazu sieht er auch noch gut aus und kann gut als jugendlicher Held durchgehen. Sehr poetisch und agogikreich gestaltet er die Abschiedsszene und am Schluss dominiert er unangefochten  das Ensemble. Der Bariton seines Gegenspielers Riccardo, gesungen von Scott Hendricks, hat eine angenehme Farbe, aber der Sänger klingt in der Höhe leicht gequetscht, drückt zu sehr auf die Stimme und findet oft nicht zu einer ruhigen Gesangslinie.  Daniel Borowski klingt zu dumpf in der kleineren Partie des Gualtiero.

Leider ist die Stimme von Mariola Cantarero, die ehemalls als nun verlöschender shooting-star gefeiert wurde die Elvira singt, nicht mehr so üppig wie ihre Erscheinung, ist ihr Spiel so verhalten, dass daneben die kleine Partie der Enrichetta, von Fredrika Brillemboug mit Feuer und Leidenschaft gesungen und gespielt, mächtig aufgewertet wird. Im zweiten Akt kann der Sopran mit einer schönen Mittellage für „lasciatemi morir“ punkten, aber die Höhe ist grell, und die mezza voce klingt flach.

Martin Wright  hat den Chor bestens vorbereitet, das Orchester unter Giuliano Carella erfüllt seine Begleiterfunktion perfekt (DVD Opus Arte 1091). Ingrid Wanja

Nur akustisch attraktiv

 

Als Glück erweist sich manchmal das eingeschränkte Blickfeld einer Videokamera, die es dem Betrachter einer DVD am häuslichen Fernseher erspart, allzu früh von dem absurden Einfall eines Regisseurs Kenntnis nehmen zu müssen. Im Falle des Fliegenden Holländer aus Lyon, der auch nach Madrid reiste, wo die Aufnahme entstand, ist es die geniale Idee, Daland und Holländer nur ein einziges Schiff zuzugestehen, das sich zudem noch im bedauernswerten Zustand des Abgewracktwerdens befindet, und das alles nicht etwa in Norwegen, sondern an einem wohl indischen Strand, wie es die Metallteile säubernden und nicht etwa das Spinnrad bedienenden exotischen Damen vermuten lassen. Alex Ollé hat sich das alles einfallen lassen und mit Unterstützung von La Fura dels Baus in die Tat umgesetzt. Im ersten Akt kommt also Daland auf einer Riesentreppe von der Reling des rostigen Tankers, während der Holländer samt Mannschaft offensichtlich im Bauch desselben haust. Echter Sand türmt sich zu mannshohen Dünen und erleichtert weder Solisten noch Chor irgendwelche Bewegungen. Handlung und Charaktere bleiben  unangetastet, wenn auch in diesem Ambiente höchst befremdlich, am Schluss schmiert sich Senta mit der weißen Paste ein, die dem Holländer das Aussehen einer sehr lange dem nassen Element ausgesetzten Wasserleiche verlieh, d.h. wohl, sie ist bereit, sein Schicksal zu teilen, ihn so zu erlösen. Auch von Ferne an menschliche Körper erinnernde, sich in den Elementen Luft und Wasser auflösende Schatten legen das nahe.

Einige vorzügliche Sänger trösten über optisches Ungemach hinweg, allen voran die wunderbar intensive Senta von Ingela Brimberg, die auch bei Großaufnahmen mit feiner Mimik und Gestik Angenehmes und Beeindruckendes vermittelt und deren heller, aber durchaus dramatischer Sopran keine Schwächen kennt, bei den Intervallsprüngen geschmeidig bleibt und keine Höhenprobleme hören lässt. Sie spielt sehr nachvollziehbar die von ihrer Mission geradezu Besessene. Eine Ausnahmestimme dunkel-dräuender Farben hat auch der Holländer von Samuel Youn, aber darstellerisch bleibt er zu statuarisch, den Text beherrscht er leider nur unzureichend, und was die Gesangslinie betrifft, bleiben ebenfalls viele Wünsche offen. Ganz anders verhält es sich mit Namens- aber keinesfalls sonstigem Vetter Kwangchul Youn, der für den Daland ein fast schon zu edles Timbre, ein sehr schönes, auch für Wagner durchaus passendes Legato und eine bemerkenswerte Textverständlichkeit hat. Einen kraftvollen Zwischenfachtenor setzt Nikolai Schukoff für den Erik ein, spielt ihn leidenschaftlich und wird nur in der Höhe etwas enger. Benjamin Bruns singt mit hübschem lyrischem Tenor den Steuermann, Kai Rüütel ist eine noch junge Mary mit ebensolcher Mezzostimme. Das Orchester unter Pablo Heras-Casado spielt besser, als die recht unbestimmte Zeichengebung des Dirigenten erwarten lässt. Ebenso ist der von Andrés Máspero einstudierte Chor, der auch ein gutes Deutsch singt, auf der Anspruchshöhe einer Hauptstadtoper.  (harmonia mundi Bluray und DVD HMD 9809060-61). Ingrid Wanja